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Seine Küsse waren wie Farbexplosionen in der Dunkelheit, seine Liebe wie Musik in einer stummen Welt
Cromwell Dean ist der erfolgreichste Musiker Europas. Mit gerade einmal neunzehn Jahren liegt ihm die Welt zu Füßen - doch seine Musik bedeutet ihm insgeheim nichts. Um sein Talent nicht weiter zu verschwenden, beginnt er ein Musikstudium in den USA, wo er Bonnie Farraday kennenlernt. Ehrgeizig und von Musik begeistert könnten das Mädchen aus einfachen Verhältnissen und Superstar Cromwell unterschiedlicher nicht sein. Doch als sie für ein Kompositionsprojekt zusammengesetzt werden, regen sich nicht nur Gefühle in Cromwell, die er noch nie gespürt hat, sondern auch eine alte Sehnsucht, die mit aller Macht vergessen bleiben muss. Auch wenn es ihn seine Liebe zu Bonnie kosten könnte ...
"Tillie Cole hat das Talent mein Herz in Milliarden von Stücke zu zerreißen. Unglaublich berührend, wunderbar geschrieben und entsetzlich schmerzvoll!" NATASHA IS A BOOK JUNKIE
Von den Lesern heiß ersehnt: der erste New-Adult-Roman von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Tillie Cole
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Seitenzahl: 604
Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhalt
Titel
Zu diesem Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Epilog
Die Autorin
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Impressum
TILLIE COLE
A Wish For Us
Roman
Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner
Cromwell Dean ist der erfolgreichste Musiker Europas. Mit gerade einmal neunzehn Jahren gilt er als der heißeste Newcomer aller Zeiten. Clubs auf der ganzen Welt reißen sich um ihn, und die gesamte Musikindustrie liegt ihm zu Füßen – doch seine Musik bedeutet ihm insgeheim nichts. Schon viel zu lange lässt sie ihn nichts mehr fühlen. Um sein Talent nicht weiter zu verschwenden, beginnt er ein Musikstudium an der Jefferson Young University und betritt eine ihm bisher völlig fremde Welt: College, Gemeinschaft, sich Verlieben – nichts davon hatte er je erlebt. Bis er Bonnie Farraday kennenlernt. Die junge Studentin und er könnten unterschiedlicher nicht sein. Denn zielstrebig, leidenschaftlich und fasziniert von Musik ist das Mädchen aus einfachen Verhältnissen so ganz anders als Superstar Cromwell. Er weiß vom ersten Augenblick an, dass er sich von Bonnie fernhalten muss. Doch als sie für ein Kompositionsprojekt zusammengesetzt werden, spürt er mit jedem Tag mehr, dass er nicht nur gegen die Gefühle machtlos ist, die Bonnie in ihm auslöst, sondern auch gegen die längst vergessene Sehnsucht, die er seit Jahren in seinem Herzen verschlossen hält …
Brighton, England
Der Club pulsierte, als der Rhythmus, mit dem ich die tanzende Menge bombardierte, allen in die Glieder fuhr. Die Arme in die Höhe, wiegende Hüften, weit aufgerissene und glasige Augen, während meine Musik in ihren Ohren hämmerte und die rhythmischen Takte jede ihrer Bewegungen kontrollierten. Die Luft war stickig und feucht, und den Leuten klebten die Kleider am Leib, als sie sich in den vollen Club drängten, um mich zu hören.
Ich sah sie in hellen Farben aufleuchten. Sah ihnen dabei zu, wie sie sich in den Klängen verloren. Und ich sah zu, wie sie abstreiften, was sie den Tag über gewesen waren – Büroangestellter, Student, Polizist, Call-Center-Mitarbeiter – was auch immer. Jetzt und hier, in diesem Club, wahrscheinlich sturzbetrunken, waren sie Sklaven meiner Musik. Genau hier und jetzt war meine Musik ihr Leben. Sie war alles, was zählte, während sie die Köpfe in den Nacken legten und dem Rausch nachjagten, dem Nirwana, das ich ihnen zum Greifen nahe von meinem Platz auf dem Podium aus bescherte.
Ich hingegen empfand nichts. Nichts als die Taubheit, die mir der Alk neben mir bescherte.
Zwei Arme legten sich um meine Taille. Heißer Atem wehte an mein Ohr, und volle Lippen küssten mich auf den Hals. Ich machte meinen letzten Spin, griff den Jack Daniels neben mir und nahm einen Schluck direkt aus der Pulle. Dann stellte ich die Flasche wieder hin und ging zurück an meinen Laptop, um den nächsten Song einzublenden. Hände mit spitzen Fingernägeln zogen durch meine Haare und zupften an den schwarzen Strähnen. Ich tippte auf der Tastatur und verlangsamte den Takt der Musik.
Meine Atemzüge wurden länger, während die Menge mit angehaltenem Atem wartete, sich nach meinem Willen hin und her wiegte, bereit für das Crescendo: Das unglaubliche Anschwellen von Rhythmus und Schlagzeug, der Irrsinn der Mischung, die ich ihnen verpassen würde. Ich blickte von meinem Laptop auf, warf einen prüfenden Blick in die Menge und grinste, als ich sie dort am Abgrund stehen und warten sah … warten … einfach nur warten …
Jetzt.
Ich ließ die Hand ruckartig sinken und hielt mir den Kopfhörer ans linke Ohr. Ein Anschwellen, eine Donnerwolke aus elektronischer Tanzmusik, ergoss sich in die Menge. Salven aus Neonfarben feuerten in die Luft. Grüne, blaue und rote Farbtöne vor meinen Augen, die jeden einzelnen Menschen hier einhüllten wie ein Neonschild.
Die Hände um meine Taille griffen fester zu, aber ich ignorierte sie und erhörte stattdessen die Flasche Jack, die nach mir rief. Ich trank noch einen Schluck, und meine Muskeln entspannten sich allmählich. Meine Hände tanzten über die Tasten des Laptops, über meine Mischpulte.
Ich hob den Blick – die Menge fraß mir immer noch aus der Hand.
Das taten sie immer.
Da fiel mir ein Mädchen in der Mitte des Raums ins Auge. Langes braunes Haar, nach hinten gekämmt. Purpurfarbenes, hochgeschlossenes Kleid – so wie sie war keine andere hier angezogen. Die Farbe, die sie umgab, war auch anders als bei den anderen Besuchern – Zartrosa und Lavendel. Ruhiger. Heiterer. Ich runzelte die Stirn und beobachtete sie. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie bewegte sich nicht. Sie stand einfach nur da und schien ganz allein zu sein zwischen all den Leuten, die sich um sie herumdrängten. Sie hielt den Kopf hocherhoben und hatte einen Ausdruck von Konzentration im Gesicht.
Ich erhöhte das Tempo, trieb den Takt und die Menge so weit es ging. Aber das Mädchen rührte sich nicht. Das kannte ich so nicht. Normalerweise wickelte ich die Leute in den Clubs immer um den Finger. Ich hatte sie unter Kontrolle, egal wo ich auflegte. Hier in dieser Arena war ich der Puppenspieler, und sie waren die Marionetten.
Ein weiterer Schluck Jack brannte mir die Kehle hinunter. Und sie blieb die nächsten fünf Songs dastehen, auf der Stelle, und sog die Musik in sich ein wie Wasser. Aber ihr Gesicht blieb unverändert. Kein Lächeln. Keine Euphorie. Nur … geschlossene Augen und dieser verdammte erschöpfte Ausdruck im Gesicht.
Und immer noch Rosa und Lavendel um sie herum, wie ein Schutzschild.
»Cromwell«, rief mir die Blonde ins Ohr, die an mir klebte wie eine Klette. Ihre Finger schoben mein Shirt nach oben und hakten sich in den Bund meiner Jeans. Ihre langen Fingernägel tauchten tief ein. Aber ich wollte den Blick nicht von dem Mädchen in dem purpurroten Kleid abwenden.
Ihr braunes Haar begann sich zu kringeln, als der Schweiß durch das Gedränge auf der Tanzfläche seine Wirkung zeigte. Die Blonde, die drauf und dran war, mir vor allen Leuten im Club einen runterzuholen, machte mir die Hose auf. Ich tippte meinen nächsten Mix ein, packte dann ihre Hand, zog sie von mir weg und machte die Hose wieder zu. Als ihre Hände wieder in mein Haar wanderten, stöhnte ich auf und schaute zu meinem Kumpel hinüber, der vor mir aufgelegt hatte. »Nick!« Ich deutete auf meine Decks. »Behalt das im Auge. Und bring nichts durcheinander.«
Nick runzelte verständnislos die Stirn, doch dann sah er das Mädchen hinter mir und grinste. Er übernahm den Kopfhörer von mir und kümmerte sich darum, dass die Playlist, die ich zusammengestellt hatte, wie geplant ablief. Steve, der Besitzer des Clubs, ließ immer ein paar Mädchen hinter die Bühne. Ich bat ihn nie darum, aber ich wies auch keine ab. Wieso sollte ich eine heiße Schnitte abblitzen lassen, die für alles zu haben war?
