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„Manchmal sind Träume nicht das, was wir von ihnen wollten oder erwartet haben.“ Die Fernbeziehung stellt Tilda und Laurie vor große Herausforderungen: verpasste Anrufe, fehlende Nähe und hunderte Meilen zwischen ihnen. Während die Uni für Tilda immer mehr zu einem Zuhause wird, hinterfragt Laurie seinen Traum. Das Malen und der Druck der Mäzenin lasten schwer auf ihm und die eine Person, der er sich anvertrauen möchte, will er seine Probleme nicht aufbürden. Doch wie viel kann ihre Beziehung noch ertragen, wenn er nicht ehrlich ist – vor allem zu sich selbst? „When We Break” führt die emotionale Geschichte von Tilda und Laurie fort.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
ALINA A.E. MAURER
A
SKY
OF
DREAMS
When We Break
Originalausgabe
© 2025 Alina A.E. Maurer
c/o Authors' Dreams
Am Krummgewann 22
64625 Bensheim
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Ineke Reichel
Umschlaggestaltung: Nadja Vieweger, unter Verwendung von Motiven von starline/Freepik und Unsplash
ISBN: 9783819474514
Veröffentlicht über tolino media
Für alle, die träumen und zweifeln.
Something Great – One Direction
Rocketship – Llunr
Wilderness – Jon Bryant
Lights – BTS
Here with Me – Susie Suh und Robot Koch
Nap of a star – TOMORROW X TOGETHER
Walked Through Hell – Anson Seabra
Fix You – Coldplay
Not That Far To Go – Tommy Ashby
Second Life – SEVENTEEN
i don’t want to watch the world end with someone else – Clinton Kane
my home – AWIN
Before You – Benson Boone
Meant To Be – Ber und Charlie Oriain
ilym (feat. ROSIE) – John K
echo – Alexander Stewart
Time – The Rose
What kind of future – WOOZI
Take Me Back (Home) – Asia Faith
Old Home – beaux
Take Me Down – The Rose
Hold On – Chord Overstreet
»Tilda?«
Ich wirbelte herum. Irgendwo in dem Nebel aus Wein in meinem Kopf erkannte ich die Stimme. Das Licht der Straßenlaterne vor dem Verbindungshaus erleuchtete matt die Umgebung, doch durch den Tränenschleier vor meinen Augen konnte ich kaum etwas erkennen.
»Tilda, bist du’s?«, fragte die Person erneut. Ein großer Mann trat in den Lichtschein und schließlich erkannte ich die zerzausten blonden Haare und die besorgt zusammengezogenen, buschigen Augenbrauen.
Finn.
Ich wollte ein »Alles gut« hervorwürgen, doch heraus kam nur ein Schluchzen.
»Hey, alles gut«, sagte er beschwichtigend und überbrückte die kurze Distanz zwischen uns. Er zog mich in seine Arme, drückte mich fest an sich, bis mein Kinn gegen seine Brust stieß. Legte den Kopf auf meinen Scheitel und hielt mich einfach.
Seine Umarmung war nicht zögerlich oder unsicher wie die von Anoush. Sie war fest und bestimmt, als bestand für ihn kein Zweifel darin, mich so zu trösten, sobald er mich völlig aufgelöst außerhalb der Party gesehen hatte.
Himmel, vor Kurzem hatten wir noch zusammen da drinnen getanzt und es war alles gut gewesen! Ich sollte ihn wegschieben, mich vor ihm schämen, aber ich konnte nicht.
Nicht, wenn seine Arme sich so gut anfühlten. Wenn ich mein Gesicht automatisch in seinem T-Shirt vergrub, mit jedem Schluchzen mehr von seinem herben, leicht verschwitzten Duft einatmete und mich fühlte, als ob …
Als ob ich bei ihm sicher sei.
Als ob ich ein bisschen zu Hause sei.
Als ob er Laurie sei.
Der nicht an sein Handy ging, obwohl er es mir versprochen hatte. Ich fing noch heftiger an zu weinen.
Beruhigend strich Finn mir über den Rücken.
»Alles gut«, flüsterte er, immer wieder. »Es ist alles okay. Das wird wieder.«
Eigentlich waren es hohle Phrasen, doch ein Teil von mir wollte ihm so verzweifelt glauben, dass ich es fast tat.
»Ich habe unsere Jacken«, sagte Anoush und ihre leise Stimme riss mich zurück in die Realität.
Fast schon stolperte ich von Finn zurück, dabei hatten wir nichts Falsches gemacht. Er hatte mich getröstet, mehr nicht, doch unter Anoushs gerunzelter Stirn schoss Hitze in meine Wangen und ich nahm ihr meine Jacke ab, ohne ihr in die Augen blicken zu können.
»Danke«, murmelte ich.
»Ist da drinnen etwas passiert?«, fragte Finn besorgt. »Ich habe Anoush alleine von draußen reinkommen gesehen.«
Sein Blick lag immer noch auf mir.
»Es ist meine Schwester«, begann ich mit zittriger Stimme und erzählte ihm die ganze Geschichte: Von Dad, der mich angerufen hatte, dass Mae mit dem Auto verschwunden war, und dass sie keinen unserer Anrufe entgegennahm.
»Macht sie das öfter?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist ziemlich impulsiv, aber nie … so.«
Sanft berührte Anoush mich am Arm, die ich fest um meinen Oberkörper geschlungen hatte. Ohne Finns Umarmung war mir kalt und ich fühlte mich losgelöst, als stünde ich nicht auf einer Straße in Forest Grove, den Bass der Partymusik um uns herum, unser Campus keine zwei Straßen entfernt, sondern weit weg in der Schwerelosigkeit außerhalb unserer Atmosphäre.
Absolut verloren.
»Lass uns nach Hause gehen, Tilda«, sagte Anoush. »Du zitterst.«
Schwach nickte ich und wischte mir mit den Handrücken über die Wangen. Es brachte nichts, da immer neue Tränen hinterherflossen.
