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Verbotene Gefühle, gefährliche Magie und entfesselte Monster!
Die junge Diebin Xena wagt ein gefährliches Spiel: Als falsche Monsterjägerin schließt sie sich einer königlichen Expedition an, die auf der von Bestien beherrschten Insel Azythros eine Kreatur zähmen soll. Dabei trifft sie auf Ajax, ein Halbmonster mit düsterem Charisma und ein Instrument des Königs. Doch die wachsende Anziehung zwischen ihnen wird für Xena zur tödlichen Bedrohung – und jeder Moment könnte ihr letzter sein ...
Ein episches Fantasy-Abenteuer voller düsterer Geheimnisse und großer Romantik – perfekt für Fans von Enemies to Lovers!
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Alle Bände der Realm of Myths and Magic-Dilogie:
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Es gibt Monster, die sieht man nicht auf den ersten Blick
Xena wollte nur überleben. Ein Name. Ein Ticket. Eine Lüge.
Jetzt ist sie Cassia Raven – die legendäre Monsterschlächterin, Teil einer königlichen Expedition zur Insel Azythros, wo ein uraltes Monster gezähmt werden soll, um den Krieg der Königreiche zu entscheiden. Niemand darf erfahren, wer sie wirklich ist. Schon gar nicht er: Ajax, das gefürchtete Halbmonster mit goldenen Augen – und einer Vergangenheit, die in Xena etwas zum Klingen bringt, das sie sich nicht leisten kann. Doch während zwischen Biestern und Befehlshabern eine Jagd beginnt, stellt sich Xena eine Frage, die gefährlicher ist als jede Bestie: Tragen die wahren Monster vielleicht gar keine Klauen?
© Privat
Als junger Bücherwurm lernte Liz Skadi mit Asterix und Obelix lesen, erlebte schaurige Abenteuer mit dem kleinen Vampir und brachte bereits als Kind ihre eigenen Geschichten zu Papier. Später studierte sie Archäologie und arbeitete bei den Vereinten Nationen, ehe sie ihre Leidenschaft wiederentdeckte und sich dem Erschaffen fremder Welten widmete. Heute lebt Liz in Wien und schreibt fantastische Geschichten für junge Erwachsene. Sie hat eine Vorliebe für eigenwillige Kick-Ass-Heldinnen, liebenswerte Love Interests, magische Welten von High bis Urban Fantasy und Drachen.
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Viel Spaß beim Lesen!
Liz Skadi
Loomlight
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Liz Skadi und das Loomlight-Team
Heute ist eine dieser Nächte, in denen Menschen im Schlaf krepieren. Sie erfrieren einfach in ihren Betten, das erstarrte Bettlaken ist das perfekte Leichentuch. Wer kann sich in der achten Woche des Winters noch Brennholz leisten? Sobald der eisige Nordwind über Azherdale fegt und unsere Hauptstadt unter einer dichten Schneedecke begräbt, überleben nur die Reichen und die Starken. Die klirrende Kälte aber hat auch einen Vorteil. Kaum ein Dieb wagt sich in den sicheren Tod hinaus, um mit mir in Konkurrenz zu treten. Und wenn ich Glück habe, nicht mal die Stadtwache.
Ich erspähe mein Opfer im sanften Lichtkegel einer Straßenlaterne. Die Abschiedsrufe der Verkäufer und das Klappern der Fensterläden schallen vom Marktplatz herüber und läuten die Nacht ein. Zügigen Schritts lässt der Mann die Marktstände hinter sich und wirft dabei einen prüfenden Blick auf seine goldene Taschenuhr. Leichtsinnig. Eine helle Locke löst sich unter seiner Pelzmütze und baumelt vor seinem Gesicht. Er trägt einen Mantel aus feinstem Wolfsfell, seine Stiefel sind üppig mit Lammwolle gefüttert. Die edlen Lederhandschuhe sind so viel wert wie ein ganzes Schwein. Mit den pompösen Klunkern an seinen Fingern könnte man ein stattliches Anwesen anmieten.
Faisal Sorrel. Unser geiziger Edelsteinhändler.
Wir haben eine unschöne Vergangenheit. Mit acht Jahren wollte ich mich aus dem Waisenhaus freikaufen, stolzierte in seinen Laden am Rosenplatz und bot ihm meinen einzigen Besitz an. Ein Ring aus massivem Silber, in seiner Fassung ruht ein kostbarer Schmuckstein von tiefblauer Farbe. Ein Lapislazuli. Der seltenste und begehrteste Edelstein in unserer Welt. Als Heimleiterin Pistori mich vor zwanzig Jahren als plärrendes Bündel auf ihren Treppenstufen vorfand, hing er an einer Kette um meinen Hals, und sie nahm ihn einfach an sich. Ich revanchierte mich später für diesen Diebstahl und raubte den Ring von ihrem Finger, während sie über ihren Akten döste.
Um den bedeutungsvollen Handel mit Sorrel erfolgreich abzuschließen, stopfte ich die zahlreichen Löcher in meinem Kleid, kämmte mein störrisches Haar und schrubbte meine Zähne mit Kalk. Doch der Mistkerl bot mir lediglich eine Kupfermünze an, obwohl in seinen Augen die Gier schimmerte und sich Sabber in seinen Mundwinkeln sammelte. Als ich den Handel ablehnte, legte er Beschwerde bei der Heimleiterin ein und behauptete, ich wäre ungehobelt und hätte ihn bestohlen. Ich ertrug meine Strafe mit erhobenem Haupt. Die Narben zeichnen mich noch heute.
Rache ist süß.
Meine Muskeln sind steif vor Kälte, als ich aus meinem Versteck hinter einer Pyramide von Obstkisten krieche und die Verfolgung aufnehme. Eine eisige Windböe rüttelt an den kargen Ästen der alten Eichen, die den Marktplatz säumen, und überschüttet mich mit frischem Schnee. Fluchend winde ich mir den von Motten zerfressenen Wollschal enger um Mund und Nase. Es war ein Risiko, heute Nacht auf Beutezug zu gehen. Doch morgen ist Mittwinter, der bedeutendste Feiertag unseres Königreichs, und in der Speisekammer des Gemeinschaftszimmers liegen lediglich drei Äpfel, ein halber Laib Brot und ein zweifelhafter Schinken. Eine Küchenmaus isst festlicher.
Lautlos gleite ich an der Mauer der Käserei entlang, die zu dieser späten Stunde geschlossen hat, und verschmelze mit den Schatten einer unscheinbaren Gasse, in die der Händler abgetaucht ist. Der verwinkelte Gang schlängelt sich zwischen den Hinterhöfen der Stadthäuser hindurch und mündet in die prachtvolle Lindenallee, wo beheizte Pferdekutschen auf ihre gut betuchten Besitzer warten. Es ist eine gefährliche Abkürzung, die weder beleuchtet noch patrouilliert wird. Doch Sorrel scheint es verdammt eilig zu haben.
Zeit ist eben nicht immer Geld. Zumindest nicht heute Nacht.
Die dicke Schneeschicht verschluckt meine Schritte. Tief ziehe ich die Kapuze meines abgetragenen Ledermantels in die Stirn. Ehe ich in den Angriff übergehe, balle ich meine Hände einige Male zur Faust, um meine Finger aufzuwärmen. Ein Dieb mit eingefrorenen Fingern ist wie ein Edelsteinhändler ohne edle Steine. Anschließend nehme ich eine gebückte Haltung ein und beginne den Sprint. Mit ausufernden Schritten schließe ich die Distanz und remple den Händler grob an. Mein Ellbogen bohrt sich in seine Seite, meine Hand verschwindet in seiner Manteltasche. Einmal. Zweimal.
Das ist mehr als ein Glücksgriff.
»Verzeihen Sie«, murmle ich, nachdem ich dreimal zugelangt habe, und will mit der üppigen Beute verschwinden. Doch ich komme nicht weit. Sorrels Finger graben sich in meine Schulter und reißen mich mit unerwarteter Kraft zurück. Einige der Goldmünzen entgleiten mir und versinken im Schnee.
»Hiergeblieben, du Bengel«, knurrt der Händler und drängt mich an die Mauer, presst seinen Unterarm schmerzhaft gegen meine Kehle. Dabei rutscht die Kapuze herunter und offenbart mein Gesicht. In Sorrels Augen schleicht sich eine makabre Genugtuung. Er stuft mich wohl fälschlicherweise als ungefährlich ein. Eine kleine Diebin, an der er ein Exempel statuieren kann. Erkenntnis aber sackt bei ihm nicht durch, und das, obwohl er mir jahrelang nachgestellt hat, um doch noch an den Lapislazuli-Ring zu kommen. Zum Glück. Ich bin gerade erst aus dem Arrest entlassen worden und habe keine Lust, ein paar weitere Monate in der eiskalten Kellerzelle der Stadtwache zu verrotten.
»Eine dreckige Diebin«, speit er verächtlich und greift unter seinen Pelzmantel. In einem schmalen Gürtel aus feinstem Schlangenleder steckt ein prunkvoller Dolch, der mir den Atem raubt. Der Griff ist mit exquisiten Edelsteinen besetzt, die Klinge wurde aus irisierendem Himmelseisen geschmiedet. Bei dem Anblick dieses Schmuckstücks kribbelt es in meinen Fingerspitzen.
Diese Waffe ist mehr wert als alle Goldtaler in seiner Tasche.
»Ich werde dir das Handwerk legen.« Der Händler holt aus und will mir mit einem schwungvollen Hieb seines Prunkdolchs die Kehle aufschlitzen.