Ich nahm den Jack vom Podium mit, und die Blonde presste ihre Lippen auf meine und zog mich an meinem ärmellosen Creamfields-Shirt nach hinten. Ich löste meine Lippen von ihren und setzte stattdessen die Whiskeyflasche an. Blondie zog mich in eine dunkle Ecke hinter der Bühne. Dort ging sie auf die Knie und machte sich wieder an meiner Hose zu schaffen. Ich schloss die Augen und ließ sie gewähren.
Ich trank weiter, ließ den Kopf an die Wand hinter mir sinken und versuchte krampfhaft, etwas zu empfinden. Dann schaute ich nach unten und sah zu, wie Blondies Kopf auf und nieder wippte. Aber die Taubheit, mit der ich mich jeden verdammten Tag herumschlug, blockierte praktisch jedes Gefühl in mir. In meinem Unterleib baute sich Druck auf. Meine Oberschenkel spannten sich an, und dann war es auch schon vorbei.
Blondie stand auf. Ihre Augen leuchteten wie Sterne, als sie mich anschaute. »Deine Augen.« Sie streckte einen Finger aus und zeichnete damit ein Auge nach. »Was für eine eigenartige Farbe. So dunkelblau.«
Ganz richtig. Meine Augen, in Verbindung mit meinem dunklen Haar, erregten immer Aufmerksamkeit. Das und natürlich die Tatsache, dass ich einer der heißesten Newcomer unter den DJs in Europa war. Okay, vielleicht hatte es weniger mit meinen Augen als mit meinem Namen zu tun: Cromwell Dean. Der Headliner der ganz großen Festivals und Clubs in diesem Sommer.
Ich machte die Hose wieder zu und drehte mich um, um zu sehen, wie Nick meinen nächsten Mix auflegte. Ich krümmte mich innerlich, als er den Übergang versaute und die Tanzfläche in Marineblau tauchte.
Ich kam nie auf Marineblau runter.
Mit einem »Danke dir, Schätzchen« drängte ich mich an Blondie vorbei und ignorierte ihr gefauchtes »Arschloch«. Ich nahm meinen Kopfhörer von Nicks Kopf und setzte ihn mir selbst auf. Ein paar Tastenschläge später hatte ich die Menge wieder voll in der Hand.
Unbewusst fand mein Blick den Weg an die Stelle, wo das Mädchen im purpurfarbenen Kleid gestanden hatte.
Aber sie war verschwunden. Und mit ihr Rosa und Lavendel.
Ich kippte noch einen Schluck Whiskey runter. Mixte den nächsten Song. Und dann schaltete ich nur noch alle Gedanken ab.
Der Sand fühlte sich kalt an unter meinen Füßen. Gut möglich, dass es Sommeranfang war hier in England, aber das hieß nicht, dass einem der Wind nicht den Hintern abfror, sobald man einen Schritt nach draußen machte. Mit meiner Flasche Alk und den Zigaretten in der Hand ließ ich mich in den Sand fallen. Ich zündete mir eine an und sah hinauf in den dunklen Himmel. Das Handy in meiner Tasche summte … schon wieder. Das Ding schepperte schon die ganze Nacht.
Genervt, weil ich dafür einen Arm bewegen musste, holte ich das Handy heraus. Drei verpasste Anrufe von Professor Lewis. Zwei von meiner Mum und schließlich ein paar Textnachrichten.
Mum: Professor Lewis hat wieder versucht, dich zu erreichen. Was wirst du tun? Bitte, ruf mich einfach an. Ich weiß, dass du wütend auf mich bist, aber hier geht es um deine Zukunft. Du hast eine Gabe, mein Junge. Vielleicht ist es Zeit für einen Neuanfang dieses Jahr. Wirf das nicht weg, nur weil du wütend auf mich bist.
Rot glühende Wut packte mich. Ich wollte mein Handy ins verdammte Meer werfen und zusehen, wie es auf den Grund sank, zusammen mit dem ganzen kranken Mist in meinem Kopf – aber ich sah, dass Professor Lewis mir auch getextet hatte.
Lewis: Das Angebot steht noch, aber bis nächste Woche brauche ich eine Antwort. Es ist alles für den Wechsel vorbereitet, es fehlt nur noch Ihre Antwort. Sie haben ein einzigartiges Talent, Cromwell. Vergeuden Sie es nicht. Ich kann Sie unterstützen.
Diesmal ließ ich das Handy neben mich fallen und legte mich in den Sand. Ich füllte meine Lungen mit Nikotin und schloss die Augen. Als meine Augenlider sich schlossen, hörte ich irgendwo in der Nähe leise Musik spielen. Klassik. Mozart.
Unvermittelt driftete mein benebeltes Gehirn zurück in die Zeit, als ich noch ein Kind war …
»Was hörst du, Cromwell?«, fragte mein Vater.
Ich schloss die Augen und lauschte dem Stück. Farben tanzten vor meinen Augen. »Klavier. Violinen. Celli …« Ich holte tief Luft. »Ich kann Rot, Grün und Rosa hören.«
IchöffnetedieAugenwiederundblicktezumeinemVaterauf,deraufmeinemBettsaß.ErstarrtemichanundhatteeinenkomischenAusdruckimGesicht.»DuhörstFarben?«,fragteer.Abererklangnichtüberrascht.MeinGesichtwurdeflammendheiß,undichzogdenKopfunterdieBettdecke.MeinVaterzogdieDeckevonmeinenAugenwegundstreicheltemirübersHaar.»Dasistgut«,sagteermitauffallendtieferStimme.»Dasistsehrgut …«
Ruckartig gingen meine Augen wieder auf. Mir tat die Hand weh. Ich schaute auf die Flasche in meiner Hand: Meine Finger hielten sie so fest umklammert, dass sie schon weiß waren. Ich setzte mich auf, und alles drehte sich, weil ich so viel Whiskey intus hatte. Meine Schläfen pochten. Mir wurde klar, dass das nicht vom Jack kam, sondern von der Musik, die da irgendwo am Strand spielte. Ich schob mir das Haar aus dem Gesicht und schaute dann nach rechts.
Nicht weit entfernt von mir saß jemand. Ich schaute blinzelnd in die heller werdende Nacht. Im frühen Sonnenaufgang des Sommers konnte ich die Umrisse einer Person ausmachen, die dort saß, wer auch immer das sein mochte. Es war ein Mädchen. Eingewickelt in eine Decke. Neben ihr lag ihr Handy, und aus dem Lautsprecher kam leise ein Klavierkonzert von Mozart.
Sie musste bemerkt haben, dass ich sie ansah, denn sie bewegte den Kopf in meine Richtung. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, woher ich ihr Gesicht kannte, doch da …
»Du bist der DJ«, sagte sie.
Da dämmerte es mir: Das Mädchen im purpurroten Kleid.
Sie zog die Decke enger um sich, während ich über ihren Akzent nachgrübelte. Amerikanisch. Ich tippte auf Bible Belt, dem starken Näseln nach zu urteilen.
Sie hörte sich an wie meine Mum.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als ich nicht darauf reagierte. Ich war nicht der redselige Typ. Vor allem nicht, wenn ich voll mit Whiskey war und null Interesse an Smalltalk mit irgendeinem Mädchen hatte, das ich kaum kannte, und das alles um vier Uhr in der Frühe an einem kalten Strand in Brighton.
»Ich habe von dir gehört«, sagte sie und sah wieder übers Meer. In der Ferne fuhren Schiffe vorbei, und ihre Lichter wippten auf und ab wie kleine Glühwürmchen. Ich gab ein freudloses Lachen von mir. Na wunderbar. Noch eine Tusse, die den DJ flachlegen wollte.
»Schön für dich«, brummte ich, nahm noch einen Schluck aus der Pulle und spürte, wie das süchtig machende Brennen meine Kehle hinabglitt. Ich hoffte, dass sie sich verdünnisierte oder zumindest ihre Konversationsversuche einstellte. Mein Kopf hielt nicht noch mehr Geräusche aus.
»Nicht wirklich«, konterte sie. Ich schaute zu ihr rüber und runzelte verständnislos die Stirn. Sie blickte aufs Meer hinaus. Ihr Kinn ruhte auf den gefalteten Armen auf ihren angezogenen Knien. Die Decke war von ihren Schultern geglitten und enthüllte das purpurrote Kleid, das mir vom Podium aus aufgefallen war. Dann drehte sie den Kopf zu mir hin, die Wange auf den Armen. Mir wurde plötzlich ganz heiß. Sie war hübsch. »Ich habe von dir gehört, Cromwell Dean.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und beschlossen, mir eine Karte zu kaufen, um dich zu sehen, bevor ich morgen wieder nach Hause fahre.«
Ich zündete mir noch eine Zigarette an. Sie rümpfte die Nase. Offensichtlich mochte sie den Geruch nicht.
Pech für sie. Sie konnte ja woandershin gehen. Soviel ich wusste, war England ein freies Land. Sie war verstummt.
