Fourth Wing – Flammengeküsst - Rebecca Yarros - E-Book
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Fourth Wing – Flammengeküsst E-Book

Rebecca Yarros

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Beschreibung

Ein Drache ohne seinen Reiter ist eine Tragödie. Ein Reiter ohne seinen Drachen ist tot. Violets Traum, Schriftgelehrte am renommierten Basgiath War College zu werden, zerplatzt jäh, als sie als Tochter der Generalin am Auswahlverfahren der Drachenreiter teilnehmen muss. Das erste Jahr wird nicht einmal die Hälfte aller Kadetten überleben, denn Drachen binden keine schwachen Menschen, sie fackeln sie nieder. Die meisten Kadetten würden Violet vermutlich allein aufgrund ihrer Herkunft niederstrecken wollen – besonders Xaden, der mächtigste und skrupelloseste unter den Geschwaderführern. Und ohne Frage auch der attraktivste. Ausgerechnet ihm wird Violet unterstellt. Sie muss jeden Vorteil nutzen, wenn sie überleben will. Denn am Basgiath War College haben alle eine Agenda, egal ob Freund, Feind oder möglicher Geliebter, und es gibt nur zwei Wege hinaus: den Abschluss machen oder sterben. Knisternde Spannung und große Gefühle – ein atemberaubender Romantic-Fantasy-Reihenauftakt! Perfekt für alle Fans von Jennifer L. Armentrout, Naomi Novik und Sarah J. Maas.

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Seitenzahl: 1019

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Über das Buch

Eigentlich hatte Violet sich ihr ganzes Leben darauf vorbereitet, Schriftgelehrte am Basgiath War College zu werden. Zumindest bis die Generalin – eine hochdekorierte Kriegsheldin, auch bekannt als ihre knallharte Mutter – ihr befiehlt, am Auswahlverfahren der Drachenreiter teilzunehmen. Auch wenn das einem Todesurteil gleichkommt, denn Violet ist kleiner und fragiler als andere und Drachen binden sich nicht an schwache Menschen.

Immer weniger Drachen sind bereit, sich zu binden, und so sind die Kadetten mehr als gewillt, ihre Konkurrenz mit allen Mitteln auszuschalten. Wenn sie Violet nicht schon allein aufgrund ihrer Herkunft hassen, so wie der mysteriöse Xaden – Sohn eines Verräters, den Violets Mutter zur Strecke brachte. Doch aus irgendeinem Grund verschont er Violet und zwischen ihnen schwelt nicht nur Abneigung.

Mit jedem Tag tobt der Krieg um die Grenzen des Königreichs heftiger und Violet vermutet, dass ihre Anführer ein schreckliches Geheimnis hüten.

Wenn jeder Sonnenaufgang ihr letzter gewesen sein könnte, wem kann Violet dann vertrauen?

 

Knisternde Spannung und große Gefühle – ein atemberaubender Romantic-Fantasy-Reihenauftakt!

Rebecca Yarros

Fourth Wing

Flammengeküsst

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Kolodziejcok

 

 

 

Anmerkung der Autorin

 

Fourth Wing – Flammengeküsst behandelt Themen, die potenziell belastend wirken können. Dieses Buch ist ein spannendes Fantasyabenteuer, das in dem brutalen und von Konkurrenz bestimmten Militärcollege der Drachenreiterinnen und -reiter spielt. Es kommen darin Kriegselemente vor, Schlachten, Nahkämpfe, gefährliche Situationen, Blut, Gewalt, schwere Verletzungen, Tod, Vergiftungen, derbe Sprache und sexuelle Handlungen. Leserinnen und Leser, die solchen Dingen gegenüber empfindlich sind, mögen dies bitte zur Kenntnis nehmen und sich wappnen, um das Basgiath War College zu betreten.

 

 

 

Für Aaron.

Mein eigener Captain America.

Durch sämtliche Einsätze und Umzüge hindurch,

durch die sonnigsten Höhen und dunkelsten Tiefen,

nie konnte sich etwas zwischen uns stellen.

 

Ein Hoch auf die Künstler und Künstlerinnen!

Ihr habt die Macht, die Welt zu gestalten.

 

 

 

Der folgende Text wurde von Jesinia Neilwart, Kuratorin des Quadranten der Schriftgelehrten am Basgiath War College, originalgetreu aus dem Navarrianischen in die moderne Sprache übertragen. Alle Ereignisse sind wahr und die Namen wurden beibehalten, um die Gefallenen und ihre Tapferkeit zu ehren. Möge Malek ihren Seelen gnädig sein.

1

Ein Drache ohne seinen Reiter ist tragisch.

Ein Reiter ohne seinen Drachen ist tot.

Artikel eins, Absatz eins,

DER KODEX DER DRACHENREITER

 

 

Der Einberufungstag ist immer am tödlichsten. Vielleicht ist deshalb der Sonnenaufgang heute Morgen besonders schön – weil ich weiß, dass es mein letzter sein könnte.

Ich zurre die Riemen meines Segeltuchrucksacks fest und stapfe die breite Treppe der steinernen Festung hinauf, die ich mein Zuhause nenne. Meine Brust hebt und senkt sich vor Anstrengung und als ich endlich den Korridor erreiche, der zum Büro von General Sorrengail führt, brennt meine Lunge. Das also haben mir sechs Monate intensiven körperlichen Trainings gebracht – dass ich es gerade mal sechs Treppenabsätze mit einem dreißig Pfund schweren Rucksack auf dem Rücken hochschaffe.

Ich bin so was von am Arsch.

Die zahlreichen Zwanzigjährigen, die vor dem Tor warten, um in ihrem erwählten Quadranten den Dienst anzutreten, sind die klügsten und stärksten in Navarre. Etliche haben sich seit ihrer Geburt auf den Reiterquadranten vorbereitet, auf die Chance, der Elite anzugehören. Ich hatte exakt sechs Monate Zeit.

Die Wachen, die mit ausdruckslosen Mienen den breiten Flur am Ende der Treppe säumen, vermeiden es, mich anzusehen, als ich an ihnen vorbeigehe, aber das ist nichts Neues. Außerdem – ignoriert zu werden ist das bestmögliche Szenario für mich.

Das Basgiath War College ist dafür bekannt, nicht gerade nett zu sein zu … na ja, eigentlich zu niemandem, auch nicht zu denen, deren Mütter hier das Sagen haben.

Jeder navarrianische Offizier, egal ob er sich zum Heilkundigen, Schriftgelehrten, Infanteristen oder Reiter ausbilden lässt, wird drei Jahre lang innerhalb dieser grausamen Mauern zu einer Waffe geformt. Diese wird dazu dienen, unsere bergigen Grenzen vor den gewalttätigen Invasionsversuchen des Königreichs Poromiel und seinen Greifenreitern zu schützen. Die Schwachen überleben hier nicht, schon gar nicht im Reiterquadranten. Dafür sorgen die Drachen.

»Du schickst sie in den sicheren Tod!«, dröhnt eine vertraute Stimme durch die dicke Holztür und ich schnappe nach Luft. Es gibt nur eine einzige Frau auf dem Kontinent, die töricht genug ist, der Generalin gegenüber ihre Stimme zu erheben, allerdings müsste sie gerade mit dem Ostgeschwader an der Grenze sein. Mira.

Die Antwort ist nur gedämpft zu hören und ich greife nach der Klinke.

»Sie hat nicht die geringste Chance«, ruft Mira in dem Augenblick, als ich die schwere Tür aufstoße, wobei sich das Gewicht meines Rucksacks nach vorn verlagert und ich ins Straucheln gerate. Shit.

Die Generalin flucht hinter ihrem Schreibtisch und ich klammere mich schnell an der Rückenlehne einer weinroten Polstercouch fest, um mein Gleichgewicht wiederzuerlangen.

»Verdammt, Mom, sie kommt ja noch nicht mal mit ihrem Rucksack zurecht«, faucht Mira und eilt zu mir.

»Mir geht’s gut!« Meine Wangen glühen vor Scham und ich zwinge mich dazu, mich aufzurichten. Mira ist erst seit fünf Minuten zurück und versucht schon mich zu retten. Weil du gerettet werden musst, du Dummkopf.

Ich will das nicht. Ich will diesen ganzen Reiterquadranten-Mist nicht. Ist ja nicht so, dass ich Todessehnsucht hätte. Ich wäre besser dran gewesen, wenn ich den Aufnahmetest am Basgiath vergeigt hätte und direkt zur Armee gegangen wäre, so wie der Großteil der Einberufenen. Aber ich komme mit meinem Rucksack zurecht und ich werde mit mir selbst zurechtkommen.

»Oh, Violet.« Sorgenvolle braune Augen blicken auf mich herunter, während sich ein Paar starker Hände auf meine Schultern legt.

»Hallo, Mira.« Ein Lächeln zerrt an meinen Mundwinkeln. Sie ist vermutlich hier, um sich von mir zu verabschieden, aber ich bin einfach unsagbar froh meine Schwester zum ersten Mal seit Langem wiederzusehen.

Ihr Blick wird weicher und ihre Finger graben sich in meine Schultern, als wollte sie mich in eine Umarmung ziehen. Doch sie weicht einen Schritt nach hinten und dreht sich halb um, sodass sie neben mir steht, den Blick auf unsere Mutter gerichtet. »Das kannst du nicht tun.«

»Es ist bereits getan.« Mom zuckt mit den Schultern und ihre maßgeschneiderte schwarze Uniform schlägt bei der Bewegung ein paar kleine Falten.

Ich stoße ein spöttisches Schnauben aus. So viel also zu meiner Hoffnung auf Begnadigung. Nicht dass ich jemals auch nur ein Quäntchen Erbarmen erwartet hätte von einer Frau, die berühmt dafür ist, keines zu haben.