Selbstjustiz wird seit vielen Jahren in dieser Stadt geduldet. Der anhaltende Mangel an Ressourcen und die daraus resultierende Hungersnot sorgen für einen exorbitanten Anstieg an Kriminellen. Die Stadtwache kommt schlicht nicht hinterher. Aber wenn dieser Mann glaubt, ich wäre eine gewöhnliche Diebin, hat er sich getäuscht.
Mein Knie landet in Sorrels Weichteilen, und dem Rachen des Händlers entringt sich ein heiseres Keuchen. Ich fange seinen Arm ab, verdrehe seinen Daumen auf schmerzhafte Weise und entwende ihm geschickt die Klingenwaffe. Dann donnere ich dem wimmernden Mann den edelsteinbesetzten Knauf an die Schläfe. Mit einem gedämpften Aufschrei sackt er in sich zusammen und bleibt reglos im Schnee liegen. Aus der Platzwunde an seiner Stirn sickert Blut. Feine Schneeflocken benetzen sein anthrazitfarbenes Wolfsfell.
Ich sollte ihn sterben lassen. Sorrel hat so viele Menschen betrogen. Er lebt im Luxus, während wir verhungern, und unterstützt einen jahrhundertealten Krieg, der uns Jahr für Jahr ärmer macht. Doch wenn die Stadtwache herausfindet, dass ich es war, richten sie mich hin. Der Händler ist nicht irgendjemand, sondern ein Mitglied der Königsfamilie. Dieses verdammte Königreich hat mich bereits zur Mörderin gemacht. Dafür lasse ich mich nicht noch verurteilen und köpfen.
Widerwillig hole ich ein Fläschchen Riechsalz aus der Innentasche meines Mantels, bücke mich zu dem Händler und halte ihm das übel riechende Zeug unter die Nase. Als seine Gesichtsmuskeln zucken und sich ein Niesen anbahnt, stülpe ich meine Kapuze über und ergreife die Flucht. Ich renne um mein Leben, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin seit einer Stunde in dieser mörderischen Kälte und das in viel zu dünner Kleidung. Wenn ich nicht sehr bald heimkehre, werde ich erfrieren. Das Waisenheim liegt am östlichen Rand der Stadt und ist noch fünf Meilen entfernt.
Um den Weg zu verkürzen, hangle ich mich eine Regenrinne hinauf. Meine aufgerauten Lederhandschuhe und die tiefen Profile, die ich erst frisch in meine Sohlen geritzt habe, sorgen dafür, dass ich an der dicken Eisschicht nicht abrutsche. Ich überquere die eingeschneiten Dächer des idyllischen Rosenviertels, mache einen großen Sprung über die gutbürgerliche Kupfergasse und lasse mich schließlich am Rand des Hafenplatzes hinter einigen Mülltonnen zu Boden gleiten.
Trotz der unmenschlichen Temperaturen und der späten Stunde herrscht hier reges Treiben, denn morgen hisst die Perle des Ozeans ihre majestätischen Segel und sticht in See. Ein Ereignis, dem unser Königreich seit Monaten entgegenfiebert. Der Entschluss, eine Expedition zur Insel Azythros in die Wege zu leiten, um auf dem sagenumwobenen Eiland ein Monster für den Krieg zu zähmen, sendete diesen Herbst Schockwellen durch die Bevölkerung. Immerhin besagt unser Volksglaube, dass die schaurigen Biester von Azythros des Nachts über den großen Ozean reisen und wahllos Neugeborene aus ihren Wiegen rauben. Die schwachen töten sie. Die starken setzen sie wieder aus – als Wölfe im Schafspelz. Denn jene Kinder sind halb Monster und halb Mensch.
Nur ein Mythos, sicherlich, dennoch gibt es sie: Menschen, die absonderliche Fähigkeiten besitzen. Gefährliche Fähigkeiten. Tödliche. Die meisten von ihnen werden exekutiert, sobald der Wolf unter dem Schafspelz hervorblitzt. Für manche jedoch findet unser König abartige Verwendung. Wie der gloriose Ajax, ein königlicher Krieger mit Feuerfähigkeit, der letzten Monat traurige Berühmtheit erlangte, weil er im Tal der Könige die feindliche Armee von Uxasta komplett flambierte.
Wenn Ajax ein Halbmonster ist … was würde ein Vollblutmonster anrichten?
Ich verlangsame meine Schritte, um mir das gigantische Expeditionsschiff anzusehen, das hell erleuchtet im Hafenbecken liegt und rund um die Uhr mit Kisten und Fässern beladen wird. Dort ruht es seit einem Monat. Und ebenso lange schwirren die abstrusesten Pläne durch meinen Kopf, wie ich es um einige seiner teuren Waren und Teile des gefährlichen Equipments erleichtern könnte. Die hohe Anzahl an Wachen und Militär aus den höchsten Kreisen jedoch hat mich bisher davon abgehalten, einen Raubzug zu wagen. Und nun ist es zu spät. Unser König Xalvador Arslan höchstpersönlich wird morgen anreisen, um die sorgfältig auserwählten Teilnehmer der Expedition zu begrüßen und ihnen Glück für die Monsterjagd zu wünschen.
Ein zu gefährliches Pflaster.
Ich schließe mich einer Gruppe angeheiterter Matrosen an und genieße die Wärme der Ölfackeln, die sie bei sich tragen, ehe ich am östlichen Ende des Hafens in die Flussgasse abbiege. Kein sicherer Ort. Die angrenzenden Lagerhallen ziehen Kriminelle und Obdachlose an und das dichte Dach immergrüner Baumkronen sorgt dafür, dass es selbst am Tag stockfinster ist. Hier treibt sich das übelste Gesindel herum. Diebe wie ich. Aber auch Mörder. Mörder, die nicht zimperlich sind und jemandem für eine Kupfermünze die Kehle aufschneiden.
Ich schiebe den kostbaren Dolch tiefer unter meinen rechten Mantelärmel und haste durch die zahlreichen Fußstapfen im Schnee. Die Kälte sticht in meiner Lunge. Ein falscher Tritt oder eine unerfreuliche Begegnung könnten mich das Leben kosten. In diesem Frost bedeutet Stillstand das Ende. Daher beachte ich die Obdachlosen nicht, die bibbernd an den Mauern entlangtorkeln, die Diebe, die mich gierig mit den Augen ausziehen, oder die Huren beiderlei Geschlechts, die ihre bläulichen Lippen mit rotem Lippenstift kaschieren und für mich ihre Pelzmäntel lüften.
Sehe ich aus, als könnte ich mir Sex für Geld leisten? Momentan habe ich nur aus einem Grund Sex. Um mein Blut in Fluss zu halten und am nächsten Morgen wieder aufzuwachen.
Ich visiere das Ende der Gasse an, mein Kinn hoch erhoben und Scheuklappen vor den Augen. Mein Ehrgeiz aber wird bestraft. Mit der linken Stiefelspitze bleibe ich an einem Hindernis hängen, das unter dem Schnee begraben liegt. Für einige schreckliche Sekunden kämpfe ich um mein Gleichgewicht. Mit durchnässter Kleidung komme ich nie lebend zu Hause an. Ich strauchle und finde Halt an der rauen Rinde eines Baumes. Erleichtert atme ich durch und werfe einen Blick auf die Stolperfalle, die mir fast den Tod brachte. Der Form der Erhebung nach könnte es eine Leiche sein. Die starre Hand, die aus dem Schnee ragt, bestätigt meine Vermutung.
Ich weiß nicht, was mich zu meinem nächsten Schritt bewegt. Völliger Wahnsinn. Todessehnsucht. Oder die Vorahnung auf einen einzigartigen Fund. Der Diebesinstinkt.
Ich gehe in die Hocke und trage die oberste Schneeschicht von dem eingefrorenen Körper ab. Eine junge Frau kommt zum Vorschein, wahrscheinlich nur wenig älter als ich. Ihr Gesicht hat elegante Züge, doch die zahlreichen Narben lassen es hart und abschreckend wirken. Eigenartigerweise fehlt ihr das linke Ohr. Die Stelle ist vernarbt, als wäre es vor längerer Zeit abgerissen worden. Der Kleidung nach zu urteilen war sie weder reich noch arm. Ihre Fingernägel sind kurz und dreckig, die erstarrte Hand auffallend schwielig. Möglicherweise eine Bäuerin aus den umliegenden Dörfern oder eine Jägerin. Beides Berufe, in denen man nicht schlecht verdient, aber eher abgeschieden lebt und die Gefahren der Stadt nicht kennt. Sie starb durch einen Stich ins Herz. Blut tränkt ihre Fellweste. Darauf gebettet liegt eine grobe Gliederkette mit einem eigentümlichen Amulett. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich es als Zahn. Ein außergewöhnlich großer Zahn in Sichelform. Er stammt von keinem Tier aus dieser Gegend.
Ich nehme die Kette an mich und will mich erheben. Ein goldener Schimmer im Augenwinkel aber lässt mich innehalten. Wie eine diebische Elster stürze ich mich darauf. Statt einer Münze jedoch finde ich eine rechteckige Goldplatte, die halb aus dem Schnee ragt. Sie ist dünn wie Pergament und so groß wie meine Handfläche. Sieht aus wie eine Eintrittskarte für den Jahrmarkt, doch der ist erst wieder im Sommer. Mit den Fingerkuppen ertaste ich eingravierte Buchstaben, die ich in der Dunkelheit nicht entziffern kann.
Ich hebe meinen Kopf und schaue prüfend die Gasse hinab. Mehrere Augenpaare beobachten mich, aber die Gaffer befinden sich in sicherer Distanz. Also zücke ich ein Zündholz, entflamme es und halte es über die Goldplatte. Im Licht der zitternden Flamme erkenne ich das Wappen unseres Königreichs Evrila, ein von Rosenranken umschlungenes Schwert. Daneben stehen das morgige Datum, der Name Cassia Raven und die Nummer 7.
