ABBSD - Tuja Tiira - E-Book

ABBSD E-Book

Tuja Tiira

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Beschreibung

Die Light Novel ABBSD (All Big Brothers Shall Die) greift klassische Handlungsfiguren und -elemente aus Manga und Anime auf und wendet sie gegen den Strich. Was passiert, wenn sich Fiktion und Realität plötzlich mischen, Träume Wirklichkeit werden und die Situation sich immer schneller wandelt als gedacht. Rin Tanouichi, glücklich endlich ihre Familie hinter sich gelassen zu haben, hatte sich den Beginn ihres Studiums jedenfalls anders vorgestellt. Aber mit der Ruhe ist es schnell vorbei.

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Seitenzahl: 232

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HerausgeberInnen

ABBSD'All Big Brothers Shall Die' 2016 Eine Light Novel (raito noberu)

HerausgeberInnengemeinschaft Irrliche http://www.irrliche.orgTuja

Der Text steht unter der Lizenz:  http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/Der Text darf beliebig weiterverbreitet & gespiegelt werden Rückfragen: -  [email protected]

In der Light Novel 'Inu to Hasami wa Tsukaiyō' heißt es sinngemäß, dass nicht wichtig ist zu wissen, wer oder was die AutorIn ist - wichtig ist der Text und die LeserInnen. Interessant ist vielleicht nur, weshalb ich schreibe: Weil ich mich nirgends in der Literatur wiederfinde, dort nicht vorkomme und nicht bereit bin zur Normalisierung meines Fühlen und Denkens.

Tuja

Kapitelübersicht

Prolog

Kapitel 1 - Die Suche nach dem Sinn des Lebens kann auch im Kleiderschrank beginnen

Kapitel 2 - Die Bibliothekarin ist eine Halbtagskraft

Kapitel 3 - Du bist nicht die, die du warst, du bist die, die du bist!

Kapitel 4 - Wenn du die Tür schließt, wird die Nacht für immer währen

Kapitel 5 - Sie weiß mit Küchenmessern umzugehen

Kapitel 6 - Vergiss nicht, dass ich dich liebe!