»Wartet, ich hole schnell meinen Pulli und komme mit«, sagte Finn und sprintete zurück ins Haus.
Mit unlesbarer Miene schaute Anoush ihm nach, bis er durch die Tür im Verbindungshaus verschwunden war. Sie sah aus, als ob sie etwas sagen wollte, doch sie biss sich nur auf die Unterlippe.
Ich wählte erneut Maes Nummer und landete direkt auf ihrer Mailbox.
Wählte Lauries und bevor ich das letzte Klingeln hörte, war Finn wieder bei uns, etwas aus der Puste, und ich legte auf.
Den Weg zurück in mein Wohnheim legten wir schweigend zurück. Erst im Zimmer, das mir ohne Claire immer besonders still vorkam, sagte Finn wieder etwas, während Anoush uns Tee aufkochte.
»Ich bin mir sicher, dass deine Schwester einen guten Grund hat.«
»Aber wieso gibt sie mir und Dad dann nicht Bescheid?«
Ich hatte mich in die hintere Ecke meines Bettes verkrochen, die Beine vor der Brust angezogen, die Jacke gegen mein großes hellgrünes Sweatshirt getauscht, das einmal Laurie gehört hatte. Es gab mir nicht die erhoffte Geborgenheit wie sonst.
Finn hatte einen Platz neben mir gewählt, mit seinen langen Beinen stieß er gegen meinen Oberschenkel, als er sich im Schneidersitz hinsetzte. »Vielleicht telefoniert sie mit jemand anderem?«
»Dann kann sie doch kurz schreiben. Oder Dad schnell Bescheid geben.«
»Beim Autofahren?«, fragte Anoush und reichte uns allen eine Tasse. Ich war dankbar, dass sie diesen Job übernahm. Nach dem ganzen Wein und der Sache mit Mae traute ich mir nicht mehr zu, irgendetwas zu machen, außer auf mein Handy zu starren und zu hoffen, dass der Name meiner Schwester darauf erschien.
»Vorher. Bevor sie gegangen ist«, erklärte ich.
»Sie war in Eile und hat es vergessen. Hast du nicht gesagt, dein Dad hätte geschlafen?«, fragte Finn.
Ich nickte, überrascht, dass er sich dieses Detail gemerkt hatte.
»Bestimmt wollte sie ihn nicht wecken.«
Ich öffnete den Mund, um ihm abermals zu widersprechen, als er weitersprach: »Hast du ihr schon geschrieben? Darauf reagiert sie vielleicht eher.«
Bevor ich ihn darum bitten konnte, nahm er mir die Teetasse ab und meine Hände fühlten sich ohne sie plötzlich kalt an. Ich ging in den Chat mit Mae, meine Finger schwebten über der Tastatur, bevor ich das Zerdenken ausschaltete und einfach schrieb, was mir auf dem Herzen lag, egal was sie von mir dachte.
Dad und ich machen uns Sorgen. Bitte geh ran. Ist etwas passiert?
Ich wartete. Erst eine Minute, dann zwei, dann zehn. Dabei nippte ich an dem noch viel zu heißen Tee, aber ich brauchte irgendeine Beschäftigung. Irgendwann merkte ich, dass Finn seine Hand auf mein Knie gelegt hatte und beruhigend mit dem Daumen hin und her strich. Die Berührung erinnerte mich an Laurie und sie war gleichzeitig wohltuend wie falsch.
Ich wollte nicht, dass Finn mich tröstete. Sondern Laurie. Ich sehnte mich nach seinen warmen Worten, die wie Pflaster waren, nach seinem unerschütterlichen Vertrauen, und langsam war ich nicht mehr verzweifelt oder traurig.
Ich wurde wütend.
Wütend auf Laurie, der mir versprochen hatte, sein Handy auf laut zu stellen.
Und noch wütender auf Mae, die so eine Nacht-und-Nebel-Aktion veranstaltete und dann nicht einmal den Anstand besaß, sich zu melden.
Wenn du mir nicht gleich schreibst, was das soll, buche ich Flüge zurück und schicke höchstpersönlich Suchtrupps nach dir los! Und du willst nicht, dass ich dich finde!
So etwas hatte ich ihr noch nie geschrieben. Natürlich stritten wir uns auch mal, vermutlich öfter, als es Dad lieb war. Ständig klaute sie mir irgendwelche Klamotten oder ließ ihre Müslischüsseln so lange neben der Spülmaschine stehen, bis mir der Kragen platzte.
Aber nie so.
Anoush und Finn unterhielten sich leise über die Party, ein Ablenkungsversuch, der kläglich scheiterte.
Ich starrte die Wörter im Chat mit Mae an, bis plötzlich mein Handy vibrierte.
Fast verschüttete ich den Tee, als ich mich kerzengerade hinsetzte und so hastig auf das Display drückte, dass ich mehrere Versuche brauchte, um das Telefonat anzunehmen.
»Mae!«, keuchte ich und Finn und Anoush verstummten sofort. »Wo bist du?«
»Unterwegs. Hör zu, ich hab nicht viel Zeit«, herrschte sie mich an. Sie klang wütend und ich hätte mich echauffiert, wieso sie die Dreistigkeit hatte, wütend auf mich zu sein, wenn ich nicht so erleichtert gewesen wäre, ihre Stimme zu hören. »Ich fahre nach Red Bluff, zu Yuna.« Bei dem Namen des Mädchens, das Mae im Tanzcamp das Herz gebrochen hatte, wurde ich hellhörig. »Es geht ihr nicht gut. Ich hab Angst, dass sie sich ohne mich etwas antut. Mir geht es gut, ich kann Fahren, hab einen Kaffee. Ich melde mich, wenn ich sie eingesammelt habe, ja?«
»Okay«, brachte ich hervor, überfordert von dem Schwall an Informationen. »Mae? Fahr vorsichtig.«
Doch da hatte sie bereits aufgelegt.
Anoush und Finn sahen mich erwartungsvoll an.
