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Tillie Cole

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Beschreibung

Ein Kuss hält nur für einen Moment. 1000 Küsse halten für die Ewigkeit

Als Rune Kristiansen nach Blossom Grove, Georgia, zurückkehrt, hat er nur eins im Sinn: herausfinden, warum Poppy ihn von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verbannt hat. Und das, obwohl sie ihm versprochen hatte, bis in alle Ewigkeit auf ihn zu warten. Zwei Jahre lang hat Poppys Schweigen Rune jeden Tag aufs Neue das Herz gebrochen, doch als er ihr nach all der Zeit das erste Mal wieder gegenüber tritt, weiß er augenblicklich, dass der schlimmste Schmerz ihnen erst noch bevorsteht.

"Herzzerreißend, atemberaubend, unvergesslich und unglaublich schön!" AESTAS BOOK BLOG

Dieser Roman ist bereits als E-Book unter dem Titel "A Thousand Boy Kisses" erschienen.

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Seitenzahl: 534

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Epilog

Playlist

Danksagungen

Die Autorin

Die Romane von Tillie Cole bei LYX

Leseprobe

Impressum

TILLIE COLE

All Your Kisses

Roman

Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner

Über dieses Buch

Ein Kuss hält nur für einen Moment. 1000 Küsse halten für die Ewigkeit

Als Rune Kristiansen nach Blossom Grove zurückkehrt, hat er nur eins im Sinn: Herausfinden, was mit Poppy passiert ist. Herausfinden, warum das Mädchen, das ein Teil seiner Seele ist und das ihm einst versprochen hat, bis in alle Ewigkeit auf ihn zu warten, ihn ohne ein Wort der Erklärung aus ihrem Leben verbannt hat. Zwei Jahre lang hat Poppys Stille Runes Herz jeden Tag aufs Neue gebrochen, doch als er ihr nach all der Zeit das erste Mal wieder gegenübertritt, weiß er augenblicklich, dass der schlimmste Schmerz ihnen erst noch bevorsteht.

Für alle, die an wahre, epische und seelenerschütternde Liebe glauben.

Das ist für Euch.

Prolog

Rune

Es gab exakt vier Momente, die mein Leben bestimmten.

Das hier war der erste.

Blossom Grove, Georgia,

Vereinigte Staaten von Amerika

Vor zwölf Jahren

Fünf Jahre alt

»Jeg vil dra! Nå! Jeg vil reise hjem igjen!«, rief ich so laut, wie ich konnte, um Mamma klarzumachen, dass ich wieder wegwollte, sofort! Ich wollte zurück nach Hause!

»Wir gehen nicht zurück nach Hause, Rune. Und wir gehen nicht von hier weg. Unser Zuhause ist jetzt in Georgia«, antwortete sie auf Englisch. Sie ging vor mir in die Hocke und sah mir direkt in die Augen. »Rune«, sagte sie sanft, »ich weiß, du wolltest nicht weg aus Oslo, aber dein Pappa hat einen neuen Job hier in Georgia.« Sie strich mit der Hand über meinen Arm, doch davon fühlte ich mich auch nicht besser. Ich wollte nicht hier sein, in Amerika.

Ich wollte wieder nach Hause.

»Slutt å snakke engelsk!«, fauchte ich. Ich hasste es, Englisch zu sprechen. Seit wir von Norwegen nach Amerika aufgebrochen waren, redeten Mamma und Pappa nur Englisch mit mir. Sie meinten, ich müsse üben.

Ich wollte aber nicht!

Mamma stand auf und hob eine Kiste vom Boden auf. »Wir sind in Amerika, Rune. Hier spricht man Englisch. Du sprichst ebenso lange Englisch wie Norwegisch. Es ist Zeit, die Sprache zu gebrauchen.«

Ich rührte mich nicht vom Fleck und schaute Mamma finster an, als sie an mir vorbei ins Haus ging. Ich sah mich in der kleinen Straße um, in der wir jetzt wohnten. Es gab hier acht Häuser. Alle groß, doch jedes sah anders aus. Unseres war rot gestrichen, mit weißen Fensterrahmen und einer riesigen Veranda. Ich hatte ein großes Zimmer im Erdgeschoss. Das fand ich schon cool. Irgendwie. Ich hatte noch nie im Parterre geschlafen; in Oslo war mein Zimmer in der oberen Etage gewesen.

Ich sah mir die Häuser an. Alle waren in leuchtenden Farben gestrichen: helle Blau-, Gelb- und Pinktöne … Dann blickte ich zum Haus nebenan. Direkt neben unserem – wir teilten uns ein Stück Rasen. Beide Häuser waren groß, unsere Gärten auch, aber es gab weder einen Zaun noch eine Mauer zwischen den Grundstücken. Wenn ich wollte, konnte ich in den Garten der Nachbarn laufen, und nichts würde mich aufhalten.

Das Haus war strahlend weiß und hatte eine Veranda, die rundherum verlief. Es gab Schaukelstühle und eine große Hollywoodschaukel gegenüber meinem Zimmerfenster. Genau gegenüber! Das gefiel mir nicht. Es passte mir nicht, dass ich in das Schlafzimmer der Leute schauen konnte und die in meins.

Auf dem Boden lag ein Stein. Ich kickte ihn mit dem Fuß weg und sah zu, wie er auf die Straße kullerte. Dann drehte ich mich um, um Mamma zu folgen, doch da hörte ich ein Geräusch. Es kam vom Haus nebenan. Ich schaute zur Haustür des Nachbarhauses, aber niemand kam heraus. Als ich die Stufen zu unserer Veranda hinaufstieg, bemerkte ich an der Seite des Hauses eine Bewegung – am Schlafzimmerfenster, das meinem gegenüberlag.

Meine Hand auf dem Geländer erstarrte, als ich sah, wie ein Mädchen in einem leuchtend blauen Kleid aus dem Fenster kletterte. Sie sprang hinunter auf das Gras und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab. Ich runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen nach unten, während ich darauf wartete, dass sie den Kopf hob. Sie hatte braunes Haar, das wie ein Vogelnest auf ihrem Kopf aufgetürmt war, und an der Seite eine große weiße Schleife.

Als sie aufsah, fiel ihr Blick direkt auf mich. Da lächelte sie. Ein ganz breites Lächeln. Sie winkte mir zu, und dann rannte sie los und blieb vor mir stehen.

Sie hielt mir die Hand hin. »Hi, mein Name ist Poppy Litchfield, ich bin fünf Jahre alt, und ich wohne nebenan.«

Ich starrte das Mädchen an. Sie hatte einen komischen Akzent. Damit klangen die englischen Wörter anders, als ich sie in Norwegen gelernt hatte. Das Mädchen – Poppy – hatte einen Schmutzfleck im Gesicht. An den Füßen trug sie leuchtend gelbe Gummistiefel mit einem großen roten Ballon an der Seite.

Sie sah seltsam aus.

Ich schaute von ihren Füßen hoch, und mein Blick fiel auf ihre Hand. Sie hielt sie mir immer noch hin. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, was sie wollte.

Poppy seufzte. Kopfschüttelnd nahm sie meine Hand, schüttelte sie zweimal auf und ab und erklärte: »Händeschütteln. Meine Grandma sagt, es ist richtig, wenn man Leuten, die man neu kennenlernt, die Hand schüttelt.« Sie zeigte auf unsere Hände. »Das war Händeschütteln. Und es war höflich, weil ich dich nicht kenne.«

Ich sagte gar nichts; aus irgendeinem Grund wollte meine Stimme nicht. Als ich nach unten sah, wurde mir klar, dass es daran lag, dass unsere Hände immer noch verschränkt waren.

An den Fingern hatte sie auch Dreck. Genau genommen hatte sie überall Dreck.

»Wie heißt du?«, fragte Poppy. Sie hatte den Kopf schief gelegt. Ein kleiner Zweig hing in ihrem Haar. »Hey«, sagte sie und zog an unseren Händen, »ich habe nach deinem Namen gefragt.«

Ich räusperte mich. »Mein Name ist Rune, Rune Erik Kristiansen.«

Poppy zog eine Grimasse und schob ganz lustig die großen rosafarbenen Lippen vor. »Du hörst dich merkwürdig an«, platzte sie heraus.

Ich zog meine Hand weg. »Nei det gjør jeg ikke!«, schimpfte ich.

Sie verzog das Gesicht noch mehr. »Was hast du gesagt?«, fragte Poppy, als ich mich umdrehte, um ins Haus zu gehen. Ich wollte nicht weiter mit ihr reden.

Wütend fuhr ich herum. »Ich sagte: ›Nein, tue ich nicht!‹ Das war Norwegisch!«, antwortete ich, diesmal auf Englisch. Poppys grüne Augen wurden ganz groß.

Sie kam näher und noch näher und fragte: »Norwegisch? Wie die Wikinger? Meine Grandma hat mir ein Buch über die Wikinger vorgelesen. Da drin stand, sie kamen aus Norwegen.« Ihre Augen wurden noch größer. »Rune, bist du ein Wikinger?« Ihre Stimme wurde ganz piepsig.