Prolog

Ich bin eine Außerirdische und allein auf dieser Welt. Mit zwölf Jahren begriff ich dies, ich fühlte mich meist einsam und nun wusste ich warum. Ich war unter Fremden und dies würde immer so bleiben. Ich ging zu dieser Zeit in die Mittelstufe. Mir war kalt und ich fror, als ich an die Zurückweisungen dachte, die mein Alltag waren, und doch konnte ich mich nicht anpassen, ich wollte das auch gar nicht. Die Tränen, die auszubrechen drohten, schluckte ich herunter, als Außerirdische brauchte ich kein Mitleid, auch nicht von mir selbst. Auf meinem Schulweg in die Stadt und zurück verflossen täglich fast zwei Stunden, da die Familie, in der ich aufwuchs, einige Kilometer im Umland im Haus der Großeltern lebte. Zeit zum Träumen und Nachdenken. Zur Schule musste ich ein Stück zu Fuß gehen und dann mit Bus und Bahn fahren. Der Fußweg von der Bushaltestelle zu dem Ort, in dem ich wohnte, führte über freies Feld und wenn ich nach der Schule noch Zeit in der Bibliothek verbrachte, war es im Winter bereits dunkel und die Nacht umgab mich. Niemand begegnete mir hier um diese Zeit. Nur ab und an fuhr ein Auto vorbei. Ich lief allein durch die kühle Nachtluft, ich fühlte meine Einsamkeit und doch gab gerade dies mir Kraft. Immer wieder schluckte ich meine Tränen herunter und sagte mir: "Ich brauche sie nicht." Der dunkle schwarze Himmel nahm mich auf und beruhigte mich, wie ein großes Betttuch, in dem ich mich verkriechen konnte. Mit jeder Faser meines Körpers spürte ich, dass ich eine Außerirdische war, ich spürte dies am Zittern und an der Sehnsucht, ich wusste dies, ich war auf mich gestellt, eine Außerirdische, zwölf Jahre alt. Deshalb verstand mich auch niemand. Ich hatte keine Freundin, mit der ich hätte reden können, es gab niemanden. Ich blickte in den Nachthimmel, suchte mein Zuhause, und die Sehnsucht überwältigte mich wieder, irgendwo dort musste es sein. Das Gefühl der Fremdheit hatte mir schon lange verraten, dass die Familie, bei der ich aufwuchs, gar nicht meine Familie war, dass die Eltern und Großeltern gar nicht meine Verwandten waren, obwohl sie dies behaupteten, sie hatten mich wohl irgendwo gefunden und verschwiegen dies nur, wie Menschen, die eine junge Wildkatze im Wald finden und als Findelkind adoptieren. Sie dachten sicher, ihre Lügen wären zum Besten für alle, doch ich hatte ihre Täuschungen durchschaut. Sie waren Fremde, sie wussten vielleicht nicht einmal, dass ich eine Außerirdische war. Trotzdem spürte ich Dankbarkeit dafür, dass sie sich um mich kümmerten, doch sie würden mir niemals nahe sein. Ich sah mit einem Mal alles klar vor mir. Auch die beiden älteren Jungen, mit denen ich zusammen in der Familie aufwuchs, hatten also nichts mit mir zu tun. Zwar wurde behauptet, sie wären meine Brüder, ich wusste es jedoch schon lange besser. Sie hatten mich ihren Hass zu oft spüren lassen. Sie konnten unmöglich meine großen Brüder sein und ich war auch nicht ihre kleine Schwester. Ich war für sie nur ein Kuckuckskind und sie versuchten alles, um mich loszuwerden. Das Wissen um meine außerirdische Herkunft machte für mich vieles einfacher, ich wusste nun, wieso sie mich hassten und ich musste mich nicht mehr um ihre Liebe bemühen. Irgendwo dort im Dunkel am schwarzen Firmament lag mein wirkliches Zuhause. Unstillbare Sehnsucht kroch mir beim Blick zum Nachthimmel in die Glieder, ich zog mich zusammen, und trotz der Einsamkeit, die mich umgab, fühlte ich mich aufgehoben, ein Gefühl, das ich aus der Familie, in der ich lebte, nicht kannte. Tränen liefen mir nun trotz aller Bemühungen, sie zurückzuhalten, über das Gesicht. Schnell wischte ich sie weg. Ich wusste nun absolut