»Sie fährt zu einer Freundin«, sagte ich matt. Ich starrte in meine Tasse Kirschtee. Aus Büchern dachte ich, dass man in solchen Situationen plötzlich ausnüchterte, aber mein Gehirn fühlte sich immer noch so flüssig an wie der Wein, den ich getrunken hatte.
»Wenn du nicht fragst …«, sagte Finn mit einem Blick zu Anoush, »Was genau hat sie gesagt?«
»Ihrer Freundin geht es nicht gut. Also … so etwas wie eine Freundin. Vielleicht auch ihre Ex? Ich weiß es nicht so genau, eigentlich dachte ich, Yuna hätte ihr das Herz gebrochen, aber jetzt fährt sie mitten in der Nacht zu ihr … keine Ahnung.« Die Worte purzelten ohne Sinn und Verstand aus meinem Mund. Bei den irritierten Gesichtern meiner beiden Freunde holte ich weiter aus - erzählte von Maes Tanzcamp und wie sie früher nach Hause gekommen war und von dem, was ich mir zusammengereimt hatte: dass Mae Yuna ihre Liebe gestanden hatte und dann gekorbt wurde.
Was ich nicht verstand, war, warum Yuna sich plötzlich bei Mae meldete.
»Deine Schwester ist eine gute Freundin«, sagte Finn, als ich das kurze Telefonat so gut es ging zusammengefasst hatte.
»Findest du?« Anoush spielte mit dem Henkel ihrer Teetasse. »Es klingt eher so, als ob Yuna sie vielleicht emotional ausnutzen würde.«
»Nein, das würde Mae sich nicht gefallen lassen«, widersprach ich sofort. Mae war selbstbewusst und laut, wenn Yuna sie ausnutzen würde, hätte Mae sie schneller abgeschossen als ich sie darauf hätte ansprechen können. Von uns beiden war ich diejenige, die bis zum bitteren Ende an das Gute im Menschen glaubte.
»Wenn Liebe im Spiel ist, werden wir blind«, sagte Anoush leise. Ich fragte mich, wer sie so sehr verletzt hatte, dass bei ihren Worten so eine Traurigkeit in ihren dunklen Augen lag.
»Mae meinte, dass es Yuna schlecht ginge. Dass sie Angst habe, sie tue sich etwas an«, rief Finn uns in Erinnerung. »Anscheinend hat Yuna sonst niemanden, der sich um sie kümmert. Vor allem wenn sie Mae verletzt hat, finde ich es bewundernswert, dass Mae trotzdem mitten in der Nacht losfährt.«
Hinter meinen Schläfen pochte es unangenehm. Ein eindeutiges Zeichen, dass sich rasende Kopfschmerzen anbahnten. Jeder umherwirbelnde Gedanke verstärkte dieses Gefühl nur noch.
Anoush hatte zu einer Erwiderung angesetzt, als ich ihr grob dazwischenfuhr: »Keine Ahnung, ich werde Mae morgen anrufen und noch mal in Ruhe mit ihr reden.«
Mein Tonfall war harscher als ich beabsichtigt hatte.
Anoush zuckte leicht zusammen. »Natürlich. Tut mir leid.«
Am liebsten hätte ich meine Worte zurückgenommen, aber gerade wollte ich nur meine Ruhe. Mir war schlecht von dem Alkohol und mein Kopf tat weh und ich machte mir trotzdem Sorgen um Mae und war sauer auf Laurie, der sich nicht meldete.
»Nein, mir tut es leid, das sollte nicht so fies klingen«, sagte ich matt. »Ich … würde einfach gerne schlafen, glaube ich.«
Anoush nickte verständnisvoll und stand auf. Finn hingegen bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. »Brauchst du noch etwas?«, fragte er und drückte sanft mein Knie.
Vorhin hatte mir seine Berührung Sicherheit gegeben, jetzt klebte sie heiß und unangenehm an meiner Jeans.
Ich schüttelte den Kopf. »Danke, dass ihr noch mitgekommen seid. Ich denke, ich rufe noch meinen Dad an und dann gehe ich ins Bett.«
Ich verabschiedete mich von beiden mit einer Umarmung und kaum, dass sie das Zimmer verlassen hatten, verlor ich jeglichen Rest Energie. Meine Schultern sackten nach unten und ich fühlte mich so müde wie nie zuvor.
Mechanisch wählte ich Dads Nummer und schälte mich aus den Klamotten, die ich für die Party angezogen hatte. Es klingelte nicht einmal, bevor er abnahm.
»Sternchen?«, fragte er mit gepresster Stimme.
»Mae hat mich zurückgerufen«, sagte ich statt einer Begrüßung. Anoushs schwarzes Oberteil, das ich mir geliehen hatte, faltete ich sorgfältig zusammen. Ich sollte es morgen direkt waschen, damit sie es zurückbekam. »Sie ist auf dem Weg nach Red Bluff zu einer Freundin.«
»Red Bluff? Das sind dreieinhalb Stunden Fahrt«, sagte Dad besorgt.
»Ich weiß.«
Ich musste mich abschminken, das wusste ich. Aber gerade konnte ich mich nur auf die Kante meines Bettes setzen und zu Claires Seite hinüberstarren. Sie hatte Kunstprints und Fotos an ihre Wand geklebt, während meine hinter mir leer war. Ich dachte an die Landschaftsmalereien, die bei uns zu Hause hingen und vermisste Lunar Creek mit einer plötzlichen Wucht, die mir die Tränen in die Augen trieb.
»Hat sie gesagt, ob sie über Nacht bleiben wird?«, fragte Dad gepresst.
»Ich weiß es nicht.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Du musst dich darum nicht kümmern, Sternchen. Ich mache den Laden morgen später auf, dann bin ich auf jeden Fall da, wenn sie zurückkommt.«
»Gut.«
Nach den vielen Tränen vorhin dachte ich, dass ich leergeweint war. Doch die nächsten rollten schon wieder meine Wangen hinab.