»Dann mach es rückgängig«, zischt Mira wütend. »Sie hat sich ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet, eine Schriftgelehrte zu werden. Sie wurde nicht zur Reiterin erzogen.«

»Nun, sie ist sicherlich nicht so wie du, nicht wahr, Lieutenant Sorrengail?« Mom stützt ihre Hände auf die makellose Platte ihres Schreibtisches und lehnt sich leicht vor, während sie uns abschätzend mustert. Ihre zusammengekniffenen Augen sehen aus wie die der Drachen, die in die Möbelfüße geschnitzt sind. Ich bin nicht auf die verbotene Fähigkeit des Gedankenlesens angewiesen, um genau zu wissen, was in ihr vorgeht.

Mit ihren sechsundzwanzig Jahren ist Mira eine jüngere Version unserer Mutter. Sie ist groß, mit starken, kräftigen Muskeln, die vom Sparring und den Hunderten von Stunden, die sie auf dem Rücken eines Drachen verbracht hat, beeindruckend gestählt sind. Ihre Haut leuchtet geradezu vor Vitalität und ihr goldbraunes Haar ist für den Kampf kurz gehalten, so wie das von Mom. Aber noch mehr als im Aussehen ähnelt sie unserer Mutter in ihrer arroganten Haltung, sie strahlt die gleiche unerschütterliche Überzeugung aus, dass der Himmel ihr gehört. Sie ist eine Reiterin durch und durch.

Sie ist all das, was ich nicht bin, und das missbilligende Kopfschütteln von Mom macht deutlich, dass ihr das ebenfalls bewusst ist. Ich bin zu klein. Zu zart. Ich habe noch weniger Muskeln als Kurven und mein verräterischer Körper macht mich beschämend verwundbar.

Mom kommt auf uns zu, ihre polierten schwarzen Stiefel glänzen im Schein der Magielichter, die in den Wandleuchtern flackern. Sie greift nach meinem langen Flechtzopf und betrachtet mit verächtlicher Miene den Teil, an dem mein Haar beginnend oberhalb der Schultern seinen warmen Braunton verliert und zu einem stählernen Silber verblasst, dann lässt sie ihn fallen. »Blasse Haut, blasse Augen, blasses Haar.« Ihr Blick saugt mir jedes bisschen Selbstbewusstsein aus den Knochen. »Als hätte dich das Fieber jeder Farbe beraubt, zusammen mit deiner Kraft.« Kummer blitzt in ihren Augen auf und sie runzelt die Stirn. »Ich habe ihm gesagt, dass er dich nicht ständig in dieser Bibliothek lassen soll.«

Nicht zum ersten Mal höre ich, wie sie die Krankheit verflucht, die sie beinahe umgebracht hätte, als sie mit mir schwanger war. Genauso wie die Bibliothek, die Dad zu meinem zweiten Zuhause machte, nachdem sie hier am Basgiath als Ausbilderin und er als Schriftgelehrter stationiert wurden.

»Ich liebe diese Bibliothek«, entgegne ich. Es ist über ein Jahr her, dass Dads Herz versagte, und das Archiv ist immer noch der einzige Ort in dieser riesigen Festung, an dem ich mich zu Hause fühle. Der einzige Ort, an dem ich immer noch die Anwesenheit meines Vaters spüre.

»Gesprochen wie die Tochter eines Schriftgelehrten«, sagt meine Mutter leise und kurz erkenne ich in ihr die Frau, die sie war, als Dad noch lebte. Weicher. Freundlicher … zumindest gegenüber ihrer Familie.

»Ich bin die Tochter eines Schriftgelehrten.« Mein Rücken schreit vor Schmerzen, also lasse ich den Rucksack langsam von meinen Schultern zu Boden gleiten und atme zum ersten Mal, seit ich mein Zimmer verlassen habe, tief durch.

Mom blinzelt und die weichere Frau ist verschwunden. Zurück bleibt nur die Generalin. »Du bist die Tochter einer Reiterin, du bist zwanzig Jahre alt und heute ist Einberufungstag. Ich habe gestattet, dass du deinen Privatunterricht zu Ende bringst, aber wie ich dir bereits letztes Frühjahr sagte – ich sehe nicht dabei zu, wie eins meiner Kinder den Schreiberquadranten betritt, Violet.«

»Weil Schriftgelehrte so weit unter den Reitern rangieren?«, knurre ich, wohl wissend, dass die Reiter und Reiterinnen an der Spitze der militärischen Hierarchie stehen. Dabei hilfreich ist mit Sicherheit die Tatsache, dass ihre mit ihnen verbundenen Drachen Leute zum Spaß grillen.

»Ja!« Ihre gewohnte Beherrschung gerät kurz ins Wanken. »Und solltest du es wagen, heute den Tunnel Richtung Schreiberquadrant zu betreten, werde ich dich an diesem lächerlichen Zopf wieder herauszerren und dich eigenhändig auf den Viadukt stellen.«

Mein Magen krampft sich zusammen.

»Dad würde das nicht wollen!«, wendet Mira ein und die Röte schießt ihr über den Hals.

»Ich habe euren Vater geliebt, aber er ist tot«, sagt Mom, als würde sie über das Wetter sprechen. »Ich bezweifle, dass er noch groß irgendetwas will.«

Ich ziehe scharf die Luft ein, halte aber den Mund. Ihr zu widersprechen bringt nichts. Sie hat mir bisher noch nie zugehört und heute wird es nicht anders sein.

»Violet in den Reiterquadranten zu schicken kommt einem Todesurteil gleich.« Mira ist anscheinend noch nicht fertig mit Diskutieren. Mira ist nie fertig, mit Mom zu diskutieren, und das Frustrierende an der Sache ist, dass meine Mutter sie dafür stets respektiert hat. Zweierlei Maß vom Feinsten. »Sie ist nicht stark genug, Mom! Sie hat sich dieses Jahr bereits den Arm gebrochen, jede zweite Woche verstaucht sie sich irgendwas Neues. Außerdem ist sie zu klein, um auf einen Drachen zu klettern, der groß genug wäre, um sie im Kampf am Leben zu halten.«

»Echt jetzt, Mira?« Was. Zur. Hölle. Meine Fingernägel bohren sich schmerzhaft in die Handflächen. Zu wissen, dass meine Überlebenschancen minimal sind, ist die eine Sache. Eine Schwester zu haben, die mir meine Unzulänglichkeiten so unverblümt um die Ohren klatscht, eine andere. »Willst du damit sagen, ich sei schwach?«

»Nein.« Mira drückt meine Hand. »Nur … zerbrechlich …«

»Das ist kein bisschen besser.« Drachen binden sich nicht an zerbrechliche Frauen. Sie fackeln sie nieder.

»Sie ist also klein.« Mom mustert mich von Kopf bis Fuß und begutachtet die sehr großzügig geschnittene Kombination aus cremefarbener Tunika und Hose, die ich heute Morgen für meine potenzielle Hinrichtung ausgesucht habe.

Ich gebe einen spöttischen Laut von mir. »Wollen wir jetzt alle meine Makel aufzählen?«

»Ich habe nie gesagt, dass es ein Makel ist.« Mom dreht sich zu meiner Schwester um. »Mira, Violet muss an einem einzigen Vormittag mehr Schmerzen aushalten als du in einer ganzen Woche. Wenn irgendeins meiner Kinder den Reiterquadranten überleben kann, dann sie.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Das klang verdächtig nach einem Kompliment, aber bei Mom bin ich mir nie ganz sicher.

»Wie viele Reiteranwärter sterben am Einberufungstag, Mom? Vierzig? Fünfzig? Bist du so erpicht darauf, ein weiteres Kind zu beerdigen?«, faucht Mira.

Ich erschaudere, als die Temperatur im Raum abrupt abfällt, dank der Sturmbeschwörungs-Siegelkraft, die meine Mutter durch ihren Drachen, Aimsir, kanalisiert.

Die Erinnerung an meinen Bruder schnürt mir die Brust zu. Niemand hat es gewagt, Brennan oder seinen Drachen zu erwähnen, seit die beiden vor fünf Jahren im Kampf gegen die Tyrrische Rebellion im Süden gestorben sind. Mom toleriert mich und sie respektiert Mira, aber Brennan hat sie geliebt.

Und Dad hat ihn auch geliebt. Seine Brustschmerzen setzten unmittelbar nach Brennans Tod ein.

Moms Kiefer spannt sich an und ihre Augen drohen mit Vergeltung, während sie Mira mit ihrem Blick durchbohrt.

Meine Schwester schluckt, hält diesem Anstarrwettbewerb aber tapfer stand.

»Mom«, beginne ich. »Sie wollte nicht …«

»Raus. Sofort. Lieutenant.« Moms Worte wabern als kleine Dampfwölkchen durch ihr frostig kaltes Büro. »Bevor ich dich als unerlaubt abwesend von deiner Einheit melde.«

Mira richtet sich kerzengerade auf, nickt knapp und dreht sich mit militärischer Präzision um, bevor sie ohne ein weiteres Wort zur Tür schreitet und sich auf ihrem Weg nach draußen einen kleinen Rucksack schnappt.

Zum ersten Mal seit Monaten sind Mom und ich allein.

Ihr Blick begegnet meinem und sie atmet tief ein. Die Raumtemperatur klettert daraufhin wieder nach oben. »Bei der Aufnahmeprüfung lagst du bei Schnelligkeit und Wendigkeit im obersten Viertel. Du wirst deine Sache gut machen. Alle Sorrengails machen ihre Sache gut.« Sie streicht mir mit dem Handrücken über die Wange, ohne dass ihre Finger wirklich meine Haut berühren. »Du bist deinem Vater so ähnlich«, flüstert sie, bevor sie sich räuspert und ein paar Schritte zurückweicht.