sicher, dass ich nicht von der Erde kam. Und dann fühlte ich mit einem Mal, dass dort irgendwo im Schwarz zwischen den Sternen ein Mädchen lebte, das mich so vermisste wie ich sie, meine Zwillingsschwester. Unsere außerirdischen Eltern waren wohl ums Leben gekommen, ich spürte Trauer, aber sie sah ich vor mir. Und irgendwann würde sie kommen, vielleicht war sie schon auf dem Weg hierher durch die Nacht des Weltalls, wir würden uns finden und wiedersehen und umarmen, wir würden zusammen kämpfen und uns durchsetzen und ich würde nicht mehr einsam sein, nie mehr einsam sein. Natürlich wusste ich, dass dies alles nicht stimmte, dass dies nur ein Traum war, und doch fühlte er sich für mich realer als die Realität an und war ein Grund zur Hoffnung, ein Grund zu leben. Dies war mein Traum, niemand konnte ihn mir nehmen. Die einzige Zeit, in der ich damals wirklich glücklich war, war die Zeit, in der ich Bücher las und in ihnen abtauchen konnte. In der realen Welt schwankte ich dauernd zwischen Anpassung und Aufruhr, immer in Gefahr, mich zu verraten. Schon als Kind im Kindergarten und in der Grundschule fiel es mir nicht leicht, Freundinnen und Freunde zu finden. Die anderen Kinder wussten nicht, wie sie mich einordnen sollten, also blieben sie meist auf Distanz. Trotzdem versuchte ich Freundschaften zu schließen, doch sobald ich Freundinnen und Freunde mit nach Hause brachte, waren da meine Feinde, die beiden älteren Jungen, die behaupteten, meine großen Brüder zu sein. Als Älteren war es ihnen ein Leichtes, das Interesse auf sich zu lenken. Sie nutzten ihre Überlegenheit aus, um meine Freundinnen und Freunde auf ihre Seite zu ziehen und sich mit ihnen gemeinsam über mich lustig zu machen, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Und alle verrieten mich. Der Ablauf war mit kleinen Abwandlungen ab da immer der gleiche: Mir kamen die Tränen, doch meine Freundinnen und Freunde lachten nur weiter und sie hörten auf meine Freundinnen und Freunde zu sein, also wurde auch ich gemein und versuchte, sie rauszuwerfen, doch sie blieben einfach und achteten nicht auf mich, irgendwann lief ich weg und schloss mich ein, bis sie gegangen waren. Ich wollte niemanden mehr sehen. Danach hatte ich keine Freundinnen und Freunde mehr. Auch ich wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Dabei war das Ganze doch nur Spaß, das behaupteten zumindest meine Brüder. "Verstehst du keinen Spaß?" Oft gaben sie mir auch demütigende Spitznamen, sie wussten, wie ich das hasste, der Hass war mir anzusehen, mein Zittern und die nur mühsam unterdrückten Tränen, sie taten es gerade aus diesem Grund. Sie fanden das lustig, mich zittern zu sehen. Spaß war es nach ihrem Dafürhalten auch, wenn sie versuchten, mich mit körperlicher Gewalt zu zwingen, für sie aufzuräumen oder etwas aus dem Keller zu holen. Ich tat es nicht, ich wehrte mich, doch sie waren viel stärker und mir kamen ob meiner Hilflosigkeit die Tränen und schon das verzieh ich mir nicht. Ich wollte meinen Feinden keine Schwäche zeigen. Und irgendwann versiegten die Tränen. Mit zwölf ließ ich mir das nicht mehr gefallen. Ich verbarrikadierte mich in den Zimmern, stellte einen Tisch unter die Türklinke, stapelte Bücher zwischen Tisch und Türklinke oder schob einen Stuhl darunter, bis sie nicht mehr zu bewegen war. Der ältere der beiden Jungen verbog dann zuerst die Türklinke beim Versuch die Tür zu öffnen und trat dann gegen die Türen, bis fast das Holz splitterte, aber er traute sich nicht, sie wirklich einzutreten. Fast alle Türklinken in der Wohnung waren deshalb verbogen. Natürlich wussten die Jungen genau, dass dies keine harmlose Auseinandersetzung