A Thousand Words Missing - Linda Schipp - E-Book

A Thousand Words Missing E-Book

Linda Schipp

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Don't Kiss the Intern!  Leylas Leben scheint perfekt zu sein. Sie ist CEO der Marketingagentur STORYHACKERS, landesweit bekannt, erfolgreich in allem, was sie tut, und immer perfekt gestylt. Dass alles nur Fassade ist, weil ihr die Arbeit nach einem schlimmen Verlust Halt gibt, gesteht sie sich nicht ein – bis der unverschämte Praktikant Kolja auftaucht. Leyla ahnt nicht, dass er trotz allem ihr Herz berühren wird. Doch Kolja hat ein Geheimnis, das immer wieder dazu führt, dass er die Menschen um sich herum wegstößt, so zunächst auch Leyla. Können Leyla und Kolja Vertrauen zueinander fassen und ihr Happy End finden? #Booktok entscheidet!  Zusammen mit Lindas #BookTok-Community und dem everlove-TikTok-Account dürft ihr abstimmen und diskutieren – nicht nur über Gestaltung und Coverdesign, sondern auch über die Buchinhalte. Als gelernte Redakteurin bindet Linda Schipp eure Wünsche schon während des Schreibprozesses ein: Wie viel Spice muss sein? Gendern die Protagonist:innen? Welches Trope darf nicht fehlen? Was entsteht, ist ein Buch von und für #Booktok, abgestimmt mit euch, den Leser:innen! 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.everlove-verlag.de

Wenn dir dieser Roman gefallen hat, schreib uns unter Nennung des Titels »A Thousand Words Missing« an [email protected], und wir empfehlen dir gerne vergleichbare Bücher.

Für Lea

meine 14/14

© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2024

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Leyla

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Leyla

Kolja

Nachwort

Content Note

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

erst einmal möchte ich mich herzlich bei Ihnen für Ihre Bereitschaft bedanken, der Wahrheit eine Chance zu geben. Garantiert ist die Medienberichterstattung der vergangenen Monate nicht an Ihnen vorbeigegangen. Nachdem ein Gerücht das nächste jagte, was nicht nur mein Leben für immer verändert hat, habe ich entschieden, unsere Geschichte selbst zu erzählen. Mit unseren eigenen Stimmen. So offen, transparent und ehrlich wie nie zuvor. In der Hoffnung, das Rätselraten, was im vergangenen Jahr hinter verschlossenen Türen der Storyhacker Agency vorgefallen ist, ein für alle Mal zu beenden.

An einigen Stellen werden Sie überrascht sein. An anderen schockiert. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass die Wahrheit nicht immer angenehm ist und stellenweise Themen aufwirft, die Sie in unserer Geschichte nicht erwartet hätten, weil bislang keine einzige Investigativredaktion dahintergekommen ist. Gegebenenfalls möchten Sie sich mit diesen Themen nicht beschäftigen. Für diesen Fall finden Sie eine vollständige Übersicht auf S. 384. Sollten Sie sich entscheiden, diese vorab zu lesen, machen Sie sich bewusst, dass sie Spoiler enthält. Ich sags ja nur. Als kleine Warnung. Eine verdammt gute Geschichte muss überraschen. Habe ich im Praktikum gelernt.

Herzliche Grüße

gez. Kolja Barker

Kolja

»Lieber will ich in einem Eimer Kotze baden, als da reinzugehen«, murmelte Kolja Barker und ließ den Blick durchs Taxifenster auf die andere Straßenseite gleiten. Über den Bürgersteig und den gepflasterten Vorplatz, zum Eingangsportal des in der Sonne funkelnden Wolkenkratzers.

Da stand er. The Cone.

Dieser hässliche Glaskegel, der seit der Fertigstellung letztes Jahr aufgrund seiner einzigartigen Form, geschwungen wie eine gläserne Sahnehaube, als Topattraktion der Stadt galt. Was wirklich schade war, wenn man Kolja fragte. Auckland hatte so viel Wunderbares zu bieten. Dramatische Klippen, die steil abfielen ins tosende Meer. Wilde Naturstrände und schroffe Küsten, von denen aus man die Windsurfer beobachten konnte, wie sie abgefahrene Backflips performten und wieder sanft auf den Wellen landeten. Mount Eden, einen mit Gras überzogenen Vulkan mitten in der Stadt. Am Abend konnte man von dessen Gipfel den Sonnenuntergang beobachten und in der Nacht die Lichter Downtowns, die sich am Fuß des Hügels ergossen wie ein funkelndes Sternenmeer. Die Waitomo Glowworm Caves etwas außerhalb, die erleuchtet wurden von blau biolumineszierenden Glühwürmchen an den Höhlenwänden, überlegte Kolja, während er mit den Fingern auf die Innenverkleidung seines Wagens trommelte. Nicht zu vergessen der Baumkronenpfad im Regenwald der Waitakere Ranges, die Hunua Falls, das Goat Island Marine-Reservat, in dem eintausend unterschiedliche Unterwasserspezies lebten … Kolja könnte ewig so weitermachen.

Die Maori hatten Auckland einst Tāmaki Makaurau getauft, was »von hundert Männern begehrt« bedeutete – wenn man ihn fragte, mit Recht. Aber ihn fragte ja keiner. Wenn die Touristen in sein Taxi stiegen, wollten sie The Cone sehen. Einfach nur The Cone, obwohl sie das Helix-Glasgebilde online schon von allen Seiten bewundert hatten. Sie wollten davon träumen, wie es wohl wäre, dazuzugehören zu jener Elite, der es tagtäglich vergönnt war, hinter den Scheiben sechzehn erhabene Stunden lang ohne Pause an Stehschreibtischen in ergonomische Tastaturen zu hacken.

»Nicht mit mir«, wisperte Kolja zu sich selbst und beugte sich näher an das Seitenfenster. Er musste es fast mit der Nase berühren, um bis zur geschwungenen Spitze des Kegels hinaufsehen zu können, wo sich das Sonnenlicht brach. Von genau diesem Punkt aus schlängelte sich das architektonische Highlight das Gebäude hinab – spiralförmig, immer um den Glaskegel herum, bis zum Boden: ein begrünter Pfad. So breit, dass ganze Schulklassen ihn begehen konnten. Er war üppig bepflanzt mit Gras, Büschen und sogar Bäumen. Wenn man bereit war, sich zwei Jahre im Vorfeld dafür anzumelden, durfte man den Glasturm darauf besteigen. Wie einen Berg. Immer um den Kegel herum bis zum Gipfel.

Die Taxischeibe beschlug, so lange atmete Kolja nun schon dagegen. Er warf sich zurück in den Fahrersitz. Verdammt. Wie sehr konnte man das nachhaltigste Gebäude Neuseelands verabscheuen? Kolja Barkers Antwort darauf: Ja! Dabei hatte es ihm nicht das Geringste getan. Was das, was er gleich vorhatte, ehrlich gesagt noch schlimmer machte.

Kolja schielte auf den Zettel, den er mit einer Hand fest umklammert hielt. Ließ seinen Blick über die gedruckten Zeilen fliegen, ohne ein einziges Wort zu lesen. Dann sah er wieder auf zu The Cone. Dem Arbeitsplatz, zu dem die Leute aufschauten. Dem Ort, den sie einmal im Leben besuchen wollten. Alle außer Kolja.

Mit dem Papier in der Hand langte er nach dem Autotürgriff und verfehlte ihn, seine Finger zitterten. »Reiß dich zusammen«, flüsterte er zu sich selbst. »Reiß dich verflucht noch mal zusammen und machs.«

Ein zweites Mal tastete er nach dem Griff, diesmal erfolgreich. Mit einem Ruck stieß er die Taxitür auf und stolperte auf die Straße, den Zettel in der rechten Hand, eine bis oben hin gefüllte Wasserflasche in der linken. Morgenhitze schlug ihm entgegen, viel zu warm für einen Septemberfrühling. Kolja legte den Kopf in den Nacken und sah zu dem imposanten Platinschriftzug auf halber Höhe des Gebäudes. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, plötzlich begann sich alles zu drehen. Der Bürgersteig, der verwirbelte Glasturm, die Bäume auf dem Grünpfad. Seine Kehle verengte sich wie ein Strohhalm, den man zusammendrückte. Zwar kam Luft hindurch, aber sie reichte nicht. Sosehr er auch darum rang, sie reichte nicht! Kolja tastete nach seinem Taxi hinter sich, um sich daran entlang bis zur Bürgersteigkante zu hangeln.

Dann dachte er an das Telefonat von gestern Abend. Was sein Vater zu ihm gesagt hatte. Nein, was er ihm eingebläut hatte, sodass er es auf gar keinen Fall jemals wieder vergessen würde. Die Flecken verschwanden. Und die Übelkeit wich einer eiskalten Wut. Kolja kniff die Augen zusammen und nestelte am Drehverschluss seiner PET-Flasche. Er setzte sie an. Die Flüssigkeit rann seine Kehle hinab und breitete sich wie eine wärmende Decke in seiner Magengegend aus. Der Knoten in seinem Bauch lockerte sich.