Mein ganzer Körper kribbelt und das nicht nur wegen der Kälte, die von mir Besitz ergreift. Ich ahne, was ich hier in Händen halte. Und tatsächlich. Auf der Rückseite ist ein majestätisches Segelschiff abgebildet. Die Perle des Ozeans.
Dies ist ein Fährticket.
Ein Fährticket für die Expedition nach Azythros.
Mit angehaltenem Atem fahre ich die Linien der goldenen Segel nach. Ich bin so von dem einzigartigen Fundstück gefangen, dass ich unvorsichtig werde. Erst das leise Knirschen von Schnee holt mich zurück in die Realität. Ruckartig hebe ich den Kopf. Vor mir steht ein Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt. In ihrer Hand liegt eine Armbrust, die Sehne ist stramm gezogen.
»Gib es mir.« Sie streckt ihre bläulichen Finger nach dem Fährticket aus. Ihr junges Gesicht ist verhärtet, in ihren vom Hunger getrübten Augen aber kann ich die Angst erkennen, die sich in ihrem Herzen verbirgt. Doch der Überlebensinstinkt ist stärker. »Sofort!« Der Pfeil zielt zwischen meine Augenbrauen. »Oder du bist tot.«
Meine Hand klammert sich um das Fährticket. Die Ungerechtigkeit dieser Situation schreit zum Himmel. Unser König wirft für diese Expedition eine ganze Wagenladung an Goldmünzen zum Fenster raus, nur um ein Monster zu zähmen, das vielleicht nicht mal existiert. Und wofür? Für einen Krieg, der vor tausend Jahren begann und von dem heute niemand mehr weiß, warum er überhaupt geführt wird. Und hier in dieser armseligen Gasse inmitten der königlichen Hauptstadt stehen sich zwei Mädchen im täglichen Überlebenskampf gegenüber. Für den lächerlichen Goldwert, den dieses Fährticket auf die Waage bringt.
Die Schnelligkeit, mit der meine Gegnerin ihren Pfeil abschießt, überrumpelt mich. Ich werfe mich zur Seite, ehe die Metallspitze sich in mein Auge bohren kann, und ziehe gleichzeitig Sorrels Dolch. Doch statt das Mädchen zu attackieren, drehe ich die Waffe herum und halte ihr den edelsteinbesetzten Knauf entgegen. »Nimm den.«
Die junge Diebin schnappt überrascht nach Luft, ihre Augen weiten sich. Solch einen Reichtum findet man in den zwielichtigen Gassen der Stadt nicht alle Tage. Dennoch kann sie ihre Gier kontrollieren. Voll Argwohn mustert das Mädchen mich, während ihre zittrigen Finger einen neuen Pfeil einlegen.
Sie wittert eine Falle. Ich kann es ihr nicht verübeln. Das würde ich auch.
»Ich brauche ihn nicht«, dränge ich sie. Ich spüre, wie Nässe durch das Leder meiner Stiefel dringt und Kälte sich in meiner Brust ausbreitet. Gefährlich. »Nun nimm ihn schon.«
Das Mädchen zögert. Zu lang. Ein Schatten fällt auf sie, nur ein Hauch dunkler als die Nacht. Gleich darauf zuckt ihr Körper unkontrolliert. Die Angst spiegelt sich in ihren Augen wider, als sie ihren Fehler realisiert und die Armbrust ihrer Hand entgleitet. Sie hustet erstickt. Ein dünnes Rinnsal Blut läuft ihren Mundwinkel hinab. Dann kippt die junge Diebin vornüber in den Schnee. Im nächsten Augenblick sehe ich Holt, dem Halsabschneider, entgegen. Ein blutiges Metzgermesser liegt in seiner Hand. Holt besitzt seinen unheilvollen Spitznamen nicht ohne Grund. Er ist einer der gefährlichsten Räuber der Stadt.
»Wie überaus freundlich von dir, Xena.« Er grinst mich mit faulen Zähnen an, seine verhangenen Augen kleben auf meinem Dolch. An Holts rechtem Ohr baumelt ein frisch erbeuteter Ohrring aus Smaragd. Die dicke Lammfellmütze habe ich heute bereits auf dem Kopf eines anderen Mannes gesehen. »Ich habe gar kein Geschenk für dich.« Mit der Zunge fährt er sich hungrig über die eingerissene Unterlippe, ein dunkles Lachen poltert in seinem Brustkorb. »Doch wir werden uns sicher einig.«
Wie ein Berserker stürzt der Räuber sich auf mich – und spießt sich auf meinem Dolch auf, den ich im gleichen Moment vorwärtsstoße. Die scharfe Klinge aus Himmelseisen versinkt mühelos in seinem Brustbein und erreicht sein Herz. Ein unverständliches Gurgeln kommt über seine Lippen, die verschlagenen Augen treten ihm aus den Höhlen. Als ich die Klinge wieder herausziehe, landen Blutspritzer auf meinem Mantel. Ich springe zur Seite, ehe Holt mit einem feuchten Röcheln kollabiert und in der verschneiten Flussgasse sein Leben aushaucht.
Die bedrückende Stille des Todes legt sich wie ein schwerer Pelzmantel über uns, das flaue Gefühl in meinem Magen aber hält sich in Grenzen. Meine Finger zittern nur schwach. Gewalt und Tod sind mir nicht fremd. Evrila lehrte mich früh, dass nur die Starken überleben. Das raue Klima sortiert alle anderen gnadenlos aus. Manchmal frage ich mich, wofür dieser Überlebenskampf überhaupt gut ist. Damit wir bis zu unserem mühsam erkämpften späten Tod in einem Armenviertel als Dieb oder Hure dahinvegetieren?
Meine Aufmerksamkeit wandert von den drei Leichen im Schnee zu dem Fährticket in meiner Hand. Dieses Königreich hält keine Zukunft für jemanden wie mich bereit. Es sei denn, Prinz Zander Arslan läuft mir zufällig in der Flussgasse über den Weg, verliebt sich unsterblich in mich und macht mich zu seiner Königin. Aber da ist es noch wahrscheinlicher, dass ich ein Monster zähme und mir mit dem Biest meine Freiheit beim König erkaufe.
Wie das Schicksal es will, habe ich jetzt die Gelegenheit dazu.
Mit einem ambivalenten Gefühl aus Hass und unendlicher Erleichterung sehe ich zum Waisenhaus empor, das in seiner monströsen Hässlichkeit auf dem Hasenhügel thront wie eine Warnung an die Menschheit. Bring nur ein Kind auf die Welt, wenn du es dir leisten kannst. Ich kenne meine Eltern nicht. Aber ich verfluche sie jede Nacht.
Mit letzter Kraft stapfe ich durch den meterhohen Schnee, den hier oben niemand kehrt. Im Grunde ist das Waisenheim eine riesige Rumpelkammer. Eine Rumpelkammer für Kinder, für die der König keine Verwendung findet, in der Hoffnung, sie hauchen ihren finalen Atem aus, ehe sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Die meisten tun ihnen den Gefallen. Doch es gibt Ausnahmen. Kämpfernaturen. Kinder, die sich zwanzig Jahre an das Leben klammern, um dann in der ersten Nacht der Freiheit in einer Hafengasse ermordet oder sturzbetrunken mit dem Rücken nach oben in einem Fluss treibend aufgefunden zu werden.
Mein zwanzigster Geburtstag ist in einem Monat. Habe ich Pläne für danach? Sicherlich. Überleben. Und weg von hier. Weg aus diesem elenden Königreich. Ich will als Matrosin anheuern. Als Kistenschlepperin oder Deckschrubberin. Mir egal. Ich kann nicht schwimmen, aber alles lässt sich erlernen. Solange ich nie mehr diesen verdammten Boden betreten muss, den König Arslan sein Eigen nennt.
Mit brennenden Schenkeln und krampfender Lunge kraxle ich die letzten Meter empor. Oben angekommen prüfe ich, ob im Arbeitszimmer der Heimleiterin Kerzen brennen. Beatrix Borag liebt es, uns bei nächtlichen Ausgängen zu erwischen und an die Stadtwache zu verpetzen. Die Frau muss einen tiefen Hass in sich tragen, denn sie leitet diese Folteranstalt seit fünf Jahren und erfindet täglich neue Regeln und Strafen, um uns zu quälen. Doch sie sollte sich vorsehen. Ihre Vorgängerin ertrank in einer tragischen Winternacht in einem zugefrorenen See. Wochenlang kursierten die wildesten Gerüchte, wer sie dort ertränkte. Ich habe meine Vermutung. Der Täter ist meist das am härtesten getretene Opfer. Und somit mein bester Freund Cole.
Ich habe ihn nie darauf angesprochen.
Mühsam hangle ich mich die rostigen Metallstreben der Feuerleiter empor bis zum dritten Stockwerk und schwinge mein Bein durchs Fenster unseres Gemeinschaftszimmers. Zu Winteranfang wurden aus unerfindlichem Grund die Fensterläden entfernt, und um uns vor Schneestürmen zu schützen, haben wir eines unserer wenigen Bettlaken geopfert. Mit meinen steifen Gliedern verfange ich mich in dem klammen Stoff und stoße diverse Flüche aus.