Ich bemerkte, dass sie mich ansah. Ihre braunen Augen waren schmal, als würde sie mich studieren. Als würde sie etwas in mir lesen, das ich niemanden sehen lassen wollte.
Niemand schaute mich je genauer an. Ich gab keinem die Gelegenheit dazu. Auf dem Podium in den Clubs blühte ich auf, weil dort alle auf Abstand zu mir waren, unten auf der Tanzfläche, wo niemand je mein wahres Ich zu sehen bekam. Die Art, wie sie mich jetzt anschaute, jagte mir nervöse Schauer über den ganzen Leib.
Den Mist konnte ich nicht gebrauchen.
»Ich habe heute Nacht schon einen geblasen bekommen, Schätzchen. Kein Bedarf an einer zweiten Runde.«
Sie blinzelte, und sogar im Licht der aufgehenden Sonne sah ich, wie ihre Wangen rot wurden.
»Deine Musik hat keine Seele«, platzte sie heraus. Meine Kippe blieb auf halbem Weg zum Mund stecken. Irgendwas an ihren Worten verpasste mir doch tatsächlich einen Stich. Ich verdrängte es nach ganz tief unten, bis ich wieder die übliche Taubheit spürte.
Ich zog an meiner Kippe. »Ah ja? Tja, so ist das Leben.«
»Ich habe gehört, du wärst eine Art Messias auf dem Podium. Aber deine Musik bestand aus nichts als synthetischen Beats und forcierten, monotonen Temposalven.«
Ich schüttelte den Kopf und lachte. Das Mädchen schaute mir direkt in die Augen. »Das ist EDM: elektronische Tanzmusik. Keine Musik für ein fünfzigköpfiges Orchester.« Ich breitete die Arme aus. »Du hast von mir gehört. Hast du selbst gesagt. Du weißt, was ich auflege. Was hast du erwartet? Mozart?« Ich warf einen finsteren Blick auf ihr Handy, das immer noch das verdammte Konzert abspielte.
Überrascht über mich selbst lehnte ich mich zurück. So viel hatte ich nicht mehr mit jemandem geredet seit … keine Ahnung wie lange. Ich zog wieder an der Kippe und atmete den Rauch in meinen Lungen wieder aus. »Und mach das Ding hier aus, ja? Wer geht denn bitte schön erst in einen Club, um einem DJ beim Auflegen zuzuhören, und dann an den Strand, um sich klassische Musik reinzuziehen?«
Das Mädchen runzelte die Stirn, machte aber die Musik aus. Ich legte mich auf den kalten Sand und schloss die Augen. Ich hörte die Wellen sanft ans Ufer schwappen. Mein Kopf füllte sich mit hellem Grün. Dann hörte ich, wie sich das Mädchen rührte, und hoffte inständig, dass sie abhaute. Aber dann merkte ich, dass sie sich neben mir niederließ. Meine Welt wurde dunkel, als der Whiskey und der übliche Schlafmangel mich langsam in die Tiefe zogen.
»Was empfindest du, wenn du deine Musik mixt?«, fragte sie. Wie sie darauf kam, dass ihr kleines Interview genau jetzt eine gute Idee sein könnte, ging über meinen Horizont.
Aber zu meiner eigenen Überraschung antwortete ich auf ihre Frage. »Ich empfinde nichts.« Als keine Bemerkung von ihr kam, machte ich ein Auge auf. Sie schaute mich an. Sie hatte die größten braunen Augen, die ich je gesehen hatte. Das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Volle Lippen und zarte Haut.
»Dann liegt genau da das Problem.« Sie lächelte, aber ihr Lächeln sah nur traurig aus. Mitleidig. »Die beste Musik muss gefühlt werden. Von ihrem Schöpfer. Vom Zuhörer. Sie muss immer ein Ausdruck von Empfindungen sein.« Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er zu bedeuten hatte.
Ihre Worte fühlten sich wie ein Messer an, das sich in meine Brust bohrte. Mit ihrer schroffen Bemerkung hatte ich nicht gerechnet. Und auch nicht mit der Wunde, die sie damit meinem Herzen offenbar zufügte. Als hätte sie mit einem Schlachtmesser bis tief in meine Seele geschnitten.
Ich verspürte das dringende Bedürfnis, aufzustehen und mich davonzumachen. Ihr Urteil über meine Musik aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Stattdessen zwang ich mich zu einem Lachen und giftete sie an: »Geh wieder nach Hause, kleine Dorothy. Dorthin, wo Musik etwas bedeutet. Wo man sie fühlt.«
»Dorothy kam aus Kansas.« Sie wandte den Blick ab. »Ich nicht.«
»Dann geh dahin zurück, wo auch immer du herkommst«, gab ich barsch zurück. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, setzte mich wieder auf, schloss die Augen und versuchte sowohl den kalten Wind zu ignorieren, der immer stärker über meine Haut wehte, als auch ihre Worte, die sich weiterhin in mein Herz bohrten.
Normalerweise ließ ich nie etwas so an mich heran. Nicht mehr. Ich brauchte nur ein wenig Schlaf. Ins Haus meiner Mum hier in Brighton wollte ich nicht zurück, und meine Wohnung in London war zu weit weg. Also hoffte ich, dass die Bullen mich hier nicht finden und vom Strand vertreiben würden.
Mit geschlossenen Augen sagte ich: »Danke für die Rezension zur Mitternacht, aber als der Shooting Star unter den DJs in Europa, um den sich die angesagtesten Clubs der Welt reißen – und das mit gerade mal neunzehn Jahren –, werde ich, glaub ich, deine ausführlichen Anmerkungen ignorieren und einfach mein absolut tolles Leben weiterleben.«
Das Mädchen seufzte, sagte aber nichts weiter.
Das Nächste, was ich bemerkte, war, dass mir die Sonne in den Augen brannte. Ich öffnete sie und zuckte zusammen. Das Kreischen von Seemöwen drohte mir den Schädel zu zerreißen. Ich setzte mich auf und sah – einen leeren Strand und die Sonne, die hoch am Himmel stand. Ich fuhr mir übers Gesicht und stöhnte, als sich mein Kater zu Wort meldete. Mein Magen knurrte in dem Verlangen nach einem englischen Frühstück mit jeder Menge Tassen schwarzem Tee.
Als ich aufstand, fiel mir etwas vom Schoß. Eine Decke lag zu meinen Füßen im Sand. Die Decke, die ich bei dem amerikanischen Mädchen im purpurfarbenen Kleid gesehen hatte.
Die Decke, in die sie sich gestern Nacht gehüllt hatte.
Ich hob sie auf, und ein dezenter Duft stieg mir in die Nase. Süß. Betörend. Ich sah mich um. Sie war weg.
Ihre Decke hatte sie hiergelassen. Nein. Sie hatte mich damit zugedeckt. »Deiner Musik fehlt es an Seele.« Ein krampfartiges Gefühl zerrte an meinen Eingeweiden, als ich an ihre Worte dachte. Also verscheuchte ich sie, so wie ich alles verscheuchte, das Gefühle in mir auslöste. Sperrte sie tief in mir ein.
Und dann schaffte ich meinen Hintern nach Hause.
Jefferson Young University, South Carolina
Drei Monate später …
Ich klopfte an die Tür.
Nichts.
Ich ließ meine Tasche auf den Boden fallen. Als niemand antwortete, drehte ich den Türknauf und ging einfach hinein. Eine Hälfte des Zimmers war mit Postern vollgehängt: Bands, Kunstdrucke, ein Mickey-Mouse-Bild, ein leuchtend grünes Kleeblatt – die Bilder hingen überall verteilt. Es war die wahlloseste Ansammlung, die ich je gesehen hatte. Das Bett war komplett zerwühlt, und die schwarze Bettdecke bauschte sich am Fußende. Chipspackungen und Schokoladenpapier lagen überall auf dem kleinen Schreibtisch verstreut. Benutzte Farben und Pinsel lagen auf dem Fenstersims herum.
Ich war ein Chaot, aber so sehr nun auch wieder nicht.
Links von mir stand das, was offensichtlich mein Bett war. Ich ließ meine proppenvolle Tasche auf den Boden und mich dann aufs Bett fallen. Es war zu klein, sodass meine Füße halbwegs über den Rand hingen. Ich nahm den Kopfhörer, der um meinen Hals hing, und setzte ihn auf. Der Jetlag machte sich bemerkbar, und ich hatte einen steifen Hals von der verdrehten Haltung, in der ich im Flieger geschlafen hatte.
Ich wollte gerade meine Musik anmachen, als jemand hereingestürmt kam. Mein Blick fiel auf einen großen Typen mit blondem struppigem Haar. Er trug knielange Shorts und ein ärmelloses Top. »Du bist hier!«, keuchte er und versuchte, die Hände auf die Knie gestützt, wieder zu Atem zu kommen.
Als ich fragend eine Augenbraue hochzog, hob er die Hand zum Zeichen, dass ich ihm einen Moment Zeit geben solle. Dann kam er auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. Ich schüttelte sie widerstrebend. »Du bist Cromwell Dean«, stellte er fest.