Okay. Kolja festigte den Griff um das Papier, bis es zerknitterte. Er konnte das schaffen. Er konnte und er würde es schaffen. Auch wenn Kolja Barker nicht vieles gelang, sollte er doch diese eine Sache hinbekommen: es zu verkacken.

Denn so lautete sein Plan. Nicht mehr und nicht weniger.

Er würde da jetzt reingehen, mit dem Scheißzettel und der Wasserflasche, und es so richtig deftig verkacken.

Leyla

Am anderen Ende der Stadt, wo die Mieten unaufhörlich in die Höhe schossen und die Klippen steil abfielen ins tosende Meer, saß Leyla Ahmadi auf einen Schlag aufrecht im Bett. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Gott, wieso war es denn schon wieder hell? Hatte die Nacht nicht gerade erst begonnen?

Es waren höchstens Sekunden vergangen, seit der Schlaf sie in seine Arme gehüllt hatte. Seit er sie mit sich gezogen hatte in die Dunkelheit, als Leyla gestern Abend endlich erschöpft genug gewesen war, um keinen Widerstand mehr zu leisten. Doch kaum hatte sie die Augen geschlossen, hatte der Wecker geschrillt. Der alte Terrorist.

Leyla rieb sich mit den Ballen die Wangen, im Versuch, die Kissenfalten herauszureiben, reckte sich und strich Haarsträhnen zurück an ihren Platz. Erst dann schaltete sie den Handywecker aus und schwang die Beine aus dem Gästebett. Ihre Knochen knackten beim Aufstehen. Die Matratze war viel zu schmal und unbequem gewesen, wie jede Nacht, und wie jeden Morgen wusste sie, dass sie trotzdem auch diesen Abend wieder darauf einschlafen würde. Komme, was wolle.

Sie seufzte.

Auf nackten Füßen tappte Leyla durch ihr Penthouse. Raus aus dem Gästezimmer, über den Marmorboden, auf dem ihre Schweißfußabdrücke sofort wieder verblassten. Vorbei an dem frei stehenden Kamin, durch den offenen Wohnraum bis in den lichtdurchfluteten Essbereich. Die drei Küchenblöcke waren aus dem gleichen Marmorstein gefertigt wie der Boden und sahen aus, als würden sie wie quadratische Pilze direkt daraus hervorwachsen.

»Grace, Jalousien runter«, wies Leyla das Smart-Home-System mit ihrer rauen Guten-Morgen-Stimme an, als die Sonne sie jäh blendete. Sie blinzelte. »Bitte.«

Lautlos glitten weiße Lamellen vor die Fensterfront und verbargen den atemberaubenden Blick aus dem sechsten Stock auf den Ozean.

»Und Grace?«

Das System pingte freundlich als Zeichen, dass es zuhörte.

»Ein Wasser hätte ich gern. Und sobald Alba im Office eingeloggt ist, bitte sie, mir eine kurze Tageszusammenfassung als Sprachmemo zukommen zu lassen. Nach ihrem ersten Tee, versteht sich.«

»Gerne, Leyla«, antwortete Grace’ digitale Stimme. »Brauchst du heute ein SharedCar zur Arbeit?«

»Nein danke. Ich fahre mit der Bahn.«

Auf der Küchenzeile stand das Glas unter einem in der Rückwand verbauten Hahn bereit. Leyla leerte es in einem Zug, stellte es ungespült wieder zurück und setzte ihre Morgenrunde fort ins Badezimmer.

»Routine ist alles«, flüsterte sie zu sich selbst, während sie ihr Schlafshirt abstreifte und sich, ohne die Temperatur zu testen, unter die prasselnde Regendusche stellte. Der eiskalte Strahl spülte die letzten Spuren der Nacht von ihrer Haut. Tropfen verfingen sich in ihren Wimpern und rannen ihre Wangen hinab. Dieser Teil des Tages war der schlimmste. Eine Zwischenwelt, in der Leyla nie wusste, wohin sie gehörte. Ihre Gedanken schwirrten längst im Büro umher, doch ihr Körper befand sich noch immer an dem Ort, den sie ihr Zuhause nennen wollte, aber nicht konnte. Hätte Grace eine Funktion, sie vom Weckerklingeln binnen eines Fingerschnips gestriegelt und geleckt in ihr Office zu teleportieren, Leyla hätte ihr aktuelles Lieblingsbuch dafür geopfert.

Keine fünf Minuten später kam sie unter der Dusche hervor, hüllte sich in einen flauschigen Bademantel und trat vor den Spiegel. Der nervige Part war vorbei, ab jetzt ging es bergauf. Denn von nun an wurde aus Zombie-Leyla ein Mensch. Sie nannte diesen Teil des Tages genau wie Kafkas Meisterwerk: Die Verwandlung.

Leyla betrachtete ihre Augenringe im Spiegel – kein Wunder, wenn der Wecker immer schon Sekunden, nachdem sie eingeschlafen war, schrillte. Die eingefallenen Wangen – na ja, besser als die aufgeplusterten von letztem Jahr. Die fahle Haut – selbst schuld, wenn sie nie in die Sonne ging. Es hatte schon bessere Zeiten gegeben. Aber das dachte sie jeden Morgen, wenn sie der nackten Wahrheit ins Gesicht sah.

»In einer halben Stunde sieht das anders aus«, murmelte sie und öffnete die Flügeltüren ihrer Make-up-Vitrine. Augenblicklich sprang die Beleuchtung an und hüllte die zahllosen Fächer ihrer Schatzkammer in ein warmweißes Licht.

Zielsicher griff Leyla nach den Utensilien auf Augenhöhe, Serum, Foundation, Make-up, reihte sie auf der Ablage vor ihrer Spiegelwand auf und begann mit der Arbeit. Wenn sie einem Kunstwerk gleichen wollte, musste sie die Künstlerin sein. Jeden Tag lag es in ihrer Macht, zu entscheiden, was die Welt von ihr sah. Die Powerfrau, die vor rotem Lippenstift und scharfen Konturen nicht zurückschrak? Die Understatement-Aktivistin, die geschminkt-ungeschminkt natürliche Eleganz ausstrahlte? Die Boss Bitch, die die Züge ihrer Wangenknochen noch härter hervorhob?

»Heute mal eher natürlich«, murmelte Leyla, während sie mit in die Länge verzogenem Gesicht Mascara auftrug, was sie immer etwas an Der Schrei von Edvard Munch erinnerte. Tja, Kunst eben. »Oder sagen wir: So, wie ich gerne in Natur aussehen würde.«

Noah hatte sie regelmäßig damit aufgezogen, dass sie für ihr ganz natürliches Make-up sage und schreibe vierundzwanzig Produkte benötigte. Einmal hatte er sie gefragt, ob es sich nicht widerspräche, Feministin zu sein und all diese Beauty-Produkte für den Eindruck zu verwenden, sie hätte kein einziges gebraucht.

»Wieso?«, hatte Leyla unschuldig entgegnet, während sie ihren Lidstrich mit einem Wattestäbchen korrigierte.

»Na, weil du dagegen kämpfst, dass man von Frauen bestimmte Dinge erwartet, die Männer nicht tun müssen, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Wie zum Beispiel, morgens ihr Gesicht zu restaurieren.«

Daraufhin hatte Leyla einen Lip Primer nach Noah geworfen und gegengehalten: »Erstens restauriere ich nicht, ich veredele.«

»Soso.« Grinsend hatte er eine Augenbraue hochgezogen.

»Und zweitens ist die Annahme, Frauen sollten sich auch ungeschminkt selbstbewusst fühlen, für mich der unfeministischste Gedanke. Ich kleide mich, wie es mir guttut, und ich schminke mich, wie es mir gefällt. Darüber zu urteilen, ist niemandes Recht. Gilt für dich übrigens genauso. Willst du etwas Rouge?«

Daraufhin war zwischen Noah und ihr eine heiße Debatte ausgebrochen, ob es legitim war, Menschen anhand ihrer Kleidung zu beurteilen. Wonach beide Parteien sich murrend hatten eingestehen müssen, dass die jeweils andere in manchen Aspekten recht behielt. So war das immer zwischen ihnen gewesen. Bis es ein jähes Ende gefunden hatte.

Nur noch achtzehn Tage.

Leyla stellte das letzte Produkt zurück in die Vitrine, schloss die Türen und betrachtete sich im Spiegel. Keine Augenringe mehr. Alles, wie es sein sollte. Perfekt.

Eine Melodie aus den versteckten Lautsprechern kündigte den Eingang einer Nachricht an.

»Grace?«, sprach Leyla in den leeren Raum hinein, und ihre samtige Stimme hallte von den hohen Wänden wider. »Bitte spiele die Sprachmemo von Alba mit meiner Tagesplanung ab. Und danach: Finde die schnellste U-Bahn-Verbindung zu The Cone.«

Kolja

Kolja Barker erwartete, dass eine Airconditioning-Welle seinen Körper herunterkühlte, sobald er den Glaskegel betrat. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil. Er stand im Eingangsportal und schwitzte noch immer. The Cone wurde offenbar nicht klimatisiert. Zumindest nicht auf die üblichen minus drölfzig Grad, wie es sich in modernen Gebäuden dieser Art gehörte. Stattdessen fühlte sich die Luft schwer an. Und feucht. Ein bisschen wie in einem Tropenhaus.

