A Reason to Live - Cassidy Cane - E-Book

A Reason to Live E-Book

Cassidy Cane

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Beschreibung

Manchmal bringt das Leben unerwartete Wendungen!

Mike hat gerade seinen Bruder verloren, und der Schmerz darüber sitzt tief. Um sich ein wenig abzulenken, reist er zu einem Ärzte-Kongress nach Las Vegas - wo er für einen Skandal sorgt und sich daraufhin abends an der Hotelbar betrinkt. Dort trifft er auf Victoria, die ebenfalls mit ihren Dämonen kämpft und einfach nur das Hier und Jetzt genießen will.

Doch dann kommt alles etwas anders als geplant: Die beiden wachen am nächsten Tag gemeinsam in einem fremden Hotelzimmer auf - nackt und offensichtlich verheiratet. Obwohl sie die Ehe sofort annullieren lassen möchten, spüren sie, dass sie die gemeinsame Nacht nicht so schnell vergessen wollen. Und was spricht schon dagegen, die Zweisamkeit noch ein bisschen auszureizen?

Der turbulente, dramatische und leidenschaftliche dritte Band der Reihe rund um die attraktiven Mitarbeiter des Deepwater Krankenhauses.

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Seitenzahl: 392

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Ein Tag für den Kalender

In Watte gepackt

Seelenlos

Normalität

Sex on the Beach

Ein Spiel

Betrunkenes Gleichnis

Auf das Leben

Der beschissenste Filmriss in der Weltgeschichte

Der Gentleman

Booty-Call-Material

Der rote Knopf

Notgeiler Casanova

Überdimensionales Fragezeichen

Verdammte. Victoria.

Tequila Sunrise

Jason – Copyright Derulo

Kleine Schritte

Ein Prozent

Jack und Rose

Trockenübungen

Verruchte Anspielungen

Cheeseburger und Milkshakes

Danke

Dämliche Donovan-Dauergrinsen

Schluckauf-ähnlicher Luftschnapper

Clown

Der Vogel im Käfig

Ryan Reynolds

Kurzzeitmärchen

Happy Birthday

Zehn Tode

Romeo

Victoria

Mike

Victoria

Mike

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Mike hat gerade seinen Bruder verloren, und der Schmerz darüber sitzt tief. Um sich ein wenig abzulenken, reist er zu einem Ärzte-Kongress nach Las Vegas – wo er für einen Skandal sorgt und sich daraufhin abends an der Hotelbar betrinkt. Dort trifft er auf Victoria, die ebenfalls mit ihren Dämonen kämpft und einfach nur das Hier und Jetzt genießen will.

Doch dann kommt alles etwas anders als geplant: Die beiden wachen am nächsten Tag gemeinsam in einem fremden Hotelzimmer auf – nackt und offensichtlich verheiratet. Obwohl sie die Ehe sofort annullieren lassen möchten, spüren sie, dass sie die gemeinsame Nacht nicht so schnell vergessen wollen. Und was spricht schon dagegen, die Zweisamkeit noch ein bisschen auszureizen?

 

Lena und Steffi, A Reason to Live gehört euch. Mike und Ria schließen mein Abenteuer in Deepwater ab – ihr wart von der ersten bis zur letzten Seite an meiner Seite.

Ein Tag für den Kalender

Mike

Wenn was im Kalender mit einem fetten roten Kreuz markiert ist, dann bedeutet das für gewöhnlich, dass es sich um einen wichtigen Tag handelt. An solchen Tagen achtet man darauf, die Nacht davor ausreichend Schlaf zu bekommen, sich am nächsten Morgen besonders sorgfältig zu rasieren, ordentlich zu frühstücken und immer einen Blick auf die Uhr zu haben, um ja nicht zu spät zu sein.

Man stellt sich womöglich sogar für Mitternacht einen Wecker, freut sich, dass der lang ersehnte Tag endlich gekommen ist, tanzt zu seiner Lieblingsmusik und gönnt sich zum Frühstück vielleicht einen Sekt, wenn der Anlass besonders feierlich ist.

Heute ist so ein wichtiger, besonders feierlicher Tag, auch wenn er nicht in meinem Kalender markiert ist.

Um ehrlich zu sein, habe ich nicht mehr daran gedacht, dass er je kommen würde, umso euphorischer bin ich nun, nachdem ich die Nachricht erhalten habe.

Mein Bruder bekommt eine zweite Chance.

Im Gegensatz zu manch anderen Patienten, wartet Tobias nicht seit zehn Jahren auf eine Spenderniere. Seine Niereninsuffizienz hatte man vor etwas mehr als einem halben Jahr festgestellt. Er hatte großes Glück, in eine Ärzte-Familie geboren worden zu sein, deren Kontakte bis in die letzte Ecke der Staaten reichen, denn die hat letztlich dafür gesorgt, dass tatsächlich viele im Bekanntenkreis dazu bereit gewesen sind sich testen zu lassen. Darunter auch der Gärtner meines Onkels Stu, der sich als Volltreffer entpuppt hat!

Die erfreulichen Nachrichten kamen keinen Tag zu früh, denn Tobias’ Werte haben sich über wenige Tage hinweg drastisch verschlechtert. Als Mediziner weiß ich, ab wann ich mir ernste Sorgen machen muss. Bei ihm war es so weit gewesen.

»Guten Morgen!« Gut gelaunt begrüße ich die Damen auf der Kardiologie und lasse mir von ihnen ein Tablet geben, in dem sie meine Patientenakten einpflegen und aktuell halten.

Mit einem Auge bereits in die Akten vertieft, laufe ich über den Flur zu den Aufzügen und begebe mich in den ersten, der kommt. Vor meiner Schicht möchte ich noch auf die zweite Station, um Toby vor seiner Transplantation zu sehen und ihm Erfolg zu wünschen. Es wäre gelogen zu behaupten, ich wäre nicht aufgeregt und nervös, denn es besteht immer noch die Möglichkeit, dass sein Körper das Fremdorgan abstößt. Eine Situation, an die ich nicht denken möchte, weshalb ich meine Gedanken darauf konzentriere, was wir anstellen werden, wenn es meinem jüngeren Bruder wieder besser gehen wird.

Wir werden bald wieder auf den Wellen reiten, und er wird den Frauen mit seiner mysteriösen Narbe imponieren und ihnen die kreativsten Märchen auftischen, wie er sie bekommen hat. Ja, bald wird wieder alles beim Alten sein.

Ich schiebe das Tablet in die große Tasche meines Ärztekittels, hole meinen Ausweis heraus und klemme ihn mir an den Stoff. Im Anschluss drehe ich mich zu der spiegelnden Wand und wickele meine unbändigen Locken in einen Man-Bun.

Auf der dritten Etage steigen zwei tratschende Schwestern dazu. Sobald sie mich erblicken, verstummen sie, und für den Rest der Fahrt nach unten befinden wir uns in einer Wolke aus peinlicher Stille. Das Schweigen bin ich gewohnt. Seit mein Abenteuer mit Lucy mit einem gebrochenen Herzen ihrerseits geendet und sie ihre Wut auf mich – den ›beziehungsunfähigen Mistkerl‹ – bei der Weihnachtsfeier an die große Glocke gehängt hat, scheinen sich unter meinen Kolleginnen vier Teams gebildet zu haben.