war, sondern todbitterer Ernst, doch ich ließ mich nicht mehr einschüchtern, ich wusste, dass ich als Außerirdische, obwohl ich jünger war als sie, intelligenter und selbstbewusster war. Am Anfang hatte ich noch ihre Liebe gesucht, doch inzwischen war mir das egal. Als Außerirdische brauche ich nicht die Zuwendung von Erdlingen, ich war mir alleine genug. Eine Weile hasste ich sie noch, bis ich begriff, dass mein Hass ihnen Macht über mich gab. Als ich dies begriffen hatte, war ich frei. Als der ältere Junge mich wieder einmal angriff und mit Gewalt zu zwingen versuchte, ihn zu bedienen, warf ich ihm einen Teller an den Kopf. Er rastete völlig aus, warf mich nieder und trat auf mich ein. Ich lag hilflos zusammen gekrümmt da, das Gesicht mit den Armen schützend, einen Augenblick lang von der Brutalität überrascht und nicht wissend, was ich tun sollte. Dann hatte er genug und hörte auf, doch ich vergaß nicht sein wahres Gesicht. Dies war der Auslöser dafür, dass ich mich entschied, ihn zu töten, sollte er mir nur noch einmal zu nahe kommen. Ich würde nicht noch einmal unvorbereitet ausgeliefert sein, doch ich wollte nicht die Schuld an seinem Tod tragen, also warnte ich ihn. "Das nächste Mal bringe ich dich um." Damit lag die Entscheidung bei ihm. Er reagierte nicht darauf. Ich plante alles sorgfältig, überlegte, wie ich im Kampf an die Küchenmesser und an andere brauchbare Waffen gelangen könnte und wie ich zustechen müsste und ging im Kopf alle denkbaren Variationen immer wieder durch. Ich hatte mich entschlossen, ihn zu töten und wusste, dass ich im Ernstfall nicht zögern durfte. Ich würde mich nicht noch einmal von seiner Brutalität einschüchtern lassen. Doch er rührte mich nie wieder an. Irgendwie hatte er wohl begriffen, dass sich die Situation verändert hatte. Ich musste ihn nicht töten, seine Entscheidung, mir war das auch recht. Ich hätte seinen Tod nicht bereut, doch so war es auch gut. Zu diesem Zeitpunkt war ich fünfzehn und ich dachte nur noch selten an meine außerirdische Zwillingsschwester. Auch die Tränen kamen nie mehr, ich hatte gelernt, für mich allein zu leben. Ich hatte keine Brüder mehr. Sie hatten für mich aufgehört zu existieren. Ich hatte keine Familie. Im gewissen Sinn habe ich nie eine Familie gehabt, wenigstens so lange ich mich erinnern kann. Zwar lebte ich noch mit Menschen zusammen, die behaupteten, meine Brüder, Eltern und Großeltern zu sein, doch das war ohne Bedeutung. Manche finden ein solches Leben vielleicht traurig, doch ich widerspreche. Ich liebe das Leben, das ich lebe. Ich habe gelernt, frei zu denken und zu fühlen. Ich werde niemals Dinge tun, die ich für falsch halte, nur weil andere sie von mir erwarten. Zumindest nicht, solange sie mir nicht eine Waffe an den Kopf halten und auch dann werde ich eine Fluchtmöglichkeit finden. Überall gibt es neben den ausgebauten Straßen und Wegen das Dunkel, in dem ich zu Hause bin und falls mir nichts bleibt, werde ich eher den Tod in Kauf nehmen, als mich ihnen zu unterwerfen. Das hat gar nichts mit Großartigkeit zu tun, vielmehr mit Notwendigkeit, ich kann mit dem Gefühl, Unterworfene zu sein, nie wieder leben. Außerdem bin ich überzeugt, dass ich immer einen Ausweg finden werde. Inzwischen bin ich volljährig, achtzehn und frei, niemand hat mir mehr etwas zu sagen. Ich bin auf dem Weg in eine andere Stadt. Dort werde ich studieren und alleine für mich leben. Niemand wird mich mehr stören. Meine Scheinfamilie wird in der Entfernung Hunderter von Kilometern verschwinden. Ich werde endlich allein sein, allein und ungestört und niemand wird mich allein lassen, weil ich niemandem die Möglichkeit dazu gebe.