Ich setzte mich auf dem Bett auf und ließ die Beine an der Seite herunterbaumeln. Der Typ zog einen Stuhl unter seinem Schreibtisch hervor und stellte ihn neben mein Bett. Dann drehte er ihn um, setzte sich und stützte die Arme auf die Lehne. »Ich bin Easton Farraday. Dein Zimmergenosse.«
Ich nickte und zeigte dann auf seine Seite im Zimmer. »Deine Deko ist … eine bunte Mischung.«
Easton zwinkerte und grinste dann breit. Ich war grinsende Leute nicht so gewohnt. Mir war schleierhaft, aus welchem Grund man ständig grinsen sollte. »Schätze, das trifft als Beschreibung ganz gut auf mich zu.« Er stand vom Stuhl auf. »Gehen wir.«
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und stand auf. »Und wohin in aller Welt gehen wir?«
Easton lachte. »Meine Güte, Kumpel. Wird eine Weile dauern, bis ich mich an diesen Akzent gewöhnt habe.« Er stieß mich mit dem Arm an. »Die Mädels hier werden förmlich ausflippen, wenn sie den hören.« Seine Augenbrauen tanzten vielsagend. »Ganz abgesehen von der Tatsache, dass du ein berühmter DJ bist und so. Du schleppst die Weiber sicher scharenweise ab, hm?«
»Kann nicht klagen.«
Easton legte seine Hände auf meine Schultern. »Du Glückspilz. Du musst mir beibringen, wie du das anstellst!« Er ging zur Tür. »Auf geht’s. Du kriegst jetzt die Easton-Farraday-Tour durch die Jefferson Young.«
Ich schaute aus dem Fenster hinaus auf den Collegehof. Die Sonne schien glühend heiß. Ich kam aus England; da war man es nicht gewohnt, solcher Hitze ausgesetzt zu sein. Obwohl, eigentlich stammte ich ja aus South Carolina. Meine Mum war von hier, aber ich hatte das hier nie kennengelernt. Ich war erst sieben Wochen alt gewesen, als wir nach England zogen. Von Geburt mochte ich ja Amerikaner sein, aber ich war durch und durch Brite.
»Wieso nicht?«, meinte ich, und Easton ging mit mir zur Tür hinaus.
Ich folgte ihm über den Korridor. Dabei kamen wir an ein paar Leuten vorbei, und jeder von ihnen grüßte Easton. Mein neuer Zimmergenosse bedachte jeden, ob nun Junge oder Mädchen, wahlweise mit Handschlag, Umarmungen oder einem Zwinkern. Ich bemerkte, dass die Jungs mich skeptisch beäugten. Einige versuchten offensichtlich dahinterzukommen, woher ich ihnen bekannt vorkam, während andere mich eindeutig erkannten.
Easton nickte einem Typen und einem Mädchen zu, die uns entgegenkamen. Der Typ sah mich an. »Oh Mann. Cromwell Dean. Easton sagte, du würdest hier an die Uni kommen, aber ich dachte, das wäre nur Blödsinn.« Er schüttelte den Kopf. »Wieso bist du hier an der JYU? Das ist zurzeit das einzige Gesprächsthema hier.«
Ich wollte gerade antworten, als Easton das für mich übernahm. »Wegen Lewis, richtig? Jeder, der jemals im Leben ein Instrument in der Hand gehalten hat, ist seinetwegen hier.«
Der Typ nickte, als hätte nicht Easton sondern ich seine Frage beantwortet. »Ich bin Matt. Eastons Freund.« Matt lachte. »Du wirst bald merken, dass du dir das Zimmer mit dem beliebtesten Typen auf dem Campus teilst. Wir sind alles kleine Fische an diesem College, aber dieser Typ hier hat eine große Klappe. Dauerte ganze drei Wochen in seinem ersten Jahr hier, bis alle wussten, wer er ist. Und nur ein paar Wochen mehr, bis die gesamte Fakultät, die Studenten im Abschlussjahr und alle dazwischen auch seinen Namen kannten.«
»Sara«, stellte sich der Rotschopf neben Matt vor. »Kein Zweifel, dass du unserer Gruppe einverleibt wirst.«
»Du musst am Freitag auflegen«, meinte Matt.
Easton stöhnte und knuffte ihn in den Arm. »Ich hatte einen Plan, Matt. Man muss erst mal drauf hinarbeiten, bis man so eine Frage stellt.«
Ich schaute zwischen Matt und Easton hin und her. Sara warf den beiden einen genervten Blick zu, und schließlich wandte sich Easton an mich. »Es gibt da eine alte Scheune-Schrägstrich-Lagerschuppen, ein paar Meilen vom Campus entfernt. Die Scheune und das Land gehören einem ehemaligen Absolventen, und wir dürfen dort Party machen. Gibt nicht viele Orte hier in der Gegend, wo man feiern kann – also mussten wir kreativ werden. Ist alles hergerichtet. Einer aus dem Abschlussjahrgang vom letzten Jahr hat das Ding mit Leuchten, einer Tanzfläche und einem Podium bestückt. Wollte Daddys Geld verschleudern, weil der seine Mum betrogen hat. Von dem Ding kann jedes College nur träumen.«
»Und die Bullen?«, fragte ich.
Easton zuckte mit den Schultern. »Das hier ist ein College in einer Kleinstadt. Die meisten von uns kommen aus der näheren Umgebung. Jefferson ist nicht besonders attraktiv, abgesehen davon, dass das Schulgeld für die Einheimischen günstig ist – bis Lewis dieses Jahr kam. Die meisten Bullen waren mit irgendwem hier auf der High School. Alte Freunde also. Die machen uns keinen Ärger.«
»Wir haben eine Art ›Frage nicht, sage nichts‹-Abkommen mit ihnen. Die Scheune ist weit genug von der Zivilisation entfernt, dass sich keiner über den Krach beschwert«, erklärte Matt.
Mein Kopf pochte. Ich brauchte eine Zigarette und etwa vierzehn Stunden Schlaf. »Klar«, sagte ich, als ich drei Augenpaare auf mich gerichtet sah, die auf eine Antwort von mir warteten.
»Heilige Scheiße!« Matt legte Sara einen Arm um die Schulter. »Ich kann es kaum fassen. Cromwell Dean legt in der Scheune auf!« Er wandte sich an Easton. »Das wird geil.«
Easton salutierte und legte mir dann die Hand auf die Schulter. »Ich muss Crom noch herumführen. Wir sehen uns.« Ich folgte Easton die Treppe hinunter, die in den Collegehof führte. Er atmete tief durch, als uns die feuchte Luft wie ein Hammerschlag traf, und breitete die Arme aus. »Das hier, Cromwell, ist der Collegehof.« Auf dem Gras lümmelten Leute herum, und aus Handylautsprechern drang Musik. Die Studenten lasen oder chillten in Zweiergrüppchen. Wieder begrüßten ihn alle, während sie mich nur unverhohlen anstarrten. Schätze, das ist normal, wenn man in seinem zweiten Jahr von einem anderen Land an eine lausige Uni wechselt.
»Der Collegehof. Zum Abhängen, Kurse schwänzen oder was auch immer«, meinte Easton. Ich folgte ihm zur Cafeteria, dann zur Bibliothek – die man, wie er mir verriet, weniger wegen der Bücher aufsuchte, sondern eher für eine heiße Nummer hinter den Bibliotheksregalen. Dann kamen wir zu einem Truck. »Steig ein«, forderte er mich auf. Ich war zu müde, um zu widersprechen, also stieg ich ein, und er fuhr auf die Straße, die weg vom College führte.
»Also?«, fragte er, als ich mir eine Zigarette anzündete und einen tiefen Zug nahm. Neun Stunden Flug ohne Nikotin war echt ätzend.
»Lass mich an dem Vergnügen teilhaben, Crom«, sagte Easton. Ich gab ihm eine Zigarette. Dann kurbelte ich das Fenster nach unten und schaute hinaus auf den Sportplatz und das kleine Stadion für das American-Football-Team.
»Also?«, wiederholte Easton. »Ich verstehe, dass Lewis so etwas wie ein Magnet für dich ist, aber dein Leben ist doch auch so in trockenen Tüchern, oder?« Ich rollte den Kopf an der Kopfstütze zur Seite, um ihn anzuschauen. Er hatte ein Tattoo auf dem Arm. Sah aus wie das Symbol eines Sternzeichens oder so. Ich hatte nie begriffen, wieso Leute sich nur eins machen ließen. Kaum hatte ich mein erstes bekommen, hatte ich mich schon für das nächste angemeldet. Und so ging das immer weiter. Ich war süchtig danach.