Es gibt die ältere Generation. Die, die mit dem Hormon-Chaos der jüngeren Altersgruppe nichts zu tun haben und auch sonst keine Ahnung haben, was privat so im Krankenhaus abgeht.

Dann gibt es die, die nicht damit umgehen können, dass Kerle wie ich in möglichen Zukunftsvisionen keinen Altar sehen. Ich meine, es ist doch nicht unsere Schuld, wenn die Frauen aus diesem Team sich mehr erhoffen als eine unverbindliche Nacht, wenn man vorher glasklar die Spielregeln definiert, oder? Okay, ich kann nicht für andere Männer reden, aber ich halte mich an meine Prinzipien. Im Grunde gibt es nur ein einziges: Setze niemals dein Herz. Es ist mir daher echt ein Rätsel, wieso ich trotzdem immer am Ende der Arsch bin.

Womit wir zu dem dritten Team kommen. Das, das es nicht einmal mit mir im Aufzug aushält, ohne verächtlich zu schnauben: die Hinterbliebenen. Die, die sich in Angelegenheiten anderer hineinsteigern und sich nur eine Seite der Münze ansehen. Die besten Freundinnen, die einen vor einem gewarnt haben.

Die zwei Frauen im Aufzug gehören eindeutig in diese Kategorie. Sie kommen mir nicht bekannt vor, dennoch ignorieren sie mich so angestrengt, als hätte ich ihnen etwas angetan.

»Ladys«, murmele ich dennoch und nicke ihnen zu, als wir im zweiten Stockwerk ankommen und ich die Kabine verlasse.

Hinter mir höre ich sie augenblicklich leise miteinander flüstern, und ich meine sogar ein Kichern wahrnehmen zu können. Überrascht ziehe ich meinen linken Mundwinkel nach oben. Möglicherweise habe ich mich geirrt und sie haben mich angeschwiegen, weil sie zu dem vierten und letzten Team gehören. Die, die jederzeit die Suche nach ihrem Märchenprinz pausieren würden, um eine schnelllebige Nacht mit dem Schuft zu verbringen.

Dank Lucy bin ich als Kandidat dafür drastisch hochgestuft worden, denn meine Ex-Affäre hat es sich nicht nehmen lassen, alle bei der Weihnachtsfeier darüber zu informieren, dass ich nur das Ziel gehabt habe, sie ins Bett zu bekommen. Meine Absichten habe ich – wie gesagt – nie verheimlicht und sie war ihnen nie abgeneigt, denn so ist das eben. Was für die Romantiker ein No-Go ist, weckt bei den anderen das Interesse. Leider auch das von denen, die glauben, mich verändern zu können. Die Lucys, die sich auf mein Spiel einlassen, weil sie überzeugt sind, es für sich entscheiden zu können.

Ich hoffe, dass ihre laute, emotionale Szene bei der Party den anderen Frauen die Augen geöffnet hat. Wie oft soll ich noch betonen, dass ich nicht auf mehr als einen One-Night-Stand aus bin und man mir nur sein Herz anvertrauen sollte, wenn ich im Dienst bin. Es grenzt an Ironie, dass ich den Ruf eines Herzensbrechers habe, wenn ich mein Geld damit verdiene, sie für gewöhnlich zu reparieren.

Im Westflügel der Station, wo sich Tobias’ Zimmer befindet, herrscht reges Treiben. Dem Geruch von Kaffee nach zu urteilen steht für die meisten das Frühstück an.

»Guten Morgen, Doctor Walker. Auch ein Käffchen?«, bietet ein Pfleger an, dem ich in dieser Abteilung schon häufiger auf dem Flur begegnet bin.

»Vielleicht gleich«, erwidere ich und deute auf Tobias’ Zimmertür. Zuerst muss ich –«

Mir bleiben die Worte im Hals stecken, als sich die Tür öffnet und Laura Channing aus dem Raum tritt.

Laura Channing, die Frau, von der mein Bruder noch nie genug bekommen konnte. Die Frau, die Tobias sämtliche Vernunft aus dem Kopf gepoppt hat und für alles Schlechte in seinem Leben verantwortlich gemacht werden müsste. Selbst für die Niereninsuffizienz würde ich sie liebend gern an den Pranger stellen, denn gut möglich, dass Toby bestens funktionierende Organe gehabt hätte, hätte er sich niemals auf sie und ihre Partys eingelassen.

»Was hast du hier zu suchen? Musst du nicht in LA weitere Typen vergiften«, knurre ich sie an und stelle mich ihr in den Weg.

»Darf ich meinen Freund nicht besuchen?«, fragt Laura zuckersüß lächelnd und wickelt sich grinsend eine Strähne ihrer braunen Korkenzieherlocken um den Finger.

Es ist das Lächeln eines Todesengels, kommt mir aus irgendeinem Grund in den Sinn, und eine üble Vorahnung überkommt mich.

»Weg da«, keife ich und schubse sie grob zur Seite, um in Tobias’ Zimmer zu gelangen.

Was ich dort sehe, reißt mir den Boden unter den Füßen weg.

»Scheiße, was machst du?«, brülle ich, stapfe auf meinen Bruder zu und schlage ihm die Kreditkarte aus der Hand, mit der er ohne eine Sorge der Welt die weiße Substanz vor sich zurechtgeschoben hat.

Toby schaut wortlos der Karte nach, die geräuschlos auf dem Linoleumboden landet, dann tupft er mit seinem Zeigefinger in das Kokain und zieht es sich in die Nase, ehe ich ihm den Tisch wegreißen kann.

»Hast du sie noch alle?«, schreie ich zornig.

Tobias leckt sich den Finger, dann schaut er mich an. Dieses Mal ist es mein Herz, das bricht.

»Sei nicht wütend auf Laura«, sagt er in aller Seelenruhe. »Es ist meine Entscheidung gewesen. Sie … konnte das Zeug eben besorgen und hat es mir nur geholt, weil ich sie darum gebeten habe. Laura ist hier, weil ich sie angerufen habe.«

Fassungslos starre ich ihn an. »Du hast sie herbestellt?«

Er nickt.

»Wieso?« Meine Stimme ist leise und meine Hände zu Fäusten geballt. »Warum zur Hölle hast du das getan, Tobias?«, wiederhole ich deutlich lauter, da er nicht antwortet.

Mein Bruder schweigt weiterhin und heftet seinen Blick abgestumpft auf die Bettdecke, während ich ihn machtlos anstarre.

»Es wäre wieder geworden wie damals«, wispere ich.

»Nein!«, widerspricht Toby und hebt den Kopf. »Sieh mich an, Mike. Als Arzt, nicht als Bruder! Sieh mich an und sag mir, dass wieder alles so geworden wäre wie vorher!«

Um zu antworten, öffne ich meinen Mund, schließe ihn allerdings wieder und mache genau das, was er mir befohlen hat: Ich sehe ihn an.

Von meinem jüngeren Bruder und besten Freund ist nicht mehr viel übrig. Sein Blick ist leer und wissend, sein ehemals sportlicher Körper ein Schatten von dem, was er mal gewesen ist. So schnell und so brutal hat seine Krankheit ihn eingeholt. Am schlimmsten jedoch ist der Gelbstich seiner Haut, der nicht zu verleugnen ist, und die Wassereinlagerungen an seinen Lidern.

»Und?« Tobias verschränkt langsam die Arme vor der Brust und verzieht dabei quälend sein Gesicht. »Doctor Walker, was ist Ihre Prognose?«

»Hör auf damit«, flehe ich ihn leise an, doch er schüttelt den Kopf.