Das gab mir ein gutes Gefühl. Ich streckte die Brust raus. Pappa sagte immer, ich sei ein Wikinger, wie alle Männer in meiner Familie. Wir waren große, starke Wikinger. »Ja«, antwortete ich, »wir sind echte Wikinger aus Norwegen.«

Ein breites Lächeln erschien auf Poppys Gesicht, und ein lautes Mädchenkichern platzte aus ihrem Mund. Sie hob die Hand und zupfte an meinen Haaren. »Deswegen hast du langes blondes Haar und kristallblaue Augen. Weil du ein Wikinger bist. Zuerst dachte ich, du siehst wie ein Mädchen aus …«

»Ich bin kein Mädchen!«, fiel ich ihr ins Wort, aber Poppy schien es nicht zu kümmern. Ich fuhr mit der Hand durch mein langes Haar. Es reichte mir bis zu den Schultern. Alle Jungs in Oslo trugen ihr Haar so.

»… aber jetzt sehe ich, dass es daran liegt, dass du ein ganz echter Wikinger bist. Wie Thor. Der hatte auch langes blondes Haar und blaue Augen! Du bist genau wie Thor!«

»Ja«, stimmte ich zu. »Thor sieht so aus. Und er ist der stärkste Gott von allen.«

Poppy nickte und legte mir dann die Hände auf die Schultern. Ihr Gesicht war ganz ernst geworden, und ihre Stimme wurde flüsterleise. »Rune, ich erzähle das nicht jedem, aber ich gehe auf Abenteuerreisen.«

Ich zog eine Grimasse. Das verstand ich nicht. Poppy kam noch näher und sah mir in die Augen. Sie drückte meine Arme und legte den Kopf schief. Dann sah sie sich um und beugte sich vor, bevor sie sagte: »Normalerweise nehme ich niemanden mit auf meine Reisen, aber du bist ein Wikinger, und jeder weiß, dass Wikinger groß und stark werden und dass sie wirklich gut sind in Abenteuern und Erforschen, und in Lange-Wandern und Bösewichte-Fangen und … alles Mögliche!«

Ich war immer noch verwirrt, doch dann trat Poppy zurück und hielt mir wieder die Hand hin.

»Rune«, sagte sie mit ernster und kräftiger Stimme, »du wohnst gleich nebenan, du bist ein Wikinger, und ich liebe Wikinger einfach. Ich denke, wir sollten beste Freunde sein.«

»Beste Freunde?«, fragte ich.

Poppy nickte und streckte die Hand noch weiter aus. Langsam tat ich es ihr nach, nahm ihre Hand und schüttelte sie zweimal, so, wie sie es mir gezeigt hatte.

Händeschütteln.

»Dann sind wir jetzt beste Freunde?«, fragte ich, als Poppy den Arm wieder zurückzog.

»Ja!«, rief sie aufgeregt. »Poppy und Rune.« Sie legte den Finger ans Kinn und sah auf. Dann schob sie wieder die Lippen vor, als würde sie angestrengt nachdenken. »Das klingt gut, findest du nicht? ›Poppy und Rune, beste Freunde für unendlich!‹«

Ich nickte, denn das klang wirklich gut. Poppy legte ihre Hand in meine. »Zeig mir dein Zimmer! Ich will dir erzählen, was für ein Abenteuer wir als Nächstes erleben können.« Sie zog mich mit sich, und wir rannten ins Haus.

Als wir in mein Zimmer kamen, lief Poppy schnurstracks zu meinem Fenster. »Das ist ja genau das Zimmer gegenüber von meinem!«

Ich nickte, und sie quietschte und kam zu mir zurück, um wieder meine Hand zu nehmen. »Rune!«, rief sie aufgeregt, »wir können in der Nacht miteinander plaudern und uns Walkie-Talkies mit Dosen und Faden bauen. Wir können uns Geheimnisse zuflüstern, wenn alle anderen schlafen, und wir können Pläne machen und spielen und …«

Poppy redete weiter, aber das machte mir nichts aus. Ich mochte den Klang ihrer Stimme. Ich mochte ihr Lachen, und ich mochte die große weiße Schleife in ihrem Haar.

Vielleicht ist Georgia ja doch nicht so schlimm, dachte ich. Nicht wenn ich Poppy Litchfield als allerbeste Freundin habe.

Und genau das waren Poppy und ich von diesem Tag an.

Poppy und Rune.

Beste Freunde für unendlich.

Dachte ich zumindest.

Schon komisch, wie sich Dinge ändern können.

1

Gebrochene Herzen und Gläser voller Jungsküsse

Poppy

Vor neun Jahren

Acht Jahre alt

»Wo gehen wir hin, Daddy?«, fragte ich, als er mich sachte bei der Hand nahm und zum Auto führte. Ich schaute zurück zur Schule und fragte mich, wieso ich früher aus dem Unterricht geholt wurde. Es war erst zweite große Pause. Da sollte ich noch bleiben.

Daddy sagte nichts zu mir, als wir gingen, sondern drückte nur meine Hand. Ich schaute suchend am Schulzaun entlang und hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Ich liebte die Schule, ich lernte gern, und in der nächsten Stunde hatten wir Geschichte. Mein absolutes Lieblingsfach. Ich wollte es nicht verpassen.

»Poppy!« Rune, mein allerbester Freund, stand am Zaun. Seine Hände packten die Metallstäbe ganz fest. »Wo gehst du hin?«, rief er. Ich saß im Unterricht neben Rune. Wir waren immer zusammen. Die Schule machte keinen Spaß, wenn einer von uns nicht da war.

Ich drehte den Kopf zu Daddy, um eine Antwort zu bekommen, aber er sah mich nicht an und sagte auch nichts. Ich blickte wieder zu Rune und antwortete: »Ich weiß nicht!«

Rune sah mir den ganzen Weg zum Auto nach. Ich stieg hinten ein, kletterte auf meinen Kindersitz, und Daddy schnallte mich an.

Ich hörte die Trillerpfeife auf dem Schulhof, die das Ende der Pause anzeigte. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie alle Kinder wieder ins Schulgebäude liefen, nur Rune nicht. Er blieb am Zaun stehen und beobachtete mich. Sein langes blondes Haar wehte im Wind, als er lautlos fragte: »Alles okay?« Aber Daddy stieg ein und fuhr los, bevor ich Rune eine Antwort geben konnte.

Rune lief am Zaun entlang und folgte unserem Auto, bis Mrs Davis kam und ihn hineinscheuchte.

Als die Schule außer Sicht war, sagte Daddy: »Poppy?«

»Ja, Daddy?«

»Du weißt doch, dass Grandma schon eine Weile bei uns lebt?«

Ich nickte. Grandma war vor einiger Zeit in das Zimmer gegenüber meinem eingezogen. Mama hatte gesagt, das war, weil sie Hilfe brauchte. Mein Grandpa war gestorben, als ich noch ein Baby gewesen war. Danach hatte Grandma jahrelang allein gelebt, bis sie gekommen war, um bei uns zu wohnen.

»Weißt du noch, was Mama und ich dir über den Grund erzählt haben? Wieso Grandma nicht mehr allein wohnen kann?«

Ich atmete durch die Nase ein und flüsterte: »Ja. Weil sie unsere Hilfe braucht. Weil sie krank ist.« Mir krampfte sich bei diesen Worten der Magen zusammen. Grandma war meine allerbeste Freundin. Na ja, sie und Rune standen felsenfest ganz oben an der Spitze. Grandma sagte immer, ich sei genau wie sie.

Bevor sie krank wurde, unternahmen wir viele Abenteuer. Jede Nacht las sie mir über die großen Entdecker der Welt vor. Sie erzählte mir alles über Geschichte – über Alexander den Großen, die Römer und über meine Lieblinge, die Samurai aus Japan. Die mochte auch Grandma am liebsten.

Ich wusste, dass sie krank war, aber sie benahm sich nie wie jemand, der krank war. Sie lächelte immer, umarmte uns ganz fest und brachte mich zum Lachen. Sie sagte immer, sie habe Mondlicht im Herzen und Sonnenschein im Lächeln. Grandma erklärte mir, das hieß, dass sie glücklich sei.

Sie machte auch mich glücklich.

Aber in den letzten paar Wochen hatte Grandma viel geschlafen. Sie war zu müde, um recht viel anderes zu tun. Im Gegenteil, an den meisten Abenden las ich jetzt ihr vor, während sie mir übers Haar strich und mir zulächelte. Und das war okay, denn ein Lächeln von Grandma war das beste Lächeln, das man bekommen konnte.

»Richtig, Dreikäsehoch, sie ist krank. Tatsächlich ist sie sehr, sehr krank. Verstehst du?«

Ich runzelte die Stirn, nickte aber. »Ja.«

»Deshalb fahren wir früher nach Hause«, erklärte er. »Sie wartet auf dich. Sie will dich sehen. Ihre kleine Freundin.«

Ich verstand nicht, wieso Daddy mich früher nach Hause bringen musste, um Grandma zu besuchen, wenn ich doch jeden Abend nach der Schule als Erstes in ihr Zimmer ging und mit ihr plauderte, während sie im Bett lag. Es gefiel ihr immer, alles über meinen Tag zu hören.