Mit wenigen Schritten eilte Kolja an den Rand der Eingangshalle und stellte sich mit dem Rücken gegen die Wand, darauf bedacht, die urwaldgrünen Pflanzen nicht zu zerdrücken, die sich an einem feinen Netz entlang die innere Glasmauer hinaufrankten. Seine Pupillen zuckten hin und her, um alles gleichzeitig erfassen zu können. Das hohe Gewölbe. Den glänzenden Boden aus einem ihm unbekannten jadegrünen Stein. Vielleicht war es sogar Jade? Die Sicherheitsschleusen rückseitig. Die Aufzüge dahinter. Die beleuchteten Notausgänge zu den Seiten.

Er prüfte alle Risiken. Alle Gefahren. Doch sosehr Kolja sich auch darauf konzentrieren wollte, seine Umgebung zu sichern, er konnte sich nicht losreißen von dem, was über ihm schwebte. Wovon er schon so viel gehört hatte und das er sich so doch niemals in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können.

Die Decke drei Stockwerke über ihm bestand aus Glas. Ohne Ausnahme. Sogar Stützbalken und Verbindungselemente waren transparent, er konnte von hier aus die Schemen der Menschen erkennen, die dort oben geschäftig umherwanderten. Doch die Oberfläche war nicht ebenmäßig glatt. Das Glas war gesplittert. Abertausende von Rissen zogen sich über die Decke, was sie milchig erscheinen ließ. Teile schienen herausgebrochen, riesige Glasscherben schwebten an unsichtbaren Fäden über ihm, als könnte die gesamte Konstruktion jeden Moment mit einem ohrenbetäubenden Klirren in sich zusammenstürzen und ihn unter sich begraben. Die Gläserne Decke. Die Medien verwendeten den Ausdruck meist im Zusammenhang damit, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen, beispielsweise Frauen, oft nicht in Führungspositionen aufsteigen konnten und stattdessen auf der Ebene des mittleren Managements hängen blieben. Eine unsichtbare Aufstiegsbarriere, sozusagen. Eine Gläserne Decke.

»Nur dass diese Decke gesprengt worden ist«, flüsterte Kolja ehrfürchtig, legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick durch das scherbenförmige Loch in der Mitte schweifen, durch das man wie in einer Kathedrale hinauf bis in die Spitze des Turms schauen konnte. Bis zum obersten Büro. Das Glass Office.

»Verzeihung, kann ich Ihnen helfen?«, riss ihn eine Stimme aus seiner Starre.

Er zuckte zusammen, das Blatt Papier in seiner Hand knisterte.

»Bestimmt«, entgegnete Kolja und räusperte sich. »Ich suche die Storyhacker Agency.«

Er löste sich von dem Deckenspektakel, sah umher und stockte, als er bemerkte, dass er seinen Blick nicht nur auf Augenhöhe, sondern noch weiter runter senken musste. Der Empfangsherr im Rollstuhl lächelte ihn geduldig an.

»Beeindruckend, beängstigend und bestärkend zugleich, nicht wahr?«, kommentierte er und ignorierte, wie Kolja nervös von einem Fuß auf den anderen trat, im Versuch, zu dem Mann nach unten zu schauen, aber nicht auf ihn herab. Er wusste nicht genau, warum, aber es fiel ihm schwer, eine natürliche Körperhaltung in seiner Gegenwart zu finden.

»Die Gläserne Decke ist wirklich ein architektonisches Meisterwerk.« Der Mann schielte auf die PET-Flasche in Koljas Hand, und er glaubte, einen Hauch von Missbilligung in dessen Blick zu erkennen. Im nächsten Moment war er wieder verschwunden. »Na, dann folgen Sie mir mal.«

Der Empfangsherr wendete auf der Stelle und rollte lautlos über den glatten Steinboden. »Haben Sie gut hergefunden?«

»Ja. Problemlos.«

»U-Bahn? Fahrrad?«

»Äh. Taxi.«

»So?«

»Ich, ähm, bin Taxifahrer. War Taxifahrer.« Warum hatte er das gesagt?

Sie hielten vor einer Sammlung Holzkästen, die kunstvoll in den Raum gewürfelt wirkten. Manche hüfthoch, andere reichten bis zum Knie. Der Rezeptionist stoppte vor einem kniehohen und tippte darauf herum. In der Oberfläche war, wie Kolja jetzt erkannte, ein Tablet eingelassen.

»Na, wer beehrt die Storyhacker denn heute?«

Scheiße. Das hier passierte wirklich.

»Kolja Barker.«

»Kolja mit K, nehme ich an?« Der Typ tippte. »Mein Name ist übrigens Blake. Auch mit K. Ah, hier habe ich Sie. Ihr erster Arbeitstag, Glückwunsch!«

Und mein letzter, hätte Kolja am liebsten geantwortet, sagte aber stattdessen: »Danke.«

»Sind Sie zum ersten Mal in The Cone?«

»Ja.« Kolja nutzte die Chance, die sich ihm bot. »Ich kenne mich noch gar nicht aus.« Lüge. »Das hier ist … monumental.«

Blake lachte. »In der Tat! Nehmen Sie mal an einer Führung teil. Das ganze Grünzeug hier, allein in der Eingangshalle …« Er deutete auf die bepflanzten Wände, die begrünten Säulen und die Ranken, die sich durch das Loch in der Decke bis nach oben zum Glass Office schlängelten. »Es entspricht ungefähr der Menge, die alle zwanzig Sekunden im Amazonas abgeholzt wird. All das! Alle zwanzig Sekunden!« Er schüttelte den Kopf. »Verrückt, wer sich das ausgedacht hat.«

Kolja nickte und versuchte, gegen den gigantischen Kloß in seinem Hals anzuschlucken. Das hier war schon wieder zu viel. Viel zu viel. Er wollte weg.

»Ich bin etwas spät dran«, log er und schielte in Richtung der Sicherheitskontrollen im hinteren Bereich der Empfangshalle. »Wo genau muss ich denn hin?«

»Ganz einfach. Einmal durch die Schleusen dort, wo Sie Ihre Ankunft und ein paar Datenschutzdetails unterzeichnen – nur am ersten Tag. Und Ihren Ausweis müssen Sie scannen lassen.«

Kacke.

»Danach bitte einmal die Treppen hochlaufen bis in den siebzehnten Stock. Fahrstühle haben wir keine. Energiesparmaßnahme.«

Blake wartete einen Wimpernschlag lang Koljas geschockten Blick ab und lachte dann auf.

»Der zieht jedes Mal! Ne, natürlich geht es mit dem Aufzug in die Siebzehn. Wir decken hundert Prozent unseres Eigenstrombedarfs selbst ab. Der Boden des Vorplatzes ist eine Fotovoltaikanlage. Und alles hier, was Sie für Glas halten, sind in Wirklichkeit transparente Solarzellen. Klingt jetzt vielleicht nach Science-Fiction, ist aber tatsächlich eine Erfindung einer deutschen Universität. Unsere Fenster sind dadurch in der Lage, Strom zu erzeugen. Für den Fahrstuhl reicht es gerade noch.« Blake klang ein wenig monoton, als hätte er dieses Tonband schon einige Male abgespielt, aber Kolja hing trotzdem an seinen Lippen. »Oben landen Sie direkt im Eingangsbereich der Storyhacker, wo Dylan Sie in Empfang nehmen wird.«

Kolja nickte. Er hatte sich jedes Wort gemerkt. Was dazu führte, dass er am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen, wieder in sein Taxi steigen und für immer verschwinden würde.

Aber sein Vater …

»Verstanden. Danke noch mal«, sagte er heiser, straffte die Schultern, biss die Zähne zusammen und wandte sich den Sicherheitskontrollen zu.

»Bisschen aufgeregt?«, gewann Blake seine Aufmerksamkeit zurück. Kolja drehte sich wieder um und sah, wie sich sein Blick veränderte. Von freundlich zu wachsam.

»Wie könnte ich nicht?«, entgegnete er und schluckte. »Die Storyhacker sind ein großes Ding. Hier zu sein, ist … einmalig für mich.«

Blake nickte.

»Du machst das schon«, wechselte er auf die persönliche Ebene. »Du wirst sehen, in keinem Arbeitsumfeld triffst du herzlichere Menschen als hier. Sieht man ja an mir.« Er lächelte ihm aufmunternd zu.

»Ach, und Kolja!«

»Hm?«

»Die Wasserflasche musst du vorher austrinken oder in die Pflanzen kippen. Die schafft es sonst nicht durch die Sicherheitsschleusen.«

»Oh, danke.«

Kurzerhand löste Kolja den Verschluss und leerte die Flasche in einem Zug. Womit er höchstwahrscheinlich den größten Fehler seines Lebens beging.