»Die Wahrscheinlichkeit, dass mein Körper überhaupt die Kraft dazu gehabt hätte, das Organ anzunehmen, ist so verdammt gering gewesen, Mike. Ich schaff es nicht mal mehr richtig zu pissen, ohne mich danach zu fühlen, als wäre ich einen Marathon gelaufen.«

»Das geht vorbei«, verspreche ich und merke, wie sich Panik in meine Stimme schleicht. Um nicht länger machtlos herumzustehen, nehme ich mein Stethoskop aus der Kitteltasche. »Ich … ich werde jetzt deinen Herzschlag überprüfen und dann werde ich das Chaos hier verschwinden las–«

Toby schlägt mit letzter Energie meine Hand und damit das Stethoskop weg.

»Verdammt, hör auf, Michael! Für mich ist es gelaufen, warum kannst du das nicht begreifen? Das ist mein Leben. Mein Schicksal, mein Scheißkörper und meine beschissene Entscheidung! Die hast du zu akzeptieren, okay? Lass mir das bisschen Würde!« Der Ausbruch kostet ihn viel Kraft, wie seine Brust verrät, die sich in kurzen Abständen hebt und senkt.

»Aber wir haben doch eine Niere! Keiner … muss erfahren, was passiert ist! Ich werde … ich werde deine Werte …« stottere ich und sehe mich um. »Das kriegen wir hin«, versichere ich ihm, nicke zuversichtlich und laufe zum Waschbecken. Dort drehe ich den Wasserhahn auf und halte einen Einmalwaschlappen unter den kalten Strahl. Damit ausgerüstet kehre ich zurück zu dem Rolltisch und wische entschlossen über die Tischplatte, um das verdammte Koks verschwinden zu lassen.

»Mike!«

»Nein! Auf keinen Fall! Ich lass dich nicht wegen so einer Scheiße gehen.« Stur schüttele ich den Kopf und kratze sogar Flecken von der Tischplatte, die gar keine Überreste des Pulvers sind. Wahrscheinlich sind sie schon Jahre in das Plastik eingebrannt.

»Verdammt, Michael!«, brüllt Tobias, und seine Stimme ist so voller Wut und Verzweiflung, dass ich in meiner Bewegung innehalte und zu ihm blicke.

»Ich kann dich nicht verlieren«, gestehe ich hilflos. Er streckt seine Hand nach mir aus, nimmt mir den Lappen ab und sieht mir tief in die Augen.

»Es gibt nichts mehr, was du für mich tun kannst. Deswegen musst du mich loslassen.«

»Aber wieso?«, murmle ich. »Wie kannst du die Chance auf dein Leben so dermaßen verspielen?« Ich merke, wie meine Nasenflügel kribbeln und sich aufblähen und beiße mir auf die Zähne, um meine Emotionen unter Kontrolle zu behalten.

»Weil ich kein halb hingeschissenes Leben möchte, das weißt du. Selbst wenn – wie durch ein Wunder – mein Körper sich erholt hätte, wäre es möglich gewesen, nach meinem früheren Standard zu leben? Nein. Und das will ich nicht. Ich will kein halbes Leben und ganz sicher will ich niemandem zur Last fallen.«

»Du fällst niemandem zur Last!«, widerspreche ich, woraufhin er kurz und energielos auflacht.

»Doch, ganz eindeutig. Sieh dich an. Selbst jetzt, wo ich vor deinen Augen gekokst hab, bist du bereit, deine Zulassung zu riskieren, nur damit ich meine Operation bekomme. Wegen mir hättest du Scheiße gebaut und das … darfst du nicht. Du hast so ein verdammtes Talent und so hart für deine Karriere gearbeitet. Was für ein Bruder wäre ich, dir das wegzunehmen?«

»Du nimmst mir damit nichts weg. Es wäre meine Entscheidung gewesen«, erwidere ich trotzig. Tobias lächelt.

»Dann hast du das mit der Autonomie verstanden, ja?«

Einen Augenblick schweigen wir uns an. Stück für Stück realisiert mein Hirn, was passiert – und was mich bald erwartet.

»Tobias, du wirst sterben«, stoße ich erstickt aus.

Er blickt aus dem Fenster und nickt. »Ich weiß. Schon scheiße, oder?«

Mein Blick verschwimmt, und ich schlucke schwer. Als Tobias auf die Bettdecke klopft, setze ich mich zögerlich an den Rand seines Bettes.

»Hättest du nicht einfach von einer Brücke springen können?«, frage ich wie ein kleiner Junge, der kein Nein akzeptieren möchte: patzig und verzweifelt.

»Hätte ich tun sollen, um das hier zu vermeiden, oder?«

Wieder schweigen wir.

»Hey, Mike?« Tobias räuspert sich. »Tust du mir trotzdem einen Gefallen?«

»Ich würde alles für dich tun.«

»Wenn es mit mir zu Ende geht, wenn ich in einem richtig, richtig beschissenem Zustand bin, pump mich mit einer Scheißmenge an Betäubungsmitteln voll, ja?« Er grinst schwach. »Ein letztes High.«

Ich versuche sein Grinsen zu erwidern, aber bestimmt scheitere ich kläglich. Dennoch reiße ich mich zusammen und nicke.

»Versprochen. Ich werde dir das stärkste Zeug geben, das wir haben«, versichere ich ihm. Dann kribbelt es wieder bedrohlich in meiner Nase und ich senke den Blick, damit ich mir zumindest einreden kann, dass er nicht sieht, wie ich zerbreche.

Heute hätte ein besonderer Tag im Kalender werden sollen.

Doch jetzt ist es der Tag, an dem die wichtigste Bezugsperson in meinem Leben ihr Todesurteil unterschrieben hat.

In Watte gepackt

Victoria

Einmal im Leben eine Sternschnuppe am Strand erblicken.

Für ihr lautes Wesen scheint ihr Wunsch so simpel … so … leicht, ihn in ihrem Namen zu erfüllen. Doch was würde ich mir wünschen?

Was hättest du dir gewünscht, liveeveryday20?

Nein, Ria. Liveeveryday20 war eine reale Person mit einer realen, wenn auch nicht sehr originellen Biografie auf ihrem Forum-Profil. Liveeveryday20 war Hannah.

Hannah Camp. Achtzehn. Widder.

Carpe Diem, Baby.

Nun, Hannah Camp? Was hättest du dir gewünscht?

Gedankenverloren blicke ich aus dem Fenster, in die anbrechende Nacht hinein und suche den Himmel nach Sternen und Sternschnuppen ab. Auf meinem Handy läuft seit Stunden immer noch dasselbe Lied, doch einer meiner Kopfhörer hat mittlerweile den Geist aufgegeben. Justin Bieber singt mir daher nur ins rechte Ohr, wie sehr er seine Freundin liebt.

Mit Popmusik kann ich für gewöhnlich nichts anfangen, doch Bieber war der Lieblingskünstler von Hannah und ihn in Dauerschleife zu hören, gilt für mich heute als Tribut an sie. Ich habe es mir seit dem ersten Todesfall in meiner Supportgruppe zur Aufgabe gemacht, jedem einzelnen, der sich seiner Krankheit ergibt, so gut es geht die letzte Ehre zu erweisen. Der Gruppe beizutreten, war eine Idee meiner Mutter. Sie hatte gehört, dass Menschen im Rudel mehr dazu neigen, gegen ihr Schicksal zu kämpfen. Doch in Wahrheit sind wir im Grunde alle bereit für den Tod. Unsere Online-Treffen bestehen daraus, atemberaubende Beerdigungen zu planen und das schönste Outfit für die Beisetzung zum erschwinglichsten Preis zu ergattern.