Wir kamen in unsere Straße und parkten in unserer Auffahrt. Ein paar Sekunden lang rührte mein Daddy sich nicht, doch dann drehte er sich zu mir um und sagte: »Ich weiß, du bist erst acht, Dreikäsehoch, aber heute musst du ein großes, tapferes Mädchen sein, okay?«

Ich nickte. Mein Daddy schenkte mir ein trauriges Lächeln. »Das ist mein Mädchen.«

Er stieg aus und ging um das Auto herum zu meinem Rücksitz. Daddy nahm meine Hand, half mir aus dem Wagen und ging mit mir zum Haus. Ich konnte sehen, dass mehr Autos dastanden als sonst. Ich wollte gerade fragen, wem die alle gehörten, als Mrs Kristiansen, Runes Mama, über den Hof zwischen unseren Häusern kam, mit einem großen Tablett voll Essen in den Händen.

»James!«, rief sie, und Daddy drehte sich um, um sie zu begrüßen.

»Adelis, hey«, gab er zurück. Runes Mama blieb vor uns stehen. Sie trug ihr langes blondes Haar heute offen. Es hatte dieselbe Farbe wie Runes. Mrs Kristiansen war wirklich hübsch. Ich liebte sie. Sie war freundlich und nannte mich die Tochter, die sie nie hatte.

»Das habe ich für euch gekocht. Bitte sag Ivy, dass ich an euch denke.«

Daddy ließ meine Hand los, um das Tablett zu nehmen.

Mrs Kristiansen ging in die Hocke und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Sei ein braves Mädchen, Poppy, okay?«

»Ja, Ma’am«, antwortete ich und schaute zu, wie sie über den Rasen zurück zu ihrem Haus ging.

Daddy seufzte und bedeutete mir mit einem Nicken, dass ich ihm nach drinnen folgen solle. Als wir durch die Tür traten, sah ich meine Tanten und Onkel auf den Sofas sitzen, und meine Cousins und Cousinen hockten im Wohnzimmer auf dem Boden und spielten mit ihren Spielsachen. Tante Silvia saß da mit meinen Schwestern Savannah und Ida. Sie waren jünger als ich, erst vier und zwei Jahre alt. Sie winkten mir zu, als sie mich erblickten, aber Tante Silvia behielt sie auf dem Schoß.

Niemand sagte etwas, doch viele wischten sich die Augen; die meisten weinten.

Ich war ganz verwirrt.

Ich lehnte mich an Daddys Bein und umklammerte es fest. Jemand stand in der Küchentür – Tante Della. DeeDee, wie ich sie immer nannte. Sie war meine absolute Lieblingstante. DeeDee war jung und lustig und brachte mich immer zum Lachen. Meine Mama war älter als ihre Schwester, aber die beiden sahen ganz gleich aus. Beide hatten langes braunes Haar und grüne Augen, so wie ich. Doch DeeDee war besonders hübsch. Eines Tages wollte ich genauso aussehen wie sie.

»Hey, Pops«, sagte sie, aber ich konnte sehen, dass ihre Augen rot waren, und ihre Stimme hörte sich komisch an. DeeDee schaute Daddy an. Sie nahm ihm das Tablett ab und meinte: »Geh nur mit Poppy, James. Es ist fast so weit.«

Ich wollte mit Daddy gehen, blickte aber noch einmal zurück, als DeeDee nicht mitkam. Ich wollte nach ihr rufen, doch plötzlich drehte sie sich um, stellte das Tablett auf den Tresen und verbarg den Kopf in den Händen. Sie weinte, und das so heftig, dass ich laute Geräusche aus ihrem Mund kommen hörte.

»Daddy?«, flüsterte ich mit einem komischen Gefühl im Bauch. Daddy legte den Arm um meine Schultern und führte mich weiter. »Es ist okay, Dreikäsehoch. DeeDee braucht nur einen Moment allein.«

Wir gingen zu Grandmas Zimmer. Bevor Daddy die Tür öffnete, sagte er. »Mama ist da drin, Dreikäsehoch, und Grandmas Krankenschwester Betty ist auch da.«

Ich runzelte die Stirn. »Wieso eine Krankenschwester?«

Daddy öffnete die Tür zu Grandmas Zimmer, und Mama stand vom Stuhl neben Grandmas Bett auf. Ihre Augen waren rot, und ihr Haar war ganz unordentlich. Dabei war Mamas Haar doch nie unordentlich.

Hinten im Zimmer sah ich die Krankenschwester. Sie schrieb etwas auf ein Klemmbrett. Als ich hereinkam, lächelte sie und winkte mir zu. Dann schaute ich zum Bett. Grandma lag darin. Mein Herz machte einen Satz, als ich eine Nadel in ihrem Arm stecken sah, mit einem durchsichtigen Schlauch, der zu einem Beutel an einem Metallhaken neben ihr führte.

Ich stand ganz still da und hatte plötzlich Angst. Dann kam Mama zu mir, und Grandma schaute mich an. Sie sah anders aus als am vergangenen Abend. Sie war blasser, und ihre Augen leuchteten nicht mehr so.

»Wo ist meine kleine Freundin?« Grandmas Stimme war leise und klang komisch, aber ihr Lächeln gab mir ein Gefühl von Wärme.

Ich lachte Grandma zu und lief an ihr Bett. »Hier bin ich! Ich bin früher von der Schule gekommen, um dich zu sehen!«

Grandma hob den Finger und tippte mir auf die Nasenspitze. »Das istmein Mädchen!«

Ich lächelte ganz breit.

»Ich wollte einfach, dass du mich ein wenig besuchst. Ich fühle mich immer besser, wenn das Licht meines Lebens neben mir sitzt und ein wenig mit mir plaudert.«

Ich lächelte wieder. Denn ich war das ›Licht ihres Lebens‹, ihr ›Augapfel‹. Sie gab mir immer solche Namen. Grandma erzählte mir im Geheimen, dass das bedeutete, dass ich ihr Liebling war. Aber sie hatte mir gesagt, dass ich das für mich behalten müsse, damit meine Cousins, Cousinen und meine kleinen Schwestern sich nicht ärgerten. Es war unser Geheimnis.

Plötzlich griffen mich Hände an der Taille, und Daddy hob mich auf das Bett, damit ich neben Grandma sitzen konnte. Grandma nahm meine Hand. Sie drückte meine Finger, doch ich merkte nur, wie kalt ihre Hände waren. Grandma atmete tief ein, aber es klang komisch, als knackte etwas in ihrer Brust.

»Grandma, geht es dir gut?«, fragte ich und beugte mich vor, um einen sanften Kuss auf ihre Wange zu drücken. Normalerweise roch sie von all den Zigaretten, die sie rauchte, nach Tabak. Aber heute nahm ich keinen Rauchgeruch an ihr wahr.

Grandma lächelte. »Ich bin müde, Mäuschen. Und ich bin …« Grandma holte erneut Luft und kniff kurz die Augen zu. Dann öffnete sie sie wieder und sagte: »… und ich werde eine Weile fort sein.«

Ich runzelte die Stirn. »Wo gehst du denn hin, Grandma? Kann ich mitkommen?« Auf Abenteuerreise gingen wir immer zusammen.

Grandma lächelte, schüttelte jedoch den Kopf. »Nein, Mäuschen. Da, wo ich hingehe, kannst du nicht mit. Noch nicht. Aber eines Tages, viele Jahre später, wirst du mich wiedersehen.«

Mama schluchzte hinter mir auf, doch ich starrte nur Grandma an und war verwirrt. »Aber wo gehst du hin, Grandma? Ich verstehe das nicht.«

»Heim, Süße«, sagte Grandma. »Ich gehe heim.«

»Aber du bist doch daheim«, widersprach ich.

»Nein« – Grandma schüttelte den Kopf –, »das hier ist nicht unser wahres Daheim, Mäuschen. Dieses Leben … na ja, das ist nur ein ganz großes Abenteuer, solange wir es haben. Ein Abenteuer, um mit ganzem Herzen Spaß zu haben und zu lieben, bevor wir auf die größte Abenteuerreise von allen gehen.«

Meine Augen wurden rund vor Aufregung, doch dann fühlte ich mich traurig. Wirklich traurig. Meine Unterlippe fing zu zittern an. »Aber wir sind beste Kameradinnen, Grandma. Wir gehen immer zusammen auf Abenteuerreise. Du kannst doch nicht eine ohne mich machen.«

Inzwischen liefen mir Tränen über die Wangen. Grandma hob ihre freie Hand, um sie wegzuwischen. Sie war genauso kalt wie die Hand, die ich hielt. »Ja, wir gehen immer zusammen auf Abenteuerreise, Mäuschen, doch nicht dieses Mal.«

»Hast du denn keine Angst, wenn du allein gehst?«, fragte ich, aber Grandma seufzte nur.