Über seinen Lautsprecher lief eine Playlist von seinem Handy. Wie aufs Stichwort kam ein Mix von mir. Er lachte. »Falls du dich fragen solltest, das war gerade ein Wink von oben, der mich auf meine Frage zurückkommen lässt.«
Ich legte den Kopf nach hinten, schloss die Augen und inhalierte den Zigarettenrauch. »Ich war ein Jahr lang auf der Uni in London. War okay dort, aber ich wollte weg aus England. Lewis hat mich hierher eingeladen, um bei ihm zu studieren. Also bin ich gekommen.«
Ein kurzes Schweigen folgte. »Aber eins kapiere ich immer noch nicht. Wieso überhaupt zu Ende studieren? Du machst doch bereits Karriere. Wozu sich noch mit einem Studium herumschlagen?«
Ein Messer drehte sich mir im Bauch um, und mir schnürte sich die Kehle zu. Damit wollte ich mich jetzt nicht auseinandersetzen. Also hielt ich einfach nur Augen und Mund geschlossen.
Easton seufzte. »Na schön. Gib dich geheimnisvoll. Ein Grund mehr für das Weibervolk, sich nach dir zu verzehren.« Er stupste mich am Arm. »Mach die Augen auf. Wie kann ich dir die Sehenswürdigkeiten von Jefferson Town zeigen, wenn du die Augen zuhast?«
»Audiotour geht auch. So wie du die ganze Zeit quasselst, könntest du damit echt Geld machen.«
Er lachte laut los. »Da ist was dran.« Easton zeigte auf die Kleinstadt, in die wir gerade einfuhren. »Willkommen in Jefferson. Gegründet im Jahre 1812. Einwohnerzahl: zweitausend.« Er bog auf eine größere Straße ein, vermutlich die Hauptstraße. »Hier findet man alle üblichen Lokalitäten«, dozierte er mit einem entsetzlichen englischen Akzent, der, wie ich annahm, meiner Belustigung dienen sollte. »Dairy Queen, McDonalds, das ganze Zeug. Ein paar Bars für Prolls. Ein paar kleine Diners. Einen Coffee-Shop, der übrigens auch einige ziemlich gute Open-Mic-Nights veranstaltet, wenn du mal abhängen willst. Gibt ein paar gute Talente hier.« Es gab ein Kino mit vier Sälen, ein bisschen Touristenkram, und schließlich kamen wir zur Scheune. Und genau das war das Ding auch, aber Easton versprach mir, dass es von innen wie etwas aussah, das man auch auf Ibiza finden könnte. Nachdem ich von überall da, wo ich schon aufgelegt hatte, am häufigsten in Ibiza gespielt hatte, bezweifelte ich das. Aber es war ein Ort, an dem ich auflegen konnte, und in dieser Stadt war das schon was.
»Was studierst du?«, fragte ich.
»Kunst«, antwortete er. Ich dachte an die Poster und Malereien an der Wand unseres Zimmers. »Ich finde auch Mixed Media gut. Eben alles, was mit Farbe und Ausdrucksformen zu tun hat.« Er neigte den Kopf in meine Richtung. »Ich bin am Freitag für die Beleuchtung zuständig. Du am Mischpult, ich an der Beleuchtung. Das wird voll krass.« Er wackelte mit den Augenbrauen. »Denk nur mal an all die Mädels, die wir abschleppen werden.«
Aber im Moment konnte ich nur noch an Schlaf denken.
Easton hüpfte praktisch wie ein Flummi auf seinem Sitz herum, als wir uns der Scheune näherten. Es war erst zehn Uhr abends. Ich war daran gewöhnt, nicht vor frühestens zwölf aufzulegen.
Easton hatte recht. Die Scheune platzte aus allen Nähten, und die Leute hatten sich überall auf dem Rasen um den Schuppen herum verteilt. Tanzmusik hämmerte durch die Ritzen der Holzbohlen. Ich zuckte zusammen, als ich einen miserablen Übergang von einem Mix zum nächsten hörte.
Easton musste meinen Gesichtsausdruck gesehen haben. Er hielt den Truck an und legte die Hand auf meinen Arm. »Du bist unser Erlöser, Crom. Du siehst, womit wir uns bisher begnügen mussten? Bryce wacht eifersüchtig über sein Mischpult. Ich will dich nur warnen.«
Ich zündete mir eine Kippe an und stieg aus. Von dem Moment an, als Easton hier angehalten hatte, war die Aufmerksamkeit auf uns gerichtet. Und als ich ausstieg, wurde es nur noch schlimmer. Ich ignorierte die neugierigen Blicke und das gedämpfte Flüstern und ging nach hinten zur Ladefläche des Trucks.
Ich holte meinen Laptop heraus und warf ihn mir über die Schulter. Das ärmellose Shirt klebte mir am Oberkörper und die Jeans an den Beinen. Bei dem Wetter hier hatte ich das Gefühl, permanent in einer Sauna zu leben. Ich folgte Easton zur Scheune. Die Mädchen musterten mich prüfend. Bei meinen Tattoos an beiden Armen bis zum Hals hinauf gab es immer nur zwei Arten, wie die Mädels auf mich reagierten. Entweder wurden sie triefnass im Höschen, oder ich stieß auf komplette Ablehnung. Den Blicken in meine Richtung nach zu urteilen, war hauptsächlich Ersteres der Fall.
Eine Brünette stellte sich mir in den Weg und zwang mich stehen zu bleiben. Easton neben mir lachte. Sie knuffte ihn am Arm und sagte dann: »Ich bin Kacey. Und du bist Cromwell Dean.«
»Messerscharf beobachtet«, antwortete ich.
Sie lächelte. Ich fuhr mit der Zunge über meine Lippen und sah, dass ihr Blick auf meinen Zungenring fiel. »Ich … ähm …« Sie wurde rot. »Ich freue mich schon darauf, dein Set zu hören.« Sie trank einen Schluck von ihrem Bier und schob sich nervös das Haar hinters Ohr. »Ich habe ein paar Mixes von dir auf meiner Jogging-Playlist, aber ich habe gehört, dass das nichts im Vergleich zu dem ist, dich live zu hören.«
Ich sah Easton an. »Wenn du willst, dass ich alle vor dem Hörsturz rette, den dieser Bryce hier auslöst, sollten wir jetzt besser los.«
»Wir sehen uns, Kacey«, meinte Easton. Ich nickte Kacey zu und ging dann an ihr vorbei zur Tür. Easton stieß mich an. »Sie ist in Ordnung.« Er grinste breiter. »Und ganz schön heiß, oder?«
Ich zog den Kopf ein und verbarg so mein Gesicht, als mir auffiel, dass mich alle anstarrten. Ich hasste Aufmerksamkeit. Ich wusste, wie blöd sich das anhörte: der DJ, der Aufmerksamkeit hasste. Aber ich wollte nur, dass die Leute meine Musik wollten, nicht mich. Ich wollte nicht, dass sie sich für mich als Person interessierten. Ich wollte nur spielen.
Ich musste spielen, um bei Verstand zu bleiben.
Mit dem Rest war nur schwer fertigzuwerden.
Ich war nun wirklich nichts Besonderes. Mich zu kennen war jetzt nicht die große Sache.
Easton lachte darüber, dass ich die Aufmerksamkeit scheute, und legte mir den Arm um die Schultern. Er mit seiner lauten Art würde das nie verstehen. Der Blödmann hatte keinen Begriff von persönlicher Distanzzone. Aber ich mochte ihn trotzdem. Ich hatte keine Freunde. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich würde ihn nicht loswerden, selbst wenn ich ihn darum bat, sich zu verziehen.
»Shit, Crom. Du musst dir wie ein seltenes Tier im Zoo vorkommen. Wir haben nicht viele Promis hier in Jefferson, musst du wissen.«
»Ich bin kein Promi«, antwortete ich, während er mich zum Podium brachte.
»In der Welt der EDM schon. Und hier an der JYU auch.« Er beugte sich zu einem Mädchen vor, das an der Bühne abhing. Der Typ zog die Mädchen an wie ein Magnet, ungelogen. Dann wandte er sich wieder mir zu. »Was willst du trinken?«
»Jack. Eine ganze Flasche.«
»Schön«, meinte Easton und grinste anerkennend.
Das Mädchen lief los. Ich machte meine Tasche auf und holte den Kopfhörer heraus. Dann lockerte ich meine Nackenmuskeln und packte den Laptop aus. Easton beobachtete mich, als würde er eine Art wissenschaftliches Experiment an einem lebenden Objekt verfolgen. Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. »Das ist, als würde man einem Meister bei der Arbeit zusehen oder so«, meinte er.
Easton tippte dem aktuellen DJ auf die Schulter. Bryce. Der warf mir einen Blick aus dem Augenwinkel zu und stürmte dann vom Podium. Easton lachte, als der mürrische Wichser sich an mir vorbeidrängte. Ich stieg die Stufen zum Podium hoch, stellte meinen Laptop auf, steckte ihn ins System ein und gestattete mir dann, einen Blick um mich zu werfen.
Es war proppenvoll hier. Hunderte Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich holte tief Luft, während mir die wachsende Hitze der tanzenden Leiber auf der Haut klebte und die lebhaften Farben um alle herum auf meine Augen einstürmten.