Kapitel 1 - Die Suche nach dem Sinn des Lebens kann auch im Kleiderschrank beginnen

Die Zugfahrt verlief ruhig. Das Abteil war fast leer. Mit jedem Kilometer der vorbeiziehenden Landschaft, der Wälder und Städte, entschwand meine Vergangenheit mehr und mehr, und mit ihr alle dunklen Wolken. Ich saß da, die Beine halb angezogen, und sah durchs Fenster nach draußen. Ich stellte mir vor, durch die feuchten Wälder zu laufen, die kühle frische Luft zu atmen, meine Gedanken tanzten umher, ich betrachtete mein halb durchsichtiges Spiegelbild in der Scheibe, was würde wohl die Fensterscheibe über mein Aussehen sagen, wenn sie reden könnte? Ich lachte leise. Eine Mitreisende schaute irritiert zu mir herüber, ich wandte mich lachend ab. Als ich in der Universitätsstadt, in der ich nun leben würde, ankam, lagen über 700 km zwischen meinem bisherigen und meinem neuen Wohnort. Die beiden Männer, die immer noch so taten als wären sie meine älteren Brüder, lebten zu meiner Erleichterung noch weiter entfernt. Endlich konnte ich diese Familie vollständig hinter mir lassen, ein Stück abgeschlossener Vergangenheit. Auf Wiedergänger konnte ich gut verzichten. Ich atmete auf, ich fühlte mich leicht, ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben wirklich frei. Ich lief durch die Stadt, als würde ich zum ersten Mal eine Stadt sehen. Die Sonne schien und doch war die Luft angenehm kühl. Die kleinen Gassen mit ihren Geschäften und Caf és waren von Menschen erfüllt und doch fühlte ich mich nicht von ihnen bedrängt. Alles, was ich dabei hatte, waren ein großer Rucksack und mein Laptop. Alles, was ich sonst brauchte, würde ich mir kaufen und das meiste würde sowieso vorhanden sein. Meine Patentante, die als Wissenschaftlerin für drei Jahre in den USA arbeitete, hatte mir ihr Haus zur Nutzung überlassen. "Ich bin froh, wenn es nicht leer steht". Langsam stieg ich vom Tal, in dem sich der Bahnhof und das Stadtzentrum befanden, den Hang, an dem das Haus lag, hinauf, ein ganzes Haus, das nur mir zur Verfügung stehen würde, nur für mich. Das Haus stand hinter Bäumen und wirkte hier in dieser Gasse zwischen den Nachbarhäusern, als schliefe es. Ich fühlte mich etwas unsicher, als ich die Tür öffnete, staubige Luft schlug mir entgegen, ich lief durch die Zimmer und öffnete die Fenster. Alles war perfekt ausgestattet. Die Zimmer gefielen mir alle. Meine Patentante hatte mich nur gebeten, ihr Schlafzimmer und das Arbeitszimmer nicht zu nutzen, alle anderen Zimmer standen mir zur Verfügung – mehr als genug Platz. Ich ließ meinen Rucksack oben in einem der beiden Gästezimmer, das ich zukünftig für mich nutzen wollte, und kochte mir in der Küche einen Espresso, schäumte Milch auf und setzte mich mit dem Latte Macchiato im Wohnzimmer ans Fenster. Ich würde niemanden hierher einladen, in meine Festung der Ruhe. Dann richtete ich mich ein. Auch an der Universität gelang es mir, die Distanz zu wahren. Ich hatte mich an der philosophischen Fakultät eingeschrieben und würde in diesem Semester nur zwei Seminare und eine Vorlesung besuchen. Meine Zeit brauchte ich für andere, wichtigere Dinge. Oben unter dem Dach des alten Gebäudes, in dem die Philosophieseminare stattfanden, war eine alte Bibliothek. Sie schien übrig geblieben zu sein aus einer vergangenen Zeit. Die meisten besorgten sich ihre Literatur online. Die Räume hier oben waren bis auf die Bücher leer und still. Nur im vordersten Raum saß eine Bibliothekskraft und las. Hierhin würde ich mich zurückziehen, falls mir der Universitätsbetrieb zu laut wurde. Ich war begeistert. Doch Ruhe ist oft der Anfang von etwas anderem. Ich hätte es wissen müssen, nicht umsonst heißt es: ‚die Ruhe vor dem Sturm’. Nachdem ich in der Universität alle Formalitäten erledigt hatte, kaufte ich auf dem Rückweg alles was ich brauchte. Ich hatte mir alles auf einer Einkaufsliste notiert: Milch, Kakao, Obst, Gemüse, Dosenfisch, Eier, Brot, Aufstrich und Kaffee. Dann war ich endlich wieder zurück in meinem neuen Zuhause. Ich war frei und glücklich. Doch als ich gerade im Bad war und mich frisch machte für meinen nur mir gehörenden freien Abend hörte ich über mir ein Poltern. Das Geräusch kam aus dem Zimmer, in das ich