»Xena!« Anouk befreit mich aus der provisorischen Gardine und schließt mich in eine solch stürmische Umarmung, dass wir beinah aus dem Fenster stürzen. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«
»Ich bin noch immer zurückgekehrt«, keuche ich erstickt. Obwohl meine beste Freundin mich fast stranguliert, halte ich sie ebenso fest umschlungen. Der vertraute Geruch nach Mottenkugeln und Kernseife hüllt mich in ein tröstendes Gefühl von Heimat und die Wärme ihres Körpers ist eine Wohltat. Meine Finger sind taub und die restlichen Glieder zittern unkontrolliert. Wahrscheinlich müssen ein paar Zehen dran glauben, wenn ich nicht sofort unter eine Decke komme.
»Einmal ist immer das erste Mal.« Mit einem frechen Grinsen taucht Cole hinter Anouk auf. Sein verwuscheltes Haar lässt ihn verwegen aussehen, die taubenblauen Augen funkeln verschmitzt. Ich könnte schwören, er wächst noch immer. Aus dem schlaksigen, schüchternen Jungen, der von jedem herumgeschubst wurde, ist ein stattlicher Mann geworden. »Also … sozusagen das letzte Mal«, fügt er augenzwinkernd hinzu, legt mir eine Wolldecke um die Schultern und reibt in kreisenden Bewegungen über meinen Rücken. Seine großen Hände habe ich stets geliebt. Coles Massagen wärmen besser als jedes Kaminfeuer. »Du bist lange weggeblieben.«
Cole befreit mich von dem nassen Schal und gibt mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sein Atem taut das Eis auf meiner Haut und sorgt für ein angenehmes Prickeln, das durch meine verkühlten Adern kriecht. Der Effekt ist rein körperlich, und prompt bauen sich die vertrauten Schuldgefühle in mir auf. Ich kann für Cole nicht das Gleiche empfinden, was er für mich empfindet, und das macht unsere Beziehung zunehmend kompliziert.
»Pass auf, dass du nicht an mir kleben bleibst«, warne ich ihn und befreie mich von meinen Handschuhen, die auf meiner Haut festgefroren sind. Anouk hilft mir, indem sie kräftig an meinen Fingern zieht und sie nacheinander aus dem Gelenk kugelt. »Da draußen hat es fünfzig Grad unter null.«
»Das nehme ich in Kauf.« Coles Lachen ist heiser von seiner überstandenen Grippe. »Es gibt schlimmere Schicksale, als an dir kleben zu bleiben«, raunt er in mein Ohr, bevor seine Lippen auch meine linke Wange streifen.
Ich vernehme ein penetrantes Hüsteln und werfe einen Blick über Anouks Schulter. Dort stehen die übrigen Bewohner dieses Zimmers, brav aufgereiht, als wäre Montag und ich unsere Heimleiterin zum wöchentlichen Reinlichkeitscheck. Einmal in zehn Jahren kommt es immerhin vor, dass eine Pflegefamilie einen von uns erwählt. Und die wollen ein reinliches Kind und nicht jemanden wie … nun ja, mich.
Da wäre Paloma, fünfzehn Jahre jung und unser kränkliches Sorgenkind. Ihre Abhängigkeit von den halluzinierenden Tschitok-Pilzen ist ständiger Streitpunkt, aber sie ist die Putzfee in unserer erlauchten Gruppe und entfernt zuverlässig jedes Ungeziefer. Trey, der immer was zu meckern hat und gern der Anführer wäre, würde ich nicht diesen Platz okkupieren. Seine Raubzüge sind ganz ordentlich, dafür sitzt sein Messer zu locker und er kann erschreckend skrupellos sein. Eliza, unser wunderschöner Schwan mit den scharfen Krallen, die uns mit ihrer charmanten Art schon mehr als einmal aus der größten Scheiße geritten hat. Und schließlich der kleine Salem, unser Neuzugang, nachdem Ripley vom Dach gestürzt ist. Ganz ohne Fremdeinwirkung.
Diese sechs Menschen, die sich ein Zimmer, einen Toilettentopf und ein Leben teilen, sind meine Familie. Und ich bin ihre. Aus blassen Gesichtern starren sie mich erwartungsvoll an. Mich. Xena, die Älteste. Die Versorgerin. Die Beschützerin. Ich kann ihre Mägen knurren hören. Unter ihren zerfransten und löchrigen Decken warten sie auf meine Beute wie Vogelküken auf ihren zerkauten Brei.
»Du bist ein Eiszapfen!«, klagt Anouk. Anouk. Meine älteste Freundin. Die Vernünftige mit den tiefen Abgründen. Sie hat etwas Mütterliches an sich, stürzt sich aber gleichzeitig in jede Prügelei. Wir teilen neben schönen und schrecklichen Erinnerungen auch gefährliche Geheimnisse. Nur ich weiß, wer ihre Mutter ist. Und ich habe geschworen, dieses Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Niemandem vertraue ich mehr als ihr.
»Ich bin ein Eiszapfen, der schmilzt.« Eine Pfütze hat sich unter mir gebildet und weicht die alten Holzdielen auf. Da ich nicht schon wieder in die zweite Etage durchbrechen will, drücke ich Cole die Decke in die Hand und befreie mich von dem triefenden Mantel.
Erschrocken zieht Anouk die Luft ein. »Ist das Blut?« Sie packt das Revers und befühlt das abgenutzte Leder, das eine ganz eigene Fleckenlandschaft vorzuweisen hat. Ein paar neue sind heute dazugekommen. Dunkle Spritzer. Blut.
»Nicht meins«, beruhige ich sie und breite den Mantel über dem Stuhl aus.
»Musstest du töten?« Cole klingt abgeklärt, aus seinem Blick aber spricht Besorgnis. Er reicht mir eine Kerze, die ich dankbar in meine kalten Finger nehme.
»Ja«, antworte ich nur und begebe mich mit der Kerze in der Hand zu meinem Bett – links von der Tür, unter Anouks Pritsche – und befreie mich von den vollgesogenen Stiefeln. Hoffentlich sind sie bis morgen halbwegs trocken.
»Ich hoffe, nicht umsonst.« Trey verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mit der ihm eigenen Überheblichkeit auf mich hinab. Seitdem unserem rot gelockten Schönling vor zwei Monaten von einem Freier in der Hafenstraße Arbeit angeboten wurde, ist er noch selbstgefälliger geworden. Er fühlt sich jetzt schon wie die gefragteste Hure der Stadt. Glücklicherweise übt er sich nicht in unserem Gemeinschaftszimmer. Ich kotze ungern mein teuer verdientes Essen wieder aus. »Was ist dabei rumgekommen?«, ranzt Trey mich unfreundlich an.
»Kannst du nicht warten?«, knurrt Cole und spannt angriffsbereit seine Muskeln, die – wie sein Penis – eines Morgens einfach da waren. Ich schwöre. »Wisch lieber den Boden, Trey.«
Die beiden Platzhirsche in unserer Gruppe benehmen sich leider oftmals wie Idioten. Hauptsächlich dann, wenn es um uns Mädchen geht. Da ich nicht das Bett mit Trey teilen würde, wäre er der einzige Junge im Heim, Eliza das andere Geschlecht vorzieht, Paloma ständig irgendwelche Viren mit sich herumträgt und Anouk ihm seit einer üblen Prügelei im letzten Jahr Angst macht, ist Trey grundsätzlich angepisst, wenn er mit uns zusammen ist. Er besitzt keine Macht über uns, weil wir beim Anblick seines nackten Körpers nicht dahinschmelzen, und das macht ihn wahnsinnig.
»Sie hat den letzten Putenschenkel bekommen und drei Zündhölzer, damit sie auf Beutejagd geht«, brummt Trey und weicht meinem Blick aus. Anouk behauptet, ich könne mit meinen Augen töten. Da wäre ein wirbelnder Tornado hinter dem friedlichen Schiefergrau meiner Iriden, der den Betrachter in die Tiefe reißt und nie mehr hergibt. »Da will ich halt Erfolge sehen.«
»Geh doch nächstes Mal selbst!«, fährt Anouk ihn bissig an.
Salem wittert eine Schlägerei und verkriecht sich ängstlich in seinem Bett. Unter dem Schutz seiner Decke behält er uns misstrauisch im Auge.
»Kein Grund, die Keule rauszuholen«, entschärfe ich die Situation, greife in meine Hosentasche und werfe Sorrels Goldmünzen auf den Boden. »Da. Kratzt euch die Augen aus.«
Wir haben eine Regel in diesem Zimmer. Jede Beute wird geteilt. Denn wir teilen auch alles andere. Daher bleiben nun alle wie angewurzelt stehen und glotzen sehnsuchtsvoll auf die Münzen. Trey ringt sichtlich mit sich, ballt seine Hände zu Fäusten und öffnet sie wieder. Er hasst mich dafür, dass ich die Beute bringe. In einem Monat, wenn ich das Heim verlasse, sieht er sich schon als neuer Anführer.
Ich bezweifle, dass er den Kampf um den höchsten Rang in diesem Zimmer gewinnen wird. Ich tippe auf Anouk, nachdem Cole ihr den Vortritt überlassen hat. Aber das geht mich dann nichts mehr an.
Bei dem Gedanken verspüre ich einen leichten Stich im Herzen.
»Ich laufe morgen früh zum Markt und kaufe ein.« Eliza ist die Erste, die sich vorwagt. Der frisch gewaschene blonde Dutt wippt auf ihrem Kopf. Das Mädchen riecht stets nach Rosen und Lavendel, obwohl sie die gleichen Waschmöglichkeiten hat wie wir alle. »Schreibt mir eure Wünsche auf.« Eliza bückt sich zu der Beute, öffnet ein Leinentuch und schiebt die Goldmünzen hinein. »Bis spätestens Sonnenaufgang«, fügt sie an Paloma gewandt hinzu, die mit schniefender Nase und blutunterlaufenen Augen niedergeschlagen nickt. Es ist ihre dritte Grippe seit Winteranfang.