»Sie ist eine gute Freundin«, sagte Dad die gleichen Worte, die Finn vorhin gesagt hatte. »Ich schreibe ihr, dass sie mich anrufen soll, wenn sie bei ihrer Freundin ist.«
»Sie macht sich Sorgen um Yuna. Anscheinend ist da etwas passiert.«
Dad gab ein Brummen von sich. Wie viel würde ich jetzt geben, mit ihm im Wohnzimmer zu sitzen, eine Tasse heißen Kakao zwischen den Händen.
»Das wird sich schon klären«, sagte er mit einer Überzeugung, die ich nicht so ganz teilen konnte.
Was, wenn Mae auf der Fahrt einen Unfall baute? Was, wenn Yuna sich schon etwas angetan hatte? Was, wenn Mae daran zerbrach und ich nicht da war, um sie aufzufangen?
Was, wenn bei Laurie auch etwas passiert war, weshalb er nicht ranging?
Meine Gedanken drehten und drehten und drehten sich, wurden immer düsterer und schlimmer.
»Tilda?«, fragte Dad und riss mich aus dem Sorgenstrudel. »Es wird alles gut.« Selbst hunderte Meilen voneinander entfernt konnte er meine Gedanken lesen, wusste genau, wie ich mich fühlte. »Mae wird nach Hause kommen.«
»Bestimmt«, würgte ich hervor.
Er sagte mir, dass er mich lieb hatte, bevor wir auflegten. Ein letztes Mal probierte ich es bei Laurie, bei dem wieder nur die Mailbox ansprang. Dann raffte ich mich auf und ging ins Gemeinschaftsbad, um mich bettfertig zu machen.
Der rote Lippenstift ließ sich nur schwer abwischen. Am Anfang des Abends hatte ich mich noch so stark mit ihm gefühlt. Doch mir wurde klar, dass egal wie anders ich mich gab, ich immer dieses unsichere Mädchen bleiben würde, dass viel zu sehr an ihrer Heimat und Familie hing.
Mein Handy vibrierte schon wieder. Ich stellte mein Corona ab und griff danach. Sah, dass es nur Micky im WG-Gruppenchat war.
Schon wieder.
Zoe saß mir gegenüber und schob verärgert ihre Unterlippe vor, heute Abend in einem tiefen Rot geschminkt. Unwillkürlich musste ich an das Foto denken, das Tilda mir geschickt hatte. Es zeigte ihre Mitbewohnerin Claire, die das Selfie aufnahm, ihre Freundin Anoush und sie in der Mitte. Aber ich hatte nur Augen für sie gehabt. Für das blonde Haar, das sie vor ihrer Abreise an die Uni noch mal geschnitten hatte und ihr nur knapp übers Kinn ging. Für die Augen, die sie dunkel geschminkt hatte. Für das etwas verkniffene, unsichere Lächeln, das sich in ihre runden Wangen grub.
Und für ihre Lippen. Gott, diese Lippen. Sie hatte sie rot geschminkt, was ich an ihr noch nie gesehen hatte. Mein Herz hatte einen schmerzvollen Hüpfer gemacht, als ich es gesehen hatte. Weil ich sie so sehr vermisste. Weil ich diese Lippen küssen wollte. Immer, aber besonders mit diesem roten Lippenstift …
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Zoe.
Ertappt zuckte ich zusammen. Das Handy vibrierte wieder und obwohl Zoe mich anfunkelte, konnte ich nicht anders, als darauf zu schielen.
Es war schon wieder Fee, die Micky antwortete. Sie stritten sich über irgendetwas, eigentlich völlig unwichtig. Aber es hätte auch Tilda sein können, die mir schrieb.
Zoe schnalzte mit der Zunge.
»Tut mir leid«, murmelte ich und drehte das Handy um, damit es mit dem Bildschirm nach unten lag.
»Du kannst ehrlich sagen, wenn dich das Thema langweilt.«
»Nein«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich höre dir gern zu, wenn du über deinen Shop sprichst.«
Zoe verkaufte ihre Gemälde als Prints über Etsy und bewarb das Ganze auf TikTok und Instagram, wo sie eine nicht unerhebliche Menge an Followern hatte. Sie hatte damit bereits in der Highschool begonnen, doch während des Studiums ist ein Video von ihr viral gegangen und seitdem läuft ihr Shop richtig gut.
Skeptisch sah sie mich an, doch bevor sie widersprechen konnte, kam ein junger Mann an unseren Tisch und fragte, ob die anderen Plätze noch frei wären. Wir nickten. Es war Samstagabend und in der Bar war es ziemlich voll.
Das laute Summen von Stimmen lag über dem von Lichterketten beleuchteten Innenhof und immer wieder drangen Gesprächsfetzen von anderen Tischen zu uns.
»Was war mit der Käuferin aus Spanien?«, fragte ich, um an das Letzte anzuknüpfen, was ich mitbekommen hatte.
»Frankreich«, verbesserte Zoe mich.
»Frankreich, sorry.«
Mein Handy vibrierte schon wieder und es juckte mir in den Fingern nachzusehen, wer es war.
»Ich meinte, dass der Versand ziemlich teuer wird. Sie wollte das Original und das hätte mich über fünfhundert Dollar gekostet. Als ich sie gefragt habe, ob das für sie okay sei, hat sie tatsächlich gefragt … mein Gott, Laurie, entweder schau nach oder stell es stumm!«
Ich stieß meinen angehaltenen Atem aus. »Fuck, du hast recht.«
Dieser Abend sollte mich endlich mal aus meinem Kopf, aus meinen tintenschwarzen Gedanken rausholen. Stattdessen verhielt ich mich Zoe gegenüber absolut unfair, indem ich ständig nur am Handy hing und ihr nicht meine volle Aufmerksamkeit schenkte. Mit einem letzten Blick - es war wieder Micky gewesen, der Fee spanische Flüche an den Kopf warf - stellte ich es stumm und steckte es in die Hosentasche, damit es mich nicht weiter ablenkte.