»Nein, Mäuschen, da gibt es nichts zum Angsthaben. Ich habe überhaupt keine Angst.«

»Aber ich will nicht, dass du weggehst«, flehte ich, und langsam tat mir die Kehle weh.

Grandmas Hand blieb an meiner Wange. »Du wirst mich immer noch in deinen Träumen sehen. Das hier ist kein Lebewohl.«

Ich blinzelte ein paarmal. »So wie du Grandpa siehst? Du sagst immer, er besucht dich in deinen Träumen. Er redet mit dir und küsst dir die Hand.«

»Genau so«, sagte sie. Ich wischte meine Tränen weg. Grandma drückte meine Hand und sah Mama hinter mir an. Dann schaute sie mich wieder an und fügte hinzu: »Ich habe ein neues Abenteuer für dich, während ich weg bin.«

Ich wurde ganz still. »Wirklich?«

Hinter mir war zu hören, wie ein Glas auf einen Tisch gestellt wurde. Am liebsten wollte ich mich umdrehen und nachsehen, doch bevor ich es konnte, fragte Grandma: »Poppy, ich habe es dir so oft erzählt: Was ist mir die liebste Erinnerung aus meinem Leben? Das, was mich immer zum Lächeln gebracht hat?«

»Grandpas Küsse. Seine süßen Jungsküsse. Die Erinnerungen an alle Jungsküsse, die du je von ihm bekommen hast. Du hast mir erzählt, dass das deine liebsten Erinnerungen sind. Kein Geld oder Sachen, sondern die Küsse, die du von Grandpa bekommen hast – weil die alle etwas Besonderes waren und dich zum Lächeln gebracht haben. Du hast dich geliebt gefühlt, weil er dein Seelengefährte war. Dein Immer und Ewig.«

»So ist es, Mäuschen«, antwortete sie. »Also, dein Abenteuer …« Grandma sah wieder Mama an. Als ich mich diesmal umdrehte, bemerkte ich, dass sie ein großes Einmachglas in den Händen hielt. Das Glas war bis zum Rand voll mit jeder Menge rosa Papierherzchen.

»Wow! Was ist denn das?«, fragte ich aufgeregt.

Mama legte es mir in die Hände, und Grandma tippte auf den Deckel. »Das sind eintausend Jungsküsse. Oder zumindest werden sie das sein, wenn du sie alle ausgefüllt hast.«

Meine Augen wurden ganz groß, als ich versuchte, alle Herzchen zu zählen. Aber ich schaffte es nicht. Eintausend war eine Menge!

»Poppy«, sagte Grandma, als ich aufsah, und ihre grünen Augen glänzten. »Das ist dein Abenteuer. So sollst du dich an mich erinnern, während ich weg bin.«

Ich schaute wieder zu dem Glas. »Aber ich verstehe nicht.«

Grandma streckte die Hand zum Nachtschränkchen aus und nahm einen Stift. Den gab sie mir und sagte: »Ich bin jetzt schon eine ganze Weile krank, Mäuschen, doch die Erinnerungen daran, wie dein Grandpa mich geküsst hat, sind die, bei denen ich mich immer besser fühle. Nicht nur normale Alltagsküsse, sondern die besonderen, die, bei denen mir fast das Herz zersprungen ist. Die, bei denen Grandpa dafür sorgte, dass ich sie nie vergesse. Die Küsse im Regen, die Küsse bei Sonnenuntergang, unser Kuss auf dem Abschlussball … die, bei denen er mich ganz fest hielt und mir ins Ohr flüsterte, dass ich das hübscheste Mädchen im Saal sei.«

Ich hörte allem zu, und mein Herz fühlte sich voll an. Grandma zeigte auf die Herzchen im Einmachglas. »Das Glas ist dazu da, dass du deine Jungsküsse aufschreibst, Poppy. Alle Küsse, bei denen dir fast das Herz zerspringt, die ganz besonderen, die, an die du dich noch erinnern willst, wenn du so alt und grau bist wie ich. Die, die dich lächeln lassen, wenn du an sie denkst.«

Dann tippte sie auf den Stift und fuhr fort: »Wenn du den Jungen findest, der dein Immer und Ewig sein soll, dann nimm jedes Mal ein Herz heraus, wenn er dir einen ganz besonderen Kuss gibt. Schreib auf, wo ihr wart, als du geküsst wurdest. Und dann, wenn du auch eine Grandma bist, kann dein Enkelkind – dein bester Freund – alles über sie hören, so wie ich dir alles über meine ganz besonderen Küsse erzählt habe. Dann wirst du ein Schatzglas mit all den kostbaren Küssen haben, die dein Herz fliegen ließen.«

Ich starrte auf das Glas und hauchte: »Eintausend ist wirklich viel. Das sind eine Menge Küsse, Grandma!«

Sie lachte. »Nicht so viele, wie du denkst, Mäuschen. Vor allem nicht, wenn du deinen Seelengefährten findest. Du hast noch eine Menge Jahre vor dir.«

Grandma holte tief Luft und verzog das Gesicht, als hätte sie Schmerzen.

»Grandma«, rief ich und hatte plötzlich große Angst.

Sie drückte meine Hand. Dann öffnete sie die Augen, und da fiel eine Träne auf ihre blasse Wange.

»Grandma?«, fragte ich, diesmal leiser.

»Ich bin müde, Mäuschen. Ich bin müde, und es ist fast Zeit für mich zu gehen. Ich wollte dich nur ein letztes Mal sehen und dir dieses Glas schenken. Und dir einen Kuss geben, damit ich jeden Tag im Himmel an dich denken kann, bis ich dich wiedersehe.«

Meine Unterlippe begann wieder zu zittern.

Grandma schüttelte den Kopf. »Keine Tränen, Mäuschen. Das ist nicht das Ende. Es ist nur eine kleine Pause in unserem Leben. Und ich werde über dich wachen, jeden einzelnen Tag. Ich werde in deinem Herzen sein. Und im Blütenwäldchen, das wir so sehr lieben, in der Sonne und im Wind.«

Grandmas Augen zuckten, und Mama legte mir die Hände auf die Schultern. »Poppy, gib Grandma einen dicken Kuss. Sie ist jetzt müde und muss sich ausruhen.«

Ich holte tief Luft, lehnte mich vor und drückte Grandma einen Kuss auf die Wange. »Ich hab dich lieb, Grandma«, flüsterte ich.

Sie streichelte mir übers Haar. »Ich habe dich auch lieb, Mäuschen. Du bist das Licht meines Lebens. Vergiss nie, dass ich dich so sehr geliebt habe, wie eine Grandma ihr Enkelchen nur lieben kann.«

Ich hielt ihre Hand fest und wollte sie gar nicht mehr loslassen, doch Daddy hob mich vom Bett, und schließlich lösten sich meine Finger von ihren. Ich hielt mein Glas ganz fest umklammert, während meine Tränen auf den Boden tropften. Daddy ließ mich herunter, und als ich mich umdrehte, um zu gehen, rief Grandma mir nach: »Poppy?«

Ich blickte zurück, und Grandma lächelte. »Denk daran: Mondlichtherzen und Sonnenscheinlächeln …«

»Ich werde immer daran denken«, sagte ich, doch ich fühlte mich nicht glücklich. Ich war nur traurig. Hinter mir hörte ich Mama weinen. DeeDee ging im Flur an uns vorbei. Ihr Gesicht war auch traurig.

Ich wollte nicht hier drin bleiben. Ich wollte nicht mehr im Haus sein. Ich drehte mich um und schaute zu Daddy auf. »Daddy, kann ich zum Blütenwäldchen gehen?«

Er seufzte. »Ja, Baby. Ich komme später und sehe nach dir. Sei nur vorsichtig!«

Ich sah, wie Daddy sein Handy nahm und jemanden anrief. Er bat jemanden, nach mir zu sehen, während ich im Wäldchen war, doch ich rannte los, bevor ich herausfinden konnte, wen. Ich lief zur Haustür und drückte das Glas für die eintausend Jungsküsse fest an mich. Ich rannte aus dem Haus und von der Veranda. Ich rannte und rannte, ohne stehen zu bleiben.

Tränen liefen mir übers Gesicht. Dann hörte ich jemanden meinen Namen rufen.

»Poppy! Poppy, warte!«

Ich blickte zurück und sah, dass Rune mich beobachtete. Er stand auf seiner Veranda, lief aber sofort hinter mir her über den Rasen. Doch ich blieb nicht stehen, nicht einmal für Rune. Ich musste zu den blühenden Kirschbäumen, den Kirschblütenbäumen, wie wir sie nannten. Es war Grandmas Lieblingsplatz. Ich wollte an ihrem Lieblingsort sein. Denn ich war traurig, weil sie wegging. In den Himmel.

Ihr wahres Daheim.