Leyla

»Es tut mir wahnsinnig leid, Alba«, begrüßte Leyla ihre Assistentin, kurz nachdem der Fahrstuhl sie auf ihrer Etage ausgespuckt hatte. »Ich war zu Hause schon im Flur, wollte gerade los, als ein Kunde mich mit einem Krisenfall anrief, der ihn heute Morgen überraschend aus dem Bett geschmissen hat. Ich bin sofort an den Laptop und habe das Thema vom Küchentisch aus erledigt. Alle Unterlagen dazu in deinem Postfach. Wäre super, wenn du an Charlie und Team übergibst. Kunde weiß Bescheid.«

»Also business as usual bei Madame Ahmadi«, entgegnete Alba trocken und schob eine Emaille-Tasse über ihren Schreibtisch in Leylas Richtung. »Schluck kalten Grüntee? Heute: vier Stunden gezogen.«

»Deliziös.« Leyla schnappte sich die Tasse und nahm einen Schluck. »Auf einer Skala von eins bis zehn, wie witzig findest du es, mir Tee für meine geplante Ankunftszeit im Büro vorzubereiten, wohl wissend, dass ich ihn eh viel zu spät trinken werde?«

Albas Mundwinkel zuckten. »Ich habe dich gewarnt, dass ich sadistische Züge habe. Dein Fehler, wenn du mich trotzdem einstellst.«

»Auch Giftnudeln eine Chance geben, lautet mein Motto in Personalangelegenheiten«, antwortete Leyla und stellte die Tasse zurück auf den Tisch. »Nun sag schon. Ich warte seit über vier Stunden auf die bignews, die du in der Memo angekündigt hast. So lange lässt du mich warten! Was ich dir hiermit übrigens gern verbieten möchte. Dein Job ist es, mich schnellstmöglich zu informieren. Nicht, mich längstmöglich hinzuhalten. Das ist eine Arbeitsanweisung.«

»Abgelehnt. Ich habe dich lieber persönlich um mich, wenn es was zu feiern gibt. Du brauchst das.« Alba erhob sich und kam um den Tisch herum auf sie zu. »Wir haben den Patagonia-Pitch gewonnen. Die E-Mail liegt als wichtig markiert in deinem Postfach. Wir kriegen deren Etat.«

»Ja!«

Leyla stieß die Faust in die Luft, legte sie sich gleich darauf voller Erleichterung ans Herz und schloss die Augen, woraufhin Alba sie umarmte.

»Glückwunsch, Boss.«

Und da kam er. Der Rausch, auf den Leyla sehnsüchtig gewartet hatte. Als flutete Serotonin ihre Adern, als schossen die Glücksgefühle in jede Zelle ihres Körpers. Wie Standing Ovations, nur als Gefühl. Die Wettstreite um Kundenaufträge gegen andere Agenturen zu gewinnen, sogenannte Pitchs, sättigte sie immer. Stillte einen Durst, den sie schon unzählige Male versucht hatte, auf anderen Wegen zu befriedigen, doch es gelang nie. Nur der Erfolg, einen Pitch zu gewinnen, verschaffte ihr diese Art der Erleichterung. Nur der Erfolg drang in jene Fasern, in denen sonst ein Kummer regierte, den Leyla vor einem Jahr nicht für möglich gehalten hätte. Der Erfolg nährte sie. Zumindest eine Zeit lang.

»Außerdem habe ich noch eine zweite Neuigkeit für dich«, ergänzte Alba und löste die Umarmung. »Aber ich bin nicht sicher, ob wir diese Nachricht zum Schreien komisch finden oder unfassbar schockierend. Besser, du setzt dich erst mal. Und nimm dir einen frischen Tee.«

Kolja

»Eine Unterschrift brauche ich noch«, verlangte der Sicherheitsbeamte hinter der Plexiglasscheibe, während er Kolja seinen Ausweis unter der Sicherheitsabtrennung hindurch zurückschob und ihn aufmerksam musterte.

Kolja bemühte sich, möglichst unbeteiligt dreinzuschauen. Die Übelkeit herunterzuschlucken und die Panik, die in seiner Brust wütete. Die darum kämpfte, endlich auszubrechen. Die Angst saß so fest in seinem Bauch, dass er sich am liebsten zu einer Kugel zusammengerollt hätte.

»Klar.«

Auf einem Tablet, das wie am Empfangswürfel in die Theke eingelassen war, erschien ein Dokument.

»Datenschutz«, erklärte der Beamte. »Sie haben das Formular im Vorfeld zur Prüfung an Ihre E-Mail-Adresse geschickt bekommen.«

»Richtig.« Kolja scrollte mit einem digitalen Stift bis zum Ende. »Hier?«

»Dort, bitte«, sagte der Beamte und deutete auf eine Signaturzeile. Kolja setzte seine Initialen darauf, der zweite Buchstabe erinnerte im Entferntesten an ein B.

B wie Barker.

B wie Versager.

B wie der Typ, dem nicht mal ein Synonym für Versager mit B am Anfang einfiel.

»Keine Tasche dabei, kein Gepäck?«, erkundigte sich der Beamte.

»Nur das hier.« Er hielt die leere PET-Flasche und den zerknitterten Zettel hoch.

»Gut. Sie dürfen.«

Kolja legte die beiden Gegenstände in eine Plastikkiste, passierte den Bodyscanner, nickte dem Wachmann zum Abschied zu und steuerte mit klopfendem Herzen die Fahrstühle an.

Es ging los.

»Sorry, auf welcher Etage finde ich noch mal die Storyhacker Agency?«, erkundigte sich Kolja mit zitternder Stimme bei einer rothaarigen etwa gleichaltrigen Frau, die mit ihm den gläsernen Aufzug betrat.

»In die Siebzehn müssen wir.« Sie lächelte ihn an, und Kolja glaubte, den Bruchteil einer Sekunde ein etwas zu begeistertes Funkeln in ihren Augen zu lesen. Dann drückte sie den Knopf. »Ich fahre mit dir. Ein neues Gesicht oder ein Termin in der Agentur?«

»Mein erster Tag«, erklärte Kolja, ohne zurückzulächeln.

»Oh, stimmt! Heute ist Monatsanfang. Na dann, herzlich willkommen. Ich bin Marcie, Teil des Redaktionsteams. Vielleicht laufen wir uns ja noch mal über den Weg.«

»Vielleicht. Soweit ich weiß, bin ich in der Kommunikationsabteilung.«

»Sehr gut.« Marcie freute sich sichtlich, ihre Wangen wurden rosig. »Das ist nicht ganz mein Bereich, aber das macht nichts. Bei uns gibt es eh keine festen Abteilungen. Die Leute setzen sich so auf der Fläche zusammen, wie es für sie Sinn ergibt. Open Space nennt sich das. Falls du mal kein Lunchdate hast, melde dich im Agentur-Chat bei mir. Die Kontakte sind voreingespeichert. Ich bin, äh, die einzige Marcie.«

Sie blinzelte ihn aus viel zu großen Augen an.

»Alles klar«, entgegnete Kolja, ohne es zu meinen. Er wickelte das Papier um die Flasche und zog sein T-Shirt glatt. Die Türen gingen auf.

Showtime.

Leyla

Alba drückte Leyla den Emaille-Becher in die Hand, diesmal mit dampfend heißem Tee.

»Okay, sitzt du?«, fragte sie, aber was sie eigentlich meinte, war: Bist du bereit? Dass Leyla auf ihrer Schreibtischplatte saß, die baumelnden Füße ineinander verschränkt, konnte Alba sehen.

»Schieß los.«

»Halt dich fest.«

Leyla umklammerte spaßeshalber die Tischkante mit der freien Hand. Ihre Assistentin war schon immer etwas sensationslüstern gewesen, aber wenn sie so ein großes Ding daraus machte, musste etwas auffallend Beunruhigendes passiert sein. Mal sehen, ob es zur Abwechslung auch Leyla aus der Ruhe bringen konnte.

»Heute ist ein neuer Praktikant bei uns in der Kommunikation gestartet.«

Leyla horchte auf. Dass zum Ersten des Monats Mitarbeitende in der Agentur anfingen, war nichts Besonderes. Doch sie hatte letztens etwas aus der HR aufgeschnappt, das jetzt relevant werden könnte.

»Okay?«

»Er ist heute Morgen angekommen. Zwei Stunden zu spät.«

»Der Arme!«

»Habe ich auch gedacht«, fuhr Alba dazwischen. »Kaum jemand kommt absichtlich zwei Stunden zu spät an seinem ersten Tag, nicht wahr? Da muss etwas Unglückliches dazwischengekommen sein. Aber bei ihm bin ich mir da nicht so sicher.«

»Wieso nicht?«

»Als er sich bei Dylan auf der Siebzehn angemeldet hat, kam kein Wort der Entschuldigung oder etwas in der Richtung von ihm. Da meinte Dylan noch: Gut, vielleicht hat er sich in der Uhrzeit vertan. Und er hat den Typen darauf angesprochen. Der zuckte jedoch mit den Schultern und sagte nur: ›Zeigst du mir jetzt endlich alles hier?‹«

Leyla sog scharf die Luft ein, aber Alba sprudelte einfach weiter.

»Unhöflich! Dylan war so perplex, dass er nichts Schlagfertiges entgegnen konnte, und hat ihn erst mal herumgeführt. Ihm seinen Laptop überreicht, die Kolleginnen und Kollegen vorgestellt, all so was. Bis dahin kaum ein Wort von ihm. Kein Lächeln, nichts.«

Leyla kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Alles etwas komisch, aber okay. Dann hat Sam ihm von dem Projekt erzählt, an dem ihr Team gerade mit Hochdruck arbeitet. Und bei dem er in nächster Zeit unterstützen sollte.«

»Die Cruelty-Free-Fashion-Show Anfang nächsten Monats?«

»Genau. Und anstatt zumindest ein wenig Interesse zu zeigen … hat er gekotzt.«

Leyla riss die Augen auf. »Nein!«

»Doch. In den Mülleimer. In so ein Ding mit Löchern, leider.«

»O Gott. Tut der mir leid«, nuschelte Leyla zwischen ihren Fingern, die sie sich vor den Mund geschlagen hatte.