»Was hat sie gefragt?«, hakte ich nach.
»Ob sie noch ein zweites Gemälde aus der Reihe haben könnte. Der Preis entsteht hauptsächlich aus der Übergröße der Leinwand und der Holzbox, die extra für den Versand angefertigt werden muss.«
»Wow. Bei dem Preis hätte ich gedacht, dass sie das Bild dann doch nicht nimmt.«
»Dachte ich auch.« Zoe nippte an ihrem Bier. »Irgendwie eine verrückte Vorstellung, dass eines meiner Bilder dann in Frankreich hängt. Ich meine … Frankreich!«
»Das ist ziemlich cool, Zo.«
»Naja, Ed hat letztens erzählt, dass er eins nach Thailand versendet hat. Und Shanghai. Melbourne war glaube ich auch dabei.«
»Es ist kein Wettbewerb.«
»Ich weiß«, seufzte sie, wenig überzeugt. Sie schob sich eine ihrer leuchtend blauen Dreads hinters Ohr. »Manchmal fühlt es sich nur so an, weißt du?«
»Ja.« Ich fuhr das Kondenswasser auf meiner Bierflasche nach und versuchte nicht daran zu denken, dass Micky in den letzten drei Wochen zehn Gemälde fertig gestellt hatte. Irgendwie hatte er es sogar geschafft, dass alle verdammt ausdrucksstark waren und ihre eigene Note trugen. Ich hingegen hatte gerade mal eines beendet und fragte mich die ganze Zeit, ob es wirklich so scheiße war, wie ich dachte, oder ob das nur meine Selbstzweifel waren.
»Hast du die Einladung zu seiner Ausstellung gesehen?«, fragte Zoe.
Ich nickte. Drehte einen meiner Silberringe, bevor ich Zoes Blick darauf bemerkte und sofort damit aufhörte.
»Wirst du hingehen?«, fragte sie mit einer Vorsicht, die ich nicht leiden konnte. Nur weil Ed und ich vor einigen Monaten noch ein Ding waren, sollte sie nicht so auf Eierschalen herumlaufen müssen.
»Es ist das Wochenende, an dem ich Tilda besuche.«
»Oh.«
»Das werde ich nicht absagen.«
»Das verstehe ich!«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich hätte es auch verstanden, wenn du nicht hättest hingehen wollen, das ist alles.«
»Natürlich wäre ich sonst hingegangen«, sagte ich und merkte erst, als die Worte aus meinem Mund kamen, dass es stimmte. »Es ist trotzdem noch Ed. Egal was beim Abschluss war.«
Egal wie sehr mich seine Worte, dass meine Bilder keine Seele hatten, weil ich nur das malen würde, was von mir erwartet wurde, auch verletzt hatten - er war wie Olivia und Zoe einer meiner engsten Freunde. Gerade wegen seiner schonungslosen Ehrlichkeit schätzte ich ihn so sehr.
»Es ist okay, wenn du deswegen noch sauer bist«, sagte Zoe.
»Bin ich nicht. Nicht mehr.« Ihr dunkler Blick prüfte mich. »Wirklich nicht. Er hat die Wahrheit gesagt. Ich habe mich bei den Abschlussbildern nichts getraut.«
»Wir alle wollten eine gute Note.«
»Das auch, ja. Aber ich …« Ich brach ab. Die nächsten Worte wären ehrlich, fast schon zu ehrlich, und ich wusste nicht, ob ich dafür schon genug Corona getrunken hatte.
Zoe wartete, ob ich noch weitersprechen würde. Nach über drei Jahren, die wir uns nun schon kannten, wusste sie, dass ich meine Zeit brauchte.
Nur um dann doch dicht zu machen.
»Ich dachte, wenn ich das mache, was die Dozierenden von mir wollen, reicht es. So funktioniert es in der Kunst halt nur nicht.«
»So funktioniert es nirgendwo im Leben«, sagte Zoe mit einem humorlosen Lachen und trank einen großen Schluck. »Man kann nicht immer den Regeln und Erwartungen von anderen folgen. Man muss tun, was man selbstmöchte. Sonst wird man nie glücklich.«
Halbherzig stimmte ich ihr zu. Ich war nicht wie Zoe in einer Familie aufgewachsen, die ihre Kinder in all ihrem Tun bestärkte. Zoes Eltern hatte ohne zu Murren oder zu diskutieren die Gebühren für die Universität übernommen, ihre Mum war für jede Ausstellung von uns nach Chicago geflogen. Sie war privilegiert, in der Hinsicht.
Dad hätte sich fast geweigert, mir das Studium zu finanzieren, wenn ich ihm nicht versprochen hätte, ihm das Geld zurückzuzahlen. Bisher sah es in der Hinsicht nicht sehr gut aus, da von dem Geld, dass Mrs. Monroe mir monatlich zur Verfügung stellte, nach Miete und Lebensmitteln nicht viel übrig blieb.
Mal wieder kam mir der Gedanke, dass ich mir einen Job hätte suchen sollen, anstatt das Angebot der Mäzenin anzunehmen. Dann hätte ich mit Tilda nach Portland ziehen und Dad schon mal etwas zurückzahlen können.
Dann würde ich jetzt hier nicht mit einem halben Herzen sitzen, weil ich die andere Hälfte bei ihr zurückgelassen hatte.
»Du denkst an Tilda, oder?«, fragte Zoe.
»Was hat mich verraten?«
»Das kleine Lächeln, das du dann immer hast. Und der traurige Ausdruck in deinen Augen.«
»Poetisch, Zo«, zog ich sie auf, aber sie sprang nicht darauf an.
»Laurie, darf ich ehrlich sein?«, fragte sie.
Ich schluckte. Zoe war niemand, der danach fragen musste, sie war es einfach. Dass sie es nun tat, verunsicherte mich.