eingezogen war. Nur das Regal, es war nur das Regal, welches zusammengebrochen war. Ich hatte es wohl zu einseitig mit meinen Sachen belastet. Ich sortierte alles wieder ein und verteilte dabei alles gleichmäßiger. Dann setzte ich mich unten in die Küche, trank einen Kakao und las eins meiner Lieblingsmanga. Irgendwann war es Zeit zum Schlafen. Alles war still, dunkel und leer. Unruhe erfasste mich und ich fühlte mein Herz rasen. Ich habe Angst und fühle mich allein in dunklen Wohnungen unsicher – und dies war ein ganzes Haus. Ich sah vorsichtshalber in allen Zimmern nach, ob sich nirgends etwas versteckt hatte, dann ging ich in mein Zimmer, verschloss sorgfältig die Tür und stellte einen Stuhl davor. Nachdem ich unter alle Tische und in alle Ecken geschaut hatte, war ich schon ruhiger. Ich legte mich in mein neues Bett, löschte das Licht und versuchte einzuschlafen. Zum Glück war die Nacht hell genug, ich konnte alle Umrisse erkennen und sicherstellen, das sich nichts Ungewöhnliches im Zimmer befand. Doch dann nahm die Unruhe wieder zu. Ich würde nochmal alle dunklen Plätze im Zimmer überprüfen, schließlich tat ich niemandem damit weh. Ich schaute gerade unter dem Bett nach, als eine Hand leicht zitternd meine Schulter berührte: "Was machst du da?", die Stimme einer jungen Frau direkt hinter mir. "Aaah!" Ich zuckte zusammen. Einen Augenblick lang krampfte sich mein Körper zusammen wie der eines ängstlichen Kaninchens. "Entschuldigung, habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht." Die Tür des Kleiderschranks hinter mir hatte sich geöffnet und eine Frau in meinem Alter schaute mich mit großen Augen an. Ihr Blick wirkte unsicher und furchtsam. "Es tut mit leid." "Ist schon okay." Ich konnte bei ihrem hilflosen Anblick nicht anders, als sie zu beruhigen. Meine Stimme funktionierte fast automatisch. "Wirklich?" Das Gesicht der Unbekannten hellte sich auf. Dann blickte sie unter das Bett. "Was suchst du unter dem Bett? Hast du Angst? Glaubst du, dass irgendwelche dunklen Schatten sich dort verkrochen haben? Ich finde Dunkelheit auch unheimlich." "Was geht dich das an?" Ich rückte ein Stück weg vom Kleiderschrank und vergrößerte die Distanz zu der Unbekannten. "Es ist nicht die Dunkelheit, ich fühle mich im Schlaf nur ausgeliefert und kann halt besser einschlafen, wenn ich vorher überall nachschaue, dass dort nichts Bedrohliches ist, besser als stundenlang wach zu liegen und auf verdächtige Geräusche zu horchen." Ich spürte, dass ich rot wurde, meine Angst war mir peinlich. Die Unbekannte nickte. "Im Kleiderschrank war es auch fürchterlich dunkel. Wieso hast du dort nicht nachgeschaut?" "Das habe ich vergessen." Wieso beantwortete ich die Fragen der Unbekannten? Sie schien nicht gefährlich zu sein und dies war meine Wohnung. Ich sollte die Fragen stellen. "Wer bist du?" "Die Information ist gesperrt." "Was soll das heißen? Du bist hier eingedrungen. Und wieso hast du meinen Trainingsanzug an? Du hast ihn außerdem verkehrt herum angezogen." "Oh, das wusste ich nicht," sie sah zu Boden und zupfte unsicher am Trainingsanzug, "wie zieht man ihn richtig an? Ich habe vorher noch nie solche Kleidung getragen. Kannst du mir das zeigen?" "Wieso sollte ich das tun?" "Für eine Beantwortung fehlen mir Informationen. Könntest du deine Frage spezifizieren?" Sie schien mich nicht verstanden zu haben. "Was machst du in meinem Kleiderschrank?" "Du hast mich eingeladen." "Wann?" "Auf deinem Internetforum ABBSD, du hast geschrieben, dass du umziehst und viel Platz hast und, falls eine Außerirdische eine Unterbringung sucht, könne sie gerne in deinem Kleiderschrank einziehen. Aber der Schrank ist sehr dunkel." Sie kroch aus dem Schrank und blieb davor sitzen, wieder blickte sie schüchtern zu Boden. Das stimmte. Ich hatte, kurz bevor ich mein Internet-Forum vor meinem Umzug endgültig geschlossen hatte, noch diesen Satz geschrieben, als letzten Gruß. Ich dachte zurück: ABBSD, 'All Big Brothers Shall Die', mein Internet-Forum hatte ich fünf Jahre zuvor gegründet, ein Forum für alle, die unter großen Brüdern litten und ihrer Wut eine Stimme geben wollten. Über Jahre war es für mich fast eine Art Tagebuchersatz. Hier hatte ich alles