»Alles lief raus, über den Korkboden. Wie wenn ein Kind Wasser in so ein Strandeimerchen mit Löchern gießt, weißt du? Alles läuft raus. Alles.«

»Shit. Wahrscheinlich war ihm den ganzen Morgen schon übel.«

»Unter Garantie. Und ich sage dir auch, warum. Gleich nachdem er unter lautstarkem Gewürge den letzten Rest Magensaft in den undichten Eimer gerotzt hat, rappelt er sich nämlich auf und rempelt gegen Marcie, die ihm ein Taschentuch hinhält. Er geht rüber zu einer der Schneiderpuppen, über der ein Stoffmuster für die Cruelty-Free-Show hängt. Und wischt sich damit den Mund sauber.«

Leyla rutschte von der Tischkante und richtete sich auf.

»Sam ist ausgerastet. Sie brauchen das Muster dringend, und es hat wohl ewig lange Lieferzeiten. Aber der Typ ist anschließend nur schnurstracks in die angrenzende Küche getorkelt. Zum Kühlschrank. Und hat sich ein Konterbier aufgemacht. Ein Konterbier, Leyla. Der Kerl ist total betrunken!«

Leyla schüttelte in Zeitlupe den Kopf. Niemals in den letzten neun Jahren seit der Gründung der Agentur hatte sich jemand derart danebenbenommen. Niemals zuvor hatte es jemand gewagt, einen der beliebtesten Arbeitgebenden des Landes so mit Füßen zu treten.

»Und jetzt kommt der Haken an der Sache«, kam Alba zum Finale, und an ihrer bedauernden Miene und dem leidigen Tonfall erkannte Leyla schon, dass ihr die eigentliche Katastrophe noch bevorstand.

»Der Typ ist der Sprössling von Ernst Barker.«

Kolja

Das lief ja bestens! Kolja setzte die Bierflasche noch einmal an, spülte den ekelhaften Kotzegeschmack herunter und wischte sich mit dem Stoffmuster den Schweiß von der Stirn. Mit einer noch sauberen Ecke, na ja, fast sauberen, aber egal.

Eigentlich hatte er sich heute, seit er sein Taxi vor The Cone geparkt hatte, nur hemmungslos betrinken und wie ein Arschloch verhalten wollen. Die Kotzerei war nicht geplant gewesen. Aber hey, umso besser. Auch schlechte PR war in seinem Fall gute PR. Davon mussten sie hier in der Agentur ja was verstehen. Er wollte nämlich genau das: schlecht, schlechter, am schlechtesten dastehen.

»Okay, Junge, das reicht jetzt«, sagte Dylan, trat beherzten Schrittes zu ihm in die Küche und packte ihn am Ellbogen.

Obwohl es sich in seinem Kopf drehte, Dylan auch und alles um ihn herum, bemerkte Kolja eine Spur von Unsicherheit an der Art, wie Dylan sich von ihm weglehnte. Der Empfangstyp hatte Angst vor ihm. Kein Wunder. Er fand sich ja selbst unberechenbar! Diesen Stofffetzen als Taschentuch zu missbrauchen, obwohl er dieser Sam offenbar so wichtig war … Niemals hätte er gedacht, dass er sich so etwas trauen würde.

Aber Wodka regelte offenbar.

Kolja schüttelte Dylans Hand von seinem Arm und fummelte an der Kühlschranktür herum.

»Is’ okay, ich komm allein mit«, versprach er, leicht lallend eventuell. »Aber ein Bier noch, ja? Hab so ekligen Geschmack im Mund. Vom Brechen. Glaub mir. Nicht schön.«

Dylan entschied sich scheinbar, den Kampf um die Bierflasche nicht mit ihm ausfechten zu wollen, tauschte sie wortlos gegen ein Wasser, trat kopfschüttelnd einen Schritt zurück und deutete ihm die Richtung.

»Komm, bitte.«

»Is’ okay«, versicherte Kolja noch einmal und trottete hinter Dylan her über den langen Flur. Ein Schlamassel. Er hatte hier ein richtig schönes Schlamassel angerichtet. Apropos Schlamassel! Wie angewurzelt blieb er stehen.

»Soll ich nicht erst sauber machen?«, fragte Kolja gespielt bestürzt und schickte sich an, zurück ins Büro zu stolpern. »Beim Eimer, mein ich!«

»Nein, nein, nein«, ging Dylan dazwischen, lief einmal um ihn herum und schob Kolja weg von der Kotzzone. »Wir regeln das schon. Du musst jetzt erst mal raus hier. Sam, hast du die Security gerufen?«

Oh, Sam war auch hier? Ja, sie lief da neben Dylan. Hatte er gar nicht gesehen.

»Klar«, entgegnete Sam kurz angebunden, ihr Gesicht immer noch knallrot, während sie auf den Stofffetzen in Koljas Hand schielte. Der musste ihr wirklich am Herzen gelegen haben. Sorry, Sam.

»Kannstu ruhig wiederhaben«, bot Kolja an und streckte ihr den Lappen entgegen. Aber Sam wich nur zurück, als wäre er giftig, stieß ein wütendes Knurren aus und stampfte ein paar Schritte voraus.

»Hm. Will wohl nich’.«

Er zuckte die Schultern in Dylans Richtung, der vorsichtshalber auch einen Schritt an die Seite des Korridors sprang, falls Kolja auf die Idee kam, ihm ebenfalls sein Spucktuch anzubieten. Doch Kolja stopfte es nur in seine Hosentasche.

Ein richtig schönes Schlamassel!

Er stolperte über einen seiner Füße, der im Weg stand. Dummer Fuß.

»Alles okay?«, fragte Dylan.

»Jap. Aber ich glaub, ich hab jetzt ein bisschen Erbrochenes auf meiner Hose. Vom Tuch. Ups.«

Blitzschnell öffnete er seinen Hosenknopf und streifte die Jeans über die Boxershorts bis zu den Kniekehlen.

Dylans Hand klatschte gegen dessen Stirn. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal in diesem Job sage, aber: Zieh sofort die Hose wieder hoch, Kolja. Hier herrscht Hosenpflicht. Oder Rockpflicht. Mir egal, aber man muss untenrum was anhaben.«

»Das is’ aber diskriminierend!«, protestierte Kolja, die Jeans schlackerte bereits um seine Knöchel. »Ihr sagt, ihr seid super divers und alles, aber man darf nich’ anziehen, was man will.«

Da Dylan eine beeindruckend tiefe Stirnfalte machen konnte, was ihn wirklich streng aussehen ließ, wie Kolja fand, rupfte er die Hose trotzdem wieder über die Hüftknochen und pfriemelte den Knopf zu.

»Du hast Nerven, Mann«, murmelte Dylan, und Kolja glaubte, neben all dem Ekel auch einen winzigen Hauch Bewunderung in seinem Unterton herauszuhören.

»Eigentlich nich’«, entgegnete er wahrheitsgemäß. »Eigentlich hab ich nur ’nen scheiß Haufen Probleme.«

»Der soeben um ein Vielfaches gewachsen ist«, ergänzte Dylan, als eine Frau und ein Mann von der Security schnellen Schrittes um die Ecke des Flures bogen und Kolja links und rechts flankierten.

»Wir machen das, Dyl.«

»Alles klar. Nehmt ihr ihn mit in euer Büro?«

»Erst mal in den Erste-Hilfe-Raum. Dann sehen wir weiter.«

»Okay. Aber Jane?«

»Hm?«

»Seid nett zu ihm. Ich glaube, nüchtern ist das gar kein schlechter Kerl.«

»Ich bin schon ’n schlechter Kerl. Du ahnst ja nich’, wie schlecht«, widersprach Kolja nach wie vor lallend, und sein Kopf sank kurz an die Schulter des Sicherheitsmannes. »Aber gerade is’ mir vor allem schlecht.«

»Dann haben wir das ja schon mal geklärt«, antwortete Dylan und nickte in Janes Richtung. »Ich geb das so weiter. Bin gespannt, ob wir uns noch mal wiedersehen, Kolja. Alles Gute dir.«

Leyla

Leyla stützte sich mit den Handflächen auf dem Schreibtisch ab.

»Schick ihn zu mir.«

»Bitte was?«

»Ich meine es ernst, Alba. Ich würde ihn gern selbst sehen. Irgendwas stimmt da nicht. Ich muss dem auf den Grund gehen.«

Alba nickte und senkte den Blick auf ihr Handy, mit dem sie, wie Leyla nach all den Jahren der Zusammenarbeit wusste, bereits veranlasste, dass Barker junior aus dem Erste-Hilfe-Raum in ihr Büro gebracht wurde.

»Was meinst du genau?«, fragte ihre Assistentin tippend.