»Tolle Ausbeute.« Eliza drückt mein Knie, ihre veilchenblauen Augen strahlen mich an. Sollte sie keine verloren geglaubte Prinzessin sein, wird sie zweifellos irgendwann eine heiraten. »Gut gemacht.«
»Danke, Xena.« Anouk setzt sich neben mich aufs Bett und küsst meine Wange. »Damit kommen wir bis zum Frühjahr über die Runden.«
»Und hiermit?« Ich rolle meinen Pullover hoch und ziehe den Prunkdolch aus meinem Gürtel. Die Rubine, Smaragde und Saphire glitzern dramatisch im Schein der Kerzenflamme. Sofort sind die Goldstücke uninteressant. Selbst Salem kriecht aus seinem sicheren Versteck hervor.
»Der ist wunderschön«, haucht Salem und krabbelt in meine Richtung.
»Bei Cadall!« Eliza stößt einen anerkennenden Pfiff aus. »Das nenne ich mal eine beeindruckende Beute.«
Cole reißt mir den Dolch aus der Hand, prüft die Edelsteine mit dem Fingernagel und beißt in die Klinge aus Himmelseisen. Nachdem er die Echtheit sichergestellt hat, sacken seine Augenbrauen bedrohlich ab. »Warst du im Palast?« Sobald er seine Stimme eine halbe Oktave senkt, bekommt man fast Angst vor ihm.
»Sorrel. Er kam vom Mittwintermarkt.«
Coles Augen werden schmal. »Die königliche Verwandtschaft ist tabu«, raunt er düster. »Das haben wir besprochen.«
»Du würdest auch zugreifen, wenn ein grunzendes Schwein aus purem Gold vor deiner Nase herumläuft, Cole.«
Cole aber findet das gar nicht witzig. Seine Lippen sind zu einer harten Linie verzogen. »Hast du ihn getötet?«
Ich seufze entnervt und nehme den Dolch wieder an mich. Coles Beschützerinstinkt, den er sich an dem Tag aneignete, als er über mich hinauswuchs, ist gelegentlich ganz süß, aber letzten Endes bin ich eine hervorragende Diebin. Und länger im Geschäft als er. »Bin ich lebensmüde?«
»Hat er dich erkannt?«
»Als ob jemand wie Sorrel ein Waisenkind im Gedächtnis behält, das ihm mal einen Ring verkaufen wollte.«
»Wenn sie dich erwischt hätten, Xena«, flüstert Anouk und späht aufmerksam zur Tür. »Das hätte übel geendet.«
»Ich werde nie erwischt.«
»Das kann weite Kreise ziehen.« Eliza hockt im Schneidersitz auf dem Boden und reinigt die Goldmünzen mit einem alten Lappen. »Schau dir diese geniale Waffe an. Vielleicht hängt er an dem Ding.«
»Wenn das auf uns zurückfällt«, brummt Trey und schüttelt missbilligend den Kopf. »Ich wünschte, du hättest deine Gier besser unter Kontrolle, Xena. Wenn die Anführerin sich nicht an die Regeln hält, tun es die anderen auch nicht.«
»Danke für den weisen Rat, Trey.« Anouk rollt mit den Augen.
»Erinnert ihr euch an den letzten Dieb, der sich bei Sorrel eindecken wollte?« Paloma zieht geräuschvoll die Nase hoch und wischt sie sich dann an ihrem überdimensionalen Pullover ab. »Das war so ekelig.«
Wir alle erinnern uns daran. Der geköpfte Körper des armen Räubers baumelte eine Woche vor seinem Laden. Zur Abschreckung. Der Kopf wurde angeblich von einem Halbmonster abgebissen, das er sich bei seinem Cousin – dem König – auslieh.
»Xena, das –«, setzt Cole an.
»Es reicht, Cole«, unterbreche ich seine kommende Zurechtweisung. »Freu dich über das Gold und halt die Klappe.«
Beleidigt stülpt er die Unterlippe vor. Während zwischen Eliza, Paloma und Trey eine hitzige Diskussion darüber entbrennt, wofür das Gold verwendet wird, gebe ich Cole und Anouk das Zeichen für Geheimbesprechung. Wir ziehen uns in die hinterste Ecke meines Bettes zurück und verstecken uns unter der Bettdecke.
»Ist es für einen Dreier nicht zu voll im Raum?« Anouk kuschelt sich an mich und zwinkert Cole kess zu. Sie erntet von ihm einen finsteren Blick.
»Die Ménage-à-trois muss warten.« Ich keile die Kerze sicher zwischen meine Fußsohlen und lege das Fährticket aufs Bettlaken.
»Was ist das?« Auf Anouks Stirn bilden sich grüblerische Falten, während sie den Fund betrachtet. »Noch mehr Gold?«
»Unbeschreiblich viel Gold«, flüstere ich verführerisch.
»Nächstes Mal begleite ich dich.« Cole greift kopfschüttelnd nach der Goldplatte. »Sonst raubst du noch den König persönlich aus.«
Um Cole seine miese Laune zu nehmen, verwuschle ich sein Haar. Wie meines hat es die Farbe von Dreck, den man in den entlegensten Ecken findet. »Ich würde dir seine Krone überlassen, Coley.«
Er verzieht spöttisch den Mund, hält sich das Fährticket vors Gesicht und entziffert die Gravur. »Perle des Ozeans?« Cole besieht sich die Rückseite, ehe er das Ticket langsam sinken lässt. Meine freudige Aufregung teilt er nicht. Stattdessen ziehen dunkle Schatten in seinen blassblauen Augen auf. »Ist es das, was ich glaube?«
»Ein Fährticket nach Azythros.« Sofort schlägt mein Herz heftiger gegen die Rippen. Diesen Fund hat mir das Schicksal vor die Füße geworfen. Es wäre Irrsinn, dem Ruf nicht zu folgen. »Einlass auf das Expeditionsschiff.«
»Du verarschst uns.« Anouk entwendet Cole das Ticket und beißt mehrfach hinein, um seine Echtheit zu überprüfen.
»Woher hast du es?«, fragt Cole mit Grabesstimme.
»Von einer Leiche. Einer Leiche, die ich nicht tötete«, füge ich hinzu, bevor er mir abermals eine Standpauke halten kann. »Sie lag in der Flussgasse.«
»Das ist ein Ticket für die Expedition zur Monsterinsel!«, kreischt Anouk, die es anscheinend jetzt erst realisiert.
»Bist du still!«, zische ich und presse meine Hand auf ihren Mund.
Sie gibt einen entschuldigenden Laut von sich und ich nehme die Hand wieder herunter.
»Was willst du damit, Xena?« Coles Frage ist eindeutig rhetorisch. Er kennt mich. Dies ist ein Ticket in die Freiheit. Und ich war lang genug eingesperrt.
»Ein Sack Gold.« Das Argument ist nur teilweise vorgeschoben. Es ist nicht mein Hauptmotiv, aber eine schwer zu widerstehende Verlockung. »Das bekommt jeder Teilnehmer als Entlohnung. Einen ganzen Sack, Cole. Davon kann ich dieses verdammte Waisenhaus aufkaufen und ein luxuriöses Gasthaus draus machen.«
»Die Teilnehmer bekommen die Entlohnung, nachdem sie die Expedition abgeschlossen haben«, merkt Anouk besserwisserisch an. Sie liest leidenschaftlich gern die Zeitung, die sie wöchentlich aus dem Briefschlitz eines verlassenen Stadthauses an der Finkengasse entwendet. Das Blatt ist seit Wochen mit Nachrichten über die Expedition angefüllt. »Erfolgreich.« Sie klopft mir mit den Fingerknöcheln gegen die Stirn, als hätte ich einen Dachschaden, der geheilt werden müsse. »Wenn sie ein Monster gezähmt haben.«
»Ich muss es ja nicht zähmen.«
»Stimmt.« Auf Anouks spröde Lippen schleicht sich ein verträumtes Lächeln. Abwesend zwirbelt sie eine kohlschwarze Haarsträhne zwischen ihren Fingern und starrt gedankenversunken in die Kerzenflamme. »Das machen die königlichen Geschwister.« Ein tiefer Seufzer verlässt ihre Kehle. »Prinz Zander hat sich die letzten Monate Tag und Nacht auf die Jagd vorbereitet. Alle anderen Teilnehmer sind ohnehin nur Beiwerk.«
Anouk steht auf den Prinzen. Eines der wenigen Dinge, die sie nicht verheimlichen kann. Im Gegenteil schmachtet sie ihn mit Hingabe an, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Für mich ist er nur eine Miniaturausgabe des Königs. Und somit verachtenswert.
»Anouk, du saugst doch alles über diese Expedition auf wie ein Schwamm.« Ich schnipse mit den Fingern vor ihrem Gesicht, damit sie wieder in die Realität zurückkehrt. »Sagt dir der Name Cassia Raven etwas?«
Nachdenklich zieht sie ihre Augenbrauen zusammen. Für ihr schmales Gesicht sind sie übertrieben buschig, wodurch tiefe Schatten auf ihre Augen fallen. »Nie gehört.«
»Dich brauche ich nicht fragen, oder?«, wende ich mich an Cole, der abwesend in seiner Düsternis schmort.
»Nein«, brummt er widerwillig. »Aber das muss nichts heißen. Möglicherweise ist diese Frau dem König bekannt. Oder jemand anderem auf der Expedition. Sie würden dich des Mordes anklagen und hinrichten.«
»Danke für die motivierenden Worte.« Ich habe natürlich befürchtet, dass Cole mir diese Sache ausreden wird. Er hängt an mir, seit ich ihm vor vielen Jahren das Leben rettete. Zwei ältere Waisenkinder wollten ihn mit Gewichten an den Füßen in den See werfen. Heute ist unsere Beziehung eine ganz andere, und dennoch habe ich manchmal das ungute Gefühl, Cole würde nur für mich leben. Eben, weil er nur wegen mir noch lebt.