»Immer.«
»Bist du wirklich glücklich hier?«
»Klar. Das ist das, was ich wollte. Wofür ich mich entschieden habe.« Ich sagte es mit etwas zu viel Nachdruck, um noch glaubwürdig zu klingen. Aber ich war doch glücklich … oder? Ich konnte den lieben langen Tag malen, ohne mir über Miete oder den nächsten Einkauf den Kopf zerbrechen zu müssen. Ich musste nach Materialien nur fragen und bekam sie. Ich lebte mit anderen Kunstschaffenden zusammen, die zwar etwas exzentrisch waren, aber erst gestern hatte ich neben Fee im Wohnzimmer gesessen und in meinem Sketchbook skizziert, während sie vor sich hin gesummt hatte.
Wenn ich mir während des Studiums ausgemalt hatte, wie eine Zukunft für mich aussehen könnte, war das hier der Traum gewesen, von dem ich nie gedacht hätte, ihn zu erreichen.
Warum zur Hölle lag dann seit meiner Ankunft in San Francisco dieses Gewicht auf meiner Brust? Dieses Gefühl, dass bei jedem Atemzug weniger Luft in meine Lunge kam als sonst?
Ich schob den Gedanken von mir. Das hier war das, was ich wollte. Ich sollte dankbar sein, überhaupt diese Möglichkeit zu haben, für die andere alles tun würden.
Zoe sah mich zweifelnd an.
»Ich wollte das hier«, wiederholte ich.
»Das weiß ich doch. Aber nur weil du etwas wolltest, heißt das nicht, dass es dich auch wirklich glücklich macht.«
»Wieso sollte es das nicht? Ich habe keinen Grund, nicht glücklich zu sein. Außer, dass Tilda nicht bei mir ist, aber wir sehen uns in drei Wochen wieder. Und die Fernbeziehung ist nicht für immer, vielleicht für ihre Studienzeit oder so lange, bis ich es doch leid bin, hier zu sein. Diese paar Jahre sind nichts im Vergleich zu einem ganzen Leben zusammen.«
»Das meine ich auch nicht«, erwiderte Zoe.
Die Gruppe neben uns brach in schallendes Gelächter aus. Dieses Thema war zu ernst, um in einer Bar besprochen zu werden.
»Worauf willst du dann hinaus?«, fragte ich, schärfer als beabsichtigt.
»Ich habe einfach den Eindruck, dass diese Mäzen-Konstellation nicht das ist, was du wirklich möchtest.«
Ich zog eine Augenbraue nach oben. »Und was möchte ich deiner Meinung nach dann?«
»Keine Ahnung, Laurie!« Sie machte eine ausladende Handbewegung. »Das weißt du am besten. Ich sehe nur, dass du mir kaum vom Malen erzählst. Wenn wir sprechen, geht es immer um Micky und Fee, was du gekocht hast, in welchem Kunstmuseum du warst oder wie es Tilda geht. Aber ist das Malen nicht der Grund, warum du das alles hier überhaupt machst?«
»Ich …« Hatte keine gute Antwort darauf. »Ich male.«
Selbst in meinen Ohren hörte es sich trotzig an.
Zoe beugte sich über den Tisch zu mir vor, ihr Blick war eindringlich. »Wenn du die Wahl gehabt hättest, nur du, nicht Tilda - hättest du dich für die Mäzenin entschieden?«
Ihre Frage traf etwas tief in mir, eine Stelle, die ich nicht allzu gerne betrachtete. Es war die Frage, die ich mir selbst seit Wochen stellte, seitdem ich Tilda in Alberts Hotel gehalten und mir bewusst geworden war, dass wir uns entscheiden mussten. Seitdem Tilda voller Überzeugung gesagt hatte, dass wir wieder eine Fernbeziehung führen sollten, damit wir beide unseren Träumen nachgehen konnten.
Ich wollte Zoe mit einem klaren ›Ja‹ antworten. Doch das Wort blieb mir im Hals stecken wie klebrige Ölfarbe, die ich noch nicht angemischt hatte.
»Ich hole uns noch eine Runde«, sagte ich stattdessen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff ich nach ihrem leeren Bierglas und meiner Flasche und bahnte mir einen Weg durch den vollen Innenhof in die Bar hinein. Nachdem ich unsere Gläser an der Theke abgestellt hatte, zog ich mein Handy hervor. Micky und Fee hatten sich im Gruppenchat weiter angeschnauzt und darunter war die Nachricht, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte.
Eine von Tilda.
Ich schob mich durch die Menge vor die Tür, um sie in Ruhe zu beantworten. Dann würde ich wieder reingehen und Zoe und mir die nächste Runde holen.
Wie läuft dein Abend?🩷 Die Party ist wirklich cool, wir haben sogar Finn getroffen! Ich denk an dich 🩷🩷
Augenblicklich wurde alles in mir warm. Tilda schaffte es mit nur ein paar Worten, dass meine Welt sonnenuntergangsorange wurde. Friedlich und schön. Sie musste angetrunken sein, sonst schickte sie mir nie so viele Herzen.
Gerade ließ ich die Bartür hinter mir zufallen, den Blick auf mein Handy gesenkt, um ihr zu antworten, als ich gegen jemanden prallte. Das Telefon wurde aus meiner Hand geschleudert und knallte ein paar Meter entfernt auf den Asphalt. Ich stolperte einige Schritte zur Seite.
»Oh Gott, das tut mir so leid!«, sagte eine helle Stimme neben mir. Ich sah in das Gesicht einer jungen Frau, vermutlich auch Anfang zwanzig. Ihre zwei Freundinnen neben ihr kicherten, doch sie wirkte ehrlich bestürzt. »Ich habe dich nicht gesehen.«
»Alles gut«, sagte ich automatisch und suchte den Boden nach meinem Handy ab. Ich schnitt mich beinahe an den kleinen Splittern, die sich über das Display zogen. Es hatte sich bei dem Sturz in ein Spinnennetz verwandelt. Als ich es versuchte anzuschalten, erschienen nur bunte Streifen. »Fuck«, murmelte ich.