»Poppy, warte! Lauf nicht so schnell!«, rief Rune, als ich um die Ecke zum Wäldchen im Park bog. Ich rannte durch den Eingang; die großen Bäume standen in voller Blüte und formten einen Tunnel über meinem Kopf. Das Gras unter meinen Füßen war grün, und über mir war blauer Himmel. Leuchtend rosa und weiße Blütenblätter bedeckten die Bäume. Dann, ganz am Ende des Wäldchens, kam der größte Baum von allen. Sein Stamm war der dickste im ganzen Wäldchen.

Er war der absolute Liebling von Rune und mir.

Und von Grandma.

Ich war außer Atem. Als ich unter Grandmas Lieblingsbaum ankam, sank ich zu Boden und umklammerte mein Glas, während mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich hörte, dass Rune neben mir stehen blieb, aber ich sah nicht auf.

»Poppymin?«, fragte Rune. Das war sein Name für mich. Es bedeutete »meine Poppy« auf Norwegisch. Ich liebte es, wenn er Norwegisch mit mir sprach. »Poppymin, nicht weinen«, flüsterte er.

Doch ich konnte nicht anders. Ich wollte nicht, dass Grandma mich verließ, auch wenn ich wusste, dass sie gehen musste. Ich wusste, wenn ich wieder nach Hause kam, würde Grandma nicht da sein: nicht jetzt und nie mehr.

Rune setzte sich neben mich und umarmte mich. Ich schmiegte mich an ihn und weinte. Ich liebte Runes Umarmungen, denn er hielt mich immer ganz fest im Arm. »Meine Grandma, Rune, sie ist krank, und sie verlässt uns.«

»Ich weiß. Mamma hat es mir erzählt, als ich eben von der Schule kam.«

Ich nickte an seiner Brust. Als ich nicht mehr weinen konnte, setzte ich mich auf und wischte mir über die Wangen. Ich sah Rune an. Er beobachtete mich, und ich versuchte zu lächeln. Darauf nahm er meine Hand und presste sie an seine Brust.

»Es tut mir leid, dass du so traurig bist«, sagte Rune und drückte meine Hand. Sein T-Shirt war warm von der Sonne. »Ich will nicht, niemals, dass du traurig bist. Du bist Poppymin; du lächelst immer. Du bist immer glücklich.«

Ich schniefte und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Ich weiß. Aber Grandma ist meine beste Freundin, Rune, und jetzt habe ich sie nicht mehr.«

Rune sagte erst nichts, und dann antwortete er: »Ich bin auch dein bester Freund. Und ich gehe nirgendwohin. Versprochen. Für immer und ewig.«

Mein Herz, das so wehgetan hatte, schmerzte plötzlich weniger. Ich nickte. »Poppy und Rune für unendlich«, sagte ich.

»Für unendlich«, wiederholte er.

Wir schwiegen eine Weile, bis Rune fragte: »Wofür ist denn das Glas da? Was ist da drin?«

Ich zog die Hand zurück, hielt das Glas fest und hob es hoch. »Grandma hat mir ein neues Abenteuer gegeben. Eins, das mein ganzes Leben lang dauern wird.«

Rune runzelte die Stirn, und das lange blonde Haar fiel ihm über die Augen. Ich strich es zurück, und er schenkte mir sein halbes Lächeln. Alle Mädchen in der Schule wollten, dass er sie so anlächelte – das erzählten sie mir immer. Aber er schenkte sein Lächeln nur mir. Ich sagte ihnen, dass ihn sowieso keine von ihnen haben konnte, denn er war mein bester Freund, und ich wollte ihn nicht teilen.

Rune deutete auf das Glas. »Ich verstehe nicht.«

»Weißt du noch, was die allerliebsten Erinnerungen meiner Grandma sind? Ich habe es dir schon einmal erzählt.«

Ich konnte sehen, dass Rune angestrengt nachdachte, und dann plötzlich fragte er: »Küsse von deinem Grandpa?«

Ich nickte und pflückte eine blassrosa Kirschblüte von dem Ast, der neben mir herabhing. Ich starrte die Blüte an. Die mochte Grandma am liebsten. Sie mochte sie, weil es sie nicht lange gab. Sie sagte, eine Kirschblüte sei zu schön, um das ganze Jahr zu überdauern. Sie war etwas extra Besonderes, weil ihr Leben so kurz war. Wie bei den Samurai – extreme Schönheit und rascher Tod. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, was das alles bedeutete, doch Grandma sagte, ich würde es besser verstehen, wenn ich älter wurde.

Aber ich denke, sie hatte recht. Denn Grandma war nicht sehr alt. Sie verließ uns jung – zumindest hatte Daddy das gesagt. Vielleicht war das der Grund, warum sie Kirschblüten so sehr mochte. Weil sie ganz genauso war.

»Poppymin?«

Runes Stimme ließ mich aufblicken.

»Habe ich recht? Waren die Küsse mit deinem Grandpa die Lieblingserinnerungen deiner Grandma?«

»Ja«, antwortete ich und ließ die Blüte fallen, »alle Küsse von ihm, bei denen ihr fast das Herz zersprang. Grandma sagte, dass seine Küsse das Allerbeste auf der Welt waren. Weil sie bedeuteten, dass er sie so sehr geliebt hat. Dass sie ihm wichtig war. Und er mochte sie genau so, wie sie war.«

Rune schaute finster auf das Glas und schnaubte. »Ich verstehe es immer noch nicht, Poppymin.«

Ich lachte, als er die Lippen vorschob und das Gesicht verzog. Er hatte hübsche Lippen; sie waren wirklich voll mit einem perfekten Amorbogen. Ich öffnete das Glas, holte ein leeres rosa Papierherz heraus und hielt es zwischen Rune und mir hoch. »Das ist ein leerer Kuss.« Ich deutete auf das Glas. »Grandma hat mir eintausend Stück gegeben, die ich in meinem Leben sammeln soll.« Ich legte das Herz zurück ins Glas und nahm Runes Hand. »Ein neues Abenteuer. Eintausend Jungsküsse sammeln, bevor ich sterbe, von meinem Seelengefährten.«

»Ich … was … Poppy? Ich bin durcheinander!«, sagte er, doch ich konnte den Zorn in seiner Stimme hören. Rune konnte wirklich mürrisch sein, wenn er wollte.

Ich nahm den Stift aus meiner Tasche. »Wenn der Junge, den ich liebe, mich küsst und es sich so besonders anfühlt, dass mir fast das Herz zerspringt – nur die extra besonderen Küsse –, dann soll ich die Einzelheiten auf eins der Herzen schreiben. Für dann, wenn ich alt und grau bin und meinen Enkelkindern von den ganz besonderen Küssen in meinem Leben erzählen will. Und von dem süßen Jungen, der sie mir gegeben hat.«

Ich sprang auf, als mich die Aufregung überwältigte. »Das wollte Grandma von mir, Rune. Also muss ich bald anfangen! Ich will das für sie tun.«

Auch Rune sprang auf. In diesem Augenblick wehte ein Windstoß durch die Kirschblüten, genau da, wo wir standen, und ich lächelte. Aber Rune lächelte nicht. Tatsächlich sah er geradezu irre wütend aus.

»Du willst einen Jungen küssen, für dein Glas? Einen ganz besonderen? Einen, den du liebst?«, fragte er.

Ich nickte. »Eintausend Küsse, Rune! Eintausend!«

Rune schüttelte den Kopf und schob wieder die Lippen vor. »NEIN!«, schrie er dann.

Mein Lächeln verschwand. »Was?«, fragte ich.

Rune kam einen Schritt näher und schüttelte den Kopf noch heftiger. »Nein! Ich will nicht, dass du einen Jungen küsst für dein Glas! Das lasse ich nicht zu!«

»Aber …«, wollte ich einwenden, doch Rune nahm meine Hand.

»Du bist meine beste Freundin«, sagte er, streckte die Brust raus und zog an meiner Hand. »Ich will nicht, dass du Jungs küsst!«

»Aber ich muss«, erklärte ich und deutete auf das Glas. »Ich muss, für mein Abenteuer. Eintausend Küsse sind ganz schön viele, Rune. Eine Menge! Du wärst immer noch mein bester Freund. Niemand wird mir je mehr bedeuten als du, du Dummie.«

Er starrte erst mich, dann das Glas an. Wieder tat mir das Herz weh; an seinem Gesicht konnte ich sehen, dass er nicht froh war. Er war wieder ganz mürrisch.

Ich ging näher auf meinen besten Freund zu, und Runes Blick hielt meinen fest.

»Poppymin«, sagte er, und seine Stimme klang tiefer – hart und stark. »Poppymin! Das bedeutet ›meine Poppy‹. Für unendlich, immer und ewig. Du bist MEINE Poppy!«

Ich machte den Mund auf, um zurückzuschreien und ihm zu sagen, dass das ein Abenteuer war, das ich einfach unternehmen musste. Aber da beugte Rune sich vor und presste ganz plötzlich seine Lippen auf meine.

Ich erstarrte. Ich konnte keinen Muskel rühren, als ich seine Lippen spürte. Sie waren warm, und er schmeckte nach Zimt. Der Wind wehte sein langes Haar über meine Wangen, und es kitzelte in meiner Nase.