»Versteh ich das richtig.« Anouk wedelt mit dem Fährticket vor meiner Nase. »Du willst dich als Cassia Raven ausgeben und zu dieser Expedition antreten?« Sie tauscht einen entsetzten Blick mit Cole. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Wieso?« Verärgert entreiße ich ihr das Ticket und schiebe es unter meinen Pullover. »Was ist daran so abwegig?«
»Sie würden sofort merken, dass du nicht dazugehörst.« Vielsagend gleiten ihre Augen über meine heruntergekommene und abgemagerte Erscheinung. »Das ist Wahnsinn, Xena. Und nicht umsetzbar.«
»Du hast mir selbst erzählt, dass nur ein Teil der Auserwählten wegen ihrer ruhmreichen Talente dabei ist«, zitiere ich sie. »Die meisten Teilnehmer der Expedition sind Krieger, Köche, Jäger, Diener …«
»Du hörst mir doch sonst nie zu«, schnaubt Anouk. Sie gibt Cole eine Kopfnuss. »Nun sag auch mal was!«
»Ein gewisses Risiko besteht.« Achselzuckend betastet er die lange Narbe an seinem rechten Unterarm, das Resultat eines besonders heftigen Peitschenhiebs unserer ehemaligen Heimleiterin. »Aber unser gesamtes Leben ist ein Risiko …«
»Wenn diese Cassia Raven der Königsfamilie angehört!«, echauffiert Anouk sich.
»Nach royalem Blut sah die Frau nicht aus. Ihr einziger Schmuck war dieser Zahn.« Ich hole die eigentümliche Kette aus meinem Ausschnitt. Auch wenn sie kaum viel wert ist, habe ich sie mitgehen lassen. Der Zahn gefällt mir. In seiner hässlichen Monstrosität hat er eine hilfreich abschreckende Wirkung. »Die Kette besteht aus verwitterten Kupfergliedern. Der Tierzahn spricht für eine Jägerin.«
»Das ist doch kein Tierzahn.« Anouk prüft die Spitze des überdimensionalen Zahns und zuckt mit einem leisen Aufschrei zurück. »Das ist ein Mordwerkzeug!«
»Wenn sie eine Jägerin ist«, beharre ich, »dann kriege ich das hin. Früher war ich ab und an jagen. Wisst ihr noch? Als es noch Tiere in den angrenzenden Wäldern gab.«
»Hasen und Wiesel.« Anouk schüttelt so wild den Kopf, dass ihr das Haar ins Gesicht klatscht. »Keine Monster! Xena, selbst wenn du es auf dieses Schiff schaffst und niemand den Betrug bemerkt … Wie willst du diese Monsterjagd überleben?«
»Ich ziehe jede Monsterjagd diesem Leben vor.« Ich deute auf die von Löchern zerfressene Wolldecke, die uns als Schutz dient, und die verrostete Metallfeder, die zwischen uns aus der Matratze ragt. »Und die Chancen zu sterben, sind hier mindestens ebenso hoch.«
Anouks kalte Finger stehlen sich unter meinen Pullover und stibitzen blitzschnell das Ticket. Sie balanciert die Goldplatte prüfend auf ihrer Handfläche. »Das Fährticket hat einen Gegenwert von fünf Goldmünzen.«
»Fünf Goldmünzen gegen einen ganzen Sack, Anouk.«
»Die anderen würden es nicht erlauben«, zieht sie mit dem nächsten Argument nach.
Dass ausgerechnet Anouk mir die Sache auszureden versucht, hätte ich nie gedacht. »Das ist mir scheißegal«, entgegne ich wütend, klaube meinen Schatz aus ihrer Hand und verstecke ihn wieder unter meinem Pullover. »Ich habe dieses Ticket gefunden und kann damit machen, was ich will.«
»Du wirst nicht wiederkommen, Xena.« Tränen bilden sich in Anouks Augen. Die perfekte Mandelform und das auffallend dunkle Tannengrün ihrer Iriden könnten einem sehr aufmerksamen Spion mehr über Anouk verraten, als diese Welt je erfahren sollte. »Wenn du gehst …«, flüstert sie mit bebenden Lippen, »… wirst du nicht wiederkommen.«
»Natürlich komme ich wieder.« Ich reiche ihr den Zipfel meiner Decke und sie wischt sich die Tränen daran ab. »Mit einem Sack Gold und einem Monsterschädel im Gepäck«, füge ich grinsend hinzu.
Doch Anouk erwidert mein Grinsen nicht. »Du hast mir versprochen, dass wir gemeinsam aus diesem elenden Königreich fliehen, Xena.« Sie ringt sichtlich mit sich. »Versprochen hast du es«, schluchzt sie.
Und mit diesen Worten fällt mein kurzer Traum vom großen Abenteuer der Freiheit in sich zusammen wie ein missglückter Kuchen. Ich habe es Anouk versprochen. Mit Blut haben wir es besiegelt. Wir wollten gemeinsam fliehen, sobald wir zwanzig sind. Weit weg. Weg von Anouks … Geheimnis.
Ich seufze tief. »Du hast recht«, gebe ich nach, hole das Fährticket unter meinem Pullover hervor und werfe es aufs Laken. »Es war eine dämliche Idee. Davon können wir einen ganzen Schinken kaufen.« Mit diesen Worten schäle ich mich aus der Decke und verlasse unsere private Höhle.
Draußen werde ich von einem handfesten Streit begrüßt. Eliza hat Trey gegen die Ecke gedrängt, ihre schlanken Finger schließen sich um seinen Hals. Die langen Fingernägel hinterlassen blutige Striemen auf seiner blassen Haut. »Ich kaufe mir einen neuen Schal!«, keift sie ihn an. »Oder ich mach mir einen aus deinem bescheuerten Haar!«
Salem hockt unter seinem Bett und linst panisch zu mir auf.
»Ist ja schon gut.« Treys Stimme zittert merklich. »Mach, was du willst«, röchelt er und reißt sich von Eliza los. »Irre Wildkatze.«
»Ihr kommt klar, wenn ich kurz scheißen gehe?« Ich warte die Antwort nicht ab, sondern verschwinde so schnell wie möglich mit Windkerze und Decke aus dem Zimmer.
Wachsam schleiche ich durch den zugigen Korridor, in dem es kaum wärmer ist als in der Flussgasse. Die Kerzen an den Wänden sind vor Wochen heruntergebrannt und nur noch traurige Stummel in ihren rostigen Halterungen. Die hässlichen Tapeten liegen seit meiner Ankunft in diesem Heim zerrissen und zerknüllt am Boden, gemeinsam mit haufenweise toten Spinnen und Mäusen. Keiner kümmert sich. Nicht in den oberen Stockwerken. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Das würde vielleicht funktionieren, wenn man uns Verantwortung beibringen würde. Aber abgesehen von dem Nötigsten – Schreiben, Lesen und Rechnen – lernen wir nichts. Nichts, außer für unser Überleben zu kämpfen. Mit allen Mitteln. Und im Notfall zu töten.
Ich bin penibel darauf bedacht, auf jene Dielen zu treten, die nicht knarren oder quietschen. Für einen Anschiss habe ich heute Nacht keine Nerven. Die vertrauten Geräusche des uralten Hauses mischen sich mit dem Schluchzen und den gelegentlichen Schreien, die aus den Gemeinschaftsräumen dringen. Jeder hier hat Albträume. Über dreihundert Kinder leben in diesem Waisenheim. Es ist angefüllt bis unters Dach und das, obwohl die Sterberate verdammt hoch ist. Kinder sind in Azherdale ein Luxus, den sich nur noch wenige leisten können.
Vorsichtig steige ich die Stufen zum Dachboden empor, durch den geräuschvoll der Wind pfeift. Das Dach ist wie ein löchriger Käse. Wäschestücke liegen überall verteilt, sind von den Wäscheständern geflogen und nun so hart wie Holzbretter. Niemand hat sie abgehängt. Unser Zimmer war nicht an der Reihe, also stapfe ich einfach über das Chaos, kämpfe mich durch den frischen Schnee, den Dreck und das Ungeziefer. Ich wickle mich fest in die Wolldecke und klettere aus einem der Dachfenster, dem die Holzläden fehlen. Es ist mir ein Rätsel, warum dieses Gebäude nicht einbricht und uns alle unter sich begräbt.
Ich halte mich an einem der Kamine fest, rutsche bis zur Dachrinne hinab und hocke mich in eine Kuhle, die der Wind erschaffen hat. Fünf Dachziegel sind eines Nachts heruntergestürzt. Ich habe ein aussortiertes Kissen hineingelegt und nun ist es der ideale Platz, um der ganzen Scheiße für einen Augenblick zu entfliehen. Mit einem tiefen Seufzer mache ich es mir bequem, stelle die Windkerze zwischen meine Beine und blicke gen Westen, während der Schnee auf mich herabrieselt.
Azherdale ist wunderschön. Die Hauptstadt unseres Königreichs Evrila liegt idyllisch und von allen Seiten geschützt am Ufer des Nordmeeres, gebettet in die Ausläufer der dicht bewaldeten Navara-Berge. Von hier oben sieht man nicht die Armut, die in der Stadt grassiert wie eine üble Grippe. Wie ein wildes Kerzenmeer schmücken die Fenster der Stadthäuser und Villen die finstere Winternacht. Die Gassen der noblen Viertel wurden zu Mittwinter mit bunten Lichterketten dekoriert und die hübschen Farbtupfer lenken geschickt von den dunklen, verkommenen Armenvierteln ab, die sich stetig ausweiten. Der hell erleuchtete Hafen, wo die Arbeiten am Expeditionsschiff auch in der Nacht fortgeführt werden, lässt die Wellen des rauen Nordmeeres sanft schimmern.
