A Dark and Hollow Star – Nichts ist gefährlicher als ein Märchen (Hollow Star Saga 1) - Ashley Shuttleworth - E-Book
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A Dark and Hollow Star – Nichts ist gefährlicher als ein Märchen (Hollow Star Saga 1) E-Book

Ashley Shuttleworth

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Beschreibung

"Elfenkrone" meets "City of Bones" – Diese packende Urban Fantasy spielt in einer magischen Unterwelt von Toronto und folgt einer queeren Gruppe von Personen, die versuchen, einen Serienmörder aufzuhalten, dessen Verbrechen die verborgene Welt der Feen an die Menschen zu verraten droht. Wähle deinen Spieler. - Die "eisengeborene" Halbfee, ausgestoßen aus ihrer königlichen Feenfamilie. - Eine stürmische Furie, aus dem Unsterblichen Reich auf die Erde verbannt und auf Rache aus. - Ein pflichtbewusster Feenprinz, fest entschlossen, sich seinen Platz auf dem Thron zu verdienen. - Der schweigsame Wächter des Prinzen, auf dem ein schreckliches Geheimnis lastet. Seit Jahrhunderten leben die Acht Höfe der Feen mitten unter uns, verborgen durch Magie und an das Gesetz gebunden, den Menschen nicht zu schaden. Lange hat dieses Arrangement für Frieden zwischen den Höfen gesorgt – bis eine Reihe grausamer Ritualmorde Toronto erschüttern und drohen, die Feen der Menschenwelt gegenüber zu enttarnen. Vier queere Jugendliche, von denen jeder einzelne einen wichtigen Teil der Wahrheit hinter diesen Morden hütet, bilden eine angespannte Allianz, um den geheimnisvollen Killer zu schnappen. Wenn sie versagen, riskieren sie sowohl die Zerstörung der Feenwelt als auch die der Menschen. Und als ob das nicht schon schlimm genug ist, droht ein Krieg zwischen dem Reich der Sterblichen und Unsterblichen, und einer dieser Jugendlichen ist dazu bestimmt, das Blatt zu wenden. Bleibt nur die Frage: in welche Richtung? Wünsch ihnen Glück. Sie werden es brauchen.

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Für Juli, die für jedes Abenteuer zu haben war.

INHALT

ANMERKUNG

PROLOG Alecto

KAPITEL 1 Arlo

KAPITEL 2 Aurelian

KAPITEL 3 Nausicaä

KAPITEL 4 Arlo

KAPITEL 5 Arlo

KAPITEL 6 Nausicaä

KAPITEL 7 Arlo

KAPITEL 8 Vehan

KAPITEL 9 Arlo

KAPITEL 10 Aurelian

KAPITEL 11 Arlo

KAPITEL 12 Nausicaä

KAPITEL 13 Arlo

KAPITEL 14 Arlo

KAPITEL 15 Arlo

KAPITEL 16 Vehan

KAPITEL 17 Nausicaä

KAPITEL 18 Arlo

KAPITEL 19 Vehanx

KAPITEL 20 Arlo

KAPITEL 21 Arlo

KAPITEL 22 Vehan

KAPITEL 23 Arlo

KAPITEL 24 Arlo

KAPITEL 25 Nausicaä

KAPITEL 26 Aurelian

KAPITEL 27 Arlo

KAPITEL 28 Arlo

KAPITEL 29 Arlo

KAPITEL 30 Nausicaä

KAPITEL 31 Arlo

KAPITEL 32 Arlo

KAPITEL 33 Aurelian

KAPITEL 34 Arlo

KAPITEL 35 Arlo

EPILOG Riadne

DANKSAGUNGEN

ANMERKUNG

Dieses Buch ist ein unheimlich persönliches Werk. Außerdem behandelt es ziemlich bedrückende Themen, die für einige schwer zu ertragen sein oder möglicherweise negative Gefühle auslösen könnten. Es ist sehr wichtig, dass wir die Diskussionen zu mentaler Gesundheit, Depressionen und Selbstmord von ihren Stigmen befreien, vor allem unter Jugendlichen. Ein Buch ist einer der sichersten Orte, um über diese sehr realen und ernsten Probleme zu reden, die so viele von uns betreffen. Doch es ist auch wichtig, dass ihr euch der Ergründung dieser Sachverhalte voll bewusst und damit einverstanden seid. Bitte beachtet daher zu eurem eigenen Wohlergehen die folgenden inhaltlichen Warnhinweise.

Content Notes: Armut, Blut/Gore, Body-Horror (wenig), Brandstiftung, Depression, Drogenkonsum/Drogensucht, Gewalt/Waffengewalt, Kindestod, Kummer/Trauer, Menschenhandel, Psychopathie, Rassismus, Scheidung, Selbstmord (in der Vergangenheit, außerhalb der eigentlichen Handlung), Stalking, Suizidgedanken, toxische Beziehung/Manipulation, Trauma/posttraumatische Belastungsstörung, Verstoßung, Wut

PROLOG

Alecto

Das Chaosreich der Unsterblichen – Höllenpalast

Der Boden, auf dem Alecto kniete, war ein glitzerndes Meer aus schwarzem Marmor, gesprenkelt mit Diamantweiß. Was für ein perfektes Imitat des Nachthimmels. Das erste Mal seit einer Weile fühlte sie sich dem Himmel wieder näher. Ehrlich gesagt konnte sich Alecto nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal an einem solchen Ort Trost gefunden hatte. Doch jetzt war es seltsam beruhigend, sich vorzustellen, wie sie im sternübersäten Steinboden unter sich versank und spurlos unterging.

Wie wunderbar es doch wäre, von der Bildfläche zu verschwinden – einfach aufhören zu existieren und sich in Luft auflösen.

Nun, da ihre Rache vollendet war, gab es nichts mehr, was sie hier oder irgendwo sonst festhielt. Sie empfand weder Schuld dafür, was sie getan hatte, noch Angst vor dem, was als Nächstes auf sie zukäme. Nicht einmal Schmerz vermochte sie aus ihrer Apathie herauszuholen.

Um die Sicherheit derjenigen zu gewährleisten, die sich zu ihrem Prozess versammelt hatten, wurde sie mit gewaltigen, durch die geschmeidige Membran ihrer ausgebreiteten Flügel und in den Boden gerammten Eisenpfählen festgehalten. Die Berührung eines solch giftigen Metalls hätte kaum auszuhalten sein dürfen, aber Alecto spürte es weder an ihren Flügeln noch an ihren gefesselten Handgelenken, die vom selben korrosiven Eisen zerfressen wurden – kurzum, sie spürte es überhaupt nicht.

Für ihre Taten drohte ihr der Tod. Noch immer konnte sie aschfahle Knochen in ihrem Mund schmecken und verbranntes Fleisch in der Luft riechen. Sie vermochte sogar das Echo ihres Zorns zu vernehmen, das aus dem gähnenden Abgrund widerhallte, zu dem ihre Seele geworden war. Doch trotz alledem hatte Alecto Frieden gefunden. Sie war erleichtert.

Damit hatte sie nicht gerechnet, zumindest nicht in diesem Ausmaß.

Sie hatte es sich nicht einmal erhofft.

Alecto hatte sich schlicht und ergreifend gerächt, doch nicht im närrischen Glauben gehandelt, dass ihre Rache irgendetwas ändern würde. Tisiphone, ihre geliebte Schwester und kostbarste Freundin, wäre immer noch tot. Das war eine Wahrheit, von der sich Alecto nie würde erholen können.

»Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen, Erinnye Alecto?«

Alecto hob ihren Kopf.

Aus der Finsternis ihres Herzens bahnte sich ein Gefühl seinen Weg und formte sich zu einer Parodie eines Lächelns hinter Stacheldraht.

»Ob ich etwas zu sagen habe?«

Sie musste lachen.

Es war ein hohles wie hässliches Geräusch, aber es gehörte ihr. Ihr Lachen war eine andere Art von Wut und Alecto würde dafür sorgen, dass die hier versammelten Mächte es nie vergaßen.

Ihr Blick glitt zum Thron, der vor lebenden Flammenzungen und Windböen wogte, und sah der Göttin darauf direkt in die Augen: Urielle, Göttin der Elemente und Herrin des Chaos. Sie war die Königin des größten Höllengebiets des Reichs der Unsterblichen und Alectos Mutter.

»Nun«, entgegnete Alecto, als ihr krächzendes Gelächter verstummte, »ich denke, man kann jetzt sicher sagen, dass der Titel Erinnye nicht länger der meine ist.«

Unter den Wachen, die den Raum wie Säulen säumten, machte sich Unruhe breit. Ein Raunen ging durch die restliche Menge, die aus so vielen Leuten bestand, die Alecto einst als Freunde angesehen hatte und die nun ihre Hälse reckten, um Zeugen ihrer Demütigung zu werden. Jeder mochte Spektakel. Loyalität bedeutete Alectos Volk überraschend wenig.

Neben der Göttin stand Erinnye Megära. Sie mochten einander noch so sehr verabscheuen, doch sie war die einzige Schwester, die Alecto noch geblieben war. Wie erwartet war in Megäras Blick weder Liebe noch Mitleid für sie zu sehen. Wenn das alles vorbei war, würde Alecto ersetzt werden, genauso wie Tisiphone. Der Respekt des Reichs vor ihrer Trauer würde das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern. Andere Unsterbliche würden ausgebildet werden, um Alectos und Tisiphones Rollen zu übernehmen, sodass es wieder drei Furien geben würde.

Vielleicht hätte Alecto ihre älteste Schwester ein wenig mehr schätzen sollen. Die Vergangenheit ließ sich jedoch nicht mehr ändern, das wusste sie nur zu gut. Megära mochte sie einst geliebt haben, doch das war schon lange her. Nun glänzte nichts als Abscheu in ihrem stählernen, finsteren Blick.

Von allen Anwesenden blieb Urielle als Einzige ungerührt, auch wenn Alecto tief in ihren unendlich schwarzen Augen eine Flut von Emotionen ausmachen konnte.