Ein früher Tod ist herrlich dramatisch und ziemlich romantisch, da sind wir uns allesamt einig. Ziemlich morbide, ich weiß. Aber besser, wir freunden uns so früh wie möglich mit der letzten Seite in unserem Leben an, oder nicht? Wir mögen völlig unterschiedlich ticken, andere Kleidungsstile repräsentieren und verschiedene Musikgeschmäcker haben … dennoch haben wir etwas gemeinsam: Wir werden alle früher oder später einem vorzeitigen Tod geweiht sein.

Glücklicherweise hat Hannah Camp ihr Leben wertgeschätzt und war immer transparent, was ihre Gefühle und Gedanken bezüglich ihrer Krankheit anging, sodass ihre Liebsten sich emotional darauf einstellen konnten, dass sie irgendwann nicht mehr kämpfen konnte. Diese Art von Vorbereitung macht es einfacher, an Beisetzungen teilzunehmen. Ich habe auch schon an Beerdigungen teilgenommen, bei denen die Trauer einen nahezu erdrückt hat … Als hätte der Tod spontan an der Tür geklopft.

Hannah jedenfalls war ein Sonnenschein und sprühte vor Lebenslust. Leider bedeutet das jedoch nicht immer, dass das Leben auch Bock auf einen selbst hat.

Ich streife den Stoff meines gelb geriffelten Maxi-Kleides glatt und atme schwerfällig aus. Dann rufe ich mir wieder ins Gedächtnis, dass Hannah Camp nicht wollte, dass wir Trübsal blasen oder uns ihr Tod mitnimmt. Daher erinnere ich mich stattdessen an die witzigen, aufmunternden Gespräche und schönen Momente mit ihr. Obwohl ich sie nicht lange gekannt habe, gab es davon nämlich so einige. Selbst ihre Bestattung war laut, fröhlich und bunt – genau, wie sie es sich gewünscht hatte, als feststand, dass ihre Zeit abläuft.

Schade. In einem anderen Leben wären wir vielleicht sogar richtig enge Freundinnen gewesen.

Ach, Ria. Das bedauerst du nach jeder Beisetzung.

Und das werde ich auch weiterhin.

Die Beerdigungen werden nicht weniger und ich werde jede davon besuchen, bis ich selbst diejenige sein werde, die mit einer roten Rose in der Hand in einem Sarg liegt.

»Jesus, wo warst du schon wieder?«

Sofia klappt, sobald sie mich an dem Eingangstor zu unserem Familienanwesen erblickt, ihr Buch zu und springt von der Hollywoodschaukel, um mir entgegenzukommen. Sie mustert mich und legt den Kopf schief, eine Bewegung, die ich unbeeindruckt nachahme, sodass man annehmen könnte, wir wären das Spiegelbild des jeweils anderen.

Obwohl Sofia nur meine Cousine ist, sehen wir uns so ähnlich, dass man meinen könnte, man hätte uns bei der Geburt getrennt. Genetisch kommen wir sehr nach den Frauen in der Familie. Wir haben beide das für die Riveras dicke, schwarz gelockte Haar, bernsteinfarbene Augen und sind mit dem Glück von bronzener Haut gesegnet worden, sodass für uns Sonnenbrand ein Fremdwort ist.

Sofia ist mit ihren dreißig Jahren vier älter als ich, aber das würde man nur an der Wahl unserer Kleider merken. Sie zieht sich an wie eine Großmutter, da – ich zitiere – sie keinem Mann mehr gefallen muss, seit sie einen Ehering am Finger trägt. Leider ist David, ihr Mann, auch dieser Meinung. Zwischen den beiden herrscht so viel Leidenschaft wie bei einem Nachmittags-Bingo-Spiel im Altersheim. Bislang kam ich jedoch nicht dazu, David oder Sofia davon zu überzeugen, dass man sich nicht nur vor der Eheschließung in Schale werfen kann und etwas Feuer in ihrer Ehe nicht schaden würde. Eigentlich ist es mir auch gleichgültig, denn ich habe von ihrer Muffel-Einstellung profitiert. Sofia hat nach dem Ja-Wort ihre Kleider an mich abgetreten, und da wir die gleiche Größe tragen, war ich am Ende einen ganzen Schrank an hübschen Klamotten reicher.

»Ist das mein Kleid?«

»Du hast es mir geschenkt«, erinnere ich sie, als sie auf mich deutet.

»Ja, aber wenn du jetzt dauernd ausgehst und ich jedes Mal beim Essen für dich lügen muss, dann verlange ich es zurück. Wo warst du?«, hakt sie erneut nach, zieht mich mit sich Richtung Haus und wirft dort ihr Buch achtlos auf das Sofa, welches am Eingang steht.

»Shoppen«, lüge ich und folge ihr durch den offenen Flur, der unsere Hausbereiche miteinander verbindet. Wir begrüßen Nana Isa, die sich im Wohnzimmer ihre Telenovela ansieht und laufen auf dem Weg zu Sofias Haus noch unseren Vätern über den Weg. Die registrieren uns jedoch kaum, da sie mit ihrer täglichen Runde Backgammon beschäftigt sind.

»Du kannst von Glück sprechen, dass uns unsere Mütter nicht gesehen haben«, meint Sofia, als wir es erfreulicherweise ohne weitere Begegnungen in ihre Küche geschafft haben und sie mir einen Teller mit aufgewärmten Enchiladas mit Reis vor die Nase setzt.

Bei drei Familien auf einem Grundstück grenzt es tatsächlich an ein Wunder niemand anderen getroffen zu haben – zumindest um diese Uhrzeit. Jetzt sind alle von der Arbeit zurück. Solange man jedoch den Tagesablauf der anderen im Kopf hat, ist es nicht schwer, sich ungesehen auf dem Grundstück fortzubewegen.

Würde meine Familie unser Anwesen nicht wie eine Festung aus Sorge und Angst ansehen, dann müsste ich nicht zu einem Teenager mutieren, der sich nach Anbruch der Dämmerung rausschleicht.

»Iss etwas«, fordert Sofia mich auf, zaubert ein Buch aus einer der Küchenschubladen und setzt sich mir damit gegenüber an den Tisch.

»Sofia …«, jammere ich, weil ich keinen Hunger habe. Den habe ich nach Beerdigungen nie.

»Nichts da. Du hast das Mittagessen sausen lassen, um zu shoppen. Dabei weißt du ganz genau, dass du für deine Medikamente etwas im Magen haben musst. Oder willst du wieder Bauchschmerzen bekommen?«

Unglücklich stochere ich in dem Essen und zwinge mich, Hähnchen und Reis Stück für Stück herunterzuschlucken, während meine Cousine ihre Romanze liest.

»Wo warst du wirklich?«, fragt sie nach einer Weile, ohne aufzublicken.

»Du weißt, wo ich gewesen bin«, entgegne ich leise.

