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"Abschalten!" bietet aktuelle, gut aufgemachte Hintergrundinformationen zum Thema Atomausstieg. Es bezieht klar Stellung, ermutigt zum Handeln und zeigt Alternativen auf. Das Buch macht außerdem deutlich, wie Energiekonzerne mit Tricks, Lügen und Halbwahrheiten versuchen, eine Renaissance der Atomenergie durchzusetzen, Stichwort: Laufzeitverlängerung. Hier erfährt der Leser, was er selbst für den Atomausstieg unternehmen kann – einfach und pragmatisch.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2011
Campact e.V.
Abschalten!
Warum mit Atomkraft Schluss sein muss und was jeder dafür tun kann
Fischer e-books
Als ich im Jahr 2010 mit der Arbeit an diesem Buch begann, ahnte auch im Campact-Team niemand, auf welch bedrückende Weise es an Aktualität gewinnen würde. Wir wussten um die Gefahren der Atomkraft, doch dass in einem Hochtechnologieland wie Japan mehrere Reaktoren gleichzeitig außer Kontrolle geraten könnten, hätten selbst wir nicht für möglich gehalten. Die tragischen Ereignisse in Japan zeigen 25 Jahre nach Tschernobyl erneut, dass die Atomenergie eine Technologie ist, die nicht beherrscht werden kann. Wir müssen jetzt alles tun, damit es nicht zu weiteren Atomkatastrophen kommt, nirgendwo auf der Welt. Einen Monat nachdem in Fukushima ein Super-GAU auf Raten begann, hatten bereits über 300 000 Menschen auf unserer Internetseite an Bundeskanzlerin Merkel appelliert, Atomkraftwerke abzuschalten – und zwar jetzt und endgültig! Erst im Herbst 2010 hatte Merkels Koalition die Laufzeiten der alternden Atommeiler drastisch verlängert: Bis weit über das Jahr 2040 hinaus wollte sie uns den tödlichen Risiken der Atomkraft aussetzen. Doch Fukushima veränderte vieles.
»Frau Merkel, zum Diktat bitte!« So beschrieb die Süddeutsche Zeitung die Art und Weise, wie die vier Atomkonzerne E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall die Bundesregierung unter Druck setzten. Selten haben Konzerne dem Bundestag so offensichtlich ein Gesetz diktiert wie beim sogenannten Atomdeal. Dass rund 60 Prozent der Bevölkerung schon vor Fukushima für den Atomausstieg waren, hatte anscheinend kein Gewicht. Die im Oktober 2010 am Bundesrat vorbei durchgeboxten Laufzeitverlängerungen für die 17 deutschen Atomkraftwerke waren ein besonders drastisches Beispiel für den Einfluss von Konzernen und Wirtschaftslobbyisten auf das politische System. Ähnlich einflussreich wie die Stromkonzerne agieren Banken, Versicherungen, Pharmakonzerne und die Autoindustrie.
Doch wo bleibt die Lobby für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger und der kommenden Generationen? Von den politischen Parteien fühlen sich viele Menschen nicht oder nicht mehr vertreten. Die beiden großen »Volks«parteien CDU und SPD büßten von 1997 bis 2007 Hunderttausende Mitglieder ein. Den Gewerkschaften ergeht es nicht anders. Die »Partei der Nichtwähler« hätte bei einigen der letzten Wahlen bereits die stärkste Fraktion bilden können. Doch eine generelle »Politikverdrossenheit« daraus abzuleiten wäre vorschnell. Im Gegenteil: Gerade die Anti-Atom-Bewegung zeigt, dass bestimmte gesellschaftliche Konflikte sehr wohl viele Menschen interessieren – und dass diese bereit sind, sich für den Ausstieg einzusetzen.