»Es tut mir so, so leid!«, beteuerte die Frau. »Das … Meine Versicherung sollte das übernehmen, hoffentlich. Ich ersetze dir das Handy!«
»Alles gut«, sagte ich nur wieder, denn natürlich sollte ich mir Sorgen um mein Handy machen und was ein neues kostete, doch mein einziger Gedanke war nur: Wie konnte Tilda mich jetzt erreichen, wenn etwas war?
Die junge Frau bestand darauf, dass wir Telefonnummern tauschten, doch da ich nichts zum Aufschreiben hatte, gab ich ihr im Endeffekt nur meine und sie schrieb mich direkt an. Sie versprach, mit ihrer Versicherung zu telefonieren und zu schauen, ob sie auch im Ausland galt, wobei mir auffiel, dass sie einen leichten Akzent hatte. Sie stellte sich als Louise vor und erst als ihre Freundinnen mehrfach an ihrer bunten Strickjacke zupften, um sie zum Weitergehen zu bewegen, verabschiedete sie sich.
Zurück an unserem Tisch merkte ich, dass ich für Zoe und mich kein Bier bestellt hatte.
»Was hat so lange gebraucht?«
Ich legte mein kaputtes Handy auf den Tisch und sie zog scharf die Luft ein.
»Jemand ist in mich reingelaufen. Kann ich kurz über deins Tilda schreiben, dass ich nicht erreichbar bin?«
»Oh, meins hat vor einer Stunde den Geist aufgegeben. Du weißt doch, mein Akku ist total im Eimer.«
Na super.
Das Erste, was ich am nächsten Morgen tat, war direkt bei Ladenöffnung mir ein neues Handy zu kaufen. Dad wäre mit der Abbuchung von der Kreditkarte alles andere als glücklich, aber ich brauchte nun mal ein Telefon und meines hatte sich – selbst nachdem ich es an den Strom angeschlossen hatte – nicht mehr dazu entschieden, wieder anzugehen. Die Mitarbeiterin entschuldigte sich bei mir, dass es auch ihr nicht möglich war, die Daten auf das neue Handy zu bekommen und fragte vorsichtig, ob ich denn ein Back-up gemacht hätte.
Hatte ich zum Glück. Hoch lebe das automatische Back-up, denn so etwas manuell zu machen, würde ich vergessen. Die Mitarbeiterin half mir, das neue Handy über meinen Account einzurichten und tatsächlich waren alle meine Apps, Fotos und Hintergründe da. Sogar die Nachricht von Louise, die sie mir letzte Nacht geschickt hatte.
Aber nicht nur das. Das Handy zeigte mir mehrere Anrufe in Abwesenheit von Tilda und Sorge durchspülte meine Adern. Was war letzte Nacht passiert, dass sie öfter angerufen hatte?
Kaum hatte ich den Laden verlassen, rief ich sofort zurück. Es war Wochenende und in Downtown war es voll, doch ich musste sie so schnell es ging sprechen und ihr erklären, wieso ich nicht rangegangen war, obwohl ich es ihr versprochen hatte.
Es klingelte mehrfach, dann zeigte das Display, dass der Videoanruf fehlgeschlagen sei.
Fuck, fuck, fuck.
Ich konnte mich in dem Geisteswissenschafts-Kurs kaum konzentrieren. Die Nacht hatte ich fast nicht geschlafen, hatte Ewigkeiten zum Einschlafen gebraucht und mich dann unruhig hin und her gewälzt. Ich war nur froh gewesen, dass Claire nicht bemerkt hatte, dass ich wach war, als sie irgendwann ins Zimmer gestolpert kam. Ihr mitten in der Nacht erklären zu müssen, was los war, hätte mir den Rest gegeben. Ich hatte ihr heute Morgen auf unserem Weg in den gemeinsamen Kurs erzählt, wieso ich trotz meines Concealers so tiefe Augenringe hatte.
Eigentlich mochte ich den Kurs. Er hatte nichts mit Physik oder Mathe zu tun, sondern war einer der, die alle im ersten Jahr besuchen sollten. Die Abwechslung gefiel mir und die Themen waren normalerweise spannend. Nur nicht, wenn ich den Kopf kaum hochhalten konnte und meine Gedanken ständig entweder zu Mae, die mir vor einer Stunde ein kurzes »Sind zu Hause angekommen« geschrieben hatte, oder zu Laurie abschweiften, der sich immer noch nicht gemeldet hatte.
Langsam machte ich mir mehr Sorgen um ihn als um meine kleine Schwester.
Dankbar, dass der Kurs endlich vorbei war, schleppte ich mich aus dem Gebäude. Langsam verschwanden auch die letzten Züge des Sommers, Ende September zog ein Herbstwind auf und der Himmel sah nach Regen aus. Grau und wolkenverhangen.
Vor dem Gebäude zog ich meine Cordjacke enger. »Zweites Frühstück?«, fragte Claire. Sie war keine große Frühstückerin und aß oft nur etwas Obst, wenn wir vor unseren ersten Kursen in die Cafeteria gingen. Meinen Porridge hatte ich mir heute auch mehr reinzwängen müssen und selbst jetzt hatte ich keinen Hunger, aber ich wusste, dass es wichtig war, etwas zu essen.
Also nickte ich und hakte mich bei ihr ein.
»Hat sich deine Schwester schon gemeldet?«, fragte Claire.
»Sie schläft erst mal. Immerhin ist sie die ganze Nacht durchgefahren.« Aber ich könnte wenigstens nachsehen, während der Kurse stellte ich mein Handy auf stumm und packte es in den Jutebeutel, um mich nicht davon ablenken zu lassen.
Als ich es aus dem Beutel fischte und mir mehrere Benachrichtigungen entgegenleuchteten, fiel es mir fast aus der Hand. Laurie hatte versucht, anzurufen.
es tut mir so leid!
mein handy ist kaputt gegangen, hab mir grad ein neues geholt
zoes war auch leer
ist alles okay??
ich mache mir wirklich sorgen
bitte ruf mich zurück, sobald du kannst
Bei seinen Nachrichten blubberte eine Mischung aus Gefühlen in mir hoch, die ich nicht alle zuordnen konnte. Erleichterung? Wut? Unter meinen Rippen brodelte es heiß und ich merkte erst, dass ich stehen geblieben war, als Claire sich einige Schritte entfernt zu mir umdrehte.