»Jesus Christus, Victoria! Willst du den Tod unbedingt anziehen oder warum gehst du zu all diesen Beerdigungen?« Verärgert legt sie ihr Buch weg. »Du bist so depressiv, das verdirbt mir meine Geschichte.«

»Ich bin nicht depressiv«, erwidere ich ehrlich. »Begräbnisse sind etwas Schönes, wenn man bereit für sie ist.«

Sofia schnaubt. »Hör dich doch an. Du klingst, als –«

»Als würde ich mich mit dem Tod auseinandersetzen, weil mein Herz jeden Moment aufhören könnte zu schlagen?«, unterbreche ich sie ruhig. »Damit hättest du dann recht.«

Sofia ist meine wichtigste Vertraute, doch sie hat leider das Talent, einem mit der Zeit richtig auf den Geist zu gehen, sodass ich froh bin, wenig später in meinem eigenen Wohnbereich zu sitzen. Die Ruhe wird nicht lange anhalten, denn – wie jeden anderen Tag auch – wird bald meine Mutter an die Tür klopfen und mir meine Tabletten bringen. Sie behandelt mich wie ein unfähiges Kind und nicht wie eine Frau Mitte zwanzig, die ihr Schicksal angenommen hat. Sie hingegen will diese Tatsache nicht akzeptieren. Wahrscheinlich ist das der Grund, wieso sie mir die Pillen nicht anvertraut und immer darauf besteht, dabei zu sein, wenn ich sie schlucke.

Seit bei mir mit siebzehn nach einer bakteriellen Entzündung eine chronische Perikarditis festgestellt wurde, besteht Moms Leben nur noch daraus, mich mit Samthandschuhen anzufassen. Ich soll zweimal am Tag meine Tabletten einnehmen, um meine Herzinsuffizienz zu bessern, mich gesund und ausgewogen ernähren, keinen anstrengenden Sport betreiben und stattdessen zum Ausgleich mit ihr in den frühen Morgenstunden meditieren. Ach ja, und ich muss natürlich auch regelmäßig mit der ganzen Familie zum Gottesdienst, wo wir dann zusammen dafür beten, dass ich auch noch mit achtzig auf der Erde weile. Doch was bringen mir mehr als fünfzig weitere Jahre, wenn ich sie in Watte verpackt verbringen soll?

Lieber gebe ich jetzt Vollgas. Nutze – wie Hannah Camp es immer gesagt hat – jeden Tag und wenn es dann sein soll und ich in wenigen Jahren tot umkippe, weil mein Herz die Nase voll hat, dann will ich mit dem Wissen sterben, dass ich nicht bloß existiert, sondern gelebt habe.

Ich will einmal auf einem Motorrad sitzen und den Wind in meinen Haaren spüren. Mir bei einem Musikfestival die Seele aus dem Hals schreien und mitten in der Nacht in einem Diner in fettige Pommes frites greifen, übersüßten Erdbeer-Shake trinken und einen Doppelcheeseburger verschlingen. Ich will tanzen. Allein oder mit einem Partner, das ist mir egal. Zwar werde ich wohl kaum heiraten und die coolste Mom auf der Welt sein können, aber ich möchte zumindest vor meinem Tod Herzklopfen für einen Mann verspüren und mich in eine wilde und leidenschaftliche Affäre stürzen, für die sich der Herzstillstand lohnt.

Wieso konnte der liebe Gott nicht zumindest warten, bis ich einundzwanzig gewesen wäre? Dann würden sich meine sexuellen Erfahrungen nicht nur auf Declan Newman beschränken, in den ich zwar mit sechzehn über beide Ohren verschossen gewesen bin, der es aber nie auf die Reihe bekommen hat, mir beim Sex einen Orgasmus zu entlocken.

Sex in dem Alter war ein Trauerspiel und dank der Liebesromane von Sofia und den expliziten Szenen in Nana Isas Serien, sehne ich mich nach der heißen Leidenschaft, von der Teenager kaum eine Ahnung haben. Als Declan und ich uns schließlich getrennt haben, weil er nach der Diagnose Angst bekommen hat, mich beim Sex umzubringen, und ich meine erogenen Zonen selbstständig entdecken musste, ist mir klar geworden, dass Dec meinen Körper nicht mal annähernd so sehr in Fahrt gebracht hat, wie es hätte sein sollen. Ich bin überzeugt davon, dass ich seit dieser Erkenntnis unentwegt sexuell frustriert bin, weswegen schon kurz darauf mein erster Vibrator einziehen durfte. Seither ist er mein treuer Begleiter für unbefriedigte Nächte. Von denen gibt es seit meiner Diagnose mehr als genug.

Seelenlos

Mike

»Okay, pass auf: Wenn du von der Couch aufstehst, duschst und dir was Frisches anziehst, dann zeig ich dir meine Brüste.«

»Äh, wie bitte?«

»Es hilft nichts, Don. Wir müssen härtere Geschütze auffahren.«

»Schwachsinn! Auf keinen Fall!«

Donovan und Courtney haben sich vor mir versammelt und diskutieren, doch ich nehme sie nur am Rande wahr, da ich seit dem Tod von Tobias gar nicht mehr existiere. Meine Seele ist mit ihm gestorben. Zurückgeblieben ist bloß dieser nutzlose Körper, der rein gar nichts verhindern konnte.

»Er wird kaum auf deinen Oberkörper anspringen, also muss ich mich der Sache opfern.«

»Kommt. Nicht. Infrage.«

»So kann es aber nicht weitergehen! Wie lange ist er jetzt schon bei uns?«

»Sein Bruder ist gestorben.«

»Und es bricht mir das Herz. Aber wenn Mike nicht bald etwas Vernünftiges isst und trinkt, liegt auch seine Leiche auf dem Sofa.«

Das erweckt meine Aufmerksamkeit, was Donovan offenbar nicht entgeht. Keine Sekunde später lässt er sich auf der Couchlehne nieder und tätschelt mir den Kopf.

»Hey, Kumpel. Courtney hat recht. Du musst langsam wieder etwas Richtiges zu dir nehmen. Und eine Dusche täte dir auch ganz gut. Steh auf, stell dich unter die Brause und iss mit uns zu Abend. Das ist alles, was wir von dir verlangen, okay? Danach kannst du dich wieder unter deiner Decke verkriechen.«

»Donovan!«

»Wärst du tot, Court, man müsste mich von dem Stoff abkratzen. Also hab ein wenig Verständnis, okay?«

Courtney verdreht die Augen. »Kümmere dich um deinen besten Freund, ich deck den Tisch, füttere Timothy und erzähl Michelle, warum ihre Kuscheltiere noch nicht zurück auf die Couch können.«

Sie dreht uns den Rücken zu und verschwindet in der Küche.

»Mike«, versucht Don es erneut mit einem Seufzen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, damit es weniger wehtut. Was ich tun soll, um dir zu helfen. Deswegen bitte, komm mir etwas entgegen. Was können wir machen, damit es besser wird? Du kannst nicht für den Rest deines Lebens aufgeben. Kannst du einfach nicht, okay? Du … wirst gebraucht … Ich brauche dich und ich möchte meinen besten Freund zurück.«

Da ich ihm nicht antworte, schweigen wir im Anschluss. Er sitzt lange bei mir, geduldig, aber hilflos, weshalb er irgendwann aufsteht und ebenfalls in der Küche verschwindet, wo ich ihn und Courtney leise miteinander reden höre.