Eine Flasche Jack tauchte neben mir auf. Ich nahm einen tiefen Schluck und stellte die Flasche dann rechts von mir ab. Easton stand links von mir und nickte mir zu. Er kippte eine Flasche Tequila in sich hinein, als wäre es Wasser. Ich spähte über meinen Laptop hinweg auf die Gestalten, die dastanden und warteten.
Für diesen Augenblick lebte ich. Das Innehalten. Der angehaltene Atem, bevor das Chaos ausbrach.
Ich tippte auf die Tastatur. Ordnete die Songs an. Und dann, mit einer Handbewegung, versetzte ich die Menge in Euphorie. Easton tauchte den Schuppen in grünes Laserlicht, gefolgt von Stroboskoplicht, das die tanzenden Menschen aussehen ließ, als würden sie sich in Zeitlupe bewegen. Und dabei trinken. Rauchen. Manche total high.
Easton warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Das ist der Hammer! Cromwell Dean in der Scheune!«
Der Takt, der bis an die Wände der Scheune hämmerte, wurde zu meinem Herzschlag. Easton hatte nicht gelogen. Von innen war es gut hier. Ich trank einen Schluck Whiskey nach dem anderen, und Easton kippte den Tequila in sich rein, als würde er ihm ausgehen, wenn er nicht alles ganz schnell in sich hineinschüttete.
Ich zuckte mit den Schultern. Es war sein Leben und sein Kater, der ihm morgen direkt eins auf die Zwölf geben würde. Ich warf einen Blick auf meine Flasche. Wem wollte ich was vormachen? Ich war doch selbst nicht besser.
Easton tippte mich am Arm und wies mit dem Kopf vor das Podium. Kacey, die Brünette von draußen, schaute zu mir hoch. Sie lächelte, und ich nickte ihr zu. Als ich einen prüfenden Blick in die Menge warf, sah ich Pärchen, die sich küssten, Leute, die in Grüppchen lachend zusammenstanden, und solche, die tanzten. Ich hatte nichts von alledem je im Leben gehabt. Ich hatte meine Musik. Das war alles. Ein plötzlicher Anfall von Traurigkeit erwischte mich eiskalt und schlug mir auf den Magen. Sofort verdrängte ich das Gefühl.
Ich würde es nicht an mich heranlassen.
Ich konzentrierte mich wieder auf meine Musik, fügte dem Mix noch ein paar Beats hinzu, um ihm Tiefe zu verleihen. Basstöne, so intensiv, dass sie die Scheune zum Wackeln brachten. Easton beugte sich vor mir ans Mikro. Ich redete nie ins Mikro. Meine Musik sprach für mich. Es gab nicht einmal jemanden, der zu meinen Songs sang. Nur Beats und Rhythmus. »Nennt ihr das Ausflippen?«, rief Easton, und die Menge kreischte.
Er sprang auf den Tisch, auf dem meine Decks standen. Ich schüttelte den Kopf und grinste über das Ego auf zwei Beinen namens Easton Farraday. »Ich sagte …« Er machte eine kurze Pause und rief dann: »Nennt ihr das Ausflippen?«
Ich bombardierte sie mit einem Bass, so hart und schnell, dass sie ganz in seinem Bann standen und förmlich in die Knie gingen. Körper tanzten, prallten aneinander, während sie hüpften, tranken und einige praktisch auf dem Boden poppten. Und ich verlor mich darin. Wie immer, hier oben auf dem Podium, war ich wie weggetreten. Gefangen in der Dunkelheit in meinem Kopf und hineinkatapultiert in das Nirwana der Taubheit.
Ich schloss die Augen, um mich von Eastons Beleuchtung loszureißen. Meine Knochen vibrierten von dem Bass, den ich hochjagte. Der Klang ging durch meine Ohren direkt in meine Adern. Rote und gelbe Farben explodierten hinter meinen geschlossenen Lidern. Ich riss die Augen wieder auf und sah Easton ums Podium herumstolpern. Er hatte den Arm um die Schultern eines Mädchens gelegt, das ihn buchstäblich abschleckte. Er zog sie mit sich, bis die beiden auf der Tanzfläche waren und geradewegs nach draußen steuerten.
Stunden vergingen wie ein Wimpernschlag. Ich spielte, bis ich mit meinen Mixes durch war. Bryce, der Blödmann von vorhin, übernahm, noch bevor ich vom Podium runter war. Ich nahm meinen Jack und ging nach draußen; die Menge war viel zu breit, um überhaupt zu merken, dass der DJ gewechselt hatte.
Ich hatte sie total fertiggemacht.
Ich ging an die frische Luft und suchte mir eine ruhige Stelle an einer Wand der Scheune. Dort sank ich zu Boden und schloss die Augen. Doch als ich Lachen hörte, machte ich sie wieder auf.
Das hier war ganz anders als die Uni in London. Dagegen war die Jefferson Young winzig, und alle hier kannten sich. Die Uni in London war riesig. Dort war es einfach, sich in der Menge zu verlieren. Ich hatte allein gelebt. Kein Mehrbettzimmer. Nur ein Einzimmerapartment nicht weit vom Campus. Keine Freunde.
Das hier draußen war eine andere Welt. Und das wusste ich, auch ohne bislang viel davon zu Gesicht bekommen zu haben.
Während der letzten paar Tage hatte ich mein Zimmer kaum verlassen, sondern meinen Jetlag ausgeschlafen und die Songs für heute Nacht gemixt. Easton versuchte mich dazu zu bringen, mit ihm und seinen Kumpels abzuhängen, aber ich wollte nicht. Ich war nicht so der gesellige Typ. Ich war lieber für mich allein.
Ich machte wieder die Augen zu, und im selben Moment spürte ich einen warmen Körper, der sich neben mich setzte. Es war Kacey, ein Corona in der Hand. »Erledigt?«
»Todmüde«, antwortete ich und hörte ihr kurzes Lachen. Wahrscheinlich über meinen Akzent. Dasselbe hatte Easton auch schon die ganze Woche über gemacht.
»Du warst fantastisch.« Ich schaute zu ihr rüber, und sie wandte den Kopf ab. »Du musst dich ja meilenweit weg von zu Hause fühlen, hm? Jefferson ist nicht gerade London. Nicht dass ich je dort gewesen wäre, aber … nun ja.«
»Distanz kann auch was Gutes haben.«
Sie nickte, als würde sie es verstehen. Tat sie aber nicht.
»Dein Hauptfach ist Musik?« Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Frage. »Natürlich. Was auch sonst.« Sie schaute zu den Leuten hinüber, die aus der Scheune gestolpert kamen. Würde ich auch tun, wenn ich mir den Mist anhören müsste, den der andere DJ da verbrach. »Mein Hauptfach ist Englisch.«
Ich entgegnete nichts darauf; war eben nicht meine Art. Ich trank einfach schweigend meinen Jack und sie ihr Corona. Ein paar Minuten später kamen Matt und Sara zu uns. Matt ging neben Kacey in die Hocke und sagte etwas in gedämpftem, drängendem Tonfall zu ihr. Sie seufzte.
»Muss ich sie anrufen?«
Matt nickte.
»Oh Mann.« Kacey holte ihr Handy heraus und erhob sich.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Easton«, antwortete Matt. »Er ist dicht. Rührt sich einfach nicht von der Stelle.« Er zeigte auf Kacey. »Sie ruft seine Schwester an. Sie ist die Einzige, die in dem Zustand mit ihm fertigwird. Der Arsch wird voll gewalttätig, wenn man ihm den Stoff wegnehmen will. Feiert gern, aber kann nicht wirklich damit umgehen, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Verpiss dich!«, war Eastons lallende Stimme übers Feld hinweg zu hören. Die Leute machten einen großen Bogen um ihn, als er auf uns zutorkelte, die Tequilaflasche fest umklammert. Sie war leer. »Cromwell!« Er blieb neben mir stehen und warf mir einen Arm um die Schultern. »Dieses Set!«, lallte er. »Kann einfach nicht glauben, dass du hier bist, Mann. In Jefferson! Hier ist ja nie was los. Langweiliges Scheißkaff.«
Er sackte an der Scheune zu Boden. Matt wollte ihn wieder auf die Beine ziehen. »Verpiss dich!«, fauchte Easton ihn an. »Wo ist Bonnie?«
»Auf dem Weg hierher.« Easton ließ den Kopf hängen, nickte aber als Zeichen, dass er es gehört hatte.
»Ich bin mit ihm hergekommen«, flüsterte ich Matt zu.
»Mist. Unser Auto ist schon voll. Bonnie wird dich nach Hause fahren. Sie fährt East sowieso immer zurück zu eurem Zimmer. Sie ist nett. Es wird ihr nichts ausmachen.«
»Ich hole meine Sachen.« Ich ging zurück in die Scheune und holte meinen Laptop. Als ich wieder rauskam, strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und schaute mich prüfend um. Ich hoffte, dass ich mich besser fühlen würde, weil ich hierhergekommen war. Dass es dieses schwarze Loch in mir, das sich auf ewig in meinen Eingeweiden einnisten wollte, vertreiben würde. Ich hatte meine Musik vor vollem Haus gespielt. Mit Leuten gesprochen. Trotzdem spürte ich, wie die Traurigkeit, die ich in den hintersten Winkel verbannt hatte, sich ihren Weg an die Oberfläche kämpfen wollte. Sie drohte mich zu verschlingen. Mich in der Vergangenheit zu begraben.