»An dem, was du mir vorgelegt hast, gibt es nichts zu lachen«, sagte Urielle mit einer Stimme, die so ruhig wie ungetrübte Wasser und gleichzeitig so hart und schneidend wie ein kantiger Stein war. »Du wurdest des Mordes beschuldigt, Erinnye Alecto. Du hast ohne Erlaubnis elf Sterblichen das Leben genommen, die nicht zum Tode bestimmt waren. Deine Taten im Namen der Rache in dieser Nacht haben nicht nur gegen die Gesetze verstoßen, die für unsere Reiche maßgebend sind, sondern auch gegen die Eide, die du abgelegt hast, als du zur Furie wurdest. Was hast du zu diesen Anschuldigungen zu sagen?«

»Zu den Verbrechen?« Alecto brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich bekenne mich nicht schuldig.«

Megära knurrte: »Ich habe dich gesehen.«

In ihrem Jähzorn breiteten sich abrupt ihre Flügel aus, woraufhin die versammelte Menge luftschnappend zurückwich. Diese Schwingen waren wirklich schön: hauchdünn und sanft, weder aus Leder noch aus Federn und schwarz wie Käferpanzer. Sie waren groß genug, um den gesamten Raum hinter dem Thron zu umspannen. Alectos Flügel waren einmal genauso prachtvoll gewesen. Jetzt waren sie durchstochen, zerfleddert und zu schwelenden Fetzen versengt, ganz wie die Segel des ausgebrannten Schiffs, das sie verlassen hatte, um die Gewässer heimzusuchen.

»Ich war diejenige, die dich vom Schiff gezerrt hat, das du in Flammen gesetzt hast, und das auch noch mit Sternenfeuer!« Megära bebte vor Zorn. »Dein Wutanfall hat elf Seelen an den Meeresboden und an eine Flamme gefesselt, die nicht einmal die Ewigkeit löschen kann. Ich war diejenige, die dich aus der Verwüstung gezogen hat, die du über das Reich der Sterblichen gebracht hast. Und ich war es ebenfalls, die Zeugin deiner reuelosen Freude am Leid deiner Opfer wurde. Du kannst die Wahrheit unmöglich leugnen!«

»Du verstehst mich falsch«, sagte Alecto langsam. »Ich gebe aus freien Stücken alle Verbrechen zu, derer ihr mich beschuldigt. Ich habe das alles getan, ja. Nur fühle ich mich für nichts davon schuldig.«

Megära wollte etwas erwidern und öffnete ihren Mund, als Urielle sie mit einem Wink ihrer Hand zum Schweigen brachte. »Die Strafe für diese Verstöße ist die VERNICHTUNG«, übernahm Urielle wieder das Wort.

Nicht Tod, sondern VERNICHTUNG.

Unsterbliche starben nicht, sie wurden VERNICHTET. Beseitigt. Ihre Seelen wurden zu Staub zermahlen und zu den Sternen zurückgeworfen, um zu etwas anderem gewoben zu werden – zu jemand anderem. Sie wurden nicht wie Sterbliche wiedergeboren.

Für ihre Vergehen würde Alecto gänzlich ausradiert werden. Dies war beinah ein Segen.

»Ich bin so zufrieden mit der Vernichtung, die ich verursacht habe, dass ich Euer gütiges Angebot gerne annehme«, konterte sie.

»Erinnye Alecto!« Schließlich brach die emotionslose Maske der Göttin und sie erhob sich von ihrem Thron der Gewalt. Während sie das Podium hinabstieg, sprühten mit jedem ihrer Schritte feurige Funken unter ihren Absätzen hervor. Urielles Zorn durchdrang den gesamten Saal. Der Raum rings um sie flackerte blitzhell. Alecto zuckte zusammen, weigerte sich jedoch, den Blick von ihr abzuwenden. »Ich habe dich geschaffen. Genauso einfach kann ich dich wieder beseitigen«, verkündete die Göttin. »Zeigst du wirklich keine Reue für deine Verbrechen gegen mich? Bereust du es nicht, zu sehen, wie mein Gesetz – ein Gesetz, das du geschworen hast, aufrechtzuerhalten – nun gebrochen zu deinen Füßen liegt?«

Meine Tochter, du warst für so viel mehr bestimmt.

Die Worte ihrer Mutter klangen in Alectos Kopf zwar sanfter, als wären sie ausgesprochen worden, waren aber nicht angenehmer.

Ich entscheide selbst, wofür ich bestimmt bin, fauchte Alecto gedanklich zurück und fügte laut hinzu: »Göttin Mutter, ich kann mich selbst beseitigen und habe es bereits getan.«

Einen Moment lang stand Urielle wie erstarrt da. Dann seufzte sie. »So sei es.«

Die Göttin hob eine Hand, woraufhin sich die Schatten im Raum von den Wänden zu lösen begannen. »Erinnye Alecto, hiermit wird dir dein Name entzogen.«

Wie aufgebrachte Kobras schlugen die Schatten wild um sich. Sie stürzten sich auf Alecto und wanden sich fest um deren Körper.

»Du wirst deines Ranges enthoben.«

Die Schatten zogen sich zusammen und Alecto wehrte sich. Sie grunzte, ächzte und knirschte mit den Zähnen. Ihre Genugtuung über ihre Rache hatte sie in das Auge ihres eigenen Sturms befördert – in eine Stille, die über ihre Rage hinwegtäuschte. Doch nun fuhr sie wieder daraus hervor, zurück in das finstere und donnernde Gewitter ihrer immerzu brodelnden Wut.

»Das Privileg deines Amtes wird dir ebenfalls entzogen. Du hältst es für angebracht, nach eigenem Ermessen Bestrafungen an Sterbliche auszuteilen. Deine eigene Strafe wird es sein, für immer unter diesen zu leben.« Alecto blinzelte überrascht zu Urielle auf, doch diese war noch nicht fertig. »Du wirst aus dem Reich der Unsterblichen vertrieben und aus der Schwesternschaft ausgeschlossen. Ich entziehe dir meine Gunst und verstoße dich aus meinem Herzen. Ich verbanne dich in das Reich der Sterblichen und binde deine Ewigkeit an seinen Boden.«

Schließlich brach es aus Alecto heraus: »Nein!«

Das hatte sie nicht gewollt. Sie hatte mit ihrer VERNICHTUNG gerechnet – mit der Erlösung von den Qualen in ihrem Kopf – und nicht mit dieser Verbannung, die ihre Mutter ihr auferlegte. Diese endlose Tortur würde Alecto bis in alle Ewigkeit in ihrem Zorn und ihrer Trauer gefangen halten …

»Ich habe Euren Namen nie gebraucht!« Alecto schäumte vor Wut. Die Schatten schlangen sich um ihren Hals, doch sie ignorierte dies. »Ich habe Euch nie gebraucht, Euch Feigling. Ihr habt versagt, Göttin Mutter!«

Je fester die Schatten zudrückten, desto heftiger kämpfte Alecto gegen sie an. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, warf sie sich nach vorn. Dabei rissen ihre Flügel noch mehr an den Pfählen im Boden. Nichtsdestotrotz fuhr sie mit ihrer Raserei fort. »Ihr habt versagt. Ihr habt nicht nur Tisiphone, sondern auch mich im Stich gelassen! Für das, was Ihr zugelassen habt – was Ihr unerkannt und ungestraft habt durchgehen lassen –, werde ich Euch niemals verzeihen. Für mich seid Ihr weder Mutter noch Göttin!«

Alecto nahm nur noch Bruchstücke wahr. Doch für den Kummer, der Urielles Miene schließlich zu erweichen begann, war es zu spät.

Als dieses Mitleid einst am meisten gebraucht wurde – als Tisiphone dieses Verständnis benötigte und Alecto sich in einem so großen Schmerz, dass sie kaum zu sprechen vermocht hatte, zum ersten Mal an ihre einst heiß und innig geliebte Mutter wandte –, enthielt diese es ihnen zugunsten des Gesetzes vor. Alecto war für ihre eigenen Taten verantwortlich, das wusste sie nur zu gut. Aber wenn Urielle ihre Beteiligung daran, dass ihre Tochter in Ungnade gefallen war, nicht erkannte, dann würde sie sich auch nicht die Mühe machen, ihr diese vor Augen zu führen.

Damit hatte sich das erledigt.

Damit war sie erledigt.

Urielle senkte ihren Kopf. »Ich habe dich enttäuscht, meine Tochter.«

»Nausicaä«, sagte Alecto.

Nausicaä. Ein schöner Name der Sterblichen. Er bedeutete »Schiffsverbrennerin« und sie konnte sich keinen passenderen Titel vorstellen. Ihre Rache hatte sie auf eine unwiderrufliche Art und Weise verändert und falls sie sie nicht VERNICHTETEN, würde Alecto – Nausicaä – nichts bewahren, was sie nicht länger war. Sie würde ihre Verbrechen wie ein Ehrenzeichen tragen.

»Nausicaä«, verbesserte sich die Göttin.

Der kurze Schimmer der Traurigkeit in Urielles Blick war das Letzte, was Nausicaä sah, bevor die Schatten sie gänzlich umschlossen. Der Sturm in ihrem Inneren tobte jedoch weiter.

»ICH VERSTOẞE EUCH!«, brüllte Alecto. Wenngleich sie nicht wusste, ob die Göttin sie hörte, schrie sie weiter, bis hinter ihren Augen Sterne explodierten und ihr Bewusstsein zu schwinden begann. »ICH VERSTOẞE EUCH AUS MEINEM HERZEN! ICH ENTZIEHE EUCH MEINE GUNST! UND FÜR DAS, WAS IHR MIR ANGETAN HABT, WERDE ICH EUCH NIE WIEDER LIEBEN!«

Vergiss, dass du mich geliebt hast, wenn es sein muss, aber bitte … vergiss nicht, dass du jemals geliebt hast, und zwar so furios geliebt, dass du deinem Namen alle Ehren gemacht hast.

Oh, Nausicaä würde nicht vergessen, dass sie ihre göttliche Mutter und Tisiphone geliebt hatte.