Mit diesen Entwicklungen im Hinterkopf beobachteten der Diplombiologe Christoph Bautz und der Politikwissenschaftler Günter Metzges 2004 den Ansatz einer neuen internetbasierten Initiative in den USA. Sie lernten einen Ansatz kennen, dessen Potential deutsche Organisationen bis dahin unterschätzten: über das Internet vermittelt Menschen gemeinsam zu politischen Aktionen zu mobilisieren. »MoveOn« nannte sich das US-Netzwerk, das eher aus einer Laune heraus im Silicon Valley entstanden war: Mitte der 1990er Jahre stürzten sich Amerikas Medien ganz auf Präsident Bill Clintons Affäre mit Monica Lewinsky. Die Republikaner wollten Clinton sogar des Amtes entheben. Da unterschrieben Hunderttausende US-Bürger innerhalb kurzer Zeit eine Online-Petition unter dem Motto »Move on«. Kümmert Euch wieder um die wirklich wichtigen Probleme, war die Botschaft. Aus dieser Online-Petition entstand letztlich ein schlagkräftiges Online-Netzwerk, das in der Amtszeit von George W. Bush gegen den Irakkrieg mobilisierte und später Barack Obamas Pläne für eine Gesundheitsreform unterstützte.
Die Grundidee von MoveOn zusammen mit ihren eigenen Erfahrungen aus Jugendumweltorganisationen, Attac-Mitgründung und Anti-Atom-Bewegung verschmolzen Christoph Bautz und Günter Metzges Ende 2004 im Konzept von »Campact«: eine Kampagnenorganisation, mit deren Hilfe sich Menschen vernetzt über das Internet in aktuelle politische Entscheidungen in Deutschland einmischen. Online-Petitionen unterzeichnen, das können auch politisch interessierte Menschen, die nur wenig Zeit haben, weil sie beruflich oder familiär stark eingebunden sind, keine Ortsgruppen von Organisationen in der Nähe haben oder neben der Politik noch viele andere Interessen verfolgen. Politisches Engagement zu aktuell »brennenden« Themen wird für manche so erst möglich. Doch es soll nicht nur beim »Klicken« bleiben. Campact – eine Verbindung der Begriffe »Campaign« und »Action« – kombiniert schnelles Handeln via Internet mit phantasievollen Aktionen, die Öffentlichkeit herstellen und auf Entscheidungsträger einwirken. Das reicht vom Telefonmarathon beim lokalen Wahlkreisabgeordneten über Plakataktionen oder regionale Kundgebungen mit Großpuppen bis zur Beteiligung an Aufsehen erregenden Protestformen wie der 120 Kilometer langen Menschenkette zwischen den Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel im April 2010.
Kampagne trifft auf Aktion – mit Campact ist eine Kettenreaktion ganz eigener Art in Gang gesetzt: Hatte Campact Anfang 2007 um die 23 000 Aktive, waren es ein Jahr später bereits doppelt so viele. Felix Kolb, ebenfalls Politikwissenschaftler und zusammen mit Christoph Bautz Mitinitiator der Bewegungsstiftung, verstärkte inzwischen die Campact-Führung, das Team wuchs. Im Frühjahr 2009 durchbricht Campact die 100 000er-Marke, zwei Jahre später bekommen rund eine halbe Millionen Menschen den E-Mail-Newsletter des Kampagnennetzwerks und mischen sich regelmäßig in die Politik ein. Nach Gründungshilfen aus dem Umfeld der Bewegungsstiftung finanziert sich Campact inzwischen selbst, insbesondere aus den Spenden der Campact-Aktiven und den Beiträgen der Förderer. Andere gemeinnützige Organisationen tragen noch 17 Prozent (2009) bzw. knapp 10 Prozent (2010) zu den Einnahmen bei.