Hierherzukommen hatte überhaupt nichts geändert.
Ich bemerkte einen silbernen Geländewagen, der mir gegenüber parkte. Die Scheinwerfer blendeten mich, als ich näher kam. Ich zuckte zusammen. Mein Kater meldete sich schon spürbar zu Wort. Matt half Easton vom Boden auf, und irgendeine neue Braut in engen Jeans und weißer Wolljacke stand auf der anderen Seite neben Easton.
Muss die Schwester sein. Ich ging zu ihnen, während Matt die Autotür zuschlug. Easton lag total weggetreten quer über dem Rücksitz.
»Ist das okay für dich, ihn nach Hause zu fahren?«, fragte Matt das Mädchen, bevor er es umarmte und wieder losließ. Sara tat es ihm nach.
»Ja«, antwortete sie.
»Cromwell!« Matt winkte mich heran. Die Schwester drehte sich nicht um, als ich näher kam. Ihr Rücken war stocksteif. »Komm her. Bonnie bringt Easton nach Hause.« Er sah sie an. »Macht dir nichts aus, Cromwell mitzunehmen, oder? Wir haben keinen Platz mehr im Auto. Er ist mit Easton hergekommen.«
Ihre Antwort bekam ich nicht mit. Stattdessen ging ich hinten zum Wagen und legte meine Sachen hinein. Matt winkte mir zu, als er mit Sara zusammen zu seinem Wagen ging. Kacey legte mir die Hand auf den Arm. »War nett, dich kennenzulernen, Cromwell.« Sie ging mit den anderen und warf dabei noch einmal einen Blick über die Schulter.
Ich wollte gerade die Beifahrertür öffnen, als Eastons Schwester sich umdrehte. Und ich traute meinen Augen nicht.
Eine verschwommene Erinnerung erreichte mich im warmen Wind und traf mich voll ins Gesicht.
Deiner Musik fehlt es an Seele …
Sie seufzte, als sie meine eindeutig verärgerte Reaktion sah, und sagte dann: »Na denn, hallo, wieder mal.«
»Du.« Ich lachte trocken. Das beschissene Universum machte sich echt einen Spaß daraus, mir ein Bein zu stellen.
»Ich«, bestätigte sie, offenbar amüsiert, und zuckte mit den Schultern. Ich blickte ihr nach, als sie zur Fahrerseite ging. Ihr dunkles braunes Haar trug sie aus dem Gesicht gekämmt, genau wie in Brighton. Sie hatte es zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr etwa bis zur Mitte des Rückens ging.
Sie stieg ein, und das Beifahrerfenster ging nach unten. »Steigst du jetzt ein, oder willst du zu Fuß nach Hause gehen?«
Ich spielte mit dem Zungenring in meinem Mund und versuchte, meine Fäuste wieder zu lockern. Auf keinen Fall würde ich ihr zeigen, wie sehr mich dieser eine Bastardsatz, den sie mir an einem kalten Sommertag in Brighton an den Kopf geworfen hatte, getroffen hatte. Ich wollte das nicht noch mal so an mich heranlassen.
Bonnie, wie sie offensichtlich hieß, startete den Motor. Ich gab ein ungläubiges Lachen von mir und öffnete die Tür zum Rücksitz. Easton schnarchte. Seine Arme und Beine belegten so ziemlich allen verfügbaren Platz.
Bonnie lehnte sich nach hinten und schaute zwischen den Sitzen zu mir. Ich mied ihren Blick. »Sieht so aus, als müsstest hier vorn mit mir vorliebnehmen, Superstar.«
Ich biss die Zähne zusammen und holte tief Luft. Ich schaute suchend zu dem Platz an der Scheune, wo ich vorhin gesessen hatte. Der Whiskey war noch da. Ich lief rüber, um ihn zu holen, und stieg dann auf den Beifahrersitz. Für diese Fahrt würde ich den Stoff definitiv brauchen.
»Jack Daniels«, merkte sie an. »Ihr zwei seid wohl gute Freunde, was?«
»Die besten«, entgegnete ich und ließ mich in den Sitz plumpsen.
Die Stille im Wagen war ohrenbetäubend. Ich streckte die Hand aus und machte das Radio an. Irgendein Folksong-Gedudel. Nein danke. Ich wechselte zum nächsten Lied auf ihrer Playlist. Als daraufhin Beethovens Fünfte ertönte, beschloss ich, das verdammte Ding einfach auszuschalten.
»Deine Musikwahl lässt eine Menge zu wünschen übrig.« Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Keine Ahnung, wieso ich überhaupt den Mund aufmachte. Ich war nie derjenige, der als Erster das Wort ergriff. Aber da ihre Bemerkungen aus jener Nacht in meinem Kopf herumspukten, war der Zorn in mir wieder hochgekocht und die Worte einfach so aus mir herausgesprudelt.
»Ach ja, richtig. Keine Klassik. Und jetzt auch kein Folk. Gut zu wissen, dass dir gute Musik ein Gräuel ist.« Für einen Sekundenbruchteil wandte sie ihre Aufmerksamkeit von der Straße ab und warf mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Sie runzelte die Stirn. »Du bist wegen Lewis hier, richtig? Wieso solltest du sonst in Jefferson sein?«
Ich trank noch einen Schluck und ignorierte die Frage. Ich wollte mit ihr nicht über Musik reden. Ich wollte gar nicht mit ihr reden, basta. Ich holte eine Kippe aus der Tasche und steckte sie mir in den Mund. Als ich sie anzünden wollte, sagte sie: »In meinem Auto wird nicht geraucht.« Ich zündete sie trotzdem an und nahm einen langen Zug. Das Auto kam so abrupt zum Stehen, dass mein Jack fast der Schwerkraft zum Opfer gefallen wäre. »Ich sagte: In meinem Auto wird nicht geraucht«, fauchte sie. »Ausmachen oder Aussteigen. Du hast die Wahl, Cromwell Dean.«
Ich versteifte mich. Niemand redete so mit mir. Und die Tatsache, dass sie mich wütend gemacht hatte, machte es nur noch schlimmer. Ich sah ihr in die Augen, zog noch einmal tief und genussvoll an meiner Kippe und warf sie dann aus dem Fenster, das sie mir heruntergelassen hatte. Es war das erste Mal, dass ich ihr direkt ins Gesicht sah, das von tiefbraunen Augen und vollen Lippen beherrscht wurde. Ich hielt die Hände hoch. »Alles weg, Bonnie Farraday.«
Sie fuhr weiter, und plötzlich waren wir auf der Hauptstraße. Studenten torkelten zu zweit oder dritt von der Scheune nach Hause. Ich wollte zwar nicht mit ihr reden, aber das Schweigen im Wagen war auch nicht besser. Ich ballte die Fäuste auf meinen Jeans. »Nicht deine Szene?«, fragte ich angespannt.
»Ich hatte keine Zeit. Ich war mit Lernen beschäftigt, bevor am Montag die Kurse anfangen.« Sie zeigte hinter sich auf ihren schnarchenden Bruder. »Oder zumindest habe ich es versucht, bis mein Zwillingsbruder beschlossen hat, sich abzuschießen, so wie immer.«
Ich zog überrascht die Augenbrauen hoch, was ihr nicht entging. »Ja. Easton ist vier Minuten älter. Wir sehen uns kein bisschen ähnlich, richtig? Wir sind uns auch nicht ähnlich. Aber er ist mein bester Freund. Also, hier bin ich: Bonnies Taxiservice.«
»Easton hat gesagt, ihr seid von hier.«
»Ja, aus Jefferson. So sehr South Caroliner, wie es nur geht.« Ich spürte ihre Augen auf mir. »Aber schon irgendwie komisch, hm? Dass du jetzt hier bist, nach unserer Begegnung in England?«
Ich zuckte mit den Schultern. Aber komisch war es wirklich. Wie groß waren schon die Chancen, dass so was passierte?
Bonnie parkte vor dem Wohnheim und warf einen Blick nach hinten auf ihren Bruder. »Du wirst mir helfen müssen, ihn die Treppe hochzutragen.« Ich stieg aus und ging zum Rücksitz. Ich zog Easton raus und warf ihn mir über die Schulter. »Mein Laptop«, sagte ich und wies mit dem Kopf zum Kofferraum. Bonnie ging hin und holte meine Sachen heraus. Ich schaffte es, Easton die Treppe hochzuschleppen, und ließ ihn dann in unserem Zimmer auf sein Bett fallen.
Bonnie stand hinter mir. Sie war außer Atem und keuchte vom Treppensteigen.
»Vielleicht solltest du mal über Cardio-Training nachdenken. Treppensteigen sollte nicht so das Problem sein.« Ich war ein Kotzbrocken, schon klar. Aber irgendwie konnte ich mich nicht bremsen. Damals in Brighton hatte sie mich richtig wütend gemacht. Offenbar nagte das immer noch an mir.