Sobald er weg ist, atme ich tief durch. Dann drehe ich mich auf der Couch um, sodass ich mit dem Gesicht zur Rückenlehne liege und nicht mehr länger Teil von Donovans Alltag bin. Ich schließe meine Augen und hoffe, mich damit auch mental von der beschissenen Wirklichkeit abwenden zu können.

Bis auf eine Lichterkette ist das Wohnzimmer in Dunkelheit getaucht, als ich das nächste Mal aufwache. Anscheinend erwachen um Mitternacht nicht nur Geister, sondern auch die Seelenlosen zum Leben, um zu pinkeln und anderweitig gegen ihre treulosen Körper zu verlieren.

Ich lausche in die Stille hinein, bis ich sicher bin, dass Donovan, seine Angebetete, ihr kleiner Timothy und die kleine Michelle schlafen. Dann werfe ich die Decke von mir und setze mich auf. Courtney muss sie, während ich geschlafen habe, ausgetauscht und gewaschen haben, denn bei der Bewegung steigt mir der Geruch von Lavendel … und etwas anderem in die Nase.

Verdammt, Mike, du miefst!

Sobald ich an meinem T-Shirt rieche, wird mir beinahe schon schlecht, weshalb ich es irgendwie schaffe, mich aufzurappeln und nicht nur aufs Klo gehe, sondern mich tatsächlich unter die überfällige Dusche stelle.

Das warme Wasser tut gut, und der Duft von Donovans Duschprodukten hilft, weshalb ich mich bald nicht mehr ganz so ausgespuckt fühle, sondern ein Hauch Leben in mich zurückkehrt. Sobald ich fertig bin und aus der Kabine steige, wickele ich mir ein Handtuch um die Hüften und stelle ich mich an das Waschbecken. Den Mann mir gegenüber im Spiegel erkenne ich kaum wieder.

Seine … meine Wangen sind eingefallen, die Haut blass und irgendwie aschig. Meine Augenfarbe hat die eines nassen Steines angenommen, und auf dem Gesicht wuchert ein ungepflegter Bart, als hätte ich mehrere Monate auf einer verlassenen Insel gehaust.

Das ist schlimm, Mikey. Wie willst du dir so die Mädels klarmachen?

Die freche Stimme meines Bruders in meinem Kopf erinnert mich wieder daran, wieso ich aussehe wie ein ausgehungerter Robinson Crusoe. Als die grausame Realität wieder auf mich einschlägt, umklammere ich das Becken und presse meine Lider zusammen.

Wie konntest du mir das nur antun, Tobias? Warum warst du bereit, mich allein zu lassen?

Tränen tropfen leise auf das Keramikbecken. Um sie zu vertreiben, drehe ich den Wasserhahn auf und sehe mit verschwommenem Blick dabei zu, wie sie von der Welle mit in den Sog gezogen werden.

Ich weiß nicht, wie lange ich über dem Waschbecken stehe und dem Strudel erlaube, meine Trauer mit sich zu reißen, doch irgendwann klopft es dumpf an der Tür.

»Mike?« Donovans Stimme drängt gedämpft durch die Tür und als ich nichts erwidere, weil ich einem verheulten Baby gleiche, höre ich, wie sich seine Schritte wieder entfernen.

»Fuck, fuck, fuck«, flüstere ich heiser, weil der Schwall an Tränen nicht aufhören will. Es hat doch vorher so gut funktioniert. Seit Tobias’ Tod habe ich keine beschissene Träne für den Arsch vergossen. Warum schaffe ich es jetzt –

Die Tür geht auf und Donovan kommt ungefragt rein.

Erschrocken und machtlos darüber, dass er mich in diesem Zustand sieht, aber zu verdammt erschöpft, um meine Maske aufzusetzen, starre ich ihm geradewegs ins Gesicht.

»Schon gut«, sagt er mit einer erstaunlich brüchigen Stimme, stellt das Babyfon in seiner Hand auf dem Waschbecken ab und tritt vor mich. »Wir sind für dich da.«

Er legt seine Arme um mich. In seiner Umarmung erstarre ich für einen Augenblick zu einer Salzsäule. Dann breche ich vollkommen zusammen.

»Ist okay«, wispert mein bester Freund und hält mich enger gegen seine Brust. »Ich hab dich.«

Der Mensch besteht im Durchschnitt zu sechzig Prozent aus Wasser und ich bin fest davon überzeugt, dass ich in der vergangenen Stunde die ganzen sechzig Prozent in Form von Tränen vergossen habe. Donovans unerwartete Umarmung hat etwas in mir ausgelöst und ich konnte nicht mehr aufhören. Kein Plan, wie lange wir da standen. Irgendwann hat Donovan mich zum Badewannenrand geführt und mich stumm dazu aufgefordert, Platz zu nehmen. Zu kraftlos, um mich zu sträuben, habe ich mich hingesetzt. Don hat etwas gesagt, doch seine Worte kamen nicht bei mir an. Trotzdem habe ich, aus welchem Grund auch immer, genickt. Wenig später hat er mir Schaum ins Gesicht geschmiert und mir ruhig und präzise den Wald auf meinem Gesicht wegrasiert.

»Die Frauen in Los Angeles stehen auf deinen Typ«, erzählt er schmunzelnd. »Da wollen wir doch nicht aussehen wie ein verwahrloster Seemann, oder?«

Er erwartet keine Antwort. Wahrscheinlich redet er mit mir, um die Stille etwas erträglicher zu machen. Oder, damit er meinen Zusammenbruch eben überspielen kann. Wir sind seit Jahren beste Freunde, aber diese Intimität gab es zwischen uns nie.

»Wenn Courtney dir in dem Zustand schon ihre Brüste zeigen wollte, sollte ich nach deiner Rasur wohl noch vorsichtiger sein. Nicht, dass ihr die Idee kommt, unten ohne herumzulaufen.«

Auch das ist nur ein Versuch von ihm, die Situation angenehmer zu machen. Doch ich muss mittlerweile so erschöpft sein, dass ich reagiere, denn mein Mundwinkel zieht sich minimal nach oben.

»Willkommen zurück, Kumpel.«

Genau in dem Moment scheint mein Körper die verlorene Energie einfordern zu wollen, denn mein Magen gibt ein ohrenbetäubendes Grummeln von sich.

»Sorry«, krächze ich.

Donovan lächelt, dann fällt seine Aufmerksamkeit auf das Babyfon, aus dessen Box es knackt. Kurz darauf geht die Tür erneut auf und Courtney gesellt sich dazu. Vom Türrahmen her beobachtet sie uns sanft lächelnd.

»Die Kinder schlafen?, fragt Don, sobald sie sich abstößt und zu uns kommt, um ihm einen Kuss auf seinen Scheitel zu drücken.

»Tief und fest. Ich hab nur was gehört und war neugierig.«

War mein Magenknurren derart laut?

»Ich glaube, Mike hat Hunger. Haben wir noch etwas von dem Nudelauflauf?«

Courtney nickt.

»Michelle hat ihm doch vorhin eine Portion auf ihren Barbie-Teller gepackt, schon vergessen? Ich hab ihn abgedeckt in den Kühlschrank gestellt. Muss nur aufgewärmt werden.«

Kann ich bitte augenblicklich in der Badewanne ersaufen? Nicht mal wegen des Tellers, sondern weil ich den beiden so zur Last falle.

»Er sieht schon viel besser aus«, fügt sie flüsternd hinzu, als befände ich mich nicht wenige Zentimeter von ihr entfernt.

Donovan wirft mir einen anerkennenden Blick zu.