»Alles okay?«, fragte sie. Bei dem, was sich auf meinem Gesicht spiegeln musste, fuhr sie alarmiert fort: »Ist etwas mit deiner Schwester?«
Ich schüttelte den Kopf. »Laurie hat sich endlich gemeldet.«
Sie kniff leicht die Augen zusammen. »Sind wir froh darüber oder eher sauer auf ihn?«
Hilflos zuckte ich mit den Schultern. »Ich sollte ihn zurückrufen. Er macht sich Sorgen.«
Claire schnaubte. »No shit, Sherlock. Du hast dir auch Sorgen gemacht!«
»Ich sollte ihn zurückrufen«, wiederholte ich schwach. Mein Herz ziepte und zwackte und ich wollte nicht genauer nachhorchen, ob ich wirklich wütend war.
Ich wollte mit ihm reden.
Ich wollte ihn sehen.
»Geh du ruhig schon mal vor. Ich komme gleich nach«, sagte ich zu meiner Mitbewohnerin.
Sie kam zu mir zurück und drückte meinen Arm. »Wenn du etwas brauchst, melde dich.«
Ich nickte und wartete, bis sie weitergegangen war, bevor ich mich unter einen der vielen Bäume auf dem Campus zurückzog und Laurie per Video anrief.
Er ging direkt ran. »Tilda?«, sagte er statt einer Begrüßung.
»Hey«, sagte ich, irgendwie zu leise für die vielen Gefühle in meiner Brust.
Laurie sah so aus wie immer: schwarzes Haar, das ihm wirr in die Stirn fiel, dunkle Augen, die auf mir lagen, hohe Wangenknochen, die sein Gesicht definierten. Diese Mischung aus kantig und weich, die ich so sehr an ihm liebte.
Er fuhr sich durch die Haare, wodurch sie ihm noch wirrer vom Kopf abstanden. »Es tut mir leid«, sagte er und er sah auch so aus: Mundwinkel nach unten verzogen, hängende Schultern, und wenn die Pixel von seinem Bild mich nicht täuschten, zeichneten sich dunkle Schatten unter seinen Augen ab.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. »Ich weiß«, sagte ich daher nur. »Das war … einfach etwas unglücklich.«
Es fühlte sich nach mehr an als das, aber gleichzeitig wollte ich nicht sauer auf ihn sein. Ich wollte ihn nicht für etwas verurteilen, was außerhalb seiner Macht lag.
»Was war denn los gestern? Ist alles okay bei dir?«
Erschöpft ließ ich mich auf die kalte Wiese fallen. »Ja. Also nein. Keine Ahnung.« Ich seufzte. »Mae war plötzlich verschwunden.«
»Was?«
»Mitten in der Nacht. Dad hat sich totale Sorgen gemacht.«
»Nein, du warst kurz weg. Die Verbindung hier ist scheiße.« Wie um seine Worte zu unterstreichen, lief sein Bild wie in Zeitraffer. »Ich bin im Golden Gate Park.«
Bei der Erinnerung daran, wie wir zusammen vor ein paar Monaten dort gelegen hatten, zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Es kam mir vor wie Ewigkeiten her.
»Was war mit Mae?«, fragte er.
»Sie ist verschwunden.« Die Wut regte sich wieder, als hätte ich sie nicht tief genug weggedrückt. Ich schluckte, als ob es etwas half. Ich wollte nicht sauer auf ihn sein, er konnte nichts dafür.
Laurie zog die Augenbrauen zusammen. »Wohin? Habt ihr sie nicht erreicht?«
»Erst nicht«, sagte ich und erzählte ihm dann die ganze Geschichte.
»Es tut mir so leid, Tilda. Das muss wirklich schlimm für dich gewesen sein.«
»Ja.«
»Und ich war nicht für dich da.«
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, Tränen stauten sich hinter meinen Augenlidern, die ich wegzublinzeln versuchte.
»Ja«, brachte ich hervor und das eine Worte war ein Fehler. Mein Damm brach, ein einzelner Schluchzer entwich mir. Bevor mich weitere durchschütteln konnten, presste ich mir eine Hand vor den Mund und legte das Handy weg. Ich wollte nicht, dass er mich so sah.
Ich wollte über den Dingen stehen, aber es tat weh. Die Sorge um Mae tat weh, die Wut auf Laurie tat weh.
»Es tut mir so leid«, sagte Laurie, immer und immer wieder.
»Ich weiß«, flüsterte ich. »Ich weiß. Mir tut es auch leid.«
»Dir hat gar nichts leidzutun!«
»Ich will nicht weinen.«
Er holte tief Luft, ein schweres Schnaufen, das das Telefon mit übertrug. »Ich weiß«, sagte er und seine Stimme klang komisch. Erstickt, fast schon. »Ich wünschte mir … es ist okay. Gefühle müssen raus.«
Das war nicht das, was er sagen wollte. Mein Kopf führte seinen Satz ganz von selbst zu Ende: Ich wünschte mir, ich wäre bei dir.
Denn das war es - ich wollte ihn hier haben. Ich wollte nicht davon abhängig sein, dass er ans Telefon ging, sondern die Gewissheit haben, dass ich ihn sehen, ihn berühren konnte, wenn ich ihn brauchte. Doch genauso fehlten mir Dad und Mae.
Ich wischte mir die Tränen von der Wange. Wenn mir die letzte Nacht eines gezeigt hatte, dann, dass ich stärker werden musste. Nein, nicht musste. Wollte. Ich wollte nicht mehr so abhängig von meiner Familie und Laurie sein. Ich wollte lernen, mich selbst wieder zusammenzusetzen.