Ich schätze, es gibt wohl keine Verdienstauszeichnungen für emotionale Zugänglichkeit.

»Ich werde dich die nächsten drei Jahre nicht beachten können«, sagt sie und lehnt sich gegen die Kante ihres Schreibtisches. »Denn als Oberbefehlshaberin von Basgiath werde ich im Rang weit über dir stehen.«

»Ich weiß.« Das ist meine geringste Sorge, schließlich hat sie mich noch nie groß beachtet.

»Du wirst auch keine Sonderbehandlung bekommen, weil du meine Tochter bist. Wenn überhaupt, werden sie dich noch härter rannehmen, um dich auf die Probe zu stellen.«

»Dessen bin ich mir voll bewusst.« Zum Glück habe ich die letzten paar Monate, seit Mom ihr Dekret erlassen hat, mit Major Gillstead trainiert.

Sie seufzt und setzt ein verkniffenes Lächeln auf. »Dann sehen wir uns wohl im Tal beim Dreschen, Anwärterin. Wobei ich annehme, dass du bei Sonnenuntergang eine Kadettin sein wirst.«

Oder tot.

Keine von uns beiden spricht es aus.

»Viel Glück, Anwärterin Sorrengail.« Sie geht wieder hinter ihren Schreibtisch zurück und ich bin entlassen.

»Danke, Frau General.« Ich hebe meinen Rucksack auf die Schultern und verlasse ihr Büro. Ein Wachmann schließt hinter mir die Tür.

»Sie ist völlig durchgeknallt«, schnaubt Mira. Sie steht in der Mitte des Flurs, genau zwischen zwei Wachposten.

»Sie werden ihr melden, dass du das gesagt hast.«

»Als ob sie das nicht längst wüssten«, knurrt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Lass uns gehen. Wir haben nur noch eine Stunde Zeit, bis sich alle Anwärter und Anwärterinnen gemeldet haben müssen, und ich habe Tausende vor den Toren warten sehen, als ich drüber hinweggeflogen bin.« Sie geht voran, die Steintreppe hinunter, und folgt den Fluren bis zu meinem Zimmer.

Also, es war mal mein Zimmer.

In den dreißig Minuten, die ich weg war, wurden alle meine persönlichen Sachen in Kisten verstaut, die jetzt aufgestapelt in der Ecke stehen. Mir sackt der Magen in die Kniekehlen. Mom hat mein ganzes Leben einpacken lassen.

»Sie ist verdammt effizient, das muss man ihr lassen«, murmelt Mira, bevor sie sich zu mir umdreht und mich mustert. »Ich habe gehofft, es ihr ausreden zu können. Du warst nie für den Reiterquadranten bestimmt.«

»Das hast du bereits erwähnt.« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Mehrfach.«

»Tut mir leid.« Sie zuckt zusammen, hockt sich auf den Boden und leert ihren Rucksack aus.

»Was tust du da?«

»Das, was Brennan für mich getan hat«, sagt sie leise und der Kummer schnürt mir die Kehle zu. »Kannst du ein Schwert benutzen?«

Ich schüttele den Kopf. »Zu schwer. Aber ich bin ziemlich flink mit dem Dolch.« Verdammt schnell sogar. Blitzschnell. Was mir an Kraft fehlt, mache ich mit Schnelligkeit wett.

»Das dachte ich mir. Gut. Also, setz deinen Rucksack ab und zieh diese grässlichen Stiefel aus.« Sie wühlt in den Sachen, die sie mitgebracht hat, und gibt mir ein Paar neue Stiefel und eine schwarze Uniform. »Zieh das an.«

»Was gibt es an meinem Rucksack auszusetzen?«, frage ich, lasse ihn aber trotzdem zu Boden fallen. Sofort macht sie sich darüber her und reißt alles heraus, was ich sorgfältig eingepackt habe. »Mira! Dafür habe ich die ganze Nacht gebraucht!«

»Du schleppst viel zu viel Zeug mit dir rum und deine Stiefel sind eine Todesfalle. Mit diesen glatten Sohlen wirst du sofort vom Viadukt rutschen. Ich habe für alle Fälle ein Paar Stiefel mit Gummisohlen für dich machen lassen. Und das, meine liebe Violet, ist der Ernstfall.« Bücher fliegen durch die Luft und landen in der Nähe der Kisten.

»Hey, ich darf nur das mitnehmen, was ich tragen kann, und die will ich behalten!« Ich werfe mich aufs nächste Buch, bevor sie die Gelegenheit hat, es zur Seite zu schleudern, und kann so mit knapper Not meine Lieblingssammlung düsterer Fabeln retten.

»Bist du bereit, dafür zu sterben?«, fragt sie und ihr Blick wird hart.

»Ich kann es tragen!« Das ist alles so falsch. Ich sollte den Büchern mein Leben widmen und sie nicht in die Ecke werfen, um meinen Rucksack leichter zu machen.

»Nein. Das kannst du nicht. Du wiegst gerade dreimal so viel wie der Rucksack, der Viadukt ist knapp fünfundvierzig Zentimeter breit und befindet sich sechzig Meter über dem Abgrund, und das letzte Mal, als ich nachgeschaut habe, zogen dicke Regenwolken heran. Sie werden euch bei Regen keinen Aufschub geben, nur weil es auf dem Viadukt etwas rutschig werden könnte, Schwesterherz. Du wirst abstürzen. Du wirst sterben. Wirst du mir jetzt also endlich zuhören? Oder willst du beim Appell morgen zusammen mit den anderen toten Anwärtern auf der Gefallenenliste stehen?« Ich erkenne keine Spur von meiner großen Schwester in der Reiterin, die vor mir steht. Diese Frau hier ist schlau, gerissen und ein kleines bisschen grausam. Diese Frau hier hat die gesamten drei Jahre überstanden und nur eine einzige Narbe davongetragen – die, die sie von ihrem eigenen Drachen beim Dreschen verpasst bekommen hat. »Denn das ist alles, was du sein wirst. Ein weiteres Grabmal. Ein weiterer in Stein gebrannter Name. Schmeiß also die Bücher weg.«

»Dad hat mir das hier geschenkt«, murmele ich und drücke das Buch an die Brust. Es mag nur eine alberne Sammlung von Geschichten sein, die uns vor den Verlockungen der Magie warnen und sogar Drachen verteufeln, aber es ist alles, was ich noch von ihm habe.

Sie seufzt. »Ist das dieser staubige alte Märchenschinken mit den Ve-Dingsbums, die über dunkle Kräfte verfügen, und ihren geflügelten Drachenviechern? Hast du das nicht schon mindestens tausendmal gelesen?«

»Wahrscheinlich öfter«, gestehe ich. »Und sie heißen Veneni, nicht Ve-Dingsbums.«

»Dad und seine Moralgeschichten«, sagt sie. »Versuche nie, Kraft zu kanalisieren, ohne eine gebundene Reiterin zu sein, dann legen sich auch keine rotäugigen Monster unter deinem Bett auf die Lauer, um dich auf ihren zweibeinigen Drachen zu entführen und dich in ihre Armee der Finsternis zu stecken.« Sie holt das letzte Buch, das ich eingepackt habe, aus dem Rucksack heraus und gibt es mir. »Lass die Bücher zurück. Dad kann dich nicht retten. Er hat es versucht. Ich habe es versucht. Entscheide dich, Violet. Willst du als Schriftgelehrte sterben? Oder als Reiterin leben?«

Ich blicke auf die Bücher in meinen Armen und treffe meine Wahl. »Du bist eine Nervensäge.« Ich lege die Fabelsammlung in die Kistenecke, behalte den anderen Wälzer aber in den Händen, als ich mich zu meiner Schwester umdrehe.

»Eine Nervensäge, die dafür sorgt, dass du am Leben bleibst. Wofür ist das?«, fragt sie herausfordernd.

»Um Leute zu töten.« Ich gebe ihr das Buch zurück.

Ein Lächeln kriecht ihr aufs Gesicht. »Gut. Das darfst du behalten. Zieh dich jetzt um, während ich mich um das restliche Chaos hier kümmere.« Hoch über unseren Köpfen ertönt eine Glocke. Wir haben fünfundvierzig Minuten Zeit.

Ich ziehe mich schnell um, aber alle Sachen fühlen sich an, als würden sie jemand anderem gehören, obwohl sie offenbar auf meine Größe zugeschnitten sind. Meine Tunika wird ersetzt durch ein eng anliegendes schwarzes Hemd mit langen Ärmeln und meine luftige Hose wird gegen eine aus Leder eingetauscht, die jede Kurve meines Körpers umschmiegt. Zum Schluss schnürt Mira mich in ein westenartiges Korsett, das über dem Hemd getragen wird.

»Damit es nicht scheuert«, erklärt sie.

»Wie die Rüstung, die die Reiter im Kampf tragen.« Ich muss zugeben, dass die Klamotten ziemlich krass sind, auch wenn ich mir wie eine Hochstaplerin vorkomme. Bei allen Göttern, das hier passiert wirklich.

»Denn genau das tust du – in den Kampf ziehen.«

Die Materialkombination aus Leder und einem mir unbekannten Stoff bedeckt meinen Körper vom Schlüsselbein bis knapp unter die Taille, sie umhüllt meinen Oberkörper und verläuft über Kreuz über meine Schultern. Ich ertaste die versteckten Waffenscheiden, die diagonal entlang des Brustkorbs eingearbeitet sind.

»Für deine Dolche.«

»Ich habe aber nur vier.« Ich nehme sie mir von dem Haufen auf dem Boden.

»Du wirst dir weitere verdienen.«

Ich schiebe meine Waffen in die Scheiden und es fühlt sich an, als wären meine Rippen selbst zu Waffen geworden. Die Konstruktion ist genial. Von den Scheiden an meinen Rippen bis zu denen an meinen Oberschenkeln sind die Klingen leicht zu erreichen.