Sie würde sich an beide erinnern und sich dadurch nie wieder erlauben, diese Liebe erneut zu empfinden. Genauso wie dieser Walfänger und seine abscheuliche Besatzung – zusammen mit diesem Sterblichen, der dachte, er könne Furien zu Närrinnen halten –, die nun allesamt bis in alle Ewigkeit am Grund des Nordatlantiks brannten, würde Nausicaäs Zorn die Zeiten überdauern. Und er allein würde sie ausmachen.

Erst als sie sich auf dem Rücken liegend wiederfand und in das unerträglich heitere Blau des Himmels im Reich der Sterblichen blinzelte, wurde ihr bewusst, dass die Schatten letztendlich über sie triumphiert hatten.

Nausicaä befand sich nicht mehr im Thronsaal des Höllenpalasts.

Ihre Familie, ehemaligen Freunde, der eisige Sternenmarmor … Sie alle waren fort, doch die letzten Worte ihrer Mutter hallten noch immer in ihren Ohren.

Du hast immer noch das Zeug dazu, das zu sein, was die Sterne entwerfen, meine Tochter.

»Tsch«, spottete sie. Sie ballte ihre Fäuste um ein paar Halme des Grases, das die weiten Ebenen bedeckte, wo auch immer im Reich der Sterblichen sie ausgesetzt worden war. Dabei ignorierte sie die Tränen, die gleich dem Tau ringsumher an ihren Wimpern hafteten.

Es lag nicht länger bei den Sternen, Nausicaäs Schicksal zu bestimmen. Nach dem, wie sie Tisiphone behandelt hatten, hatten sie dieses Privileg verloren. Ihr Schicksal hing jetzt von ihr allein ab. Diese ach so mächtigen Gottheiten waren nicht einmal mutig genug, sie zu VERNICHTEN. Sie würden es noch bereuen, dass sie ihr erlaubt hatten zu erfahren, wie befriedigend es war, Dinge brennen zu sehen.

Bei NevaLife Pharmaceuticals ging alles ruhig zu und genau so mochte Hero es auch am liebsten. Er verabscheute die Hektik des Tages: das Kommen und Gehen der Kuriere mit ihren Scherzen, die gar nicht witzig, sondern gemein waren; die unzähligen Ärzte und Forschungsassistenten, die mit ihren Hochschulabschlüssen und Gehältern über den Ort geboten, als seien sie besser als alle anderen und insbesondere Hero; die normalen Angestellten, die es anscheinend genossen, Hero die Arbeit zu erschweren, so wie sie sich in den von ihm geputzten Räumen aufführten.

Hero war Hausmeister.

Viele hielten das für keinen glorreichen Job, aber er brachte Geld ein, das Hero dringend brauchte.

Er war achtundzwanzig Jahre alt, ohne Familie oder Partner, die ihm halfen, über die Runden zu kommen. Noch dazu besaß er keinerlei Ersparnisse, um in der Hoffnung, einen besseren Beruf zu finden, studieren zu können. Wenn er nicht gerade dabei war, verstopfte Klos zu putzen und verschüttete Flüssigkeiten aufzuwischen, arbeitete er in einem lokalen Callcenter für technischen Support. Er verteilte Flugblätter. In einem kleinen Supermarkt packte er Lebensmittel ein, holte verirrte Einkaufswagen zurück und wischte noch mehr Pfützen auf. Der Laden lag in der Nähe seiner Einzimmerwohnung, in einer Nachbarschaft, in der das Leben nicht so kostspielig sein sollte, wie es war. Doch es reichte nicht. Hero kämpfte immer noch damit, alle Rechnungen zu bezahlen und sich die kleinen Luxusartikel des Lebens wie Essen, Kleidung oder dringend erforderliche Medikamente zu leisten.

Die Welt war rau, aber es lief besser, wenn es ruhig zuging … auch wenn es ein wenig einsam war.

»Und vergiss dieses Mal nicht, beim Gehen abzuschließen, du Vollpfosten.«

Hero nickte energisch. Darren, sein Vorgesetzter, war ein kleiner Mann mittleren Alters, der schnell die Beherrschung verlor. Er hatte braunes Haar, tränende Augen und die Statur eines leicht verwahrlosten Footballstars an der Highschool. Der Mann mochte Hero nicht, der ein wenig schüchtern und spindeldürr war und dessen Gesicht im Kontrast zu seinen großen, von der Übermüdung dunkel umrandeten Augen und seinem schwarzen Haar leichenblass wirkte. Andererseits wurde Hero von niemandem gemocht. Alle sagten, er sei eigenartig. Unangenehm. Aber er konnte es sich nicht leisten, deswegen wieder gefeuert zu werden. Außerdem konnte er nicht zulassen, dass seine zunehmende Vergesslichkeit ihn erneut so teuer zu stehen kam – nicht solang er bereits eine Monatsmiete im Rückstand war.

Hero war sehr darum bemüht, Darren bei Laune zu halten, auch wenn er lieber etwas anderes getan hätte – zum Beispiel mit der Flasche Bleichmittel auf seinem Reinigungswagen … Er erlaubte sich einen Moment lang, sich Darrens Schrei vorzustellen, wenn plötzlich etwas von der Chemikalie auf seinem Gesicht landete.

»Was bist du, ein Wackeldackel? Hör auf, so zu nicken. Sonst schüttelst du noch den Rest deines Hirns heraus, der dir geblieben ist, und ich werd wirklich alle Hände voll mit dir zu tun haben.«

»S… Sorry, Sir«, stammelte Hero.

Darren stieß ein kurzes Lachen hervor. »S…S…S… Sorry, S…S… Sir«, äffte er ihn nach. »Bei jeder Kleinigkeit stotterst du wie ein verdammtes Mädel. Steh deinen Mann, Junge.«

»Jawohl, S… Sir.« Hero zuckte zusammen.

Darren schüttelte seinen Kopf. »Ein hoffnungsloser Fall.« Dann streckte er die Hand aus, um gegen Heros Namensschild zu schnippen, und kicherte wieder. »Hero – was für ein Witz. Denk dran, die verdammte Tür abzuschließen, Superman.«

Und schließlich verschwand er.

Mit einem Seufzer lehnte sich Hero gegen seinen Wagen. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln.

Es war nicht immer so gewesen. Einst hatte er mehr Ambitionen gehabt, als nur ein Insektenschutzmittel zu finden, das die Kakerlaken auch wirklich von seiner Wohnung fernhielt. Früher hatte er nicht so gestottert, sein Gedächtnis war nicht so schlecht gewesen und keine Albträume und Schrecken hatten ihm den Schlaf geraubt. Erst seit Kurzem hatte seine ohnehin schon miese Situation eine beunruhigende Wendung zum Schlimmeren genommen, mit zufällig erklingenden Stimmen in seinem Kopf und Erinnerungsfetzen, die unmöglich seine waren … Und dafür benötigte er die Medizin – diese Medizin zu Wucherpreisen, die ihn dazu zwang, zwischen mentaler Gesundheit und Dingen wie Elektrizität zu wählen.

Hero trat kräftig gegen ein Rad, sodass der Wageninhalt teilweise umkippte. Es war sinnlos, sich über etwas aufzuregen, das niemanden interessierte. Und es könnte schlimmer sein. »Aber es könnte auch besser sein«, murmelte er vor sich hin.

»Und zwar erheblich, würde ich mal annehmen.«

Auf einmal erschrak Hero so heftig, dass er beinah gegen den Putzwagen stieß.

Hinter ihm war ein Mann aufgetaucht, der eben noch nicht dort gestanden hatte – niemand war dort gewesen, nichts außer einem schwach beleuchteten Gang. Heros erster Eindruck: Er war groß. Es war nicht das herkömmliche »groß«, womit andere hochgewachsene Menschen beschrieben wurden, sondern ein »groß«, das Hero den Göttern zugeschrieben hätte, wenn er je darüber nachgedacht hätte.

Sein Gesicht war … bildschön. Es war mit ungewöhnlichen silbrigen Sommersprossen wie mit Sternenlichttupfern gesprenkelt und seine Augen schimmerten in einem hellen Giftgrün. Vom Kopf bis zur Taille hing ihm auf einer Seite eine wilde, metallgraue Mähne herab, die andere Hälfte seines Haars war bis zum Schädel abrasiert. Der Mann war zwar gertenschlank, wirkte aber stark, und seine langfingrige linke Hand war mit tödlichen Krallen versehen. Zudem trug er eine enge schwarze Hose und eine ebenso schwarze, kunstvoll gearbeitete Jacke, beschlagen mit Nieten, noch mehr Silber, Schnallen und eleganten Ketten. Hero hatte noch nie zuvor jemanden wie diesen Mann gesehen, der die Präsenz eines Schattens besaß. Unterm Strich war er möglicherweise sogar ein Gott – noch wahrscheinlicher existierte er jedoch überhaupt nicht.

Also schloss Hero die Augen.

Er hätte nicht zum ersten Mal etwas gesehen, das es auf den zweiten Blick gar nicht gab – wunderliche Kreaturen mit Flügeln, Hörnern und blau gefärbter Haut oder geschäftige Ladenfronten, die sich nur als menschenleere Gebäude herausstellten. Normalerweise verschwanden diese Erscheinungen innerhalb eines Wimpernschlags. Doch als er seine Augen wieder öffnete, stand der umwerfende Mann immer noch da und grinste ihn an.