Im Westen thront der königliche Palast über Azherdale, gehauen in den schiefergrauen Stein des schneebedeckten Gebirges. Eine farblose Festung. Der König ist selten dort. Er und seine Familie residieren die meiste Zeit im Sommerpalast von Zarikée am legendären Tal der Könige, einer tiefen Schlucht, die einem gewaltigen kreisrunden Gebirge vorgelagert ist, an alle vier Königreiche des Kontinents grenzt und das Herz unserer Welt umgibt. Koralia. Seit Anbeginn der Zeit leben wir im Krieg um dieses winzige Stück Land, auf dem angeblich einst die Alten Götter residierten. In Zarikée kann Xalvador Arslan sein Frühstück im prunkvollen Sommerpalast genießen und sich gleich darauf ins Schlachtgetümmel stürzen.
Der Krieg der Könige ist seine größte Leidenschaft.
Er teilt sie mit den übrigen Herrschern unserer Welt.
Königin Senka B’alam, Xalvadors Cousine und einzige Herrscherin, die noch den altehrwürdigen Familiennamen trägt, regiert über das Königreich Uxasta im Süden. Sie hat das Recht auf den mächtigen Namen in einer Schlacht gewonnen. Tausend Jahre besaßen alle Herrscher des Kontinents den gleichen Nachnamen, der sich auf die sagenhaften B’alam-Geschwister zurückverfolgen lässt, unter denen die Welt zum ersten Mal aufgeteilt wurde. Die Verwandtschaft hat sich in den Jahrhunderten verwaschen, das ruhmreiche Erbe aber, das mit dem Namen B’alam einhergeht, wollte niemand freiwillig abgeben. Bis man sich vor wenigen Jahren einvernehmlich entschied, darum zu kämpfen. Senka brachte den Sieg nach Uxasta und das mit nur fünfzehn Jahren. Ironischerweise kann sie keine Kinder bekommen und den Namen somit nicht weitergeben. Doch der Sieg in einer Schlacht zählt in unserer Welt mehr als Vernunft, Bräuche und Gesetze.
Ihr Bruder König Adasi Yan Shah, ein besonders bestialischer Kriegsherr, herrscht über das Königreich Taezenia im Westen. Das Land ist schroff und unwirtlich, eine chaotische Aneinanderreihung von Gebirgen, Tälern und Höhlen, durch die ein nie endender Wind fegt. Vor drei Jahren heiratete König Yan Shah seinen Kommandanten über die Armee. Angeblich veranstalten die beiden regelmäßig Arenakämpfe, bei denen sich durchs Los ausgewählte Menschen bis auf den Tod bekämpfen. Sollte mir jemals die Flucht aus Azherdale gelingen, werde ich um Taezenia einen großen Bogen machen.
Die Älteste im royalen Bunde, Königin Titia Scantilla von Iyawen, regiert den Osten unserer Welt. Bei einer der letzten großen Schlachten um Koralia überschwemmte Iyawens Halbmonster Calliope – es beherrscht die Macht über Wasser – das Tal der Könige, indem es den Fluss Ythar, Hauptstrom und Verkehrsader unseres Kontinents, umleitete. Die Zahl der ertrunkenen Krieger ging in die Tausende. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Königin Titia eine romantische Beziehung zu Halbmonster Calliope pflegt. Ein Skandal. Solch ein Tabubruch endet für jeden normalen Menschen mit der Hinrichtung.
Ein Jahrtausend dauert der Krieg der Könige nun an. Eine Generation folgt der nächsten und stürzt sich in eine noch gigantischere Schlacht, um endlich den finalen Sieg davonzutragen und das mythenumwobene Koralia zu besetzen. Schon in der Wiege wetzen die Königskinder ihre Schwerter. Der Grund für den Streit ist längst in der Vergangenheit verschüttet. Die Mythen reichen von Eifersucht über Mord bis hin zu einem finsteren Geheimnis, das seinen Ursprung ausgerechnet auf Azythros hat. Der Anfang liegt im Dunkeln wie das Ende. Diese Welt ist ein gigantisches Gefängnis und Menschen wie wir sind nur Insassen. Von der Geburt bis zum Tod.
Als ich ein leises Geräusch hinter mir vernehme, fliegt meine Hand blitzschnell zu dem abgenutzten Messer an meinem Gürtel. Doch ich entspanne mich, als ein altbekannter trockener Husten erklingt und Cole sich neben mir niederlässt. »Anouk hat Angst.« Er reicht mir einen Schinkenstreifen. Das Fleisch ist bereits grünlich angelaufen, aber unsere Mägen halten so einiges aus.
»Ich gab ihr ein Versprechen.« Ich ramme meine Zähne in den zähen Streifen.
Cole lacht freudlos auf. »Was geben wir nicht alle für Versprechen, Xena …«
Während ich auf dem Fleisch herumkaue, mustere ich Cole von der Seite. Auch wir gaben uns Versprechen. Viele davon aus der Hitze des Moments und Verzweiflung geboren und nicht für die Ewigkeit gedacht. Eines aber war besonders. Es überwältigte mich. Überforderte mich.
Ich konnte es nicht erwidern.
»Wir sind jung«, sagt Cole ernst. »Und können doch jede Nacht sterben. Unsere Versprechen sind gemacht, um gebrochen zu werden.«
Für diese schwer verdaulichen Worte ist es eindeutig zu spät und ich bin zu müde. »Tu nicht so erwachsen, Cole.«
Er wirft mir einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten kann.
»Und du?«, wechsle ich das Thema. »Hast du keine Angst?«
»Nicht mehr.« In seiner Stimme ist eine Härte, die mich fast vergessen lässt, wo wir mal gestartet sind. Er ist abgestumpft, seit er älter ist. Mehr als andere. »Du bist niemandem von uns etwas schuldig, Xena. Auch Anouk nicht. Sie versteht das.« Er greift unter seinen kratzigen Pullover und reicht mir das Fährticket. »Es tut ihr leid. Und mir ebenso.«
Mein Herz pocht schneller, als ich das Ticket erblicke. Es hat eine hypnotische Wirkung auf mich, als würde es mich rufen. Als wäre es kein Diebesgut, sondern auf mich ausgestellt. »Was tut dir leid?«
»Dass du mich verlassen wirst.«
Widerwillig reiße ich meine Augen von dem Stück Gold los. »Werde ich das?«
»Du solltest gehen, Xena. Du musst.« Cole schiebt das Ticket zwischen meine Finger. Im Licht der Windkerze wirft die Gravur des Segelschiffs lange Schatten. »Du würdest es ewig bereuen. Du hast die Karte nicht ohne Grund gefunden. Sie gehört dir.«
»Aber –«
»Wenn du nicht gehst, schleife ich dich persönlich aufs Deck, Xena«, unterbindet Cole meinen halbherzigen Protest.
Mit den Fingerkuppen ertaste ich den Namen auf der Karte. Cassia Raven. »Das Schiff legt schon morgen ab. Ich würde euch allein lassen.«
»Du hast uns gerade einen Goldsegen beschert. Wir werden den Winter durchstehen.«
»Ich weiß noch immer nicht, wer diese Frau ist.« Ich versuche, mir Cassia Ravens lebloses Gesicht in Erinnerung zu rufen. Doch da sind lediglich blasse Konturen einer fremden Frau, die nicht mehr ist.
»Ich hoffe, sie war keine Köchin.« Coles Mundwinkel zuckt belustigt und vertreibt die Schwermut aus seinem Gesicht. »Du würdest das gesamte Schiff vergiften.«
»Hey!« Ich gebe ihm einen solch kräftigen Stoß, dass er fast vom Dach fällt. »Das war fies.«
Sein Lachen hat einen bösartigen Beiklang. »Du weißt, Prinz und Prinzessin fahren mit«, raunt er und zwinkert mir bedeutungsvoll zu. »Wenn du also jemanden vergiftest …«
»Scheiße, Cole!«, platzt es plötzlich aus mir heraus und ich packe Cole am Saum seines verwaschenen Pullovers. Die Euphorie über meinen außergewöhnlichen Fund hat mich komplett vereinnahmt. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, was mich erwartet, wenn ich diese Reise tatsächlich antrete. »Ich werde mit der Königsfamilie reisen! Ich werde Essen bekommen, ohne es vorher stehlen zu müssen!«
»Aber vergiss nicht, diese Expedition ist gefährlicher als jede Flussgasse.« Er befreit meine Finger aus dem groben Stoff und drückt stattdessen Sorrels Prunkdolch in meine Hand.
Stirnrunzelnd betrachte ich die exquisite Waffe. »Was soll ich damit?«
»Töte jedes Monster, das dir zu nah kommt«, trägt er mir in einem Ton auf, mit dem ein älterer Bruder zu seiner kleinen Schwester spricht. »Und ich rede nicht nur von Feuer speienden Drachen und verschlingenden Kraken.«
Ehrfurchtsvoll streiche ich über die Klinge aus Himmelseisen. Wann immer ein Stern vom Himmel fällt, wird die harte Masse verwendet, um königliche Waffen daraus herzustellen. Himmelseisen soll schärfer sein als jedes andere Material und selbst Diamant durchschneiden können. Früher galt es als Tränen der Götter. Doch das war in einer Zeit, bevor Jahrhunderte der Schlachten uns abgestumpft haben und Menschen noch an Götter glaubten. Heute wird in Evrila nur einem Gott gehuldigt und das mit Hingabe: Cadall, dem Gott des Krieges.