Rune löste sich von mir, aber sein Gesicht blieb nah an meinem. Ich wollte Luft holen, doch ich hatte ein komisches Gefühl in der Brust, irgendwie leicht und luftig. Und mein Herz klopfte ganz schnell. So schnell, dass ich meine Hand darauf drückte, um es pochen zu spüren.

»Rune«, flüsterte ich, hob die Hand und legte die Finger an meine Lippen. Rune sah mir blinzelnd zu. Dann streckte ich den Arm aus und drückte die Finger auf seine Lippen.

»Du hast mich geküsst«, flüsterte ich verblüfft. Rune hob die Hand, um meine zu halten, und senkte unsere verschränkten Hände dann neben sich.

»Ich werde dir eintausend Küsse geben, Poppymin. Alle. Keiner wird dich jemals küssen außer mir.«

Meine Augen wurden groß, doch mein Herz wurde nicht langsamer. »Das wäre ja für immer, Rune. Niemals von jemand anders geküsst zu werden bedeutet, dass wir für immer zusammenbleiben, für immer und ewig!«

Rune nickte und lächelte dann. Rune lächelte nicht viel. Normalerweise zeigte er so ein halbes Lächeln oder ein Schmunzeln. Aber er sollte lächeln, denn dann war er echt hübsch. »Ich weiß. Weil wir für ewig und immer sind. Für unendlich, weißt du noch?«

Ich nickte langsam und legte dann den Kopf schief. »Du wirst mir alle meine Küsse geben? Genug, um das ganze Glas vollzumachen?«, fragte ich.

Rune schenkte mir noch ein kurzes Lächeln. »Alle. Wir machen das ganze Glas voll und noch mehr. Wir werden noch viel mehr als eintausend Küsse sammeln.«

Ich schnappte nach Luft, und plötzlich fiel mir das Glas wieder ein. Ich zog die Hand zurück, damit ich meinen Stift nehmen und das Glas öffnen konnte. Ich holte ein leeres Papierherz heraus und setzte mich hin, um zu schreiben. Rune kniete sich vor mich hin, legte die Hand auf meine und hielt mich vom Schreiben ab.

Verwirrt schaute ich auf. Er schluckte, schob sich das lange Haar hinters Ohr und fragte: »Ist denn … als ich … dich geküsst habe … ist da … ist dein Herz da fast zersprungen? War das ganz extra besonders? Du hast gesagt, nur ganz extra besondere Küsse kommen ins Glas.« Seine Wangen wurden leuchtend rot, und er senkte den Blick.

Ohne nachzudenken, beugte ich mich vor und schlang die Arme um den Hals meines besten Freundes. Ich drückte meine Wange an seine Brust und lauschte auf seinen Herzschlag.

Sein Herz pochte genauso schnell wie meins.

»Ja, Rune. Das war so besonders, wie besonders nur geht.«

Ich spürte Runes Lächeln an meinem Kopf und ließ ihn wieder los. Ich überkreuzte die Beine und legte das Papierherz auf den Glasdeckel. Rune setzte sich auch mit überkreuzten Beinen hin.

»Was willst du schreiben?«, fragte er. Ich tippte mit dem Stift an meine Lippen und dachte angestrengt nach. Dann setzte ich mich aufrecht, beugte mich vor und schrieb auf das Papier:

Kuss eins

Mit meinem Rune.

Im Blütenwäldchen.

Mein Herz wollte fast zerspringen.

Als ich fertig war mit Schreiben, legte ich das Herz ins Glas und machte den Deckel fest zu. Ich schaute zu Rune auf, der mir die ganze Zeit zugesehen hatte, und verkündete stolz: »Da. Mein allererster Jungskuss!«

Rune nickte, doch sein Blick fiel auf meine Lippen. »Poppymin?«

»Ja?«, flüsterte ich.

Rune griff nach meiner Hand und fing an, mit der Fingerspitze Muster auf meinen Handrücken zu malen. »Kann ich … kann ich dich noch einmal küssen?«

Ich schluckte und hatte Schmetterlinge im Bauch. »Du willst mich noch mal küssen … jetzt schon?«

Rune nickte. »Ich wollte dich schon eine ganze Weile küssen. Und na ja, du gehörst zu mir, und es hat mir gefallen. Ich fand es schön, dich zu küssen. Du schmeckst nach Zucker.«

»Ich habe am Anfang der zweiten großen Pause einen Keks gegessen. Butter mit Pekannuss. Grandmas Lieblingssorte«, erklärte ich.

Rune holte tief Luft und lehnte sich zu mir. Sein Haar wehte nach vorn. »Ich will es noch mal tun.«

»Okay.«

Und Rune küsste mich.

Er küsste mich und küsste mich und küsste mich.

Bis zum Ende des Tages hatte ich noch vier Jungsküsse mehr in meinem Glas.

Als ich nach Hause kam, sagte Mama mir, dass Grandma in den Himmel gegangen sei. So schnell ich konnte, rannte ich in mein Zimmer und beeilte mich einzuschlafen. Und wie Grandma versprochen hatte, war sie in meinen Träumen da. Also erzählte ich ihr alles über die fünf Jungsküsse von meinem Rune.

Grandma schenkte mir ein breites Lächeln und küsste mich auf die Wange.

Ich wusste, das würde das beste Abenteuer meines Lebens.

2

Musiknoten und Lagerfeuerflammen

Rune

Vor zwei Jahren

Fünfzehn Jahre alt

Es wurde still, als sie sich auf der Bühne niederließ. Na ja, nicht ganz still – das Donnern, mit dem das Blut in meinen Adern rauschte, brüllte mir in den Ohren, als Poppy sich anmutig setzte. Sie sah wunderschön aus in ihrem ärmellosen schwarzen Kleid, das lange braune Haar nach hinten zu einem Knoten gebunden, mit einer weißen Schleife oben.

Ich hob die Kamera, die immer um meinen Hals hing, und hielt die Linse ans Auge, als Poppy gerade den Bogen an die Saiten ihres Cellos legte. Ich liebte es immer, sie in diesem Augenblick aufzunehmen. In dem Moment, wenn sie die großen grünen Augen schloss. Wenn der absolut perfekte Ausdruck über ihr Gesicht huschte – der, den sie immer hatte, kurz bevor die Musik begann. Ein Ausdruck reiner Leidenschaft für die Klänge, die nun folgen sollten.

Ich schoss das Foto im perfekten Moment, und dann begann die Melodie. Ich senkte die Kamera und konzentrierte mich nur auf Poppy. Während sie spielte, konnte ich keine Fotos machen. Ich wollte nicht riskieren, auch nur einen Augenblick davon zu verpassen, denn ich liebte es, wie sie auf der Bühne aussah.

Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, als ihr Körper sich im Takt zur Musik wiegte. Poppy liebte dieses Stück und spielte es schon, solange ich denken konnte. Sie brauchte kein Notenblatt dafür: Greensleeves strömte direkt aus ihrer Seele durch ihren Bogen heraus.

Ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren, und mein Herz schlug wie eine Trommel, als Poppys Lippen zuckten. Ihre tiefen Grübchen zeigten sich, als sie sich auf die schwierigen Passagen konzentrierte. Ihre Augen blieben geschlossen, aber man konnte sehen, welche Stellen der Melodie sie besonders liebte. Dann legte sie immer den Kopf schief, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

Den Leuten war es unbegreiflich, dass sie nach all der Zeit immer noch mir gehörte. Wir waren erst fünfzehn, doch seit dem Tag, an dem ich sie im Blütenwäldchen geküsst hatte, mit acht Jahren, hatte es nie jemand anders gegeben. Bei jedem anderen Mädchen hatte ich Scheuklappen auf. Ich sah nur Poppy. In meiner Welt existierte nur sie.

Und sie war anders als alle anderen Mädchen in unserer Klasse. Poppy war eigen, nicht cool. Sie machte sich keine Gedanken darüber, was andere von ihr hielten – das hatte sie nie. Sie spielte Cello, weil sie es liebte. Sie las Bücher, sie lernte, weil es ihr Freude bereitete, und sie wachte mit der Morgendämmerung auf, einfach um sich den Sonnenaufgang anzusehen.

Deshalb war sie mein Ein und Alles. Mein Immer und Ewig. Weil sie einzigartig war. Einzigartig in einer Stadt voller Durchschnittstussis. Sie wollte weder um jeden Preis auffallen noch Zicke spielen oder Jungs hinterherjagen. Sie wusste, sie hatte mich, ebenso sehr wie ich sie hatte.

Wir waren alles, was wir brauchten.

Ich rutschte auf meinem Stuhl nach vorn, als ihr Cello leiser wurde und Poppy das Stück zum Ende brachte. Wieder hob ich die Kamera und schoss ein letztes Foto, als Poppy den Bogen von den Saiten nahm und ein zufriedener Ausdruck auf ihrem Gesicht erschien.

Als Applaus zu hören war, senkte ich die Kamera. Poppy schob das Instrument von sich und stand auf. Sie verbeugte sich kurz und sah dann suchend ins Publikum. Ihre Augen fanden mich, und sie lächelte.