»Hallo«, grüßte Hero. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. »Kann ich … Ihnen irgendwie helfen? Ich g… glaube nicht, dass Sie hier sein sollten.«

Der Mann lachte, was an knarrende Holzdielen erinnerte. »Oh nein, da hast du völlig recht. Das sollte ich wirklich nicht! Aber andererseits … solltest du eigentlich auch nicht hier sein.«

Hero sträubte sich. »Natürlich sollte ich das. Ich bin der Hausmeister.«

»Mmmm, ja, das bist du, stimmt.« Die Art, wie dieser Mann ihn musterte, ließ Hero trotz der Hitze erschaudern. Er hätte nie erwartet, dass jemand wie dieser Mann ihn je bemerken, geschweige denn so ansehen würde …

»Der Hausmeister – einer, der Stipendien für ziemlich beeindruckende Schulen abgelehnt hat, die alle seine Unkosten gedeckt hätten, weil es seiner nachlässigen Mutter lieber war, dass er sich zu Hause um seine Geschwister kümmert, und er es ihr ja unbedingt recht machen wollte. Der Hausmeister – einer, der von dem, was hier vor sich geht, viel mehr versteht, als er zugibt. Der ganze Lehrbücher zu wissenschaftlichen Theorien verschlingt und die Dinge daraus gerne in Experimenten ausprobiert.«

Oh verdammt, war dieser Mann vielleicht so was wie ein verdeckter Ermittler? Hero wurde blass. Er dachte an den Lagerraum, der ihm als provisorisches Labor diente und ein Stadtviertel weiter lag, wo niemand Fragen stellte, solang man pünktlich zahlte. »Hören Sie, diese Tiere waren schon tot«, log er. »Ich habe sie am Straßenrand gefunden! Ich habe nichts Falsches getan, sondern nur …«

»In letzter Zeit hast du ein paar Probleme am Hals, stimmt’s?«, unterbrach ihn der Mann, dessen Grinsen noch breiter wurde. »Kopfschmerzen … Schlaflosigkeit … Gedächtnislücken … Halluzinationen, lebhafte Träume und Dinge, die dir vertraut vorkommen, obwohl das unmöglich ist?« Dann seufzte er, allerdings ohne Mitleid. All das schien ihn nur noch mehr zu amüsieren. »Das Stottern ist eine ungewöhnliche Nebenwirkung, das gebe ich zu, aber schon andere Eisengeborene haben so wie du reagiert, wenn ihre Magie unterdrückt wurde … Wenn sie vom Hohen Rat der Elfen GEWÄGT und für unzureichend befunden wurden, woraufhin ihre Macht weggesperrt wurde … Dann sind sie nur ein bisschen später als erwartet stärker geworden und haben gegen ihr Gefängnis rebelliert.«

Der Hohe Rat der Elfen?

Gewägt?

Hero hatte jede Menge Fragen.

Wer war dieser Mann? Woher wusste er so viel über ihn? Und wovon sprach er überhaupt? Er sah nicht wie ein Polizist aus, aber wer konnte er sonst sein? Hero fragte jedoch laut, und zwar sehr vorsichtig: »Was meinen Sie mit ›Magie‹?«

Bei der bloßen Erwähnung des Wortes durchströmte ihn ein warmes, angenehmes Kribbeln – eine kaum vorhandene Erinnerung, die nur knapp außerhalb seiner Reichweite lag.

Das Grinsen des Mannes breitete sich nun über sein ganzes Gesicht aus. Es war entsetzlich. Er war entsetzlich. Er war so schön, dass man ihn nur mit Mühe anzusehen vermochte. Doch gleichzeitig war er so erschreckend gespenstisch, dass diese Schönheit völlig entstellt wurde. Jedenfalls war er genau die Art Mensch, bei der Heros Alarmglocken losschrillen sollten, und doch … zeigte er sich bloß gelassen.

»Weißt du, ich glaube, ich würde es dir viel lieber zeigen«, sagte der Mann und machte einen Schritt auf Hero zu. Dann streckte er einen seiner Krallenfinger aus und zog an Heros Namensschild.

»Hero. Dein Leben war so hart. Du wurdest von deiner Familie verstoßen und bist in einer Welt umhergeirrt, für die du nie bestimmt warst. Du verschwendest deine Gerissenheit, deinen Verstand sowie deine Leidenschaft darauf, dich um andere Leute zu kümmern. Müde … hungrig … arm … Vor zehn Jahren habe ich dir deine Magie genommen, und zwar auf Befehl jener, denen ich zu dienen verpflichtet bin. Doch was, wenn ich genauso wie du des Dienens überdrüssig geworden bin? Was, wenn ich dir diese Magie zurückgeben könnte? Was, wenn ich dir zu deiner eigentlichen Rolle verhelfen und dich zu dem Helden machen könnte, zu dem du zweifelsohne geboren wurdest? Was würdest du dann für mich tun?«

Wäre es jemand anderes gewesen, hätte Hero gelacht und ihn für verrückt erklärt.

Dieses Gefasel von Magie? Das war etwas, wofür ihm ein Therapeut ein zusätzliches Medikament verschreiben würde, wenn er sich denn noch eins leisten könnte. Aber da war dieser Blick in den Augen des Mannes, diese Schwere in seinem Auftreten, dieser Klang in seiner Stimme – er machte Hero nichts vor. Trotz seiner Sticheleien war dies kein Scherz; er meinte es todernst. Vor allem aber hatte Hero zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit das Gefühl, dass ihm wirklich jemand zuhörte. Alle, mit denen er über seine Probleme sprach, schienen zu glauben, er bilde sich das alles nur ein. Aber hier stand nun jemand, der sie nicht nur anerkannte, sondern möglicherweise auch deren Ursachen zu erklären vermochte, und das war … Nun, das war sehr verlockend. Die wilde Unwahrscheinlichkeit, dass Magie existierte, würde Hero auf der Stelle akzeptieren, wenn er dadurch der rapiden Verschlechterung seiner Gesundheit auf den Grund gehen könnte.

Außerdem war dies genau das, wovon viele andere Menschen wie er träumten: nämlich herauszufinden, dass sie für weitaus größere Dinge bestimmt waren und sowohl die Welt als auch sie selbst Magie besaßen. Es sollte unmöglich sein, aber dieser Mann … Die Art, wie er so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war …

Was, wenn …

Hero beäugte den mysteriösen Eindringling.

Schließlich atmete er tief ein und langsam wieder aus.

»Ich höre«, sagte er, und zum ersten Mal seit Jahren stand er aufrecht. Weder bebte seine Stimme noch zitterten seine Hände. Sein Kopf war klar und sein Blick scharf.

Der geheimnisvolle Mann bewegte einen Arm in Richtung Tür.

Als Hero diesmal hinausging, verschloss er sie absichtlich nicht.

KAPITEL 1

Arlo

Gegenwart

Das Reich der Sterblichen – Toronto Fae Academy, Kanada

Der Boden, auf dem Arlo stand, war ein glitzerndes Meer aus weißem Marmor, gesprenkelt mit Kohlrabenschwarz. Man hatte ihn so stark gewienert, dass jeder Makel und jede Unebenheit weggeschrubbt war. Zurück blieb ein eisiger Glanz, den nichts – nicht einmal die durch die Glaskuppel strömenden letzten Sonnenstrahlen – jemals erwärmen konnte.

Dasselbe galt leider für den Hohen Rat der Elfen.

Acht stolze Elfen von den Vier Höfen des Feenvolks bildeten dieses Richtergremium. Jeweils eine Elfe oder ein Elf aus den Fraktionen des Winters, Sommers, Herbstes und Frühlings der Seelies – jenen, die ihre Macht aus dem Tag schöpften und Anmut und Verantwortung an ihren Angehörigen als höchste Qualitäten schätzten. Sowie je eine Elfe oder ein Elf aus den Fraktionen des Winters, Sommers, Herbstes und Frühlings der UnSeelies – jenen, die ihre Macht wiederum aus der Nacht bezogen und für ihr Luxusleben und ihre Gerissenheit bekannt waren.

Sie alle starrten auf Arlo herab, als wäre sie ein Käfer unter ihrem Stiefel.

Arlo fand, dass es keinen richtigen Unterschied zwischen den Seelie- und UnSeelie-Elfen gab, was auch immer die einzelnen Gruppen glauben mochten. So waren beispielsweise alle starren Gesichter vor ihr gleich – so kalt und hart wie der Marmor unter ihren Füßen.

Alle acht Repräsentanten waren erwählt worden, damit die Gesetze des Hochkönigs gewahrt wurden. Niemand von ihnen war für sein Erbarmen bekannt. Und wie sie nun vor ihnen stand, um ihr Urteil zu hören, verdeutlichte nur, dass dieses Treffen als reine Formalität galt: Ihre einstimmige Entscheidung über Arlos »Eignung« für die magische Welt hatten sie alle bereits getroffen, und zwar lange bevor sie gekommen war, um ihren Fall darzulegen.

Mit Sicherheit verlief ihre WÄGUNG nicht besonders gut.

»Es ist keine Frage der Abstammung«, sagte Ratsherr Sylvain, der Repräsentant des Seelie-Frühlings.

Er war groß, geschmeidig, sehnig und stark, und sein hohes Alter hatte ihn noch in keiner Weise gebeugt. Sein bauschiges Gewand in Smaragdgrün und Türkis, das mit schimmerndem Gold besetzt war, trug nur wenig dazu bei, die strengen Züge seines verzauberten elfenbeinfarbenen Gesichts zu mildern.

»Niemand stellt Ihre Abstammung infrage, Miss Jarsdel«, fuhr er abweisend fort. »Sie sind die Tochter von Thalo Viridian-Verdell; das ist unbestreitbar. Allerdings hinterfragen wir hier heute, ob das relevant ist oder nicht.«

Arlo kannte die Antwort auf diese Frage bereits.

Laut dem Hohen Rat zählte allein, dass Arlo zur Hälfte ein Mensch war. Dass sie zur anderen Hälfte direkt von der königlichen Elfenfamilie abstammte – der Königsfamilie, die derzeit selbst über den Oberhäuptern aller anderen Höfe an der Spitze der magischen Gemeinschaft stand –, war in Wirklichkeit ein Makel. Die Elfen waren ziemlich stolz auf ihre unvermischten Blutlinien und ausschließlich Elfen bildeten den sehr weit zurückgehenden Stammbaum der Familie Viridian. Ihr gehörten keine anderen Feen an, also jene, die irgendwelche tierischen oder natürlichen Eigenschaften besaßen, wie Rinde als Haut oder Blätter statt Haare. Bis Arlos Mutter einen Menschen geheiratet und kurz darauf sie zur Welt gebracht hatte, hatten selbstverständlich auch die Viridians keine menschlichen Verwandten besessen. Immerhin sah Arlo den Elfen ähnlich: Sie schauderte bei dem Gedanken, wie viel schlechter sie jetzt dastünde, wenn ihr magisches Erbe von etwas anderem stammen würde.