»Ich habe kürzlich bei einem Update mit dem Personalteam davon gehört. Ernst Barker hat sich direkt mit unserem Personalmanagement in Verbindung gesetzt und um einen Praktikumsplatz für seinen jüngsten Sohn gebeten. Na ja, oder, besser gesagt, er hat danach verlangt. Er scheint sich dabei seinen Namen ziemlich unverhohlen zunutze gemacht zu haben.«

»Sorry, aber würde ich auch, wäre ein Medienimperium nach mir benannt«, spottete Alba und ließ ihr Smartphone zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen.

»Dounia hat sich bequatschen lassen und die Stelle zugesagt, da ihr just an dem Morgen eine andere Kandidatin abgesprungen war. Damit hatte er den Praktikumsplatz in der Tasche ohne richtigen Bewerbungsprozess. Barker hat an dem Tag nur noch höchstpersönlich einen Lebenslauf seines Sohnes rübergeschickt. Offensichtlich ein Fake.«

Alba rang die Hände gen Bürodecke. »Woher weißt du denn das schon wieder, du Übermensch? Und vor allem: Wann hast du die Zeit gefunden, ihn dir anzuschauen? Um fünfundzwanzig Uhr?«

Leyla schüttelte den Kopf.

»Ich habe ihn mir nicht angesehen. Nur kurz reingeklickt, weil ich neugierig war, warum der Sohn eines so erfolgreichen Mannes nicht selbstbewusst genug ist, sich eigenständig bei uns zu bewerben. Sein Lebenslauf war das reinste Namedropping. Ausschließlich eindrucksvolle Namen. Aber nach heute weiß ich, dass das nicht sein Verdienst war, sondern der kreative Erguss seines Vaters. Jemand, der in diesen Unternehmen gearbeitet hat, legt nicht so einen Auftritt hin wie heute. Das ist unmöglich.«

Es klopfte zweimal.

In Windeseile war Alba an der schweren Tür, steckte den Kopf hinaus und wechselte ein paar dumpfe Worte mit ihrem Gegenüber. Sekunden, die Leyla nutzte, um ihre Mails zu checken – außer der Etat-Mail nichts Eiliges. Da zog ihre Assistentin schon wieder den Kopf in den Raum. Sie fixierte Leyla, riss die Augen auf und formte einen stummen Satz mit den Lippen, den sie auf die Schnelle nicht verstand. Als Nächstes bewegte sich Alba rückwärts aus dem Raum.

»Was?«, fragte Leyla lautlos zurück, aber Alba schüttelte nur den Kopf, die Augen immer noch weit aufgerissen, und schlüpfte durch den Spalt.

Gleich darauf wurde ein junger Mann in den Raum geschoben. Er starrte erst Alba hinterher und ließ, als die Tür hinter ihm mit einem Knall ins Schloss fiel, den Blick durch den Raum gleiten. Er zuckte mit den Schultern, vergrub die Hände in den Hosentaschen und tippte mit der Fußspitze dreimal auf den Boden. Dann erst wandte er sich Leyla zu und begrüßte sie mit einem schiefen Grinsen.

»Kuckuck!«

Kolja

»Kuckuck«, antwortete ihm die Frau, ohne die Miene zu verziehen, und lehnte sich an die Schreibtischkante. Nicht übel. Wäre ihm kaum so trocken über die Lippen gekommen, wenn ein betrunkener Hampelmann wie er in sein Büro gewackelt wäre. Mal davon abgesehen, dass ihm gerade gar nichts über die Lippen kam. Diese Frau da vorne, sie war garantiert auch Tāmaki Makaurau, von hundert Männern begehrt. Er schluckte.

»Das Glass Office also, ja?«, versuchte sich Kolja schließlich in Konversation, schob die schwitzigen Hände noch etwas tiefer in die Hosentaschen und sah sich nickend um. Man fühlte sich wirklich, als würde man in einer gläsernen Sahnehaube stehen – mit der Kirsche ihm gleich gegenüber. Aber nicht nur sie, auch der Blick aus den geschwungenen Fensterwänden rundherum war atemberaubend. Zur einen Seite sah man bis zum Vulkankrater von Mount Eden, auf der anderen das Meer. Wenn man den Kopf in den Nacken legte, konnte man das Gesicht in die Sonne halten. Nur dass sie nicht blendete. Und den Raum auch gar nicht zu erhitzen schien, obwohl sie quasi im Dach des Gebäudes standen. Irgendein Fluch musste auf dem Außenmaterial liegen. Hinter dem Schreibtisch führte eine Flügeltür auf eine abgetrennte Panoramaterrasse, die das Ziel war für all jene, die den Grünpfad von The Cone hinaufstiegen. Der Gipfel.

»Hätte nicht gedacht, dass ich das hier mal von innen sehe.« Er ließ das Minzbonbon, das Dylan ihm aufgezwungen hatte, zwischen den Zähnen klicken.

»Geht mir ähnlich«, antwortete die Frau, schlug ein Bein über das andere und hakte die Daumen in die Taschen ihres weißen Hosenanzugs. »Ganz ehrlich? Ich würde viel lieber irgendwo unten auf der Siebzehn bei den anderen sitzen. Hier oben ist es unfassbar einsam. Aber unser Marketing-Team hat mich dazu verdonnert. Sie fanden die Idee, mich im Rapunzel-Turm einzusperren, gut für unsere Marke. Mein Aufstieg, symbolisiert von diesem Büro, sagen sie. Ich habe daraufhin einen Kompromiss vorgeschlagen: Eine Woche arbeite ich hier. Die nächste tausche ich mit einer Kollegin oder einem Kollegen, der oder die schon immer mal hier oben sitzen wollte.«

»Nach welchem Prinzip kommen die anderen dran?«, entschlüpfte es Kolja, obwohl er gar keine so vernünftige Frage hatte stellen wollen. Besser für seinen Plan wäre es gewesen, sich nach ihrer BH-Größe zu erkundigen. Die, ganz nebenbei bemerkt, nicht allzu gering ausfallen dürfte.

»Nach dem Prinzip: Wer mich zuerst fragt, sitzt zuerst. Gilt für alle Mitarbeitenden. Auch für Praktikantinnen und Praktikanten übrigens.«

»Ich würde ja sofort nachhaken, ob du nicht mal Lust hättest, an deinem Tisch ein bisschen für mich beiseitezurücken«, frotzelte Kolja drauflos. »Aber ich weiß ja nicht mal, wie du heißt.«

Wow. Woher nahm er den Mut? Gegenüber einer Frau. Gegenüber dieser Frau, deren dunkle Mähne Rapunzel in nichts nachstand und bei deren Lippen er schon wieder an Kirschen denken musste. Sehr köstliche Kirschen.

Sie hob eine Braue. »Wirklich? Sonst kennen die Menschen meinen Namen und ich ihren noch nicht. Was für eine schöne Abwechslung heute, Kolja.«

Heiliger, sie wusste, wer er war. Natürlich wusste sie das. Augenblicklich wurde Kolja wieder schlecht. Kurze Frage am Rande, zur Mülleimersituation hier oben: mit Löchern oder ohne?

Vorsichtig blickte er sich um, da stieß sich die Boss-Lady so abrupt von der Tischkante ab, dass er zurücktaumelte. Nicht ganz sicher, ob es daran lag, dass er diese Erscheinung doppelt sah, oder an der Shampoo-Note, die ihre schwingende Mähne zu ihm herüberwehte. Sie durfte bitte nicht näher kommen.

Mit drei lässigen Schritten trat sie auf ihn zu und hielt direkt vor ihm, fast Auge in Auge. Interessant. Die meisten Frauen reichten ihm kaum bis zum Kinn, da sich irgendwo in seinen Stammbaum mal ein Riese eingeschlichen hatte. Aber sie schaffte es mit dem Scheitel bis an seine Nasenspitze. Hohe Schuhe bestimmt. Kolja schielte auf ihre Füße, wo er zu seiner Überraschung lackschwarze Sneakers entdeckte. Keine Absätze.

Als er ihr wieder ins Gesicht schaute, fing er ihren tadelnden Blick auf.

»Ich habe Sie nicht abgecheckt«, versicherte Kolja und verspannte sich. Um Himmels willen, was tat er denn hier? Und warum siezte er sie auf einmal? »Nur mal nach den Schuhen geguckt.«

Er musterte die Linien und Schwünge ihrer Gesichtszüge. Sie schien kaum geschminkt zu sein. Was auch gar keinen Unterschied gemacht hätte, da ihr intensiver Röntgenblick eh von allem anderen ablenkte. Okay, jetzt checkte er sie doch ab. »Schön. Sehr, sehr schön. Also, die Schuhe.«

Ihre Mundwinkel zuckten, und sie streckte die Hand aus.

»Leyla. Höchst interessant, deine Bekanntschaft zu machen.«

Jup. Sie war es. Er hatte es geschafft. Er war am Ziel.

»Kolja«, antwortete er überflüssigerweise und bemühte sich, den Mund möglichst geschlossen zu halten, ohne zu nuscheln. Aber warum eigentlich? Den schlechtesten Eindruck machte man lallend und mit ein bisschen Kotzi-Atem, nicht wahr? Und das wollte er doch. Einen schlechten Eindruck machen. Schlecht, schlechter, am schlechtesten.