Ich erkenne mich im Spiegel selbst kaum wieder. Ich sehe aus wie eine Reiterin. Ich fühle mich immer noch wie eine Schriftgelehrte.

Minuten später liegt die Hälfte meines Gepäcks auf den Kisten. Mira hat meinen Rucksack neu gepackt und alles vermeintlich Unnötige sowie fast sämtliche Dinge von sentimentalem Wert aussortiert, während sie einen unablässigen Schwall von Ratschlägen absonderte, wie man im Quadranten überleben kann. Dann überrascht sie mich mit einer ganz und gar ungewöhnlichen, gefühlsduseligen Anwandlung: Sie bittet mich, zwischen ihren Knien Platz zu nehmen, damit sie mein Haar zu einem Kranz flechten kann.

So als wäre ich wieder ein kleines Mädchen statt einer erwachsenen Frau, aber ich tue es.

»Woraus ist die eigentlich?« Ich prüfe das Material der Weste, indem ich oberhalb meines Herzens mit dem Fingernagel daran kratze.

»Die habe ich selbst entworfen«, erklärt sie und zerrt so fest an meinen Haaren, dass meine Kopfhaut schmerzt. »Ich habe sie speziell für dich anfertigen und Teines Schuppen einarbeiten lassen, also geh vorsichtig damit um.«

»Drachenschuppen?« Ich reiße den Kopf herum und sehe sie an. »Wie geht das denn? Teine ist riesig.«

»Ich kenne zufällig einen Reiter, der mithilfe seiner Kräfte große Dinge sehr klein machen kann.« Ein verruchtes Lächeln umspielt ihre Lippen. »Und kleinere Dinge … viel, viel größer.«

Ich verdrehe die Augen. Mira hat sich schon immer sehr viel offenherziger über ihre sämtlichen Männer ausgelassen als ich … über meine genau zwei. »Ich meine, wie viel größer?«

Sie lacht, dann zieht sie an den Flechtsträngen. »Gesicht nach vorn. Du hättest deine Haare abschneiden lassen sollen.« Sie zurrt die Strähnen eng an die Kopfhaut heran und flicht weiter. »Langes Haar ist eine Gefahrenquelle beim Sparring und im Kampf, ganz davon abgesehen, dass du mit deinem eine gute Zielscheibe abgibst. Niemand sonst hat solche Haare, deren Enden zu Silber verblassen, und sie werden es sowieso schon auf dich absehen.«

»Du weißt doch genau, dass das natürliche Pigment nach und nach verschwindet, egal wie lang meine Haare sind.« Meine Augenfarbe ist genauso unentschlossen, ein helles Haselnussbraun, durchsetzt mit verschiedenen Blau- und Bernsteinnuancen, die in ihrer Intensität variieren. »Darüber hinaus ist mein Haar, abgesehen von seiner Farbe, mit der irgendwie alle Probleme haben, das Einzige an mir, was vollkommen gesund ist. Es abzuschneiden käme mir so vor, als würde ich meinen Körper dafür bestrafen, dass er endlich mal etwas richtig macht. Außerdem will ich gar nicht verstecken, wer ich bin.«

»Nein, offensichtlich nicht.« Mira zieht meinen Kopf an den Haaren zurück und unsere Blicke treffen sich. »Du bist die klügste Frau, die ich kenne. Vergiss das nicht. Dein Verstand ist deine schärfste Waffe. Überliste sie, Violet. Hörst du?«

Ich nicke und sie lockert ihren Griff. Dann flicht sie den Kranz zu Ende und zieht mich auf die Füße hoch, während sie fortfährt ihr jahrelanges Wissen in fünfzehn hastigen Minuten zusammenzufassen, fast ohne zwischendurch einmal Luft zu holen.

»Sei aufmerksam. Zurückhaltung ist gut, aber sieh zu, dass du alles mitbekommst, was um dich herum geschieht. Du hast den Kodex gelesen?«

»Mehrmals.« Die Regelsammlung für den Reiterquadranten ist nur einen Bruchteil so umfangreich wie die der anderen Abteilungen. Wahrscheinlich, weil Reiter Schwierigkeiten haben, sich an Regeln zu halten.

»Gut. Dann weißt du ja, dass die anderen Reiter dich jederzeit umbringen können, und die skrupellosen Kadetten werden es versuchen. Weniger Kadetten heißt bessere Chancen beim Dreschen. Es gibt nie ausreichend Drachen, die gewillt sind zu binden, und jeder, der leichtfertig genug ist, sich umbringen zu lassen, ist es sowieso nicht wert einen Drachen zu bekommen.«

»Außer im Schlaf. Einen Kadetten im Schlaf anzugreifen kann mit dem Tode bestraft werden. Artikel drei …«

»Ja, aber das bedeutet nicht, dass du nachts sicher bist. Am besten lässt du das an beim Schlafen, wenn du kannst.« Sie klopft gegen mein Korsett.

»Das Reiterschwarz muss man sich eigentlich verdienen. Bist du sicher, dass ich heute nicht besser meine Tunika tragen sollte?« Ich fahre mit meinen Händen über das Leder.

»Der Wind auf dem Viadukt wird sich in jedem Stück überflüssigen Stoffs verfangen wie in einem Segel.«

Sie reicht mir meinen nun viel leichteren Rucksack. »Je enger anliegend deine Kleidung ist, desto besser ist es für dich oben auf dem Viadukt und auf der Matte, wenn du mit dem Sparring beginnst. Trag die Weste die ganze Zeit. Behalt deine Dolche stets griffbereit am Körper. Die ganze Zeit.« Sie zeigt auf die Scheiden an ihren Oberschenkeln.

»Irgendwer wird sicher sagen, dass ich sie mir nicht ehrlich verdient habe.«

»Du bist eine Sorrengail«, erwidert sie, als wäre dies Antwort genug. »Scheiß drauf, was sie sagen.«

»Und du meinst nicht, dass die Drachenschuppen Betrug sind?«

»So etwas wie Betrug gibt es nicht, sobald du den Turm hochsteigst. Es gibt nur Überleben und Sterben.« Die Glocke läutet – noch dreißig Minuten. Sie schluckt. »Es ist gleich so weit. Bist du bereit?«

»Nein.«

»Das war ich auch nicht.« Einer ihrer Mundwinkel verzieht sich zu einem schiefen Lächeln. »Und ich hatte mein Leben lang dafür trainiert.«

»Ich werde heute nicht sterben.« Ich werfe mir meinen Rucksack über die Schultern. Das Atmen fällt mir viel leichter als zuvor. Er ist jetzt definitiv besser zu handhaben. Auf den Fluren des Verwaltungstrakts der Festung herrscht eine unheimliche Stille, als wir uns über verschiedene Treppen einen Weg nach unten bahnen, aber je tiefer wir hinabsteigen, desto lauter wird der Lärm von draußen. Durch die Fenster sehe ich Tausende von Anwärtern und Anwärterinnen, die ihre Liebsten umarmen und auf der Wiese unterhalb des Haupttors Abschied nehmen. Nach dem, was ich jedes Jahr beobachten konnte, halten die meisten Familien ihre Anwärter bis zum letzten Glockenschlag in den Armen. Die Straßen, die zur Festung führen, sind mit Pferden und Wagen verstopft, besonders voll ist es unmittelbar vor dem College, wo alles zusammenläuft. Doch es sind die leeren Wagen am Rand der Wiese, die mir Übelkeit bereiten.

Sie sind für die Leichen.

Kurz bevor wir um die letzte Ecke biegen, hinter der es zum Innenhof geht, bleibt Mira stehen.

»Was ist – uff.« Sie reißt mich an ihre Brust und drückt mich fest an sich.

»Ich liebe dich, Violet. Denk an alles, was ich dir gesagt habe. Werde nicht nur ein weiterer Name auf der Gefallenenliste.« Ihre Stimme zittert und ich schlinge meine Arme um sie.

»Ich werde es schaffen«, verspreche ich.

Sie nickt, wobei ihr Kinn gegen meine Stirn stößt. »Ich weiß. Los, lass uns gehen.«

Das ist alles, was sie sagt, bevor sie sich losreißt und auf den überfüllten Innenhof läuft, der sich gleich hinter dem Haupttor eröffnet. Ausbilder, Kommandeure und sogar unsere Mutter haben sich dort versammelt und warten darauf, dass der Wahnsinn außerhalb der Mauern sich der im Inneren herrschenden Ordnung fügt. Von allen Eingängen des War College ist das Haupttor der einzige, durch den heute kein Kadett treten wird, denn jeder Quadrant hat seinen eigenen Eingang und seinen eigenen Gebäudeteil. Hölle noch mal, die Reiter haben sogar ihre eigene Zitadelle. Aufgeblasene, egoistische Arschlöcher.

Ich folge Mira und hole sie mit wenigen schnellen Schritten ein.

»Finde Dain Aetos«, sagt sie zu mir, als wir den Innenhof überqueren und auf das offene Tor zusteuern.

»Dain?« Bei dem Gedanken, Dain wiederzusehen, muss ich unwillkürlich lächeln und mein Herz schlägt schneller. Es ist jetzt ein Jahr her und ich vermisse seine sanften braunen Augen und die Art, wie er lacht, die Art, wie jeder Teil seines Körpers mit einzustimmen scheint. Mir fehlen unsere Freundschaft und die vielen Augenblicke, in denen ich dachte, es könnte unter den richtigen Umständen mehr daraus werden. Ich vermisse die Art, wie er mich anschaut. Als wäre ich jemand, der es wert ist, beachtet zu werden. Ich habe ihn einfach … vermisst.