Arlo war die erste Eisengeborene in einer Königsfamilie, deren »Reinheit« bis zur Zeit vor der Magischen Reform zurückreichte. Als man noch nicht einmal über die Höfe nachgedacht hatte, geschweige denn über deren Gründung, und es nur die sich bekriegenden Fraktionen der Seelie und UnSeelie gegeben hatte. Bedauerlicherweise hatte sie von ihrer Familie mütterlicherseits nur sehr wenig geerbt. Sie besaß in etwa so viel Magie wie eine Kiste Zitronen. Als Kind war sie so überfordert gewesen, mit ihren Mitschülern an ihrer lokalen Feen-Grundschule mitzuhalten, dass ihre Mutter Mitleid bekommen hatte und sie auf eine menschliche Schule gewechselt war. Der Rat sorgte sich ungeheuer um Arlos Vergangenheit – das Problem war nur, dass er es nicht auf eine ihr hilfreiche Art tat.

Arlo bemühte sich zu verbergen, dass sie zusammengezuckt war, und zwang sich, dem kollektiven Starren des Rats genauso zu begegnen. Ihre Augen – so hell und hart wie Jade – gehörten zu den wenigen Dingen, mit denen sich ihre Verbindung zur Familie Viridian unmöglich leugnen ließ. Doch in Momenten wie diesen wünschte sie, sie hätte die Fähigkeit ihrer Mutter geerbt, diesen grünen Augen ein finsteres Funkeln zu verleihen.

»Es … es sollte relevant sein, dass ich eine Viridian bin«, hörte sich Arlo mit einer Stimme sagen, die vor Übelkeit und Nervosität ganz leise war. »Meine Magie mag nicht sehr stark sein und ich mag viel mehr Eisenblut meines Vaters haben, als Ihnen lieb wäre, aber ich kann mein Aussehen immer noch mit einem Zauber verändern und verschleiern. Außerdem besitze ich genug von der SICHT, um durch den Zauber anderer Feen hindurchzusehen …«

Bei der Vorbereitung dieser Rede hatten ihre Mutter sowie ihr Onkel geholfen. Aber Arlo wusste, dass es nichts nutzen würde, so zu tun, als sei sie etwas anderes als absolut nicht bemerkenswert. Die einzige Ausnahme war die Stärke ihrer Fähigkeit, die Magie um sich herum wahrzunehmen. Diesen Trick beherrschten jedoch alle Elfen und sie mochte noch so sehr vermuten, dass sie um einiges besser darin war, aber heute würde es ihr nicht dabei helfen, viele Punkte einzuheimsen. Im Großen und Ganzen war ihre Macht leider schwach, doch sie verfügte über das nötige Minimum, um sich für den gewöhnlichen magischen Status in ihrer Gemeinschaft zu qualifizieren. Wenn sie den Rat darüber informierte, musste er ihr wenigstens diesen zugestehen.

»An der Schwelle zum Erwachsensein besitzen Sie weniger Talent als ein Butzensäugling, der selbst instinktiv weit mehr bewerkstelligen kann«, warf Ratsherrin Siegel ein, die Repräsentantin des Seelie-Herbsts. Ihre Augen waren so hart wie Bernstein, als sie diese auf Arlo richtete, und ihre Stimme klang hohl. »Zudem sind Sie bereits achtzehn Jahre alt und besitzen nur ein minimales Verständnis von den Grundlagen der Magie, weil Sie bisher unter menschlicher Leitung unterrichtet wurden. Miss Jarsdel, sagen Sie mir, was sollte Ihnen fehlen, wenn der Rat gegen Sie entscheiden sollte?«

Arlos Kehle wurde so trocken wie die bunten Blätter, die in die Gewänder der Ratsmitglieder eingewoben waren.

Sie würden ihr ihren Status verweigern, obwohl sie genug Magie besaß und unbedingt ein Mitglied der magischen Gemeinschaft bleiben wollte.

»Ratsherrin Siegel«, flehte sie. »Bitte, Sie … Sie dürfen das nicht tun! Wenn Sie gegen mich entscheiden, meine Kräfte wegsperren und meine Erinnerungen löschen, dann … Meine Familie … Meine Mutter, mein Onkel und mein Cousin … Ich würde sie alle vergessen! Entscheiden Sie gegen mich, wird mir der größte Teil fehlen, der mich zu der macht, die ich bin.«

Arlo würde so viel fehlen, wenn der Rat ihr nicht nur die Staatsbürgerschaft als Elfe, sondern auch die Zugehörigkeit zur magischen Gemeinschaft insgesamt verweigern würde. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Elfenstaatsbürgerschaft mit ihren abschottenden Regeln und Pflichten überhaupt wollte, aber sie wusste ohne jeden Zweifel, dass sie nicht komplett von der Magie ausgeschlossen werden wollte. Sie wollte die Wahrheit über ihre Familie genauso wenig vergessen wie, dass die Magie den Zerfall der menschlichen Erinnerung an ihre Existenz überlebt hatte.

Ratsherrin Siegel hob eine ihrer feinen kastanienbraunen Augenbrauen. »Hören Sie mit dem Theater auf, Miss Jarsdel. Sie wären immer noch Sie selbst und Ihre Erinnerungen an Ihre Familie würden Sie ebenfalls nicht verlieren. Sie würden nur das vergessen, woran Sie sich nicht zu erinnern brauchen. Ihr Vater erkennt Sie ja auch immer noch wieder, nicht wahr?«

Ihr Vater.

Eheschließungen zwischen Elfen und Menschen mussten von den Höfen genehmigt werden, doch diese Genehmigung war mit einem Vorbehalt verbunden: Sollte die Ehe scheitern, büßte die menschliche Partei alles ein, was sie über die magische Gemeinschaft erfahren hatte. Ihr Vater hatte entschieden, die Scheidung einzureichen. Er hatte seine Erinnerungen freiwillig aufgegeben, weil er inzwischen, soweit Arlo wusste, für die Magie und jene, die mit ihr zu tun hatten, eine tiefe Verachtung empfand.

Ihr Vater erinnerte sich daran, wer sie war, das stimmte.

Allerdings würde Arlo ihre Beziehung nicht unbedingt als gut bezeichnen – nicht mit ihrer ständig nagenden Angst im Hinterkopf, dass ihr eigener Vater sie ebenfalls hassen würde, wenn er sich jemals daran erinnerte, warum er dies tun sollte. Dafür zu sorgen, dass ihr in seiner oder der Anwesenheit anderer Menschen nie ein Wort über die magische Gemeinschaft entschlüpfte, würde sie obendrein auslaugen. Arlo wollte weder, dass jemand aus ihrer Familie erfuhr, wie sich das anfühlte, noch wollte sie etwas aufgeben, das seit achtzehn Jahren zu ihrem Leben gehörte.

Sie musste einfach daran glauben, dass der Rat nicht so unnötig grausam sein konnte.

»Ja, Mylady, er erinnert sich an mich, aber …«

Ein Hauch Endgültigkeit wehte von der Richterbank. Arlos verzweifelter Versuch, sich zu erklären, scheiterte an ihrem Mut.

»Wenn Sie nichts weiter zu Ihrer Verteidigung zu sagen haben, Miss Jarsdel, darf der Rat nun vielleicht mit der Anhörung fortfahren?«, fragte Ratsherrin Siegel.

Arlo vermochte nur dazustehen und sie anzustarren, während sich der Kummer wie ein Betäubungsmittel in ihr ausbreitete.

Ratsherr Sylvain öffnete seinen Mund, um das Wort wieder zu ergreifen und sein Urteil zu verkünden, als unversehens die Tür hinter Arlo aufflog. Sie erschrak und wirbelte herum, um die Ursache für diese Störung zu erblicken, während aus dem Rat hinter ihr ein verärgertes Rascheln erklang.

»Unglaublich, dieser Sonntagsverkehr!«, sagte der Eindringling zur Begrüßung.

Arlos Erleichterung war so enorm, dass es ihr förmlich den Boden unter den Füßen wegriss.

Celadon Cornelius Fleur-Viridian – Arlos Onkel zweiten Grades und das jüngste der drei Kinder ihres Großonkels, des Hochkönigs – war gleichermaßen brillant wie verschmitzt. Außerdem gab er für eine frischgebackene Achtzehnjährige in vielerlei Hinsicht wohl das schlechteste Vorbild ab. Für Arlo war er jedoch fast wie ein Bruder. Und obwohl er ein paar Jahre älter war, unterschieden sie sich wegen des langsamen Alterns der Elfen kaum in ihrer Reife.

»Hochprinz Celadon!«, platzte Ratsherr Sylvain los. Er war empört über seinen viel jüngeren Vorgesetzten, ihm gegenüber aber gleichzeitig respektvoll, wenn auch nur widerwillig. »Diese Anhörung ist eine nicht öffentliche Angelegenheit, die sich allein auf den Rat und Miss Jarsdel beschränkt. Hiermit geht Ihr zu weit, Eure Hoheit. Bei allem Respekt, ich muss darauf bestehen, dass Ihr unverzüglich den Saal verlasst.«

Arlo sah Celadon dabei zu, wie er das Marmormeer überquerte und zielstrebig auf sie zuging.

Er mochte sich zwar daran weiden, den Adel auf die Palme zu bringen, aber sie kannte niemanden, der mehr Aufmerksamkeit erregte.