Er ergriff die ihm dargebotene Hand, und Leyla drückte sie so fest, dass er seine am liebsten gleich wieder zurückgezogen hätte. Ihrer entspannten Miene nach zu urteilen, zerquetschte sie ihm die Knochen aber nicht mit Absicht. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Ganz schön stark, die Frau. Und ganz schön verrückt, dass man einen Händedruck im Bauch kribbeln spüren konnte.

»Muss ich mir die Hände jetzt eigentlich waschen, oder hast du das Erbrochene vorher mit dem Stoffmuster abgeputzt?«, versuchte sie offensichtlich, ihn aus der Reserve zu locken, aber Kolja zuckte nur mit den Schultern. Zu viel Wodka im Blut, als dass er dafür im Boden versinken würde.

»Keine Sorge. Hab sie mir gewaschen, im Erste-Hilfe-Raum. Ist allerdings schon zwei Stunden her, seit deine Gorillas mich dahin verschleppt haben. Wer weiß, was ich seitdem wieder alles Ekliges angefasst habe.«

Provozieren konnte er auch. Und zwar in vielerlei Hinsicht. Falsche Gedanken. Ganz, ganz falsche.

Ohne auf ihn einzugehen, wirbelte die Frau herum, was in Kolja einen weiteren Schwindelanfall auslöste. Sie ließ sich auf ein olivgrünes Ledersofa fallen, Kunstleder wahrscheinlich, machte es sich bequem und bedeutete ihm mit einer eleganten Geste, ebenfalls Platz zu nehmen. Er rührte sich nicht von der Stelle.

Sie nickte, setzte sich breitbeiniger hin und stützte die Unterarme auf die Oberschenkel. »Grace, Milchglas, bitte.« Kolja drehte sich zu dem leisen Surren hinter ihm um und beobachtete gerade noch, wie die Scheiben zu Albas Vorzimmer undurchsichtig wurden.

»Okay. Also gut, Kolja. Die Neugier bringt mich fast um. Bitte erzähl mir deine Geschichte. Was steckt hinter dieser spektakulären Show?«

Leyla

Auf diese Frage, bemerkte Leyla, war er nicht vorbereitet gewesen. Oder wusste so schnell zumindest keine Antwort, denn Kolja stand vor dem Sofa wie zu Stein erstarrt, die Muskeln unter seinem T-Shirt deutlich angespannt. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, und schloss ihn wieder.

An dieser Stelle verspürten die meisten Menschen den Drang, die Stille zu füllen und noch einmal nachzuhaken. Aber Leyla wartete einfach ab. Nutzte die Zeit, um den Praktikanten zu mustern. Er war auffallend groß. Athletisch und schlank. Nicht die Art von schlank, die man durch eine gezielte Ernährung herbeiführen konnte, sondern die aktive Art. Wie Leute sie an sich hatten, die viel unterwegs waren. Die nie still sitzen konnten. Die braunen Locken trug er kurz, den Mund inzwischen fest zusammengepresst. Um seine Augenwinkel zeichneten sich leichte Falten. Leyla war sicher, wenn er lachte, dann ging die Sonne auf. Aber sie war sich ebenso sicher, dass man das sehr selten zu sehen bekam. Die Augenringe zeugten davon und der Bartschatten, nicht sehr ausgeprägt. Ergab Sinn – Kolja war noch jung. Seine Hände wirkten kräftig, sehnig. Offenbar jemand, der körperlich arbeitete. Die Jeans saß ihm ungewöhnlich tief auf den Hüftknochen. Offenbar jemand, der seine Hose sehr oft schnell ausziehen musste. Um Himmels willen, was dachte sie denn da?!

Leyla kämpfte gegen die Hitze, die ihr in die Wangen stieg, indem sie lang ausatmete. Wie unangenehm. Und vollkommen unangemessen. Jetzt überkam sie eine grobe Ahnung, was Alba ihr vorhin stumm zu verstehen gegeben hatte. Irgendetwas Versautes, für das sie Alba eigentlich abmahnen musste.

Gott, der Typ ist unfassbar heiß!

Dabei war er für Leyla mindestens zehn Jahre zu jung. Was komplett irrelevant war. Ein komplett irrelevanter Gedanke.

»Ehrlich gesagt, bist du selbst schuld«, riss Kolja sie aus ihren Überlegungen. Leyla zuckte zusammen.

»Woran genau?«

»An dem Schlamassel. Ich hatte vor, mir hin und wieder einen Schluck aus meinem Fläschchen zu gönnen. Sagen wir, um den Kram hier erträglich zu machen. Aber eure Sicherheitsschleusen haben mich gezwungen, die bis oben hin gefüllte Wasserflasche, in der vielleicht gar kein Wasser war, auf einmal zu exen.«

»Dafür möchte ich mich im Namen meines Teams entschuldigen«, antwortete Leyla trocken.

Er runzelte die Stirn und schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie schien ihn aus der Fassung zu bringen. Na, endlich.

»Warum hast du dir deinen ersten Tag hier erträglich saufen wollen?«, schoss Leyla hinterher.

Kolja schwieg und starrte ihr direkt ins Gesicht. Ein Muskel an seinem Hals zuckte. Sekunden vergingen, in denen niemand sprach. So viele, dass eine leise Unruhe in Leyla wuchs. Normalerweise hielt sie das Spiel am längsten durch. Doch heute hörte sie sich nachhaken: »Du hast dich nicht selbst bei uns beworben. Das war dein Vater. Warum?«

»Liegt das nicht auf der Hand?«, raunte Kolja.

Seine Stimme klang kratzig vom Alkohol und bedrohlich leise, sodass Leyla ein Schauder über den Rücken lief. Hätte sie nicht so ein untrügliches Gefühl, dass dieser Typ ihr niemals auch nur ein Haar krümmen würde, wäre sie jetzt langsam zum Schreibtisch geschlendert und hätte nach dem Sicherheitsknopf unter der Arbeitsplatte getastet.

»Ich finde, das liegt überhaupt nicht auf der Hand«, flüsterte sie zurück.

Kolja lächelte bitter, wobei sich seine Nasenflügel aufblähten, und er reckte das Kinn, fast so, als wäre er gleichzeitig beschämt und stolz auf die Erklärung, die er als Nächstes abgeben würde. »Ich bin ein Versager.«

»Ein Versager also.«

»Jep, ohne Zweifel.«

»Ich habe das Gefühl, hinter deinen glasigen Augen verbirgt sich alles andere als ein Versager, Kolja. Vielleicht sogar ein echter Storyhacker. Müsste ich nüchtern sehen.«

Er wandte sich ab. »Wird nicht geschehen.«

»Weil du nie nüchtern bist oder weil du davon ausgehst, nie wieder herzukommen?«

»Eher Letzteres. Und weil ich damit rechne, dass deine beiden Security-Gorillas sich lieber den Bizeps vom Arm schälen würden, als mich noch mal zu dir zu lassen. Hättest mal ihre Gesichter sehen sollen, als die Einladung in dein Glass Office einging.«

»Ist das so?«

»Die eine, Jane, glaube ich, hat mir gedroht, dass sie mir den vollgespeiten Mülleimer als Helm aufsetzt, wenn auch nur ein einziger Kotzfleck auf deiner Kleidung landet.«

Leyla verbarg einen Lacher hinter einem Räuspern. »Ich muss mich dringend noch mal mit ihr unterhalten, dass wir hier nicht in einem Lara-Croft-Blockbuster arbeiten.«

»Und der andere hat eine Schnapsflasche hinter dem Sofa hervorgeholt und mir mitgeteilt, dass er mich zwingen würde, die auch komplett auszutrinken, sollte er erfahren, dass ich unhöflich zu dir war.«

Leyla seufzte. »Und mit Ray muss ich über seinen Hang zu After-Work-Partys sprechen.«

»Sie mögen dich.«

Leyla zuckte mit den Schultern. »Das ist ihnen überlassen.«

»Sie mögen dich. Ich habe nachgefragt. Du tust Dinge für sie. Für ihre Familien.«

»Das ist mein einziger Job hier.«

»Dein Job ist es, dein Unternehmen zu führen. Nicht, Security-Mitarbeitern Privatkredite für die Operation ihres Hundes zu gewähren. Selbst dann nicht, wenn sie wirklich niedlich sind. Hab das Bild an der Wand von Rays Büro gesehen.«

»Ich mag Sparky.« Leyla lächelte.

»Ich jetzt auch, nach allem, was Ray von ihm erzählt hat. Frage mich trotzdem, warum du den Kredit nie zurückverlangt hast.«

Moment, in welche Richtung verlief dieses Gespräch? Irgendwie verlor sie die Kontrolle.

»Warum hast du den Kredit nie zurückverlangt?«

Leyla löste die Unterarme von den Oberschenkeln und schlug die Beine übereinander.

»Wir haben einen speziellen Fonds für solche Dinge. Tierschutz. Naturschutz. Private Projekte des Teams. Ich habe es für ebenso wertvoll gehalten, einem Hund zu helfen, dessen Familie sich seine OP nicht leisten kann, wie Wiederansiedlungsprojekte in Patagonien zu unterstützen.«

»Sinnvolle Projekte.« Kolja nickte langsam. »Und was ist so sinnvoll daran, deine Zeit mit dem kotzenden Praktikanten zu verschwenden? Was lassen sich Kunden eine Stunde mit dir kosten, tausend Dollar? Mehr? Mit dem besoffenen Barker-Jungen zu schäkern, kostet dich gerade also mindestens mehrere Hunderter.«

Leyla zog die Brauen in die Höhe.