»Oder?«

Ich fühle mich auch besser. Fuck.

Vergangene Woche muss einer dieser Schlüsselmomente gewesen sein, denn seither vegetiere ich nicht mehr nur vor mich rum. Ich finde die Kraft, mich mehrmals am Tag von der Couch wegzubewegen. Öfter blicke ich bei meinen kleinen Couch-Küche-Couch-Bad-Couch-Spaziergängen aus dem Balkonfenster auf die Straße hinunter. Diese dient anscheinend unzähligen Menschen als Jogging-Route. Allerdings knacken meine Knie schon bei den harmlosesten Bewegungen und geben mir damit zu verstehen, dass sie mich erst noch bitter bestrafen, falls ich ohne langsames Herantasten wieder das Laufen angehe.

Neben meiner wiederentfachten Sehnsucht nach dem Joggen hat sich nach der Nacht im Bad auch etwas mit meinem Appetit verändert. Er scheint nicht mehr gedrosselt, seit Courtney mir den Auflauf aufgewärmt hat. Der Käsegeruch ist mir in die Nase gestiegen, und mein ausgehungerter Körper konnte nicht mehr länger widerstehen. Seither meldet sich mein Magen mehrmals täglich. Die Portionen, die die beiden mir zubereiten, werden stetig größer, die Reste auf dem Teller jedes Mal kleiner. Selbst die Essensreste, die Michelle auf meinen Teller schiebt, landen wieder häufiger in meinem Magen, als letztlich im Müll.

»Mike, möchtest du noch etwas Bacon?«

Courtney kehrt, ausgerüstet mit einer Servierplatte voll knusprigem Bacon und der Milchflasche für Timothy, zurück zum Esstisch.

Hunger, Sehnsucht, Gesellschaft, Bewegung, Genuss.

Mein Körper kämpft sich zurück ins Leben und hat meine verdammte Seele mit im Schlepptau.

Ablehnend schüttele ich den Kopf, woraufhin Donovan sich den Schinken schnappt und sich in den Mund schiebt.

»Du isst, als hättest du auf der Arbeit keine Pause«, beschwert sich seine Freundin lachend.

»Es gibt keine. Momentan geht jede freie Minute für die Vorbereitung des Nevada Medical Congress drauf«, erwidert er kauend. »Es soll groß und innovativ werden. Du solltest Heart-Berkley sehen. Er rennt nur noch mit Herzchen-Augen herum, weil so viele talentierte und gefragte Wissenschaftler und Ärzte zugesagt haben, mit denen er ins Gespräch kommen möchte.«

»Apropos Herz. Hattest du nicht mal erwähnt, dass es für Kardiologie auch Panels geben soll?« Courtney wackelt bedeutsam mit den Augenbrauen, was mir nicht entgeht, bevor sie sich dem Füttern ihres Kindes widmet.

»Ahhh, ja, richtig.« Don kratzt sich am Kopf, als wäre ihm eben eine wichtige Information eingefallen. »Neue Methoden und so. Ich sag ja, soll ziemlich innovativ werden.«

Er wendet sich räuspernd mir zu. »Sie haben noch Sprecher gesucht und Heart-Berkley hat mich nicht damit in Ruhe gelassen … Du bist der beste Kardiologe, den ich kenne. Deswegen habe ich –«

»Don«, unterbreche ich ihn direkt, woraufhin er mir einen entschuldigenden Blick zuwirft. »Was. Hast. Du. Getan?«

»Ich hab in deinem Namen zugesagt.«

Normalität

Victoria

Das einzig Gute an diesem Trip: Er findet in Vegas statt. Stadt der Lichter. Und der Sünde. Leider bekomme ich davon bisher nicht viel mit, denn meine Eltern hatten bereits ab dem Flughafen einen Fahrer gebucht, der uns ohne Umwege zu unserem Hotel gefahren hat. Dort sollte ich mich für den Rest des Tages ausruhen, und ich gestehe es nicht gern, aber die Pause habe ich gebraucht. Seit Kurzem bin ich auf andere Tabletten umgestiegen, diese vertrage ich jedoch nicht besonders. Sie sollen meinen Blutdruck senken, machen mich allerdings schläfrig. Nach ihrer morgendlichen Einnahme habe ich meist das Gefühl, dass ich schon den ganzen Tag auf den Beinen gewesen bin.

Ich inspiziere mein Gesicht im Spiegel. Jap, keine Zweifel. Pickel bekomme ich von diesen bescheuerten Tabletten auch. Urgh.

Die Pillen schränken mich derart ein, dass ich in Betracht ziehe, sie nicht mehr einzunehmen – obwohl ich schon Angst habe, ohne sie einen Kollaps zu erleiden. Es würde mich extrem ankotzen, würde ich das Zeitliche segnen, ohne zumindest einige Punkte auf meiner Bucket-List abgearbeitet zu haben.

Seit der ersten Beerdigung in meiner Supportgruppe, habe ich angefangen, einige Wünsche der Verstorbenen auf meine Liste zu setzen. Hannah Camp, zum Beispiel, wollte eine Sternschnuppe sehen, was mir vorgestern sogar gelungen ist. Zeke Jenkins hat versucht, mit einem Foto im Internet viral zu gehen, und Nina Gomez wollte nackt baden. Gerade die beiden letzten Punkte reizen mich sehr. Man könnte sie sogar ohne großen Aufwand miteinander kombinieren. Es wäre sicher nicht schwierig, im Internet durch die Decke zu gehen, wenn man sich nackt ablichtet und das Foto im Anschluss hochlädt. Geht ja auch ganz ästhetisch. Wenn man zum Beispiel sein Bein so –

»Victoria, was machst du da für seltsame Verrenkungen?«

Ertappt schrecke ich zusammen und blicke zur offenen Tür, durch die meine Mutter in mein Zimmer getreten ist – natürlich, ohne anzuklopfen.

»Mein Rücken ist verspannt«, lüge ich, rücke mein Sommerkleid zurecht und setze mich – die brave Tochter mimend – an den Rand des Hotelbetts.

»Ach, ja? Ich werde direkt einen Termin beim Physiotherapeuten machen.«

Oh nein, nicht noch mehr Termine!

»Nicht nötig! Im Flugzeug muss ich einfach falsch gesessen haben.«

»Ja, es war wirklich sehr einengend. Auf dem Rückflug werden wir wieder in der ersten Klasse sitzen. Ich verstehe auch nicht, was sich dein Vater dabei gedacht hat. Ah, doch: nichts! Dein Vater denkt bei so was nicht mit, Victoria. Das ist das Problem. Aber keine Sorge, dafür hast du mich. Und trotzdem, ich werde dir einen Termin machen.« Sie kommt näher, richtet die Träger meines Kleides, obwohl es an ihnen nichts zu bemängeln gibt, und öffnet dann das Fenster. »Frische Luft wird dir guttun.

Freiheit würde mir guttun.

»Entspann dich noch ein wenig, bevor wir aufbrechen, ja?«

Weil das die einzige Möglichkeit ist, um für einige Minuten für mich zu sein, nicke ich.

Mom blickt derweil nach draußen und seufzt laut.