Von allen Rassen des Feenvolks sahen die Elfen den Menschen äußerlich am ähnlichsten (auch wenn sie darauf bestanden, dass es die Menschen waren, die ihnen ähnelten). Diese Ähnlichkeit steigerte sich durch ihre überwältigende Schönheit gar ins Absurde, doch selbst unter den schönsten Feen war Celadon eine außergewöhnliche Erscheinung. Als Vollblutangehöriger des Hofes des Frühlings war er groß und schlank, mit schneeweißer Haut und Gesichtszügen, die so scharf geschnitten wie frisch geschliffenes Glas waren. An seinen geschwungen Lippen, den jadefarbenen Augen und dem rotbraunen Haar, das sich fast genau wie bei seinem Vater am Nacken und über den Ohren kräuselte, erkannte man ihn als einen Viridian.

Wie bei allen Elfen von königlichem Blut gab es auch unter seiner Haut ein Leuchten. Selbst durch seinen Zauber glomm es wie die Abenddämmerung in einem grünlich sanften Ton, der ihn als UnSeelie kennzeichnete. Wäre Arlos Erbgut stärker gewesen, hätte sie dasselbe Leuchten getragen. So zeigten nur ihre Augen die Verwandtschaft an.

Das war jedoch besser als gar nichts und trotz der Dinge, die sie von ihrem Vater geerbt hatte – ihr ziegelrotes Haar, ihre alles andere als überwältigende Größe und stämmige Statur –, hatte Celadon sie immer wie eine echte Viridian behandelt. Ihn munter wie eh und je sowie leichten Schrittes den Saal betreten zu sehen, füllte Arlos Augen mit Tränen der Erleichterung. In seiner engen Jeans und einem Hemd in knackigem Salbeigrün sah er wie immer so aus, als käme er gerade von einem glamourösen Fotoshooting.

Sylvain hatte allerdings recht. Sogar ein Prinz war von den Regeln nicht ausgenommen.

Als Arlo sich wieder den Ratsmitgliedern zuwandte, konnte sie ihnen ansehen, dass sie vollkommen unbeeindruckt waren.

»Natürlich würde ich mich gern aus Ihren Angelegenheiten heraushalten«, sagte Celadon glockenhell und freundlich. Noch dazu breitete sich ein sanftes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ich bin mir sicher, Sie alle würden es vorziehen, wieder wichtigere Dinge wie etwa das hier zu besprechen«, sagte er, hob sein Handgelenk und tippte auf den Bildschirm seiner Apple Watch, »vor allem, da Sie sich bereits lange genug mit der WÄGUNG meiner Nichte befasst haben.«

Aus seiner Uhr erklang der Ton eines Clips, der in ihrer Gemeinschaft erst vor ein paar Tagen viral gegangen war.

»Unternehmt etwas oder wir werden es tun. Ihr werdet uns nicht niederschlagen oder zum Schweigen bringen. Wenn die Höfe dieses Problem auch weiterhin nicht als ein solches erkennen und ignorieren, werden wir vom BEISTAND nur noch kühner versuchen, eure Korruption aufzudecken! Eure Macht kommt von eurem Volk. Ich rate euch, euch endlich um die Leute zu kümmern, anstatt nur um euch selbst.«

Arlo machte große Augen und wagte kaum zu atmen, als sie die Reaktion des Rats auf Celadons Dreistigkeit beobachtete.

Der BEISTAND …

Die magische Gemeinschaft hatte alle möglichen Methoden ersonnen, um die Technologie der Menschen an ihre Bedürfnisse anzupassen. Doch der BEISTAND – eine wachsende Bürgerwehrgruppe im Untergrund, die sich dem Schutz des einfachen Volkes verschrieb – setzte diese Technologien auf kühne Weise ein. Angesichts der zunehmenden Gerüchte über eine Mordserie an Eisengeborenen in der gesamten magischen Welt – und der Tatsache, dass der Hochkönig nicht viel dagegen zu unternehmen schien – hatte der BEISTAND begonnen, Guerillabeiträge über die Morde auf menschlichen Webseiten wie YouTube zu veröffentlichen. Der UnSeelie-Frühlingshof verfügte inzwischen über eine ganze Abteilung, die sich nur damit befasste, diese Videos aufzuspüren und zu entfernen, bevor die Menschen womöglich den Verdacht schöpften, dass es sich um mehr als nur einen Scherz handelte.

Es ist sinnlos, flüsterten viele in der Feengemeinschaft hinter vorgehaltener Hand und Arlo musste zustimmen. Der Hochkönig sorgt sich viel mehr darum, den BEISTAND ausfindig zu machen, als herauszufinden, wer sein Volk umbringt …

»In British Columbia wurde ein eisengeborener Junge tot aufgefunden«, sagte Celadon deutlich unfreundlicher als vor wenigen Augenblicken. »Und obwohl das noch weit von Toronto entfernt liegt, hat sich die Situation nun direkt in den Hinterhof des Hochkönigs verlagert. Ich bin mir sicher, der BEISTAND liegt falsch. Sicherlich sind Sie über diese Morde genauso besorgt wie wir alle.«

Bei Celadons Andeutung über ihre Nachlässigkeit bezüglich der Morde sowie der Erinnerung daran, dass der BEISTAND nicht so leicht aufzufinden war wie ursprünglich gehofft, als er erstmals größere Aufmerksamkeit erregt hatte, rutschten die Ratsmitglieder unbehaglich auf ihren Plätzen herum. Daraufhin spitzte sich Arlos eigene Unruhe nochmals zu, da sie befürchtete, diese nicht ganz so subtile Anschuldigung würde ihre Chancen auf einen günstigen Ausgang ihrer WÄGUNG beeinträchtigen.

Zum Zeitpunkt der ersten Mordgerüchte verkündeten die Höfe, die Opfer seien keine Eisengeborenen, sondern Menschen und gingen sie daher nichts an. Als sich jedoch herausstellte, dass die Toten tatsächlich Eisengeborene waren und die Höfe immer noch nichts in die Wege leiteten, erreichten die Spannungen zwischen den Gemeinschaften der Eisengeborenen, Feen und Elfen einen neuen Gipfel.

Sollte sich der jüngste Fall wirklich hier in Kanada ereignet haben – in einem Gebiet des UnSeelie-Frühlings –, konnte es sich die Regierung nicht länger leisten, Däumchen zu drehen. Der Hohe Rat der Elfen wäre gezwungen, nach dem Täter oder den Tätern zu suchen. Es gab also genug anderes für ihn zu tun, als Arlo doppelt so lange, wie ihre WÄGUNG eigentlich hätte dauern sollen, in die Mangel zu nehmen. Aber dem Rat sein Versagen an den Kopf zu werfen und ihn zu hetzen, war vermutlich nicht ideal, um den Abschluss seiner Sitzung zu erzwingen. Angesichts der Mienen seiner meisten Mitglieder war das definitiv der falsche Weg.

»Nein«, fuhr Celadon fort, »ich bin nur gekommen, um meine Nichte abzuholen. Schließlich hat sie heute Geburtstag und ihre Familie möchte gern das bisschen Zeit nutzen, das ihr jetzt noch bleibt, um ihn zu feiern.« Um diesen Punkt zu betonen, hob er seine Uhr noch höher. Dann schüttelte er schier verzweifelt den Kopf. »Entschuldigen Sie die Störung, Ratsmitglieder. Ich wünsche Ihnen allen noch einen wundervollen Abend.«

Selbst wenn Celadon sie nicht alle wie kleine Kinder ausgeschimpft hätte, wäre das nie so einfach. Und auch wenn der Hochkönig höchstpersönlich Arlo jetzt zu Hilfe geeilt wäre, bezweifelte sie, dass es etwas geändert hätte. Aber Celadon griff dennoch nach ihrem Handgelenk und begann, sie zur Tür zu zerren.

Ratsherr Sylvain schoss von seinem Sitz hoch, sein Gesicht erhitzt durch eine Bläue, die durch seinen Zauber hindurchschimmerte. »Hochprinz Celadon!« Die Worte des Ratsherrn glichen einem Donnern.

Celadon ließ Arlo nicht los, drehte sich allerdings noch einmal zur Richterbank um. »Ratsherr Sylvain«, erwiderte er luftig leicht und doch wog seine Antwort irgendwie genauso schwer wie die Stimmung im Raum.

»Ihr scheint dem Irrglauben zu unterliegen, unsere Angelegenheit hier sei abgeschlossen.«

»Ist sie noch nicht? Verzeiht mir, Ratsherr, aber Ihre Prüfung meiner Nichte dauert schon viel länger als die eine dafür vorgesehene Stunde und grenzt nun gefährlich an ein Verhör.«

Ratsherrin Chandra erhob sich als Nächste von ihrem Platz. Ihr Unmut über die kaum verschleierte Anschuldigung in Celadons Aussage stand in ihr atemberaubendes, sandbraunes Gesicht geschrieben. »Den Wert eines eisengeborenen Kindes zu WÄGEN, ist keine triviale Angelegenheit, Eure Hoheit.«

»Ich bitte um Verzeihung – den Wert?«

Chandra zuckte mit keiner Wimper.

»Die Gesetze, an die wir uns halten müssen, mögen streng erscheinen, aber sie sind nicht ohne Grund die unseren. Arlo Jarsdels Fall ist nicht einfach. Ein eisengeborenes Mädchen, das wenig bis gar keine Magie besitzt, wird es in unserer Welt schwer haben. Wäre es nicht besser, solche Leute auf einen Weg zu führen, auf dem sie am besten gedeihen können, und das überschüssige Wissen zu beschneiden, das ihnen ohnehin nichts nützen würde? Wir haben diese Gesetze beschlossen, um unser Volk zu beschützen, Eure Hoheit. Das wisst Ihr.«

Celadon schwieg einen Moment länger, als es für die Anwesenden im Raum angenehm war. Selbst Arlo trat neben ihm unruhig von einem Fuß auf den anderen, während ihr Herz erneut panisch zu flattern begann.

Niemand hatte es direkt ausgesprochen, aber zum ersten Mal in dieser gesamten Sitzung war das Urteil greifbar – Arlos Verdammung zu einem Schicksal, das sie nie wählen würde, wenn ihr Leben wirklich von ihr selbst abhinge.