Anders als bei »MoveOn«, die als Vorfeldorganisation der amerikanischen Demokraten arbeitet, ist Campact von Anfang an auf Unabhängigkeit und Überparteilichkeit bedacht. Ob »rote« Mitverantwortung bei der Bahnprivatisierung, drohende »grüne« Toleranz von Kohlepatronage in Nordrhein-Westfalen, »schwarze« Angriffe auf die Rundfunkfreiheit, fehlende »gelbe« Sensibilität für Bürgerrechte bei Koalitionsverhandlungen oder »linkes« Umfallen beim Braunkohletagebau – für Campact zählt die Ausrichtung am Gemeinwohl und den Interessen engagierter Bürgerinnen und Bürger. Eine sozial gerechte, ökologisch nachhaltige, demokratische und friedliche Gesellschaft ist das große Ziel.
Den ersten größeren Erfolg feierte Campact gemeinsam mit Transparency International, Mehr Demokratie und Lobby Control, als die vier Organisationen gemeinsam die Veröffentlichung der Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten durchsetzen halfen. Im April 2009 erreichte Campact im Bündnis mit vielen anderen Organisationen ein Anbauverbot für den Genmais MON 810. Campact mobilisierte Tausende Menschen zu den Großkundgebungen für erneuerbare Energien und gegen Atomkraft nach der Bundestagswahl 2009. Am friedlichen Protest gegen den Castor waren die Campact-Aktiven ebenso beteiligt wie an der Verhinderung eines Atommülltransports ins russische Atomzentrum Majak.
Der Erfolg von Campact, aber auch die Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 und das Wiedererstarken der Anti-Atom-Bewegung beweisen, dass die Bürgerinnen und Bürger keineswegs politikverdrossen sind, sondern eher parteienverdrossen. Vielen Menschen genügt es nicht mehr, nur alle vier Jahre buchstäblich ihre Stimme »abzugeben« – und danach nichts mehr zu sagen zu haben. Dies zeigt auch der immer lautere Ruf nach mehr direkter Demokratie in Bund, Ländern, Gemeinden und Europa. Campact unterstützt die Forderung nach Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden.
Die Energiepolitik liegt Campact besonders am Herzen: Sie ist der archimedische Punkt beim ökologischen Umbau der Industriegesellschaft. An der Frage, ob der Wechsel von den atomar-fossilen Energien zu Erneuerbaren Energien, Energieeffizienz und Energiesparen rechtzeitig gelingt, entscheidet sich die Zukunft unseres Planeten. Es gibt kaum eine andere Technologie, die so großen Schaden anrichten kann und gleichzeitig so überflüssig und teuer ist, wie die Atomkraft. Darum war das Campact-Team sofort begeistert, als der Fischer Verlag den Vorschlag eines Buches über den Atomausstieg machte. Ein Buch für alle, die sich nicht nur über die Risiken der Atomkraft, sondern auch über Alternativen informieren und sich zum Handeln ermutigen lassen wollen. Denn jede und jeder kann etwas für den Atomausstieg tun: Angefangen vom Wechsel des Stromanbieters und ethischer Geldanlage bis hin zu Beteiligung an Protestaktionen über www.campact.de, aber auch durch Mitwirkung in Umweltverbänden, bei der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt oder vor Ort in den zahlreichen Gruppen, Initiativen und Bündnissen. Als sich am 6. November 2010 im Wendland 50 000 Menschen gegen den Castor versammelten, zogen über ganz Norddeutschland dichte Regenwolken. Doch in Dannenberg schien die Sonne – wie ein Gruß vom zukünftigen solaren Zeitalter.