»Ich bin erst drei Jahre aus dem Quadranten raus, aber soweit ich gehört habe, macht er sich gut und er wird dich beschützen. Hör auf, so zu lächeln«, schimpft Mira. »Er müsste jetzt im zweiten Jahr sein.« Sie fuchtelt mit dem Finger vor meiner Nase herum. »Mach nicht mit den Studenten aus dem Junior Year rum. Wenn du Sex haben willst« – sie zieht eine Augenbraue hoch –, »und du solltest oft welchen haben, angesichts der Tatsache, dass man nie weiß, was der nächste Tag so bringt, dann sieh dich bei den Rookies in deinem eigenen Jahrgang um. Nichts ist schlimmer als Kadetten, die sich das Maul darüber zerreißen, dass du dich in Sicherheit geschlafen hast.«

»Ich kann mir also jeden aus dem ersten Jahr ins Bett holen, den ich will«, sage ich mit einem kleinen Grinsen. »Nur nicht die aus dem Junior oder dem Senior Year.«

»Ganz genau.« Sie zwinkert mir zu.

Wir durchschreiten die Tore, verlassen die Festung und stürzen uns in das organisierte Chaos dahinter.

Jede der sechs Provinzen von Navarre hat ihre diesjährigen Anwärter und Anwärterinnen zum Militärdienst geschickt. Manche kommen freiwillig. Manche werden zwangseingezogen. Die meisten werden einberufen. Die einzige Gemeinsamkeit, die wir alle hier am Basgiath College haben, ist die bestandene Aufnahmeprüfung – sowohl den schriftlichen Teil als auch den Geschicklichkeitstest, bei dem ich immer noch nicht fassen kann, dass ich ihn gemeistert habe. Denn das bedeutet, dass ich wenigstens nicht als Kanonenfutter für die Infanterie an der Front enden werde.

Es herrscht eine angespannte, aufgeregte Atmosphäre, als Mira und ich über das ausgetretene Kopfsteinpflaster Richtung Südturm gehen. Das Hauptgebäude des College ist in die Flanke des Basgiath Mountain hineingebaut, als wäre es aus dem Gebirgsmassiv direkt herausgemeißelt worden. Das ausladende, imposante Gebäude ragt über der aufgeregten Menge aus ängstlichen Anwärtern und deren weinenden Familien empor, mit seinen mächtigen Steinzinnen – errichtet, um den hohen Bergfried im Inneren zu schützen – und den vier Ecktürmen, von denen einer die Glocken beherbergt.

Der Großteil der Menge stellt sich in der Schlange am Fuß des Nordturms an – am Eingang zum Infanteriequadranten. Ein Teil des Pulks bewegt sich zum Tor, das hinter uns liegt – Richtung Heilerquadrant, der das südliche Ende des College einnimmt. Der Neid schnürt mir die Brust zu, als ich sehe, wie ein paar Anwärter den Zentraltunnel betreten, der zum unterirdischen Archiv führt, um sich dem Schreiberquadranten, wie der Gebäudeteil für die Schriftgelehrten gemeinhin genannt wird, anzuschließen.

Der Eingang zum Reiterquadranten ist lediglich eine verstärkte Tür am Fuß des Turms, genau wie beim Infanterieeingang im Norden. Aber während die Infanterieanwärter geradewegs in ihren ebenerdigen Quadranten gehen können, werden wir Reiteranwärter klettern müssen.

Mira und ich stellen uns in die Reiterschlange, um mich einzuschreiben, und ich mache den Fehler, nach oben zu schauen.

Hoch über unseren Köpfen spannt sich der Viadukt über das Flusstal, das sich zwischen dem Collegegebäude und der sogar noch höher gelegenen Zitadelle des Reiterquadranten am südlichen Gebirgskamm erstreckt. Auf dieser steinernen Brücke werden über die nächsten Stunden die Reiteranwärter von den Kadetten getrennt, so wie die Spreu vom Weizen.

Ich kann nicht glauben, dass ich dieses Ding überqueren werde.

»Und wenn man bedenkt, dass ich mich all die Jahre auf die schriftlichen Schreiberprüfungen vorbereitet habe.« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus. »Ich hätte stattdessen auf einem Schwebebalken spielen sollen.«

Mira geht über meine Bemerkung hinweg, als die Schlange sich vorwärtsbewegt und ein Schwung Anwärter durch die Tür verschwindet. »Lass dich bloß nicht vom Wind aus der Balance bringen.«

Zwei Anwärter weiter vor uns bricht eine Frau in Schluchzen aus, als ihr Partner sie von einem jungen Mann losreißt. Das Paar schert aus der Schlange aus und zieht sich unter Tränen hangabwärts zurück, wo es sich zu den Angehörigen und Freunden entlang der Straße gesellt. Ansonsten sind vor uns keine weiteren Eltern zu sehen, nur ein paar Dutzend Anwärter, die zu den Leuten mit den Registrierungslisten vorrücken.

»Halte den Blick auf die Steine vor dir gerichtet und schau nicht nach unten«, sagt Mira und ihre Züge spannen sich sichtlich an. »Breite die Arme aus fürs Gleichgewicht. Wenn der Rucksack runterrutscht, lass ihn fallen. Besser er als du.«

Ich blicke hinter mich. So wie’s aussieht, haben sich binnen weniger Minuten Hunderte weitere in die Schlange gestellt. »Vielleicht sollte ich sie ja alle vorlassen«, flüstere ich, während sich die Panik wie eine Faust um mein Herz schließt. Was zum Henker tue ich hier eigentlich?

»Nein«, antwortet Mira. »Je länger du auf diesen Stufen verharrst« – sie deutet auf den Turm –, »desto größer wird deine Angst. Überquere den Viadukt, bevor die Panik vollständig von dir Besitz ergreift.«

Die Schlange rückt vor und die Glocke läutet erneut. Es ist acht Uhr.

Die Riesenmenge hat sich inzwischen vollständig aufgeteilt, alle stehen in langen Reihen vor ihrem gewählten Quadranten, um sich einzuschreiben und den Dienst anzutreten.

»Konzentrier dich«, fährt Mira mich an und ich drehe schnell den Kopf nach vorne. »Das mag jetzt hart klingen, aber such da drinnen keine Freundschaften, Violet. Schmiede Allianzen.«

Es sind nur noch zwei Leute vor uns – eine Frau, die einen vollgepackten Rucksack auf dem Rücken trägt und mich mit ihren hohen Wangenknochen und dem dunklen, ovalen Gesicht an Darstellungen von Amari, der Königin der Götter, erinnert. Ihr dunkelbraunes Haar ist eng am Kopf zu mehreren Zöpfen geflochten, deren Enden gerade ihren Nacken erreichen. Der Zweite ist der muskulöse blonde Mann, der so tränenreich verabschiedet wurde. Er hat einen sogar noch größeren Rucksack dabei.

Ich blicke an den beiden vorbei zum Registrierungspult und meine Augen werden groß. »Ist er ein …?«, flüstere ich.

Mira schaut kurz auf und stößt einen leisen Fluch aus. »Ein Separatistenkind? Ja. Siehst du das schimmernde Mal, das oben an seinem Handgelenk ansetzt? Das ist ein Mal der Rebellion.«

Ich ziehe überrascht die Augenbrauen hoch. Die einzigen Male, von denen ich je gehört habe, sind die Symbole, mit denen ein Drache die Haut seines an ihn gebundenen Reiters zeichnet. Aber dabei handelt es sich um Symbole der Ehre und Macht und sie zeigen immer die Form des Drachen, der sie hinterlassen hat. Doch dieses Mal hier besteht aus Spiralen und Strichen, die eher wie eine Warnung wirken als ein Zeichen der Zugehörigkeit.

»Ein Drache hat das getan?«, flüstere ich.

Meine Schwester nickt. »Mom sagt, General Melgrens Drache hat es an allen hinterlassen, als er ihre Eltern hinrichtete, aber sie war nicht wirklich bereit, das Thema weiter zu vertiefen. Es gibt keine bessere Abschreckung, als die Kinder zu bestrafen, wenn man weitere Eltern davon abhalten will, Hochverrat zu begehen.«

Es erscheint grausam … aber die erste Regel hier am Basgiath lautet: Stelle nie einen Drachen infrage. Sie neigen dazu, diejenigen einzuäschern, die sie für unverschämt halten.

»Die meisten gezeichneten Kinder, die Rebellionsmale tragen, sind natürlich aus Tyrrendor, aber es gibt auch ein paar mit Eltern aus anderen Provinzen, die zu Verrätern wurden …« Plötzlich weicht ihr das Blut aus dem Gesicht, sie packt die Gurte meines Rucksacks und dreht mich zu sich herum. »Mir fällt gerade noch etwas ein.« Sie senkt die Stimme und ich lehne mich vor. Mein Herz gerät angesichts der Dringlichkeit ihres Tonfalls ins Stocken. »Halte dich bloß von Xaden Riorson fern.«

Die Luft strömt schwallartig aus meiner Lunge. Der Name …

»Der Xaden Riorson«, bestätigt sie und ihr Blick ist von Angst durchzogen. »Er ist im dritten Jahr und er wird dich umbringen, sobald er herausfindet, wer du bist.«

»Sein Vater war der Große Verräter. Er hat die Rebellion angeführt«, raune ich. »Was macht Xaden hier?«

»Die Kinder der Anführer wurden alle zur Strafe für die Verbrechen ihrer Eltern zwangsrekrutiert«, flüstert Mira, als wir mit der Schlange langsam vorrücken. »Mom hat mir erzählt, sie hätten niemals damit gerechnet, dass Riorson es über den Viadukt schafft. Dann dachten sie, er würde bestimmt von einem Kadetten getötet, aber nachdem sein Drache ihn erwählt hatte …« Sie schüttelt den Kopf. »Na ja, da kann man nicht mehr viel machen. Er ist in den Rang eines Geschwaderführers aufgestiegen.«

»Das ist doch totaler Mist«, knurre ich.