»Um es zu beschützen?« Celadon warf Arlo einen ungläubigen Blick zu. Als er sich wieder zum Rat drehte, runzelte er die Stirn. »Sie irritieren mich, Ratsherrin Chandra. Sie sprechen so, als seien Sie darauf aus, Arlo auszustoßen.«

Bei dieser unausgesprochenen Herausforderung blitzten Chandras dunkelbraune Augen auf. »Sie ist viel zu menschlich.«

»Ich bin sicher, Ihrer Allwissenheit ist nicht entgangen, dass ihre Mutter die Nichte meines Vaters, des Hochkönigs, ist. Arlo ist ein Mensch. Aber sie ist ebenso eine Elfe.«

»Wie dem auch sei, dies ist von äußerst geringer Bedeutung, wenn es um Miss Jarsdels Macht geht.« Arlo drehte sich der Magen herum. Chandra aber kam in Schwung und fuhr fort: »Das Blut ihres Vaters verdünnt ihr Elfenblut viel zu sehr. Sie besitzt Magie, das ist wohl wahr, aber nur so wenig, dass man genauso gut meinen könnte, sie hätte überhaupt keine. Unsere Überlegungen mögen Euch, Eure Hoheit, wie Vorurteile erscheinen, doch Ihr müsst verstehen, dass Miss Jarsdel viel mehr davon hätte, ihrer Menschlichkeit nachzugehen, als den überragenden Schatten der Familie ihrer Mutter nachzujagen.«

»Genug«, befahl Celadon.

Meistens hielt die Welt Celadon Viridian für einen verwöhnten kleinen Prinzen, der gerade erst aus der Phase pubertärer Dramatik heraus war. Und manchmal war er das auch, vor allem wenn er in der Laune war, schwierig zu sein. Doch im Großen und Ganzen hatte er dieses Image mit Absicht kultiviert. Das führte dazu, dass die Leute (unklugerweise und oft zu ihrem eigenen Nachteil) annahmen, er sei mehr als nur ein bisschen oberflächlich. Es fühlte sich wie ein kleiner Sieg an, als er dieses Image nun ablegte, um den Hohen Rat der Elfen mit einem Blick festzunageln, der seine Mitglieder sichtlich ins Wanken brachte.

»Es ist Arlos Vorrecht zu bestimmen, wem sie hinterherjagt. Genau so bestimmt es das Gesetz, auf das Sie einen so großen Wert zu legen scheinen. Sie haben sie bereits einer Möglichkeit beraubt, indem Sie ihr die Alchemie verboten haben, in der sie als Kind von Magie und Eisen ein Naturtalent gewesen wäre. Es steht außer Frage, dass sie in anderen Bereichen die geforderte Mindestbegabung gezeigt hat, um den hohen Maßstäben unserer Regierung gerecht zu werden. Und Sie mögen es als gewöhnlich abtun, aber ich würde mein Leben darauf verwetten, dass ihre Fähigkeit, die magische Signatur eines anderen zu spüren, weit über das hinausgeht, wozu Sie, die Ratsmitglieder, zusammen in der Lage sind. Jedem im Besitz von Magie, und mag sie noch so spärlich sein, müssen der Schutz und die Leitung der Höfe gewährt werden, sollte er sich unseren Regeln fügen wollen. Es ist Arlos Entscheidung und nicht die Ihre, Ratsmitglieder – das scheinen Sie alle vergessen zu haben.«

Celadon hielt einen Moment lang inne, um ein Ratsmitglied nach dem anderen finster anzustarren, und Arlo spürte abermals, wie ihr der Atem in der Brust schmerzhaft stockte. Er lenkte das Gespräch wieder zurück zu dem Argument, bei dessen Formulierung er ihr geholfen hatte, und tat dies weit überzeugender, als ihre Nerven es ihr jemals erlaubt hätten. Sie ertappte sich nicht das erste Mal bei dem Wunsch, sie selbst hätte etwas mehr von dieser Art Tapferkeit.

»Wenn das nicht ausreicht, um Ihre Bedenken zu zerstreuen, erinnere ich Sie gern noch an etwas anderes: Es spielt eine große Rolle, dass Ihre heutige Bittstellerin vom Blut des Hauses Viridian ist. Ich selbst war zum Beispiel ein Spätzünder. Ich, der elfengeborene Sohn des Hochkönigs Azurean. Ich hatte keinerlei Affinität für die Luft gezeigt – das Element meines Hofes –, bis vor fast zwei Jahren, als ich neunzehn wurde, auf einmal die REIFE eintrat. Und ich habe erst vor wenigen Monaten herausgefunden, dass ich zusätzlich zu dieser Affinität auch noch über eine GABE verfüge.«

Als der Rat erkannte, wohin Celadons Argumentation zweifellos führen würde, brach an der Richterbank Unruhe aus. Arlo war das genauso unangenehm.

»Wie Sie wissen«, sprach Celadon weiter, »orientieren wir uns bei der REIFEZEIT der Eisengeborenen an den menschlichen Standards der Pubertät. Es wird erwartet, dass sich ihre Magie vor dem achtzehnten Lebensjahr entwickelt. Das gilt jedoch nicht für unser Volk, oder? Nicht für die Elfen, von denen viele nur mit Windbrisen, elektrischen Funken oder Flammenhauchen herumspielen können, ehe sie selbst erwachsen werden, was zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren jederzeit passieren kann.«

Arlo wollte ihn anflehen aufzuhören – ihn daran erinnern, dass sie einfach nur Arlo und eindeutig keine Ausnahme war, auch wenn Celadon vielleicht eine bildete –, aber ihr wachsendes Unbehagen verschlug ihr die Sprache.

Celadon ignorierte ihre offensichtliche Verlegenheit. »Für die meisten Elfen ist diese winzige Elementarmagie alles, was sie jemals bewerkstelligen können, neben den Grundfähigkeiten SICHT und Zauber, die alle vom Feenvolk beherrschen sollten. Nicht einmal jeder Elf erbt eine echte ElementarGABE, richtig? Schließlich verfügen nicht alle von uns über die nötige Kraft, um beispielsweise andere durch das Wasser in deren Körpern zu beeinflussen, Waffen aus Elementen zu schaffen oder Geheimnisse aus der Luft zu ziehen. Ist niemandem von Ihnen in den Sinn gekommen, dass nicht Arlo Jarsdels Menschlichkeit sie von ihrem Erbe abhält, sondern die besondere Elfenbiologie?«

Letztendlich brach Arlo ihr Schweigen. »Cel!«, flüsterte sie eindringlich und zerrte an seinem Arm. Dieses Thema war nichts, was sie nicht schon bis zum Erbrechen durchgekaut hatten, aber Arlo war von Celadons vehementem Beharren, sie könne immer noch eine vollständige Elfe sein, nicht ganz überzeugt. An diesem Punkt würde er nicht rühren, wenn er in einem Gespräch aufkam. »Cel, ich glaube nicht, dass das Timing richtig ist, um das anzusprechen. Wir haben rein gar nichts, womit wir diese Behauptung untermauern könnten. Ich bin …«

»Das ist das perfekte Timing, um das anzusprechen«, konterte Celadon im Flüsterton. »Wir nehmen jeden Strohhalm, den wir kriegen, Arlo. Schon vergessen?«

Sie würden alles verwenden, was sie hatten, um den Rat zu überzeugen. Das war ihr Entschluss gewesen, als sie in diese Anhörung gegangen waren. Doch eine Karte auszuspielen, von der Arlo nicht sicher war, ob sie diese überhaupt besaß, kam einem Versprechen gleich, das sie nie würde einhalten können. Bei Leuten wie den Elfen war ein falsches Versprechen gleichbedeutend mit einer Lüge und das war ein weiterer Punkt, der sie als ungeeignet erscheinen ließe. Denn obwohl die Feen Lügen erzählen konnten, mieden sie diese mit der gleichen Abscheu wie Eisen.

»Okay, aber … fang bitte nicht an, die Leute anzuschreien, die gerade darüber nachdenken, mich aus dem ›Familienbetrieb‹ zu werfen«, hauchte sie und versuchte in der Hoffnung, ihre Panik würde dadurch abflauen, dem Moment einen sorglosen Anstrich zu geben.

Das klappte leider nicht.

Nach Celadons Rede herrschte im Saal große Spannung. Ratsherr Sylvain fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum. »Seht sie Euch an!«, zischte er. »Das Blut in ihren Adern ist rot und nicht blau – kein Elfenblut – und sie besitzt keine der Eigenschaften, die sie zu einer der Unsrigen machen würden. Sie ist ein Mensch, Hochprinz Celadon, und wir können hierbei keine Ausnahme machen, nur weil Ihr Eure Gunst gern um Euch werft, um Aufmerksamkeit zu erheischen.«

Von der Richterbank ertönte ein Japsen.

Mehrere Ratsmitglieder drehten sich entsetzt zu Sylvain um.

Arlo starrte ihn ebenfalls an. Sein Gesicht wurde silbrigweiß, als er erkannte, welch ungeheure Respektlosigkeit er sich gegenüber jemand so Wichtigem wie seinem Hochprinzen herausgenommen hatte. »Vielen Dank, Briar Sylvain«, sagte Celadon. Sein Tonfall war so höflich wie sein Lächeln, doch beider Drohung war unverkennbar. Seine grünen Augen sprühten Funken. »Ich dachte schon, Sie wären nicht mutig genug, mir ins Gesicht zu sagen, was Sie hinter meinem Rücken munkeln.«

Jenseits seines unglücklichen Kommentars war Arlo über den Inhalt von Sylvains Ausbruch nicht überrascht. Die Eisengeborenen hatten ihren Namen in Anlehnung auf die Eisenoxidation erhalten, die menschliches Blut rot färbte, sobald dieses mit Luft in Berührung kam. Das Blut von Elfen und Feen enthielt kein Eisen und blieb selbst dann blau, wenn es vergossen wurde. Und genügend Elfen sahen es immer noch als schweren Verrat an, dass sich ihr Blut überhaupt mit menschlichem vermischte, geschweige denn, dass es dabei seinen Farbton änderte. Sylvain war ein glasklares Beispiel dafür, dass dieses Vorurteil fortbestand.