Ich glaubte, mir müsse das Herz aus der Brust springen.

Zur Antwort schmunzelte ich und schob mir das lange blonde Haar aus dem Gesicht. Leichte Röte überzog Poppys Wangen, dann ging sie nach links von der Bühne, und im Zuschauerraum flammte das Licht auf. Poppy war die Letzte, die auftrat. Sie bildete immer den Abschluss der Show. Sie war die beste Musikerin des Bezirks für unsere Altersgruppe. Meiner Ansicht nach überragte sie auch alle in den drei Altersgruppen darüber.

Einmal hatte ich sie gefragt, wie sie in der Lage sein konnte, so zu spielen, wie sie es tat. Sie hatte mir schlicht erklärt, dass die Melodien so einfach wie der Atem aus ihrem Bogen strömten. Ich konnte mir nicht vorstellen, ein solches Talent zu haben. Aber das war Poppy, das bezauberndste Mädchen der Welt.

Der Applaus verstummte, und die Leute verließen langsam den Saal. Eine Hand drückte meinen Arm. Mrs Litchfield wischte sich eine Träne weg. Sie weinte immer, wenn Poppy auftrat.

»Rune, mein Lieber, wir müssen die beiden nach Hause bringen. Könntest du Poppy abholen?«

»Ja, Ma’am«, antwortete ich und lachte leise über Ida und Savannah, Poppys neun- und elfjährige Schwestern, die auf ihren Stühlen eingeschlafen waren. Anders als Poppy, machten sie sich nicht viel aus Musik.

Mr Litchfield verdrehte die Augen und winkte mir kurz zu, bevor er sich umdrehte und die Mädchen weckte, um sie nach Hause zu bringen. Mrs Litchfield drückte mir einen Kuss auf den Kopf, und die vier gingen.

Als ich mich durch die Stuhlreihe auf den Gang hinausdrängen wollte, hörte ich Flüstern und Kichern rechts von mir. Ich warf einen Blick über die Stühle und sah eine Gruppe Mädchen aus der Anfängerklasse, die alle in meine Richtung schauten. Ich zog den Kopf ein und ignorierte ihr Starren.

Das kam häufig vor. Ich hatte keine Ahnung, warum so viele von denen mir so viel Aufmerksamkeit widmeten. Ich war mit Poppy zusammen, solange die mich kannten. Ich wollte keine andere. Ich wünschte, sie würden aufhören, mich von meinem Mädchen weglocken zu wollen – nichts würde das je schaffen.

Ich marschierte durch den Ausgang zur Tür in den Backstage-Bereich. Die Luft war verbraucht und feucht, sodass mir das schwarze T-Shirt am Körper klebte. Meine schwarze Jeans und die schwarzen Stiefel waren wahrscheinlich zu warm für den Frühlingsabend, aber das war mein täglicher Kleidungsstil, und das bei jedem Wetter.

Ich sah, dass die Auftretenden langsam herauskamen, also lehnte ich mich an die Wand des Zuschauerraums und stützte den Fuß an die weiß getünchte Wand. Ich verschränkte die Arme und löste sie nur, um mir das Haar aus den Augen zu streichen.

Ich beobachtete, wie die Künstler von ihren Familien umarmt wurden. Als ich dann bemerkte, dass dieselben Mädchen von vorhin mich wieder anstarrten, senkte ich den Blick zu Boden. Ich wollte nicht, dass sie zu mir kamen. Ich hatte ihnen nichts zu sagen.

Erst als ich Schritte auf mich zukommen hörte, sah ich auf, und da warf sich Poppy an meine Brust, schlang die Arme um meinen Rücken und drückte mich fest.

Ich gab ein kurzes Lachen von mir und drückte sie auch. Ich war schon über einen Meter achtzig groß und überragte damit Poppy mit ihren etwas über ein Meter fünfzig. Aber ich mochte es, wie perfekt sie zu mir passte.

Tief atmete ich ein, nahm den zuckersüßen Duft ihres Parfüms auf und legte meine Wange an ihren Kopf. Noch ein letztes Mal drücken, und Poppy ließ mich los und lächelte mir zu. Ihre grünen Augen sahen mit der Mascara und dem dezenten Make-up riesig aus, und ihre Lippen waren pink und saftig von ihrem Lippenbalsam mit Kirscharoma.

Ich fuhr mit den Händen an ihren Seiten hoch und hielt an, um ihre weichen Wangen zu umfassen. Poppys Wimpern flatterten, und sie sah einfach nur süß dabei aus.

Unfähig, dem Gefühl zu widerstehen, ihre Lippen auf meinen zu spüren, beugte ich mich langsam vor und lächelte beinahe, als ich wieder hörte, wie Poppy der Atem stockte, wie jedes Mal, wenn ich sie küsste, in jenem Moment, kurz bevor mein Mund den ihren berührte.

Als unsere Lippen sich trafen, atmete ich durch die Nase aus. Poppy schmeckte immer so, nach Kirschen, und das Aroma ihres Lippenbalsams drang in meinen Mund. Poppy erwiderte meinen Kuss, und ihre kleinen Hände hielten sich an den Seiten meines schwarzen Shirts fest.

Ich bewegte die Lippen auf ihren, langsam und sanft, bis ich mich schließlich löste und drei kurze, federleichte Küsse auf ihre vollen Lippen drückte. Ich holte tief Luft und sah zu, wie Poppys Augen flatternd wieder aufgingen.

Ihre Pupillen waren geweitet. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und warf mir dann ein strahlendes Lächeln zu.

»Kuss dreihundertzweiundfünfzig. Mit meinem Rune an der Wand des Zuschauerraums.« Ich hielt den Atem an und wartete auf den nächsten Satz. Das Glitzern in Poppys Augen verriet mir, dass die Worte, auf die ich hoffte, gleich über ihre Lippen kommen würden. Sie lehnte sich näher zu mir, balancierte auf den Zehenspitzen und flüsterte: »Und mein Herz wollte fast zerspringen.« Sie schrieb immer nur die ganz extra besonderen Küsse auf. Nur die, bei denen ihr Herz sich voll fühlte. Jedes Mal, wenn wir uns küssten, wartete ich auf diese Worte.

Und als sie kamen, warf ihr Lächeln mich fast um.

Poppy lachte. Ich musste einfach lächeln, als ich das Glück in ihrer Stimme hörte. Ich drückte ihr noch einen schnellen Kuss auf die Lippen und trat zurück, um den Arm um ihre Schultern zu legen. Ich zog sie an mich und lehnte die Wange an ihren Kopf. Poppy schlang mir die Arme um die Mitte, und ich ging mit ihr weg von der Wand. Doch dann spürte ich, wie Poppy erstarrte.

Ich hob den Kopf und sah, wie diese Mädchen aus der Anfängerklasse auf Poppy zeigten und miteinander tuschelten. Ihre Blicke waren auf Poppy in meinen Armen gerichtet. Meine Kinnmuskeln verkrampften sich. Ich hasste es, dass sie so mit ihr umgingen – aus reiner Eifersucht. Die meisten Mädchen gaben Poppy nie eine Chance, weil sie wollten, was sie hatte. Poppy sagte immer, es mache ihr nichts aus, aber ich konnte sehen, dass das nicht stimmte. Die Tatsache, dass sie sich in meinen Armen versteifte, verriet mir, wie viel es ihr in Wahrheit ausmachte.

Ich stellte mich vor Poppy und wartete darauf, dass sie den Kopf hob. Als sie es tat, sagte ich: »Ignorier sie!«

Mir sank das Herz, als ich sah, wie sie sich zu einem Lächeln zwang. »Das tue ich, Rune. Sie stören mich nicht.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. Poppy schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht. Versprochen«, versuchte sie zu lügen. Sie warf einen Blick zu den Mädchen hinüber und zuckte mit den Schultern. Als sie mir in die Augen sah, sagte sie: »Aber ich verstehe es. Ich meine, sieh dich an, Rune. Du bist umwerfend. Groß, rätselhaft, exotisch … norwegisch!« Sie lachte und drückte die Handfläche auf meine Brust. »Du bist so ganz der Bad Boy im Indiestyle. Die Mädchen können gar nicht anders, als dich zu wollen. Du bist du. Du bist perfekt.«

Ich drückte mich näher an sie und sah, wie ihre grünen Augen groß wurden. »Und ich gehöre dir«, fügte ich hinzu. Die Spannung fiel von ihren Schultern ab.

Ich legte meine Hand in ihre, die immer noch an meiner Brust lag. »Und ich bin nicht rätselhaft, Poppymin. Du weißt alles, was es über mich zu wissen gibt: keine Geheimnisse, keine Rätsel.«

»Für mich«, argumentierte sie und sah mir wieder in die Augen. »Für mich bist du kein Rätsel, aber für alle anderen Mädchen an unserer Schule. Sie wollen dich alle.«

Ich seufzte und wurde langsam sauer. »Und alles, was ich will, bist du.« Poppy musterte mich, als versuchte sie, in meiner Miene irgendetwas zu finden. Das machte mich noch ärgerlicher. Ich verschränkte die Finger mit ihren und flüsterte: »Für unendlich.«

Darauf umspielte ein echtes Lächeln Poppys Lippen. »Für immer und ewig«, wisperte sie schließlich.