»Ich verspreche es, Cole«, sage ich feierlich.
»Hör auf mit den Versprechen, Xena.«
Ich ziele mit der Dolchspitze auf Azherdale hinab. »Zum Glück kenne ich mich mit Monstern aus. Die Viecher werden sich vor mir in Acht nehmen müssen.«
»Dann brauchst du auch keine Angst zu haben.«
Empört wirble ich zu Cole herum. »Ich habe keine –« Seufzend unterbreche ich mich, als ich in seine wissenden Augen sehe. Cole kennt mich wie kaum ein anderer. »Na ja, vielleicht ein bisschen.«
Cole schenkt mir sein unbeschwertes Lächeln, das ich so liebe. Es ist seltener geworden, aber ab und an kann ich es aus ihm herauskitzeln. Cole ist eine eigenartige Mischung aus dem großherzigen Jungen, der vor Angst schlotterte, wenn ihm jemand Gewalt androhte, und dem abgebrühten Mann mit dem verschlossenen Herzen, zu dem das Leben ihn gemacht hat. Ich frage mich, welchen Weg er einschlagen wird, wenn er es hier herausschafft. Den eines aufopferungsvollen Helden, der die Schwachen beschützt, oder den eines eiskalten Mörders, der sich für alles rächt, was ihm angetan wurde.
Ich schätze, vor dieser Abzweigung stehen wir alle irgendwann.
»Wirst du mich vermissen, Coley?«
Wehmütig streichelt er über meine Wange und haucht einen Kuss auf meine Lippen. »Wie mein schlagendes Herz, Xena.«
Eine Weile sehen wir auf unsere Stadt hinab, die so friedlich daliegt wie ein hübsches Juwel auf seinem Samtkissen. »Cole?«, durchbreche ich schließlich die Stille.
»Hm?«
»Hast du Heimleiterin Pistori ertränkt?«
Coles Blick schweift zu dem zugefrorenen See am eingeschneiten Tannenwald, in dem angeblich das ein oder andere Halbmonster lauert. »Ja.«
Im Schein der zitternden Kerzenflamme betrachte ich Coles Profil, in dem sich weiche Kurven und scharfe Kanten abwechseln. »Nur die Starken, was?«
In seinen Augen liegt eine harte Entschlossenheit. »Nur die Starken.«
»Die Tote sah nicht aus wie die Königin, Eliza!«
Schnaubend lässt Eliza meine Haare los. Seit einer Stunde hocken wir in diesem verwaisten Laden am Hafen und ebenso lang bemüht Eliza sich, das mausbraune Gewächs auf meinem Kopf zu bändigen. Ich habe es die letzten Jahre nicht gerade pfleglich behandelt. Meist fristete es ein trauriges Dasein als Pferdeschwanz im Schatten einer Kapuze. »So kann ich nicht arbeiten«, beschwert Eliza sich.
»Du erinnerst dich, dass die Königin tatsächlich tot ist«, wirft Cole trocken ein. »Also eigentlich …«
»Arschloch.« Cole weicht meinem Seitenhieb knapp aus. Das freche Grinsen durchbricht seine ernste Fassade, die er seit dem Morgen mit sich herumträgt.
»Können wir uns auf unser Problem konzentrieren?« Eliza bettet den eigentümlichen Zahn der Toten auf dem butterweichen Fell meiner nagelneuen Weste.
Empört hebe ich eine Augenbraue. »Problem?« Leider musste ich Eliza einweihen. Ich brauchte dringend gute Kleidung – ich kann kaum in meinen ranzigen Sachen vor dem König erscheinen – und unsere verkappte Prinzessin kann handeln wie ein Ass. Außerdem kennt sie Stoffe und Preise. Aber sie übertreibt es etwas mit meiner Grundsanierung.
Eliza kneift kritisch die Augen zusammen und zieht mit spitzen Fingern meine Oberlippe hoch. »Deine Zähne sind zu gelb«, urteilt sie knallhart.
Ich schlage ihr auf die Hand. »Cassia Raven ist eine Jägerin. Keine Prinzessin.«
Cole verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich mit wenig Begeisterung. »Das wissen wir nicht.«
»Du siehst wunderschön aus.« Anouk küsst meine Wange und schenkt mir ein ermutigendes Lächeln. Wir haben uns die ganze Nacht ausgesprochen. Sie lässt mich gehen. Unter einer Bedingung.
Ich komme wieder.
»Wenn du von einem Monster gefressen wirst, war alles umsonst«, klagt Eliza und stülpt eine Pelzmütze über mein undankbares Haar.
Cole zieht auf ihren makabren Kommentar hin eine finstere Miene.
»Ach, komm schon.« Eliza stößt ihn lachend mit der Schulter an. »Bis dahin hast du eine andere gefunden. Eine, die auch dann Sex mit dir hat, wenn es draußen warm ist.«
»Halt die Klappe, Eliza.« Ich entreiße ihr die Lammfellhandschuhe, die uns eine halbe Goldmünze gekostet haben. »Du weißt, das stimmt nicht, Cole.«
Cole zupft mit versteinertem Gesichtsausdruck Flusen von seinem Wollpullover. »Irgendwie schon, oder?«
»Nur teilweise.« Ich stülpe die Handschuhe über und das Fell schmiegt sich wunderbar warm um meine Finger. Azythros liegt im äußersten Norden, mitten im offenen Ozean. Es wird dort kälter sein als hier, und ich weiß nicht, ob der König die Kleidung stellt oder jeder Teilnehmer sich selbst um seine Ausstattung kümmern muss. Daher habe ich Eliza freie Hand gegeben und sie hat ordentlich zugegriffen.
»Und der andere Teil?« Ein herausfordernder Funke blitzt in Coles Augen.
»Wird immer der kleine Coley bleiben, der sich hinter mir versteckt hat, wenn Heimleiterin Pistori ihn auspeitschen wollte.« Ich hoffe, mit dieser frechen Bemerkung verschwindet das Thema wieder in der Versenkung.
Cole aber hält unserem Blickduell stand, lässt nicht locker. Will er jetzt etwa über uns reden, zwei Minuten, bevor ich das Land verlasse? Wir sind wir. Da gibt es nichts zu reden.
Mit einem beschwichtigenden Lächeln lege ich meine behandschuhte Hand an seine Wange. »Ich liebe dich, Cole. Das weißt du. Aber ehrlich … ich würde dir nur das Herz brechen.«
»Das hast du schon«, brummt er.
Das Schiffshorn ertönt und ich bin erleichtert, dass wir dieses Gespräch nicht weiterführen müssen. Wie erklärt man jemandem, mit dem man sein ganzes Leben geteilt hat, mit dem man alles geteilt hat, dass es dennoch nicht genug ist? Nicht für die Ewigkeit. Es ist einfach … Ich sehne mich nach mehr als das. Mehr als das, was dieses Waisenheim oder das Königreich mir bieten können. Was auch immer es ist, ich werde es finden. Und wenn ich dabei von einem Monster gefressen werde.
»Sie kommen!« Eliza und Anouk laufen aufgeregt zu dem verbarrikadierten Fenster und spähen zwischen den Holzbrettern hindurch.
Ich verstaue Sorrels Dolch fest an meinem Gürtel, gehe zur Tür und öffne sie einen Spalt. Die königliche Entourage reist in zahlreichen luxuriösen Kutschen an. Sie sind mit Gold beschlagen, aus feinstem Edelholz gezimmert und werden von eleganten schneeweißen Pferden gezogen, deren Mähnen aufwendig geflochten wurden. Krieger in pompösen Rüstungen, die sonst am Tal der Könige kämpfen, schützen den Konvoi und sitzen ebenfalls hoch zu Ross. Unser Wappen – das rosenumwobene Schwert auf weißem Grund – prangt auf unzähligen Flaggen und Wimpeln, die im schneidenden Nordwind flattern. Fanfaren und Hörner erfüllen die kalte Morgenluft mit triumphalen Klängen. Ein unscheinbarer Gefängniswagen folgt der royalen Kolonne. Darüber ist ein blickdichter Stoff gespannt, armdicke Eisenstäbe blitzen darunter hervor.
»Haben sie das Monster schon gefangen?«
»Das ist sicherlich Ajax.« Anouk löst sich von dem Spektakel, um mir einen warnenden Blick zuzuwerfen. »Halt dich bloß von ihm fern. Er soll erst kürzlich seine Befehlshaberin abgefackelt haben, die Kommandantin der königlichen Armee. Möglicherweise nehmen sie ihn nur mit, um ihn auf der Insel zurückzulassen. Die Zeitungen schreiben, er wird immer unberechenbarer.«
»Vielleicht ist das der Grund, warum der König sich ein neues Monster sucht.« Eliza drückt ihre Nase zwischen die Bretter, um nichts zu verpassen.
»Ajax ist kein Monster.« Anouk verdreht die Augen über Elizas Nichtwissen. »Er ist ein Halbmonster. Und zur Hälfte Mensch.«
»Daher können sie ihn nicht zähmen.« Ich starre auf das fahrende Gefängnis und verspüre ein eigenartiges Kribbeln im Nacken. Ich bin mir nicht sicher, ob es Angst oder Neugier ist. »Menschen lassen sich nicht zähmen.«
Die königliche Karawane kommt zum Stillstand und hölzerne Treppen werden aufgeklappt oder herangefahren, um der betuchten Gesellschaft den Ausstieg zu erleichtern.
»Da, der Prinz!«, kreischt Anouk, als die Königskinder aus dem zweiten Wagen steigen und ihre Hände zum Gruß he