mit anderen teilen können, die vergleichbare Erfahrungen hatten. Doch dieses Forum war Vergangenheit, das hatte ich zumindest gedacht, genau wie große Brüder. Ich wandte mich wieder der Unbekannten zu. "Wie hast du mich gefunden? Wie bist du hier herein gekommen?" "Teleportation, ich habe nur den Kleiderschrank leicht verfehlt und dein Regal umgerissen. Das wollte ich nicht," sie schluckte und fuhr unsicher mit ihrer Hand über die Holzdielen, "ich hoffe, du hattest nicht zu viel Mühe damit, es wieder aufzurichten?" "Du warst das?" Ich ließ mich diesmal nicht von ihrer Hilflosigkeit beeindrucken, obwohl mir das schwer fiel. "Wo warst du dann die ganze Zeit?" "Hier." "Im Kleiderschrank?" Intensives Nicken. "Ich bin in den Ruhemodus gewechselt. Trotzdem war es dunkel und bedrückend. Und ich habe Hunger." Sie ließ den Kopf hängen. "Das soll ich dir glauben?" "Wieso sollte ich lügen?" Sie blickte mich überrascht an. "Ich habe wirklich Hunger." "Nein, das meine ich nicht." Ich betrachtete sie genauer. Sie hatte blaue, glatte halblange Haare und eine Frisur, die keinen Aufwand erforderte. Am auffälligsten waren ihre dunkelblauen, beinahe nachtschwarzen Augen. Sie war schlank, etwas kleiner als ich und versank fast in meinem Trainingsanzug, nur im Brustbereich spannte er etwas. Meine Figur wirkte im Vergleich zu ihr jungenhafter, doch das hatte mich nie gestört und machte es für mich einfacher, aufdringlichen Blicken von Männern auszuweichen. Sie sah mich an. Insgesamt sah sie eher unauffällig aus, bis auf die blau gefärbten Haare wirkte nichts an ihr ungewöhnlich. "Wieso sollte ich dir glauben, dass du eine Außerirdische bist?" "Ich bin eine." Wieder blickte sie mich mit ihren dunklen großen Augen an, dann zog sie sich zusammen und wandte sich ab. "Du glaubst, dass ich lüge?" "Nein, ich weiß nicht." Ich wollte sie nicht verletzen. "Wieso bist du hier?" "Ich suche den Sinn des Lebens und," sie zögerte, ihre Stimme zitterte leicht und wurde leise, "die Liebe, wirkliche Liebe. Ihr sagt soviel darüber in Filmen und Büchern, ich möchte das auch erleben." "Wirkliche Liebe?" Die Überraschung musste mir anzusehen sein. "Ja, kannst du sie mir zeigen?" "Ich weiß nicht, ob ich die richtige dafür bin. Weshalb suchst du sie?" Wieso kam sie damit zu mir? Dafür war ich nicht zuständig. "Sie scheint Menschen glücklich zu machen und ihrem Leben einen Sinn zu geben." Sie senkte ihren Blick, zog ihre Schultern zusammen und schlang die Arme um sich. Wieder wurde ihre Stimme leise. "Ich will auch glücklich sein." Ich setzte mich neben sie, "Liebe kann sicher schön sein, theoretisch, obwohl ich das nicht genau weiß, ich bin da zumindest nicht die richtige Ansprechpartnerin, nur den Sinn deines Lebens solltest du für dich selbst finden." Wir saßen nun beide mit dem Rücken an die Schranktür gelehnt, ohne uns zu berühren. Ich sah sie nicht an. "Andere für dein Glück verantwortlich zu machen, halte ich für falsch. Ich glaube nicht, dass es gut ist, das zu vermischen. Menschen, die du liebst, für deine Sinngebung zu benutzen, führt nur dazu, dass du die Liebe verlierst." "Wieso?" Ihre Stimme klang leise und unsicher. Als ich mich zu ihr umwandte, blickten mich wieder ihre großen Augen an. Ich wich ihrem Blick aus und stand auf. "Wirkliche Liebe bedeutet für mich, Menschen ihre Freiheit zu lassen, sich auch für Dinge zu entscheiden, die ich für falsch halte. Falls du erwartest, dass sie deinem Leben Sinn gibt, wird dir das schwerfallen." Einen Augenblick lang herrschte Stille. Sie sah nachdenklich ins Dunkel. Dann stand sie auch auf, ihr schien etwas einzufallen, sie kam auf mich zu und verbeugte sich tief. "Entschuldigung, ich habe vergessen mich vorzustellen, mein Name ist Nia Taira. Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen." Sie sah mich unsicher an. "Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich dich mit du anrede? Im Onlineforum haben wir uns immer geduzt." Sie hatte wirklich die Reihenfolge durcheinander gebracht, das machte indessen nichts. Ich wusste zwar nicht, was wirklich mit ihr war, und wir waren immer noch in meinem Schlafzimmer, doch aus irgendeinem Grund berührte mich ihr Blick, ich beschloss, mich für den Moment auf das, was sie sagte, einzulassen. "Du ist okay, aber wieso hast du einen japanischen Nachnamen, ich dachte du bist eine Außerirdische? Und was ist das für ein Vorname?" Zumindest schien Nia nicht langweilig normal zu sein. "Nia ist eine Abkürzung meiner Bezeichnung, dort wo ich herkomme, und den Nachnamen habe ich mit einem Zufallsgenerator ausgewählt." Sie wirkte immer noch unsicher. "Gefällt er dir nicht?" "Doch, schon." Nur dass sie den Trainingsanzug falsch herum trug, irritierte mich immer noch. Ich kam mir spießig vor und gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen. Trotz meiner Zustimmung wirkte sie weiter verunsichert, immer noch sah sie mich mit diesen großen Augen an, als würde sie auf etwas warten, und ihre Lippen zitterten. "Habe ich etwas Falsches gesagt? Findest du mich deiner Freundschaft unwürdig?" "Wieso?" "Du hast dich nicht vorgestellt, obwohl ich dir meinen Namen genannt habe. In den Filmen, die ihr ins Universum abstrahlt, verhalten Menschen sich nur so, wenn sie ihr Gegenüber ablehnen." Ich fühlte mich schuldig, ich hatte sie nicht beleidigen wollen. Ihre Augen ließen mich nicht los. Falls sie ihr gesamtes Wissen aus Filmen bezog, war es nicht verwunderlich, dass sie sich für eine Außerirdische hielt. Was für Filme waren das wohl? Vielleicht war sie ein Hikikomori. Sie musste meinen Namen doch kennen, wie hätte sie sonst hierher gefunden? Trotzdem stellte ich mich ihr förmlich vor. "Entschuldige bitte, ich bin Rin Tanouichi", ich verbeugte mich leicht, "nenn mich einfach Rin. Lass uns erst mal nach unten gehen." Sie nickte mit leuchtenden Augen. "Ich darf deinen Vornamen benutzen, dann musst du mich Nia nennen." "Nia," ich spürte wie sich aus irgendeinem Grund mein Herz leicht zusammenzog, als ich ihren Namen aussprach. Ich zog mir schnell eine Jeans über. Als Nachtzeug trug ich wie immer einen Slip und ein weites Herrenhemd. Ich finde das angenehm kühl und falls ich mal raus muss, reicht es, eine Hose überzuziehen. Dass Nia mich so gesehen hatte, hatte mir nichts ausgemacht, sie hatte nicht darauf geachtet. Falls ich unten im Haus nur im Slip rumlaufen würde, käme ich mir trotzdem nackt vor. Ich zog mir schnell auch noch ein Sport-Top unter das Hemd. Währenddessen zog sich Nia den Trainingsanzug richtig herum an. Sie hatte also meine Irritation bemerkt, ich schaute zur Seite. Ich nahm Nia mit in die Küche. Ich wusste nicht genau wieso, irgendwie kam es mir so vor, als würde ich sie schon lange kennen. "Was möchtest du essen?" "Yummy Food." "Hmm, und was heißt das für dich?" "Instantnudeln." "Die habe ich leider nicht." Ich schaute im Schrank nach. "Wie wäre es mit etwas Brot und Käse?" "Keine Instantnudeln?" Nias Augen wurden feucht, sie ließ den Kopf hängen. Ich spürte das Bedürfnis, sie zu trösten. "Wir können noch Instantnudeln bei der Tankstelle kaufen, die haben bis 3.00 Uhr geöffnet und jetzt ist es 1.10 Uhr." "Wirklich?" Ihre dunklen Augen strahlten mich nun an. "Ja klar." ich nickte, ihre Begeisterung umfing mich, doch ich hatte Angst, mich darauf einzulassen. Das würde nur mit einer Enttäuschung enden. "Ich muss nur noch eine Tasche oben vom Küchenschrank herunterholen." Doch bevor ich auf einen Stuhl steigen konnte spürte ich ihre Hand auf meinem Arm, mein Herzschlag beschleunigte sich. Sie sah mich an. "Ich mache das," und mit diesen Worten lief sie senkrecht die Wand hoch, blieb mit dem Kopf nach unten auf der Zimmerdecke stehen und griff eine der Taschen; "Ist die richtig?" Ich konnte nur mit offenem Mund nicken. War dies ein Traum? Einen Augenblick lang stockte mir der Atem. Wurde ich verrückt? Kein Mensch konnte an der Decke entlanglaufen! Und plötzlich irgendwo auftauchende Außerirdische waren eine Erfindung von Light Novel-Autorinnen. Nia bemerkte meinen starren Blick und lief über die Schrankwand zurück auf den Fußboden. "Habe ich etwas falsch gemacht?" Ihre Stimme klang erneut unsicher. "Du bist an der Zimmerdecke entlanggelaufen." Nicken, "ich habe aber darauf geachtet, nichts schmutzig zu machen." "Wie machst du das?" "Lokale Gravitationsfeldumkehr, wieso fragst du?" "Du bist eine Außerirdische?" Starkes Nicken. "Du bist wirklich eine Außerirdische?"