»Er hat Navarre die Treue geschworen, aber ich glaube nicht, dass ihn das in deinem Fall von irgendwas abhalten wird. Sobald du den Viadukt überquert hast – denn das wirst du schaffen –, finde Dain. Er wird dich in seine Staffel aufnehmen und wir hoffen ganz einfach, dass du dann weit genug weg bist von Riorson.« Sie packt meine Rucksackgurte noch fester. »Halt. Dich. Von. Ihm. Fern.«

»Alles klar.« Ich nicke.

»Nächster«, ruft eine Stimme hinter dem Holzpult, auf dem die Listen des Reiterquadranten liegen.

Der Reiter mit dem Mal, den ich nicht kenne, sitzt neben einem Schriftgelehrten, den ich kenne, und die silbernen Augenbrauen in Captain Fitzgibbons’ wettergegerbtem Gesicht schnellen nach oben. »Violet Sorrengail?«

Ich nicke, nehme den Federkiel und setze meine Unterschrift in die nächste freie Zeile.

»Ich dachte, Sie seien für den Schreiberquadranten bestimmt«, sagt Captain Fitzgibbons sanft.

Ich beneide ihn um seine cremefarbene Tunika und bringe ums Verrecken keine Antwort über die Lippen.

»General Sorrengail hat anders entschieden«, erwidert Mira stattdessen.

Traurigkeit erfüllt die Augen des älteren Mannes. »Ein Jammer. Sie waren so vielversprechend.«

»Bei allen Göttern«, sagt der Reiter neben Captain Fitzgibbons. »Du bist Mira Sorrengail?« Ihm klappt die Kinnlade herunter und Heldenehrfurcht trieft ihm aus jeder Pore.

»Ja, die bin ich.« Sie nickt. »Das ist meine Schwester Violet. Sie kommt ins erste Jahr.«

»Wenn sie den Viadukt überlebt.« Jemand hinter mir kichert. »Der Wind könnte sie einfach wegpusten.«

»Du hast in Strythmore gekämpft«, haucht der Reiter hinter dem Pult ehrfürchtig. »Sie haben dir den Krallenorden verliehen, weil du diese Geschütztruppe hinter den feindlichen Linien ausgeschaltet hast.«

Das Kichern verstummt.

»Wie gesagt.« Mira legt mir eine Hand auf den Rücken. »Das ist meine Schwester Violet.«

»Sie kennen den Weg ja.« Der Captain nickt und zeigt auf die offene Tür, die in den Turm hineinführt. Da drinnen sieht es bedrohlich dunkel aus und ich unterdrücke den Drang, Reißaus zu nehmen.

»Ich kenne den Weg«, versichert Mira ihm und schiebt mich am Pult vorbei, sodass sich das kichernde Arschloch hinter mir registrieren kann.

Wir bleiben direkt vor der Tür stehen und schauen einander in die Augen.

»Stirb nicht, Violet. Ich wäre sehr ungern ein Einzelkind.« Sie grinst und dann geht sie, schlendert die Reihe der gaffenden Anwärter entlang, während sich wie ein Lauffeuer herumspricht, wer sie ist und was sie getan hat.

»Ganz schön große Fußstapfen«, sagt die Frau vor mir, die gerade die Schwelle zum Turm übertreten hat.

»Allerdings«, stimme ich zu, ergreife die Riemen meines Rucksacks und tauche in die Dunkelheit ein. Meine Augen gewöhnen sich schnell an das schwache Licht, das durch die Fenster dringt, die sich in gleichmäßigen Abständen entlang der gewundenen Treppe nach oben erstrecken.

»Sorrengail wie in …?«, fragt die Frau und blickt über ihre Schulter, als wir uns daranmachen, die Hunderte von Stufen hinaufzusteigen, die uns zu unserem möglichen Tod führen.

»Jepp.« Es gibt kein Geländer, also halte ich mich mit einer Hand an der rauen Steinmauer fest, während wir immer höher und höher klettern.

»Die Generalin?«, fragt der blonde Kerl, der vor uns läuft.

»Genau die«, erwidere ich leicht resigniert und spendiere ihm dennoch ein knappes Lächeln.

»Wow. Schöne Ledersachen, übrigens.« Er lächelt zurück.

»Danke. Die hat meine Schwester mir gegeben.«

»Ich frage mich, wie viele Anwärter wohl schon von den Stufen abgestürzt und gestorben sind, bevor sie den Viadukt überhaupt erreicht haben«, überlegt die Frau und späht dabei ängstlich ins Treppenauge.

»Letztes Jahr waren es zwei.« Ich lege den Kopf schief, als sie über die Schulter zu mir nach hinten sieht. »Na ja, eigentlich drei, wenn man die junge Frau mitzählt, auf der einer der Typen gelandet ist.«

Die braunen Augen der Frau flackern, aber sie dreht sich nach vorn und geht weiter die Treppe hinauf. »Wie viele Stufen sind es?«, fragt sie.

»Zweihundertfünfzig«, antworte ich und wir steigen weitere fünf Minuten lang schweigend in die Höhe.

»Schon geschafft«, sagt sie mit einem strahlenden Lächeln, während wir uns dem Treppenende nähern und die Reihe zum Stehen kommt. »Ich bin übrigens Rhiannon Matthias.«

»Dylan«, entgegnet der blonde Typ und winkt enthusiastisch.

»Violet.« Ich schenke ihnen ein angespanntes Lächeln und schlage Miras Rat in den Wind, Freundschaften aus dem Weg zu gehen und nur Allianzen zu schmieden.

»Es kommt mir so vor, als hätte ich mein ganzes Leben lang auf den heutigen Tag gewartet.« Dylan verlagert das Gewicht seines Rucksacks auf dem Rücken. »Könnt ihr glauben, dass wir das jetzt wirklich tun dürfen? Ein Traum wird wahr!«

Ach ja, richtig. Jeder andere Anwärter außer mir freut sich natürlich, hier zu sein. Das ist der einzige Quadrant am Basgiath, der keine Eingezogenen aufnimmt – nur Freiwillige.

»Ich kann es kaum erwarten.« Rhiannons Lächeln wird breiter. »Ich meine, wer würde nicht auf einem Drachen reiten wollen?«

Ich. In der Theorie klingt es nach jeder Menge Spaß. Wirklich. Mir bereitet es nur Magengeschwüre, wie miserabel die Chancen sind, dass man bis zum Erreichen des Abschlusses überlebt.

»Sind eure Eltern einverstanden?«, fragt Dylan. »Meine Mutter bekniet mich nämlich seit Monaten, ich soll es mir noch anders überlegen. Ich sage ihr ständig, dass ich als Reiter viel bessere Aufstiegschancen habe, aber sie wollte unbedingt, dass ich dem Quadranten der Heilkundigen beitrete.«

»Meine Eltern wussten schon immer, dass das hier mein großer Wunsch war, also haben sie mich von Anfang an unterstützt. Außerdem haben sie ja noch meine Zwillingsschwester. Raegan lebt ihren Traum bereits, sie ist verheiratet und erwartet ein Baby.« Rhiannon schaut zu mir. »Und was ist mit dir? Lass mich raten. Mit einem Namen wie Sorrengail warst du bestimmt die Allererste, die sich dieses Jahr freiwillig gemeldet hat.«

»Sagen wir mal, ich wurde freiwillig gemeldet.« Meine Antwort ist weitaus weniger begeistert als ihre.

»Verstehe.«

»Und Reitern werden wirklich mehr Vorteile zuteil als anderen Offizieren«, sage ich an Dylan gewandt, als die Schlange weiter nach oben rückt. Der kichernde Anwärter hinter mir schließt zu uns auf. Er ist verschwitzt und hochrot im Gesicht. Sieh mal an, wer jetzt nicht mehr kichert. »Sie werden besser bezahlt und haben mehr Freiheiten, was die Bekleidungsvorschriften angeht«, fahre ich fort. Die einzigen Regeln, die für Reiter gelten, sind die, die ich aus dem Kodex auswendig gelernt habe.

»Und das Recht, sich als knallharte Reiterinnen und Reiter bezeichnen zu dürfen«, fügt Rhiannon hinzu.

»Das auch«, stimme ich zu. »Ich bin sicher, dass sie einem zusammen mit dem Flugleder ein Riesenego aushändigen.«

»Außerdem habe ich gehört, dass Reiter früher heiraten dürfen als die anderen Quadrantenangehörigen«, ergänzt Dylan.

»Stimmt. Direkt nach dem Abschluss.« Wenn wir überleben. »Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass sie die Blutlinien weiterführen wollen.« Die meisten erfolgreichen Reiter stammen von Ehemaligen ab.

»Oder damit, dass wir dazu neigen, schneller zu sterben als die anderen Quadrantenangehörigen«, sinniert Rhiannon.

»Ich sterbe nicht«, sagt Dylan mit deutlich mehr Zuversicht, als ich aufzubringen vermag. Er holt eine Kette mit einem Ring als Anhänger unter dem Kragenausschnitt seiner Tunika hervor. »Sie hat gemeint, es würde Pech bringen, wenn ich ihr, kurz bevor ich weggehe, einen Antrag mache, darum werden wir bis zu meinem Abschluss warten.« Er küsst den Ring und steckt die Kette wieder unter die Tunika. »Drei lange Jahre – aber jeder Tag des Wartens wird es wert sein.«

Ich unterdrücke ein Seufzen, obwohl es vermutlich das Romantischste ist, was ich seit Langem gehört habe.