Bonnie ignorierte mich und legte die Sachen auf meinen Schreibtisch. Von Eastons Nachttisch nahm sie ein Glas und ging hinaus. Mit dem Glas voll Wasser kam sie zurück und stellte es neben ihm ab. Daneben legte sie zwei Tabletten und küsste ihn dann auf die Stirn. »Ruf mich morgen an.«
Ich legte mich auf mein Bett, Kopfhörer um den Hals, bereit, wegzutreten. Bonnie ging an mir vorbei und blieb dann stehen. »Danke, dass du ihn hochgetragen hast.« Sie warf ihm einen letzten Blick zu. Aus irgendeinem Grund schien ihr Blick weicher zu werden. Es machte sie … hübscher als normal. »Kannst du ein Auge auf ihn haben, bitte?«
Ich verbannte den Gedanken aus meinem Kopf. »Er ist ein großer Junge. Ich bin sicher, er kann auf sich aufpassen.«
Bonnie drehte mir ruckartig den Kopf zu. Sie wirkte schockiert, und dann wurde ihre Miene eisig. »Ich sehe schon, charmant wie immer, Cromwell. Gute Nacht.«
Bonnie ging. Kaum war sie weg, rührte sich Easton und öffnete ein Auge. »Bonnie?«
»Ist weg«, antwortete ich, zog erst mein Shirt und dann den Rest bis auf die Boxershorts aus und ging ins Bett.
Easton hatte sich umgedreht. »Sie ist meine Schwester. Hat sie dir das erzählt?«
»Hat sie.«
Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen.
Ich machte die Musik auf meinem Handy an. Und wie jede Nacht dröhnte ich mir den Kopf zu mit Dance Music, um bei ihr Trost zu suchen. Bei EDM waren die Farben anders. Anders als die, die mich wieder an alles erinnerten.
Und dafür dankte ich Gott oder wem oder was auch immer da oben.
Ich machte die Tür meines SUV zu und marschierte zu meinem Wohnheimzimmer. Bei jedem Schritt dachte ich an Cromwell Dean. Natürlich hatte ich gewusst, dass er hier war. Seit Easton erfahren hatte, dass er das Zimmer mit ihm teilen würde, redete er von nichts anderem mehr.
Ich allerdings traute meinen Ohren nicht.
Easton hatte nie erfahren, dass ich ihm in Brighton begegnet war. Niemand wusste davon. Um ehrlich zu sein, konnte ich immer noch nicht glauben, dass ich so mit ihm geredet hatte, wie ich es nun mal getan hatte. Aber die Art, wie er mich angegangen war … mich abqualifiziert hatte. Er war so ungehobelt gewesen, dass ich einfach nicht anders konnte. Ich hatte gesehen, wie er zum Strand getorkelt war, den Jack Daniels in der Hand. Zuvor hatte ich ihn in diesem brechend vollen Club beobachtet. Ich hatte zugesehen, wie die Leute zu seiner Musik tanzten, als sei er ein Gott. Und ich empfand nichts als …
Enttäuschung.
Cromwell Dean. Der größte Teil der Welt kannte ihn als DJ, aber ich kannte ihn als etwas anderes. Als ein Wunderkind der Klassik. Und ohne dass Cromwell Dean es wusste, hatte ich ihn gesehen. Ich hatte ihn als Kind gesehen, als er eine Symphonie dirigierte, so wundervoll, dass es in mir das Bedürfnis weckte, eine bessere Musikerin zu werden. Ich hatte unbearbeitetes Filmmaterial gesehen, von dem englischen Jungen mit dem Talent eines Mozart. Mein Musiklehrer hatte mir das Video von ihm in einer meiner privaten Klavierstunden vorgeführt. Um mir zu zeigen, wozu jemand in meinem Alter fähig war.
Um zu zeigen, dass es noch andere auf der Welt gab, die ebenso viel Leidenschaft für Musik empfanden wie ich. Cromwell Dean war mein größter Freund geworden, obwohl er nicht einmal wusste, dass ich existierte. Er war meine Hoffnung. Die Hoffnung, dass außerhalb dieser Kleinstadt Menschen die Musik ebenso in ihrem Herzen hüteten wie ich. Noch jemand mit Herzblut für Noten, Melodien und Konzerte.
Mit sechzehn Jahren hatte Cromwell den BBC Proms Young Composer des Jahres gewonnen. Das BBC Symphony Orchestra hatte seine Musik in der Abschlussnacht der Proms gespielt. Und ich hatte zugesehen, mitten in der Nacht auf meinem Laptop, und mir waren Tränen übers Gesicht geströmt, so unsagbar beeindruckt war ich von seinem Werk. Die Kamera hatte ihn in der ersten Reihe gezeigt, während er dem Orchester zusah.
Mir war er so schön vorgekommen wie die Symphonie, die er komponiert hatte.
Und dann, nur Monate später, war er von der Bildfläche verschwunden. Keine Musik mehr von ihm. Seine Musik starb mit seinem Namen.
Doch in all der Zeit hatte ich seinen Namen nie vergessen. Daher war meine Aufregung unbeschreiblich gewesen, als er wieder anfing, Musik zu machen.
Bis ich sie hörte.
Ich hatte nichts gegen elektronische Tanzmusik an sich. Aber zu hören, wie der Junge, der so viele Jahre mein Idol gewesen war, synthetische Beats mixte, statt sich den wirklichen Instrumente zu widmen, die er so meisterhaft beherrschte, brach mir das Herz.
Als ich in England gewesen war, war ich zu seinem Auftritt gegangen, um ihn zu hören. Ich konnte gar nicht anders. Ich verschmolz mit der Menge, schloss die Augen, aber ich empfand nichts. Dann öffnete ich die Augen, beobachtete ihn und empfand dabei nichts als Bedauern für den Jungen, den ich einst die fantastische Musik dirigieren sah, die er selbst erschaffen hatte. Seine Hände tanzten mit dem Dirigentenstab, während dramatische Geigen- und anschwellende Bläserklänge ihn davontrugen. Die Musik, die aus seiner Seele aufs Papier geflossen war. Sie war der Abdruck seines Herzens, den er in dem Theater hinterließ, welches er mit seinem Auftritt beehrt hatte. So wie die Menschen, denen das Glück zuteilwurde, sie zu hören.
Dort oben auf dem Podium waren seine Augen tot. Sein Herz war nicht bei den Beats, und seine Seele war nicht einmal in diesem Raum. Er mochte der Shooting Star unter den DJs in Europa sein, aber das, was er da spielte, war nicht seine Leidenschaft. Es war nicht seine Bestimmung.
Mich konnte er nicht täuschen.
Den Cromwell Dean, dem ich als Kind zugesehen hatte, gab es nicht mehr. Er war gestorben mit was auch immer ihm das Bedürfnis genommen hatte, derart überwältigende Musik zu schaffen.
»Bonnie?«
Ich blinzelte, mein Blick wurde klar – und ich starrte auf die Holztür meines Zimmers. Ich drehte mich um und sah Kacey in ihr Zimmer neben meinem gehen.
»Hey«, sagte ich und drückte mir die Hand auf den Kopf.
»Alles in Ordnung? Du stehst schon seit ein paar Minuten hier mit der Hand am Türknauf.«
Ich lachte und schüttelte den Kopf. »Ich war einfach ganz in meinen Gedanken verloren.«
Kacey lächelte. »Was macht Easton?«
Ich verdrehte die Augen. »Er ist betrunken. Aber zum Glück wohl aufgehoben im Bett und im Tiefschlaf.«
Kacey kam näher. »Hast du Cromwell nach Hause gefahren?«
»Ja.«
»Wie war er so? Hat er was gesagt?«
»Nicht viel.« Ich seufzte, als die Müdigkeit sich bemerkbar machte. Ich brauchte dringend Schlaf.
»Und?«
Ich warf ihr einen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Offen gesagt ist er ein ziemlicher Kotzbrocken. Er ist unverschämt und arrogant.«
»Aber heiß.« Kacey wurde rot.
»Ich denke nicht, dass er ein guter Fang wäre, Kace.« Ich dachte an das Mädchen, mit dem er verschwunden war, in Brighton, mitten im Set. Und an seine rüpelhaften Worte zu mir am Strand: Ich habe heute Nacht schon einen geblasen bekommen …
Kacey war nicht wirklich eine Freundin; sie wohnte nur neben mir. Sie war nett. Und ich war überzeugt, dass Cromwell Dean sie vernaschen und wie eine heiße Kartoffel fallen lassen würde, sobald er bekommen hatte, was er von ihr wollte. Er schien genau der Typ für so was zu sein.
»Ja«, antwortete Kacey. Ich wusste, sie war nur höflich und tat so, als würde sie sich meine Worte zu Herzen nehmen. »Ich sollte jetzt besser ins Bett gehen.« Sie legte den Kopf zur Seite. »Du auch, Süße. Du siehst ein wenig blass aus.«
»Nacht, Kace. Wir sehen uns morgen.«