Berlin, im April 2011
Yves Venedey
Rolf Martin Schmitz war die Freude über das Milliardengeschenk anzumerken, als er über das neue Energiekonzept der Bundesregierung sprach. Vielleicht waren es die Glückshormone, die den RWE-Vizechef so redselig machten. Nach seinem Vortrag auf einem Energiekongress in München meldete sich Tobias Münchmeyer zu Wort. Wer garantiere denn, wollte der Energieexperte der Umweltschutzorganisation Greenpeace wissen, dass die Konzerne wirklich einen Teil ihrer Zusatzgewinne aus den Laufzeitverlängerungen für die Atomkraftwerke abgeben? Schließlich hätten die vier Atomkonzerne doch schon einmal einen Vertrag gebrochen, den Atomkonsens mit Rot-Grün. Das sei eine Unterstellung, erwiderte Schmitz. Und im Übrigen hätten die Konzerne die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und den Energiekonzernen noch in der Nacht paraphiert. »Um 5:23 Uhr morgens. Auch Sie, Herr Staatssekretär, haben wir dafür noch mal aus dem Bett geholt.« Er wies auf den in der ersten Reihe sitzenden Umweltstaatssekretär Jürgen Becker.[1]
Jetzt war es raus. Die anwesenden Journalisten wurden hellhörig. Auf den zahlreichen Pressekonferenzen nach der entscheidenden Nachtsitzung hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Minister die Aufkündigung des Atomausstieges verkündet und ihr eigenes Energiekonzept als revolutionär gelobt. Doch von einem Vertrag mit den Kernkraftwerksbetreibern hatten sie nichts gesagt. Warum diese Heimlichtuerei? Was steht in dem Geheimvertrag? Nachdem sich Schmitz verplappert hatte, war in Berlin die Aufregung groß. Die Bundesregierung versuchte zunächst abzuwiegeln. Die Vereinbarung mit den Stromriesen sei doch ein »völlig normaler Vorgang«, hieß es. Aber nun sickerten immer mehr Details des Geheimvertrages durch.
Zwei Tage vorher hatte die Bundeskanzlerin seit dem frühen Sonntagmorgen zusammen mit Umweltminister Röttgen (CDU), Wirtschaftsminister Brüderle (FDP) und Finanzminister Schäuble (CDU) versucht, eine gemeinsame Linie im Atomstreit zu finden, der seit Monaten in der schwarz-gelben Koalition geschwelt hatte. Unterdessen war vor dem Bundeskanzleramt kein Durchkommen mehr: Über 2000 Menschen protestierten vor den Türen gegen die Atompläne der Bundesregierung. Ihr Unmut war unüberhörbar – sie pfiffen, trommelten und skandierten im Chor: »Abschalten, abschalten!«
Vor der Einfahrt zum Kanzleramt erwarteten die Atomkraftgegner den FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle und CSU-Chef Horst Seehofer, die erst später zu der Runde im Kanzleramt dazustoßen wollten. Doch beide Politiker scheuten die Konfrontation mit den Demonstranten: Ihre Limousinen fuhren gleich weiter ums Kanzleramt herum, zum Hintereingang. In der Regierungszentrale wurde bis spät in die Nacht verhandelt. Wie sich später herausstellte, waren dabei die Bosse von E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW über eine Art Standleitung zugeschaltet.
Am Ende setzten sich die Atomlobby und Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) auf ganzer Linie gegen Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) durch: Die Laufzeiten der ältesten und störanfälligsten Atommeiler, die vor 1980 ans Netz gegangen sind, wurden um acht Jahre verlängert – von 32 auf 40 Jahre ab dem Tag der ersten Inbetriebnahme. Die Laufzeiten für die nach 1980 in Betrieb gegangenen Atomkraftwerke wurden sogar um 14 Jahre verlängert, von 32 auf 46 Jahre. Im Durchschnitt dürfen die deutschen Atomkraftwerke 12 Jahre länger laufen, so die Regierung.