»Du schaffst es vielleicht über den Viadukt«, sagt der Typ hinter uns hämisch. »Aber die hier ist nur einen Windhauch vom Grund der Schlucht entfernt.«

Ich verdrehe die Augen.

»Halt die Klappe und kümmere dich um deinen eigenen Kram«, knurrt Rhiannon und erklimmt die nächste Steinstufe, wobei ihre Sohlen ein schleifendes Geräusch machen.

Das Ende der Treppe kommt in Sicht und trübes Licht füllt den Türrahmen aus. Mira hatte recht. Diese Wolken könnten uns übel mitspielen und wir müssen die andere Seite des Viadukts erreichen, bevor sie es tun.

Noch eine Stufe, noch ein weiteres Schleifen.

»Lass mich deine Stiefel sehen«, raune ich Rhiannon zu, damit der Idiot hinter uns mich nicht hören kann.

Sie runzelt die Stirn und ihre braunen Augen spiegeln Verwirrung wider, aber sie zeigt mir die Sohlen ihrer Schuhe. Sie sind glatt, genau wie bei den Stiefeln, die ich vorhin getragen habe. Mein Magen fühlt sich bleischwer an.

Die Schlange auf der Treppe bewegt sich weiter und kommt kurz vor der Türöffnung wieder zum Stehen. »Welche Schuhgröße hast du?«, frage ich.

»Wie?« Rhiannon blinzelt verständnislos.

»Deine Füße. Wie groß sind sie?«

»Eine Acht«, antwortet sie und zwischen ihren Augenbrauen bilden sich zwei steile Falten.

»Ich habe eine Sieben«, sage ich rasch. »Es wird zwar höllisch wehtun, aber ich will, dass du meinen linken Stiefel anziehst. Lass uns tauschen.« In meinem rechten steckt ein Dolch.

»Wie bitte?« Sie sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren, und vielleicht habe ich das auch.

»Das hier sind Reiterstiefel. Sie haben mehr Halt auf Stein. Deine Zehen werden darin zwar fies zusammengequetscht, aber du hast wenigstens eine Chance, nicht abzurutschen, wenn in Kürze der Regen einsetzt.«

Rhiannon wirft einen Blick auf die offene Tür – und den sich verdunkelnden Himmel –, dann sieht sie wieder mich an. »Und du bist bereit, mit mir einen Stiefel zu tauschen?«

»Nur bis wir auf der anderen Seite sind.« Ich blicke zur Türöffnung. Drei Anwärter balancieren schon auf dem Viadukt, die Arme weit ausgebreitet. »Aber wir müssen uns beeilen. Wir sind gleich dran.«

Rhiannon schürzt die Lippen und überlegt eine Sekunde lang, dann willigt sie ein und wir tauschen unsere linken Stiefel. Ich habe den Schnürsenkel gerade fertig gebunden, als die Schlange sich wieder in Bewegung setzt und mir der Idiot von hinten einen Stoß verpasst, dass ich hinaus auf die Plattform taumele.

»Los, mach schon. Einige von uns haben auf der anderen Seite noch etwas zu erledigen.« Seine Stimme raubt mir den letzten verdammten Nerv.

»Du bist die Mühe im Moment nicht wert«, murmele ich und erlange mein Gleichgewicht wieder, während der Wind über meine Haut peitscht, der Hochsommermorgen ist drückend schwül.

Gut mitgedacht mit dem Flechtkranz, Mira.

Die steinernen Zinnen, die den Mauerkranz des kreisförmigen Bauwerks auf Höhe meiner Brust bekrönen, tun nichts, um die Aussicht zu versperren. Die Schlucht und der Fluss da unten kommen mir auf einmal sehr weit weg vor. Wie viele Wagen warten dort auf der Wiese? Fünf? Sechs? Ich kenne die Statistik. Der Viadukt rafft ungefähr fünfzehn Prozent der Anwärter dahin. Jede Prüfung im Quadranten – einschließlich dieser – ist darauf ausgelegt, die Reiterfähigkeit eines Anwärters zu testen. Wer es nicht schafft, die windausgesetzte schmale Steinbrücke entlangzugehen, kann sich mit Sicherheit auch nicht auf dem Rücken eines Drachen halten und kämpfen.

Und was die Todesrate angeht? Ich schätze, jeder andere Reiteranwärter denkt, der Ruhm sei das Risiko wert – oder ist arrogant genug, um zu glauben, er wird nicht abstürzen.

Ich zähle weder zum ersten noch zum zweiten Lager.

Übelkeit brandet in mir auf und ich atme durch die Nase ein und durch den Mund aus, während ich mich hinter Rhiannon und Dylan Richtung Viadukt bewege und dabei meine Finger über das Mauerwerk gleiten lasse.

Drei Reiter warten am Durchlass, der nichts weiter ist als ein klaffendes Loch in der Turmwand. Einer mit abgerissenen Ärmeln notiert sich die Namen der Anwärter, die auf die tückische Steinüberquerung hinaustreten. Ein weiterer, dessen Kopf kahl geschoren ist bis auf einen schmalen Haarstreifen entlang der Mitte, gibt Dylan ein paar Anweisungen, während dieser sich in Position bringt und dabei seine Brust tätschelt, als ob der dort verborgene Ring ihm Glück bringen könnte. Ich hoffe, er tut es.

Der dritte dreht sich in meine Richtung … und mir stockt das Herz.

Er ist groß, mit windzerzaustem schwarzem Haar und dunklen Augenbrauen. Seine Haut hat einen warmen hellbraunen Ton, sein markantes Kinn ist von dunklen Bartstoppeln bedeckt. Als er die Arme vor dem Körper verschränkt, muss ich angesichts des Spiels seiner gestählten Muskeln mühsam schlucken. Und seine Augen … Seine Augen haben die Farbe von goldgesprenkeltem Onyx. Der Kontrast ist verblüffend … geradezu atemberaubend – so wie alles an ihm. Seine Züge sind so scharf, dass sie aussehen wie gemeißelt. Sie sind nahezu perfekt, als hätte ein Bildhauer sein Leben lang an ihnen gearbeitet und dabei mindestens allein ein Jahr auf seinen Mund verwandt.

Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe.

Und da ich im War College wohne, habe ich schon sehr viele Männer gesehen.

Selbst die diagonale Narbe, die seine linke Augenbraue durchschneidet und seinen oberen Wangenrand zeichnet, lässt ihn nur noch heißer aussehen. Flammend heiß. Glühend heiß. Heiß auf dem Level von »Handelt dir Ärger ein und es gefällt dir«. Plötzlich kann ich mich nicht mehr daran erinnern, weshalb Mira mich davor gewarnt hat, außerhalb meiner Jahrgangsstufe Sex zu haben.

»Ich seh euch beide auf der anderen Seite!«, sagt Dylan aufgeregt grinsend über seine Schulter hinweg, bevor er mit ausgebreiteten Armen den Viadukt betritt.

»Bereit für die Nächsten, Riorson?«, fragt der Reiter mit den abgerissenen Ärmeln.

Xaden Riorson?

»Bist du so weit, Sorrengail?«, fragt Rhiannon und rückt das letzte Stück weiter vor.

Der schwarzhaarige Reiter schießt mir einen Blick zu und dreht sich dabei ganz zu mir herum. Mein Herz rast aus den falschen Gründen. Ein Rebellionsmal aus verschlungenen Schnörkeln setzt an seinem linken Handgelenk an, verschwindet unter seiner schwarzen Uniform und kriecht ihm wieder aus dem Kragen, wo es sich an seinem Hals entlangwindet bis zur Kinnpartie.

»Oh, verdammt«, flüstere ich und seine Augen verengen sich zu Schlitzen, als ob er mich über das Heulen des Windes hinweg hören könnte.

»Sorrengail?« Er tritt auf mich zu und ich blicke hoch … und höher.

Du liebe Güte, ich reiche ihm noch nicht mal bis zum Schlüsselbein. Er ist gigantisch. Er muss deutlich über eins fünfundneunzig groß sein.

Ich fühle mich genauso, wie Mira mich genannt hat – zerbrechlich –, aber ich nicke knapp und in seine schimmernden Onyxaugen tritt kalter, blanker Hass. Ich kann die Abscheu, die von ihm ausgeht, förmlich riechen, wie ein scharfes Rasierwasser.

»Violet?«, fragt Rhiannon, als sie einen Schritt nach vorn macht.

»Du bist die Jüngste von General Sorrengail.« Seine Stimme ist dunkel und anklagend.

»Du bist der Sohn von Fen Riorson«, entgegne ich und die Erkenntnis geht mir durch Mark und Bein. Ich recke das Kinn und gebe mein Bestes, jeden Muskel in meinem Körper anzuspannen, um nicht zu zittern.

Er wird dich umbringen, sobald er herausfindet, wer du bist. Miras Worte hallen in meinem Kopf wider und ein Angstkloß bildet sich in meiner Kehle. Er wird mich über die Kante stoßen. Er wird mich hochheben und geradewegs von diesem Turm werfen. Ich werde nicht mal die Chance bekommen, auf dem Viadukt zu balancieren. Ich werde wie der Schwächling sterben, den meine Mutter zeit meines Lebens in mir gesehen hat.

Xaden holt tief Luft und der Muskel in seinem Kiefer zuckt einmal. Zweimal. »Deine Mutter hat meinen Vater gefangen genommen und seine Hinrichtung überwacht.«

Moment mal. Als ob er hier der Einzige ist, der das Recht hat, Hass zu empfinden. Zorn rauscht durch meine Adern. »Dein Vater hat meinen Bruder getötet. Scheint so, als wären wir quitt.«

»Wohl kaum.« Sein gleißender Blick wandert an mir herab, so als wollte er sich jedes Detail einprägen oder nach einer Schwachstelle suchen. »Deine Schwester ist eine Reiterin. Ich nehme an, das erklärt die Ledersachen.«

»Vermutlich.« Ich halte seinem Blick stand, als würde mir der Sieg in diesem Anstarrwettbewerb letztendlich den Zugang zum Quadranten sichern statt die Überquerung des Viadukts. Wie auch immer, ich werde es schaffen. Mira wird nicht ihre beiden Geschwister verlieren.