»Ich wusste nicht, dass wir schäkern«, antwortete sie, doch ihr Magen strafte sie Lügen. Das hier war kein professionelles Mitarbeitendengespräch. Auch kein Flirt an der Hotelbar. Aber irgendwas dazwischen. Was war das hier überhaupt?

»Natürlich tun wir das, Leyla«, erklärte Kolja und schwankte, sodass er einen Ausfallschritt machen und Leyla erneut ein Grinsen unterdrücken musste. Er stützte sich an der Sofalehne ab, ohne hinzusehen. »Vernünftig wäre, mich rauszuwerfen. Aber ich stehe immer noch hier.«

»Mehr oder weniger aufrecht.«

»Stimmt. Mehr oder weniger aufrecht. Wie ein Schluck Wodka in der Kurve. Aber du wirfst mich nicht raus. Warum?«

Leyla ließ sich langsam nach hinten in die Polster sinken, legte einen Finger ans Kinn und fuhr mit dem Blick an ihm entlang. Kolja hatte recht. Es ergab überhaupt keinen Sinn, dass sie ihn länger ausfragte. Er würde ihr heute nicht mehr die wahre Geschichte beichten, warum er sturzbetrunken hier aufgekreuzt war. Das stand schon seit Minuten fest. Trotzdem behielt sie ihn bei sich. Versuchte, hinter seine verschlossenen Türen zu blicken.

Wieso?

Vor ein paar Jahren war Leyla auf einer Reise quer durch Spanien mal einem Guru begegnet. Wie einem schlechten Film entsprungen, lebte er in einem Van am Wegesrand, mit Blumenaufklebern an den Scheiben. Ob sie an Wiedergeburt glaube, hatte der Guru sie gefragt. Und als Leyla bejahte, hatte der Typ, auf einem Sitzkissen an seinen Hippie-Van im Schatten gelehnt, ein Silberpendel über die Handfläche geschwungen und bedauernd mit dem Kopf geschüttelt.

»Das hier ist dein letztes Leben«, hatte er behauptet und mit gespannt leuchtenden Augen auf ihre Reaktion gewartet. »Klingt erst mal erschreckend, nicht wahr? Deine Seele ist bei Ebene vierzehn von vierzehn angelangt. Es bedeutet, dass sie in diesem Leben erleuchtet wird. Und das ist doch etwas Wunderbares. Oder nicht?«

An diesem Tag hatte der Guru ihr einen Gedanken ins Gedächtnis gepflanzt, der von da an unaufhörlich in ihr gewachsen war. Sie hatte ihn sich sogar auf ihrem Körper verewigen lassen, so sehr ging er ihr unter die Haut. Manchmal schielte sie auf das winzige Tattoo über ihren Pulsadern: 14/14. Und dann erinnerte sie sich: Das hier ist mein letztes Leben.

»Ich glaube«, brach Leyla die Stille und sah Kolja tief in die Augen, »ich habe dich noch nicht gebeten zu gehen, weil du etwas an dir hast, das mich fasziniert. Etwas, weswegen du eine Chance verdienst.«

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und auch in seinem Gesicht glomm kurz ein Gefühl auf, das sie nicht benennen konnte und das ebenso schnell wieder erkaltete.

»Was?«

»Die Fähigkeit, aus der Spur zu brechen.«

Kolja antwortete nicht. Sie glaubte, nur zu sehen, wie er etwas blass um die Nase wurde.

»Wegen deiner Fähigkeit, genau zu wissen, was auf dem Spiel steht. Und trotzdem drauf zu scheißen. Die Dinge einfach zu tun, als gäbe es kein Morgen.«

Vielleicht, überlegte Leyla, während ein Stoß Adrenalin durch ihre Adern fuhr, hätte sie in ihrem Leben selbst etwas mehr aus der Spur brechen sollen. Wie Kolja. Etwas mehr darauf scheißen. Vielleicht hätte sie dann kein Milliardenimperium gegründet. Vielleicht würde dann nicht das Gewicht von The Cone allein auf ihren Schultern lasten. Vielleicht wäre dann alles nicht passiert. All das, was ihr nachts den Schlaf raubte. Und vielleicht könnte sie sich dann noch selbst ertragen.

Nur noch achtzehn Tage.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Kolja. Zwischen ihm und ihr lagen Welten. Ihr Leben war durch und durch vernünftig. Eine Vierzehn von vierzehn. So verdammt kritisch und ernst. Kolja hingegen … musste schon wieder kotzen.

Kolja

Koljas Antwort auf die Mülleimerfrage lautete wie folgt: Leyla Ahmadi hatte keinen. Zumindest keinen, den er auf die Schnelle entdecken konnte, als der saure Shake aus Wodka, Bier und Magensaft seine Speiseröhre hochstieg. Im Gegenzug für den mangelnden Kotzbehälter grenzte ein Badezimmer direkt ans Glass Office.

Kolja stürzte durch die Tür und rutschte wie ein Fußballer auf den Knien über die Holzoptikfliesen bis zur Kloschüssel. Starrte in das klinisch sauber glänzende Porzellanloch. Würgte. Doch da kam nichts. Sosehr er diese Übelkeit auch loswerden wollte und sein Magen sich zusammenkrampfte, was ihn würdelos zucken ließ – der erlösende Kotzschwall blieb aus.

Verdammt. Mit dem Handrücken wischte sich Kolja die tränenden Augen trocken. Er hätte direkt, als ihm übel war, auf den cremefarbenen Teppich in Leyla Ahmadis Büro brechen sollen. In die Mitte des Raumes am besten. Das wäre das perfekte Schlamassel gewesen. Das große Finale seines Katastrophenauftritts in der Storyhacker Agency. Seine Übelkeit zu unterdrücken, um die Toilette für seine Kotzattacke zu benutzen, war viel zu … konservativ. Viel zu richtig. In den Sekunden zwischen Würgereflex und drohender Fontäne hatte er nicht vernünftig nachgedacht.

Wieder mal.

Scheiße, nicht mal das bekam er hin.

Abrupt drückte sich Kolja vom Klobrillenrand hoch. Das indirekt beleuchtete Badezimmer um ihn herum schwankte, und er stützte sich an den Wandpaneelen ab.

Er war mit einem einzigen Plan hergekommen: es zu verkacken. Doch Kolja Barker war sogar zu dumm, um die Dinge zu vermasseln.

Ruckartig drehte er sich rum. Im Türrahmen ein paar Schritte entfernt lehnte Leyla und beobachtete ihn, die Arme vor der Brust verschränkt, die Mimik entspannt, ohne einen Hauch von Ärger oder Ekel. Sie registrierte jedes Muskelzucken in seiner Miene, als würde sie in seinem Gesicht lesen – so, wie er selbst oft in den Gesichtern der Menschen las. Ihres erzählte von Mitgefühl. Von Geduld. Von … Verständnis. Wie machte sie das? Warum zur Hölle brachte sie Verständnis für ihn auf? Er wollte doch nichts als ihre Ablehnung. Nur diese eine Sache. Und nicht mal das bekam er hin?

Kolja ballte die Fäuste, um die aufsteigende Wut aus sich herauszupressen. Wut auf sich selbst. Wut auf seinen Plan. Wut auf Leyla Ahmadi, die überhaupt nicht so reagierte, wie er erwartet hatte. Wut auf Rezeptions-Blake, der ihn dazu gebracht hatte, die Wasserflasche mit dem Wodka zu exen, anstatt sich hin und wieder einen Schluck zu gönnen, wodurch er unachtsam geworden war und selbst im Versagen versagte. Wut auf Empfangs-Dylan, der behauptet hatte, er wäre nüchtern gar kein schlechter Kerl. Obwohl er doch einfach nur wollte, dass die Menschen endlich sahen, dass er es war: ein schlechter Kerl. Ein abgefuckter Typ. Wenn es nicht abgefuckt war, besoffen in einen löchrigen Mülleimer im Büro des beliebtesten Arbeitgebers des Landes zu kotzen und sich mit einem wichtigen Requisit die Visage sauber zu wischen; wenn es nicht abgefuckt war, auf dem Flur blankzuziehen, vor den Augen der gesamten Belegschaft; wenn es nicht abgefuckt war, die Geschäftsführerin zu duzen und um ein Haar in ihr Privatklo zu kotzen – was war es bitte dann? Was musste er denn noch tun?!

»Du siehst einfach ätzend aus!«, spie Kolja aus einem Impuls heraus in Leylas Richtung. Spucketröpfchen sprühten ihr entgegen. Ein banaler Versuch, sie aus der Fassung zu bringen, zugegeben. Aber schöne Frauen wie sie traf so was für gewöhnlich. Oder?

Ihr Ausdruck blieb unverändert, zumindest schien das ihr Bestreben zu sein, vermutete er. Kolja sah das winzige Zucken ihrer rechten Augenbraue trotzdem. Ja! Er hatte sie erwischt.