»Ist etwas?«

»Ach, nein, mein Schatz. Ich war nur in Gedanken. Das ist der dritte Kongress dieses Jahr … Na, das wird schon. Ruh dich aus. Wenn du was brauchst, ich bin direkt nebenan.«

»Okay.« Ich stehe auf, um sie zur Tür zu begleiten. Dort angekommen sieht Mom zu mir und lächelt, wie es eine Mutter nun einmal macht, die Angst hat, ihr einziges Kind zu verlieren. »Es werden viele Fachleute da sein, Victoria. Einer wird uns schon weiterhelfen.«

Obwohl es mein Wunsch ist, in Ruhe gelassen zu werden, erwidere ich ihr Lächeln zuversichtlich.

Ich möchte keine Hilfe. Keine Operation, von der ich vielleicht nie mehr aufwachen werde oder nach der es zu noch mehr Komplikationen kommt. Das habe ich einmal durchlebt, und das brauche ich nicht noch mal. Auch die Tabletten, die meinen Hormon- und Energiehaushalt auf den Kopf stellen, habe ich satt. Sie sorgen nicht nur dafür, dass ich mich wie ein Zombie fühle, sondern auch immer weniger wie ich.

»Oh, Victoria?« Mom bleibt mitten im Flur stehen. »Zieh dir bitte, bevor wir gehen, noch etwas über. Nicht, dass du dich erkältest. Denk daran, die Hotelräume sind überall klimatisiert.«

Abermals nicke ich. Auch wenn ich meiner Mom in vielen Dingen nicht zustimme, eine Strickjacke in entlüfteten Räumen ist selbst dann eine kluge Idee, wenn man nicht einem frühen Tod geweiht ist.

Anstatt mich an eine Jacke zu erinnern, hätte meine Mutter mein blödes Hirn darauf aufmerksam machen sollen, dass Kongresse immer riesig sind. Manchmal – wie in diesem Fall – reichen sie über mehrere Etagen. Auch wenn es im Hotel Aufzüge gibt, muss man diese erst mal erreichen. Und das wäre deutlich angenehmer gewesen, wenn ich Turnschuhe tragen würde und keine Sandalen mit Keilabsatz, die in dem Teppich versinken. Sie passen zwar wunderbar zu meinem Outfit, sind aber verdammt unpraktisch, wenn man damit stundenlang am Stück durch das halbe Gebäude läuft.

Dennoch beklage ich mich nicht, da wir sonst eine Pause einlegen würden. Das wiederum würde womöglich den Ablauf von Mom durcheinanderbringen. Im schlimmsten Fall müssten wir morgen wiederkommen, um die Ansprechpartner, die sie sich herausgesucht hat – und die wir dann verpassen würden – noch zu erwischen.

Bisher haben meine Eltern das Interesse von zwei Ärzten geweckt, die mich gern in einer Sprechstunde sehen würden, um zu entscheiden, ob ich für eine Studie geeignet wäre, um etwas Licht in den chronischen Aspekt meiner Perikarditis zu bringen. Mein Vater hat ihnen seine Visitenkarte gegeben, aber Mom war nicht begeistert, denn ich sei kein Versuchskaninchen und sie würde mich keinem Risiko aussetzen, wenn nicht schon positive Ergebnisse erzielt worden wären.

Daraufhin haben meine Eltern sich gestritten, schließlich versuchen beide mir auf ihre Weise ein sehr langes Leben zu ermöglichen. Keinen der beiden interessiert, was ich möchte, wobei ich fair bleiben muss. Eltern werden sich niemals mit dem Gedanken zufriedengeben, dass ihr Ein und Alles vor ihnen sterben könnte. Zwar ist das auch in anderen Fällen die Realität, aber wenn man Fremdeinwirkungen, wie Autounfälle, weglässt und es Möglichkeiten gibt, seinem Schützling ein sicheres Leben zu bieten, dann werden sie alles in ihrer Macht Stehende dafür versuchen. Meine Eltern sind da keine Ausnahme, und wir Riveras haben einen großen Vorteil, von dem Mom und Dad überzeugt sind, dass es ihnen das medizinische Wunder verschaffen wird: Geld.

Allerdings bringen sie unwissentlich auch einen riesigen Nachteil mit: mich.

Sie machen kein großes Geheimnis daraus, dass sie einem Eingriff nicht abgeneigt sind, würde das ihre letzte Option sein. Doch sie wissen nicht, dass ich still und heimlich eine Patientenverfügung unterzeichnet habe, die eine Operation ohne meine Zustimmung untersagt. Und ich werde nicht zustimmen, denn ich habe genug davon, nicht die Kontrolle über mein Leben zu haben.

Nach den Komplikationen und dem daraus resultierenden angeschlagenem Organ in meiner Brust, hat meine Familie versucht, mein ganzes Dasein auf den Kopf zu stellen, damit mein Herz wohlbehütet bleibt. Da hätten wir zum einen das Sofa neben der Haustür, falls ich so erschöpft von den zwei Minuten Fußweg zu Sofia sein sollte, dass ich es nicht ohne Verschnaufpause in meinen eigenen Wohnbereich schaffen würde.

Außerdem wurde ich aus der Schule genommen und das letzte Jahr zu Hause unterrichtet und damit endgültig von der Welt isoliert. Während die anderen in meinem Alter Clubs, Hauspartys, Festivals und Ice-Hockey-Spiele besucht haben, standen für mich Behandlungen en masse an. Hier ein Arzt, dort eine Therapeutin. Selbst einen eigenen Fitnesstrainer habe ich bekommen. Doch als meine Tante mitbekommen hat, wie ich mit Sofia von ihm geschwärmt habe, weil er ziemlich, ziemlich heiß gewesen ist und er uns sehr gern die Anweisungen näher hätte erklären dürfen, war es mit meinem Sportprogramm vorbei. Stattdessen haben die morgendlichen Meditationssitzungen mit Mom begonnen. Meine Familie war völlig beschäftigt damit, mir einen risikofreien Alltag zu ermöglichen. Selbst Spinnen, die einen normalerweise in der Küche begegnen und einen Schreck einjagen, habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen.

Manch einer würde behaupten, ich sei undankbar, schließlich wollen sie nur das Beste für mich. Und dafür liebe ich sie, keine Frage. Doch genau deswegen hasse ich sie auch. Sie haben mich seither nämlich Dingen beraubt, die in einem normalen Leben dazugehören. Wegen ihnen durfte ich nicht die Erfahrungen machen, die man in meinem Alter macht. Mit ihrer Übervorsicht haben sie aus mir erst das nicht mehr normale Mädchen gemacht. Von der Verfügung weiß bislang nur Sofia, und die hat mir dafür beinahe, stellvertretend für die ganze Familie, den Hals umgedreht. Trotzdem bin ich mir meiner Entscheidung mehr als sicher gewesen. Zu wissen, dass ich mit der Verfügung die Kontrolle über den Verlauf meines Lebens habe, reicht aus, um mir in dem Aspekt ein wenig Sicherheit zu geben. Klar will ich meinen Eltern die Entscheidung nicht verheimlichen, es hat sich schlichtweg bisher nur noch nicht der richtige Zeitpunkt ergeben. Dafür sind wir zu beschäftigt, von einem Arzt zum nächsten zu hetzen, in der Hoffnung, dass einer uns die erlösende Methode präsentieren kann, die weder Narkose noch Skalpell beinhaltet. Wenn mein Urgroßvater wüsste, dass sein hart verdientes Geld hauptsächlich in meine medizinische Odyssee reinfließt, er würde aus dem Grab auferstehen. Bei der Vorstellung graust es mir und ich schüttele mich.