Seine Hände ballen sich reflexartig zu Fäusten, er steht sichtlich unter Spannung.

Ich bereite mich auf den Schlag vor. Vielleicht wirft er mich von diesem Turm, aber ich werde es ihm nicht leicht machen.

»Alles in Ordnung?«, fragt Rhiannon und ihr Blick springt zwischen Xaden und mir hin und her.

Er wirft ihr einen Blick zu. »Seid ihr befreundet?«

»Wir haben uns auf der Treppe kennengelernt«, antwortet sie und strafft die Schultern.

Er schaut nach unten, bemerkt unsere nicht zusammenpassenden Schuhe und zieht eine Augenbraue hoch. Seine Fäuste lösen sich. »Interessant.«

»Wirst du mich töten?« Ich hebe mein Kinn noch ein Stück höher.

Sein Blick kollidiert mit meinem, als plötzlich der Himmel aufplatzt und ein sintflutartiger Regen niedergeht. In Sekundenschnelle sind mein Haar, mein Lederzeug und das Gestein um uns herum völlig durchnässt.

Ein Schrei zerreißt die Luft und sofort schauen Rhiannon und ich Richtung Viadukt, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Dylan abrutscht.

Ich schnappe nach Luft und mein Herz schlägt mir bis zum Hals.

Er fängt sich und hakt seine Arme um die Steinbrücke, während seine Füße wild strampelnd nach Halt suchen. Doch es gibt keinen.

»Zieh dich hoch, Dylan!«, schreit Rhiannon.

»Oh, Himmel!« Ich schlage mir entsetzt die Hand vor den Mund, aber Dylan verliert den Halt auf dem glitschigen Stein, stürzt ab und verschwindet aus meinem Blickfeld. Der Wind und der Regen verschlucken jedes Geräusch, das sein Körper beim Aufprall unten im Tal macht. Sie verschlucken auch meinen erstickten Schrei.

Die ganze Zeit über sieht Xaden mich unverwandt an. Er beobachtet mich stumm mit einem Blick, den ich nicht zu deuten vermag, als ich meine vor Bestürzung geweiteten Augen wieder auf ihn richte.

»Warum sollte ich meine Energie darauf verschwenden, dich zu töten, wenn der Viadukt das für mich erledigt?« Ein verschlagenes Lächeln kriecht auf sein Gesicht. »Du bist dran.«

2

Es ist ein Irrglaube, dass es im Reiterquadranten heißt, töten oder getötet werden. Die Reiter in ihrer Gesamtheit sind nicht darauf aus, andere Kadetten zu ermorden … Es sei denn, es gibt einen Mangel an Drachen in jenem Jahr oder ein Kadett stellt für sein Geschwader eine Last dar. Dann könnten die Dinge interessant werden …

Major Afendra LEITFADEN FÜR DEN REITERQUADRANTEN

(Unautorisierte Ausgabe)

 

 

Ich werde heute nicht sterben.

Die Worte sind wie ein Mantra, das in Dauerschleife durch meinen Kopf läuft, als Rhiannon dem Reiter, der an der Öffnung zum Viadukt die Liste führt, ihren Namen nennt. Der hasserfüllte Blick von Xaden brennt auf meinem Gesicht wie eine heiße Flamme und selbst der Regen, der mit jedem Windstoß auf meine Haut prasselt, lindert nicht die Hitze – oder den Angstschauder, der mir über den Rücken jagt.

Dylan ist tot. Er ist einfach nur noch ein Name, ein weiterer Grabstein, der bald auf einem der endlosen Friedhöfe stehen wird, die die Straßen von Basgiath säumen. Eine weitere Warnung an die ehrgeizigen Anwärter, die lieber ihr Leben bei den Reitern aufs Spiel setzen, als die Sicherheit eines der anderen Quadranten zu wählen. Ich verstehe jetzt, warum Mira mich davor gewarnt hat, Freundschaften zu schließen.

Rhiannon hält sich an beiden Seiten der Öffnung fest, dann blickt sie über ihre Schulter zu mir. »Ich warte auf der anderen Seite auf dich«, brüllt sie über den Sturm hinweg. Die Angst in ihren Augen spiegelt meine eigene wider.

»Ich sehe dich auf der anderen Seite.« Ich nicke und bringe sogar ein verkrampftes Lächeln zustande.

Sie tritt auf den Viadukt hinaus und geht los. Und obwohl ich mir sicher bin, dass Zihnal, der Gott des Glücks, heute alle Hände voll zu tun hat, schicke ich ihm ein stilles Gebet.

»Name?«, fragt der Reiter mit der Liste, die ein anderer Reiter mithilfe eines zeltartig ausgebreiteten Umhangs vergeblich vor dem Regen zu schützen versucht.

»Violet Sorrengail«, antworte ich, während über mir der Donner kracht. Das Geräusch ist seltsam beruhigend. Ich habe die Nächte immer geliebt, in denen die Stürme gegen die Fenster der Festung tobten und abwechselnd Schatten und Licht auf die Seiten der Bücher warfen, mit denen ich es mir gemütlich gemacht hatte. Doch dieser Wolkenbruch hier könnte mich mein Leben kosten.

Ich schiele kurz auf die Liste, Dylans und Rhiannons Namen verschwimmen bereits dort, wo das Wasser auf Tinte getroffen ist. Es ist das letzte Mal, dass Dylans Name irgendwo anders als auf seinem Grabstein geschrieben stehen wird. Auf der anderen Seite des Viadukts wird eine weitere Liste geführt, damit die Schriftgelehrten ihre geliebte Opferstatistik erstellen können. In einem anderen Leben wäre ich es, die die Daten liest und für Analysezwecke dokumentiert.

»Sorrengail?« Der Reiter mit der Liste blickt auf, seine Augenbrauen heben sich vor Überraschung in Richtung Haaransatz. »Wie in General Sorrengail?«

»Genau die.« Verdammt, langsam wird’s langweilig, dabei weiß ich, dass das erst der Anfang ist. Der Vergleich mit meiner Mutter lässt sich nicht vermeiden, immerhin ist sie die oberste Befehlshaberin. Noch schlimmer ist, dass wahrscheinlich alle annehmen, ich sei eine von Natur aus begabte Reiterin wie Mira oder ein genauso brillanter Stratege, wie Brennan es war. Oder sie erkennen bereits auf den ersten Blick, dass ich keinem der drei das Wasser reichen kann, und erklären die Jagdsaison auf mich für eröffnet.

Ich lege meine Hände rechts und links auf die Ränder der Öffnung und fahre mit den Fingerspitzen über den Stein. Er ist noch ganz warm von der Morgensonne, kühlt regenbedingt jedoch schnell ab, er fühlt sich glatt an, aber nicht glitschig von Moosbewuchs oder Ähnlichem.

Vor mir geht Rhiannon Schritt für Schritt über den Viadukt, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu wahren. Sie hat schätzungsweise ein Viertel des Weges geschafft, je weiter sie sich entfernt, desto mehr verschwimmt ihre Silhouette im Regen.

»Ich dachte, sie hätte nur eine Tochter?«, bemerkt der Reiter, der die Liste mit dem Umhangzelt schützt, als uns ein weiterer heftiger Windstoß entgegenbläst. Wenn es hier schon so windig ist, wo ich noch halbwegs von der Turmwand geschützt bin, kann ich mich auf dem Viadukt auf eine schmerzliche Erfahrung gefasst machen.

»Das bekomme ich oft zu hören.« Ein durch die Nase, aus durch den Mund – ich zwinge meinen Atem zur Ruhe und zügele mein galoppierendes Herz. Wenn ich in Panik gerate, werde ich sterben. Wenn ich ausrutsche, werde ich sterben. Wenn ich … Ach, Scheiß drauf. Es gibt nichts, was ich tun kann, um mich auf das, was gleich kommt, vorzubereiten.

Ich setze einen Fuß auf den Viadukt, klammere mich aber weiterhin an den Seiten der Öffnung fest, als mich eine neue Bö erfasst und gegen das Mauerwerk wirft.

»Und du glaubst, du kannst reiten?«, spottet der Arschloch-Anwärter hinter mir. »Du willst eine Sorrengail sein, mit dem miesen Gleichgewichtssinn? Mir tut schon jetzt das Geschwader leid, in dem du mal landest.«

Ich finde mein Gleichgewicht wieder und zurre mit einem Ruck die Riemen meines Rucksacks fester.

»Name?«, fragt der Reiter noch einmal, aber ich weiß, dass er nicht mit mir spricht.

»Jack Barlowe«, sagt der Kerl hinter mir. »Merk dir diesen Namen. Eines Tages werde ich ein Geschwaderführer sein.« Seine Stimme trieft vor Arroganz.

»Los jetzt, Sorrengail, beweg dich«, befiehlt Xadens dunkle Stimme.

Ich drehe mich halb nach hinten um und sehe, dass das Anwärter-Arschloch mich mit finsterem Blick fixiert.

»Vielleicht brauchst du einen kleinen Motivationsschub?« Er wirft sich mit ausgestreckten Händen nach vorn. Ach du Scheiße, er wird mich runterstoßen.

Angst jagt mir das Adrenalin durch die Adern und ich setze mich eilig in Bewegung, lasse die Sicherheit der Turmplattform hinter mir und stürze mich auf den Viadukt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Mein Herz schlägt so heftig, dass es wie ein Trommelfeuer in meinen Ohren klingt.