Ich drückte meine Stirn an ihre. Meine Hände umfassten ihre Wangen, und ich beteuerte: »Ich will dich und nur dich. So ist es, seit ich fünf Jahre alt war und du mir die Hand geschüttelt hast. Kein anderes Mädchen wird das ändern.«

»Ja?«, fragte Poppy, doch ich konnte den Humor hören, der wieder in ihrer Stimme lag.

»Ja«, antwortete ich auf Norwegisch, und der süße Klang ihres Kicherns drang an mein Ohr. Sie liebte es, wenn ich in meiner Muttersprache mit ihr redete. Ich küsste sie auf die Stirn, trat dann zurück und nahm ihre Hände. »Deine Mamma und dein Daddy haben die Mädchen nach Hause gebracht; sie haben mich gebeten, es dir zu sagen.«

Sie nickte und schaute dann nervös zu mir auf. »Wie fandest du heute Abend?«

Ich verdrehte die Augen und zog die Nase kraus. »Schrecklich, wie immer«, antwortete ich trocken.

Poppy lachte und gab mir einen Klaps auf den Arm. »Rune Kristiansen! Sei nicht so gemein!«, tadelte sie.

»Na gut.« Ich tat so, als ärgerte ich mich. Ich drückte sie fest an mich und schlang die Arme um sie, sodass sie gefangen war. Sie quietschte auf, als ich anfing, ihre ganze Wange mit Küssen zu bedecken, während ich ihre Arme fest an die Seiten gedrückt hielt. Dann wanderten meine Lippen an ihren Hals, und als ihr der Atem stockte, war alles Lachen vergessen.

Mein Mund wanderte wieder aufwärts, bis ich mit den Zähnen an ihrem Ohrläppchen zupfte. »Du warst bezaubernd«, flüsterte ich. »Wie immer. Du warst perfekt dort oben. Die Bühne gehörte ganz dir. Und jeder in diesem Saal.«

»Rune«, raunte sie. Ich hörte den glücklichen Unterton in ihrer Stimme.

Ich löste mich von ihr, ohne sie loszulassen. »Ich bin nie stolzer auf dich als dann, wenn ich dich dort auf der Bühne sehe«, gestand ich.

Poppy wurde rot. »Rune«, sagte sie scheu, doch ich senkte den Kopf, um den Blickkontakt zu halten, als sie sich lösen wollte. »Carnegie Hall, weißt du noch? Eines Tages werde ich zusehen, wenn du in Carnegie Hall auftrittst.«

Poppy bekam eine Hand frei und tätschelte mir sachte den Arm. »Du schmeichelst mir.«

Ich schüttelte den Kopf. »Niemals. Ich sage immer nur die Wahrheit.«

Poppy drückte die Lippen auf meine, und ich fühlte, wie mir ihr Kuss bis in die Zehenspitzen ging. Als sie sich von mir löste, ließ ich sie los und verschränkte unsere Finger.

»Gehen wir raus aufs Feld?«, fragte Poppy, während ich mit ihr den Parkplatz überquerte und sie ein klein wenig fester an mich drückte, als wir an diesen Mädchen vorbeikamen.

»Ich möchte lieber mit dir allein sein«, sagte ich.

»Jorie hat gefragt, ob wir hinkommen. Alle sind dort.« Poppy schaute zu mir auf. Das Zucken ihrer Lippen verriet mir, dass ich wieder mürrisch dreinschaute. »Es ist Freitagabend, Rune. Wir sind fünfzehn, und du hast gerade den größten Teil des Abends damit verbracht, mir beim Cellospielen zuzusehen. Wir haben noch neunzig Minuten, bis wir zu Hause sein müssen; wir sollten uns wirklich mit unseren Freunden treffen wie normale Teenager.«

»Na gut«, gab ich nach und legte den Arm um ihre Schultern. Ich beugte mich hinab, hielt den Mund an ihr Ohr und sagte: »Aber morgen habe ich dich dann für mich.«

Poppy legte den Arm um meine Taille und hielt mich fest. »Versprochen.«

Wir hörten, wie die Mädchen hinter uns meinen Namen sagten. Als Poppy daraufhin kurz erstarrte, seufzte ich frustriert.

»Es liegt daran, dass du anders bist, Rune«, meinte Poppy, ohne aufzublicken. »Du bist künstlerisch, Fotograf. Du trägst dunkle Klamotten.« Sie lachte und schüttelte den Kopf. Ich strich mir das Haar aus dem Gesicht, und Poppy deutete nach oben. »Aber vor allem liegt es daran.«

Ich runzelte die Stirn. »Woran?«

Poppy hob die Hand und zupfte an einer meiner Haarsträhnen. »Wenn du das machst. Wenn du dir auf deine typische Art das Haar nach hinten streichst.« Nachdenklich hob ich eine Augenbraue. Poppy zuckte mit den Schultern. »Ist irgendwie unwiderstehlich.«

»Ja?«, fragte ich, blieb dann vor ihr stehen und fuhr mir übertrieben durchs Haar, bis sie lachte. »Unwiderstehlich, hm? Für dich auch?«

Poppy kicherte, griff nach meiner Hand im Haar und umfasste sie. Als wir dem Pfad zum Feld folgten – ein Flecken im Park, wo die Kids aus unserer Schule abends abhingen –, meinte Poppy: »Es macht mir wirklich nichts aus, dass die anderen Mädchen dir nachschauen, Rune. Ich weiß, was du für mich fühlst, weil ich ganz genau das Gleiche für dich empfinde.« Poppy sog die Unterlippe ein. Ich wusste, das bedeutete, dass sie nervös war, doch ich konnte mir nicht erklären, was der Grund dafür war, bis sie sagte: »Die Einzige, die mich stört, ist Avery. Weil sie schon so lange auf dich steht, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie alles tun würde, um dich für sich zu bekommen.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich mochte Avery nicht einmal, aber weil sie zu unserer Clique gehörte, war sie ständig um uns. Alle meine Freunde mochten sie; alle hielten sie für die Hübscheste hier. Doch ich sah das nie so, und ich hasste die Art, wie sie sich mir gegenüber verhielt. Ich hasste die Gefühle, die sie in Poppy weckte.

»Sie ist nichts, Poppymin«, beteuerte ich. »Nichts.«

Poppy schmiegte sich an mich, und wir bogen nach rechts ab, zu unseren Freunden. Je näher wir kamen, desto fester hielt ich sie. Avery setzte sich auf, als wir sie und die anderen fast erreicht hatten.

Ich drehte den Kopf zu Poppy und wiederholte: »Nichts.«

Poppy griff mein Shirt mit einer Hand und zeigte mir so, dass sie mich gehört hatte.

Ihre beste Freundin Jorie sprang auf. »Poppy!«, rief sie aufgeregt und kam zu uns, um Poppy zu umarmen. Ich mochte Jorie. Sie war albern und dachte nur selten nach, bevor sie den Mund aufmachte, aber sie liebte Poppy, und Poppy liebte sie. Jorie war einer der ganz wenigen Menschen in dieser Kleinstadt, die Poppys Eigenheiten liebenswert und nicht nur merkwürdig fanden.

»Wie geht’s euch, ihr Süßen?«, fragte Jorie und trat einen Schritt zurück. Sie betrachtete Poppys schwarzes Kleid, mit dem sie aufgetreten war. »Du siehst wunderschön aus! Richtig niedlich!«

Poppy neigte dankend den Kopf. Ich nahm wieder ihre Hand, führte sie um das kleine Feuer herum, das sie in der Feuergrube angezündet hatten, und setzte mich. Ich lehnte mich nach hinten an eine Holzbank und zog Poppy zu mir, sodass sie zwischen meinen Beinen sitzen konnte. Sie schenkte mir ein Lächeln, als sie sich mit mir niederließ, lehnte den Rücken an meine Brust und legte den Kopf an meinen Hals.

»Also, Pops, wie ist es gelaufen?«, fragte Judson, mein bester Freund, von der anderen Seite des Lagerfeuers. Mein anderer enger Freund, Deacon, saß neben ihm. Er nickte grüßend, und seine Freundin Ruby winkte uns kurz zu.

Poppy zuckte mit den Schultern. »Ganz gut, denke ich.«

Ich legte den Arm um sie, drückte sie an mich, sah meinen dunkelhaarigen Freund an und fügte hinzu: »Der Star der Show. Wie immer.«

»Es ist nur Cello, Rune. Nichts allzu Besonderes«, widersprach Poppy sanft.

Ich schüttelte protestierend den Kopf. »Sie hat alle zu Fall gebracht.«

Ich bemerkte, wie Jorie mich anlächelte und wie Avery abfällig die Augen verdrehte. Poppy ignorierte Avery und fing mit Jorie ein Gespräch über die Schule an.