Viele andere maßen der Blutfarbe jedoch keine solche Bedeutung mehr bei. Eine solche Reaktion empfand man als abstoßend, unabhängig davon, wer sie äußerte, vor allem aber, wenn sie von einem Mitglied des Hohen Rats der Elfen kam. Zudem war es das Schlimmste, was Sylvain in Anwesenheit eines mächtigen Prinzen sagen konnte, den er gerade erst beleidigt hatte und der sich seit Langem persönlich für die Rechte der Eisengeborenen einsetzte. Und nicht nur das: Spräche sich im derzeit aufgeheizten Klima herum, dass eines der Ratsmitglieder ein solch elitäres Verhalten an den Tag legte … Arlo wusste nicht, was dann passieren würde.

Nayani Larsen erhob sich endlich von ihrem Platz und ergriff im Versuch, die Situation zu beruhigen, anstelle des beschämten Ratsherrn Sylvain das Wort. Da Larsen die Ministerin des Rats war, kam es Arlo seltsam vor, dass ausgerechnet die Repräsentantin des UnSeelie-Frühlings in der Gruppe am freundlichsten zu sein schien – vielleicht nur, weil sie in ihren tiefen haselnussbraunen Augen und auf ihrem warmen, gelbbraunen Gesicht einen unverfälschten Ausdruck der Empörung zu Arlos Gunsten trug. »Der Rat entschuldigt sich für Lord Sylvains Bemerkung und versichert Euch, dass dies nicht ungestraft bleiben wird.« Ihre Nasenflügel blähten sich, als wolle sie gern ihre klare Verachtung für die Formulierung ihres Kollegen, wie sie ein Vertreter des Frühlings, näher zum Ausdruck bringen und sei gerade noch imstande, sich zurückzuhalten. »Wir wollen weder Euch noch Miss Jarsdel gegenüber respektlos auftreten und Ihr habt selbstverständlich recht, Eure Hoheit. Es ist Miss Jarsdels Entscheidung. Sie hat ausreichend geerbte Magie bewiesen, um sich ihren Platz an den Höfen zu verdienen. Ihr müsst jedoch zustimmen, dass sie uns keinen Grund gegeben hat, ihr einen höheren Status zu gewähren – wir würden unsere Macht missbrauchen, wenn wir ihr das Recht auf den Status einer Elfe überlassen, ohne dass sie eine seiner Voraussetzungen erfüllt.«

»Außer natürlich, dass sie eine Elfe ist und aus einem der Acht Gründerhäuser stammt«, antwortete Celadon gereizt.

Ratsherrin Larsen nickte. »Außer dass sie eine Elfe ist und aus einem der Acht Gründerhäuser stammt. Das wird der Rat nicht ignorieren.«

Allein ihr Gatte, der Mann an der Seite von Ratsherrin Larsen – klein für Elfenverhältnisse, mit goldbrauner Haut und sehr blond – zeigte bei ihren Worten keine Überraschung. Der Rest des Rats sah verwirrt zu seiner Vorsitzenden auf.

»Arlo Jarsdel.«

Arlo spürte den Moment, in dem sich alle Blicke im Raum auf sie richteten.

Wenn es ihr bereits vorher schwergefallen war zu atmen, so war das nichts im Vergleich zu dem Schwindelgefühl, das sie jetzt empfand, da sie wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet.

»J… Ja, Frau Ministerin?«

»Wie es unser Gesetz vorschreibt, haben Sie die Wahl: Sie können sich Ihrem menschlichen Erbe fügen und Ihr Wissen um die Existenz der Höfe aufgeben. Sollten Sie es jedoch wünschen, so gewährt Ihnen Ihr ausreichendes Magieerbe die Möglichkeit, dieses Wissen sowie Ihre Staatsbürgerschaft am Hof des UnSeelie-Frühlings zu behalten. Ihr Elfenstatus wird zwar nicht anerkannt, aber Ihnen wird ein Platz in der magischen Gemeinschaft gewährt.«

Erleichterung durchströmte Arlo und erfüllte sie mit einem Kribbeln, das ein bisschen an prickelnde Nadeln auf ihrer Haut erinnerte. Dabei versuchte ihr Empfindungsvermögen, in ihre Gliedmaßen zurückzukehren. Sie konnte nicht wirklich glauben, was sie da hörte. Dass nach alledem, was sie heute Abend durchgemacht hatte, ihre WÄGUNG doch mit etwas anderem als ihrer Verstoßung endete.

Arlos Entschluss lag ihr auf der Zunge. Sie wusste bereits, wofür sie sich entscheiden wollte, und war drauf und dran, damit herauszuplatzen. Ratsherrin Larsen war jedoch noch nicht fertig.

»Allerdings bieten wir Ihnen noch eine dritte Option an. Einen Kompromiss sozusagen. In Anbetracht der Familie, aus der Ihr magisches Erbe stammt, wird der Rat die Möglichkeit der – um den Begriff des Hochprinzen zu verwenden – ›besonderen Elfenbiologie‹ anerkennen. Sie sind nicht das erste eisengeborene Kind königlicher Elfeneltern und noch keines ist dem Standardzyklus der ElfenREIFE gefolgt. Doch aus Respekt vor dem Haus unseres Hochkönigs werden wir Ihnen die Option einräumen, diese Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen.«

Im Rat machte sich der Schock noch deutlicher bemerkbar.

Arlo fühlte sich so gelähmt wie noch nie zuvor an diesem Abend.

Sie würden diese Anhörung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben? Wollten sie tatsächlich Celadons verzweifeltem Ringen um Arlos vollständigen Elfenstatus und Platz in der Linie der Viridian nachgeben?

»Ich … wirklich? Und wann wäre das nächste Mal, Euer Vorstand?«

»Sollten Sie sich dafür entscheiden, wird der Rat diese Anhörung an jenem Tag wiederholen, der den Beginn Ihres sechsundzwanzigsten Lebensjahres markiert. Zu dieser Zeit werden Sie sich erneut zur WÄGUNG stellen, und wenn sich Ihr Elfenerbe so offenbart hat, wie es dies sollte, wird Ihnen das komplette Privileg und der volle Status des königlichen Blutes zugestanden, das durch Ihre Adern fließt. Doch sollte Ihre REIFE bis zu dieser Zeit nicht eingetreten sein, werden sich Ihre Auswahlmöglichkeiten wieder auf die jetzigen beschränken: nämlich ein Leben als Mensch oder gewöhnliche magische Bürgerin.«

»Und was macht sie bis dahin?«, erkundigte sich eine neue Stimme aus dem hinteren Teil des Saals.

Arlo konnte nicht anders, als herumzuwirbeln.

Dort in der Tür, die nach Celadons Eintritt immer noch geöffnet war, stand Arlos Mutter Thalo.

Thalo und Celadon sahen sich unheimlich ähnlich, wenngleich sie nur Cousine und Cousin ersten Grades waren. Ihre Mutter wirkte viel jünger als zweiundvierzig. Und mit demselben dämmrig leuchtenden Teint, der gertenschlanken Statur, den rotbraunen Haaren und entzückenden Gesichtszügen wie Celadons lage es nahe, sie für Geschwister zu halten, obwohl eigentlich der Hochkönig und Thalos Mutter, Prinzessin Cyanine, Bruder und Schwester waren.

Drei weitere Elfen, die stilvoll gekleidet und ebenso neugierig auf diese ungewöhnlichen Vorgänge waren, standen um den Rand der Türschwelle versammelt und spähten in den Raum. Sie richteten sich geschwind auf, als sie merkten, dass Thalo aller Aufmerksamkeit auf ihre Spionage gelenkt hatte – das war höchstwahrscheinlich das Personal, das diese Anhörung geheim halten sollte.

Ratsherrin Larsen hob eine Augenbraue.

Niemand dachte weiter darüber nach, dass Celadon meinte, Regeln galten für andere Leute und nicht ihn. Doch von Thalo, die das Schwert des Hochkönigs – die Generalin seiner Königsgarde – und das Oberhaupt der Falchion-Polizeitruppe war, erwarteten sie ein etwas anständigeres Verhalten. »Bis dahin«, fuhr Larsen elegant fort, »werden wir ihr den Status der Volljährigkeit an den Höfen vorenthalten und ihr erlauben, genauso weiterzuleben, wie sie es die letzten achtzehn Jahre getan hat – als Mitglied des Feenvolks auf Probe und bis zu ihrer nächsten WÄGUNG einfache Beobachterin unserer Angelegenheiten.«

Thalo blickte zurück zu Arlo und Hoffnung schimmerte in ihrer sonst so zurückhaltenden Miene. »Es ist Arlos Entscheidung«, sagte sie. Ihre Atemlosigkeit sprach Bände.

»Gewiss«, erwiderte Gavin Larsen, Nayanis Ehemann und Repräsentant des Seelie-Sommers, der über die Vorgänge lediglich amüsiert schien. »Und wie lautet diese?«

Wie lautete Arlos Entschluss?

Der Rat konnte ihre Erinnerungen löschen. Dann würde sie diesen Raum sozusagen als Mensch verlassen und als solcher bis zum Ende ihres unnatürlich langen Lebens leben. Das war das genaue Gegenteil von dem, was sie wollte.

Sie konnte auch die Gnade der gewöhnlichen Staatsbürgerschaft annehmen und ihr Leben wie ursprünglich geplant weiterleben. Dadurch würde sie weder den glorreichen Rang einer Elfe innehaben noch an den Elfenuniversitäten studieren oder eine höhere Position als allgemeine Hilfskraft im Palast einnehmen dürfen. Aber sie hätte zumindest einen Platz in den Welten ihrer beiden Elternteile und alle Erinnerungen blieben ihr.

Oder diese neue dritte Option: eine Verschiebung.

Das hieße, sie müsste ihre Jugendhölle verlängern und würde aus allem, was mit den Höfen zu tun hatte, herausgehalten werden, bis der Rat in acht Jahren wieder zusammenkam. Und das alles für die Aussicht