Doch diese Zahlen und Jahresangaben sind irreführend: Denn erstens wären die Reaktoren nach dem rot-grünen Atomgesetz ja nicht alle sofort abgeschaltet worden, sondern das letzte frühestens 2022. Die zusätzlichen Jahre kommen noch obendrauf. Nach dem schwarz-gelben Atomgesetz würde das letzte Atomkraftwerk (AKW) frühestens im Jahr 2036 abgeschaltet. Doch tatsächlich könnten einzelne Reaktoren sogar noch weit über das Jahr 2040 hinaus betrieben werden. Denn im Atomgesetz wurden keine Jahresfristen festgelegt, sondern die AKW-Laufzeiten wurden in Reststrommengen umgerechnet, welche die einzelnen Atommeiler noch produzieren dürfen. Wenn ein Atomkraftwerk aufgrund eines Störfalles oder für Reparaturen abgeschaltet wird und somit für eine gewisse Dauer keinen Strom produziert, verschiebt sich das Ende der Laufzeit entsprechend nach hinten. Außerdem werden durch den Ausbau der Erneuerbaren Energien viele Atomkraftwerke in Zukunft seltener mit voller Leistung arbeiten, sondern immer häufiger nur im Teillastbetrieb laufen oder ganz heruntergefahren werden müssen. Dadurch dauert es länger, bis die Atomkraftwerke die ihnen zugeteilte Strommenge produziert haben. Und falls die Kraftwerksbetreiber einzelne ältere Atomkraftwerke freiwillig vorzeitig stilllegen, weil sich teure sicherheitstechnische Nachrüstungen dort nicht mehr lohnen, dann können sie die ungenutzten Strommengen auf jüngere Anlagen übertragen.[2]
Kommt es dazu, könnten einzelne Atomkraftwerke sogar bis ins Jahr 2050 oder noch länger betrieben werden. Selbst der jüngste deutsche Atomreaktor wäre dann schon 61 Jahre alt. »Betriebszeiten von bis zu 50 Jahren und mehr, wie sie nach den neuen Plänen der Bundesregierung vorgesehen sind, wurden bisher noch nirgendwo ausprobiert. In Deutschland wird also der Feldversuch stattfinden, um herauszufinden: Wie lange hält ein Atomkraftwerk?«, kommentierte das Magazin Stern.[3] Deutschland hat den drittältesten Atomkraftwerkspark der Welt, nur die Meiler in den USA und in Großbritannien sind noch älter. Keiner der Reaktoren in Deutschland entspricht dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik, kein einziger von ihnen wäre heute noch genehmigungsfähig. Und keiner der Atommeiler würde den Absturz eines großen Passagierflugzeuges unbeschadet überstehen. Die sieben ältesten Kernkraftwerke weisen besonders große Sicherheitsmängel auf. Außerdem würden sie nicht einmal den Absturz eines kleineren Flugzeuges überstehen.
Mit dem Atomdeal wurden nicht nur die Laufzeiten für die alternden Atomkraftwerke verlängert, sondern noch weitere Geschenke an die Atomkonzerne verteilt. So wurde in das Atomgesetz ein neuer Paragraph 7d eingefügt, den der Bundesumweltminister der Öffentlichkeit als »zusätzliche Sicherheitsstufe« zu verkaufen versuchte. »Die neue Bestimmung erlaubt es jetzt den Behörden, auch solche Maßnahmen zu verlangen, die bislang nicht als erforderlich angesehen wurden oder deren Erforderlichkeit umstritten ist«, so Röttgen. »Sie verbessert die Eingriffsmöglichkeiten der Behörden und verschärft die Verpflichtungen der Betreiber.«[4] Tatsächlich wurde jedoch in für Laien nur schwer verständlichem Juristendeutsch den Atomkraftwerksbetreibern ein Sicherheitsrabatt gewährt. »Norbert Orwell« nannte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) den Minister deshalb. »Wir erleben eine Sprachverdrehung von wahrhaft Orwell’scher Dimension, mit dem klaren Ziel, die AKW-Betreiber vor teuren Sicherheits-Nachrüstungen zu schützen«, erklärt Rainer Baake, der Bundesgeschäftsführer der DUH.
Das Bundesverfassungsgericht hatte die Reaktorbetreiber bereits in seinem »Kalkar-Urteil« von 1978 zur nach dem Stand von Wissenschaft und Technik bestmöglichen Vorsorge gegen Schäden für die Allgemeinheit verpflichtet. Eine bessere als die »bestmögliche« Vorsorge ist schon rein begrifflich nicht denkbar. Die AKW-Betreiber müssen ihre Schadensvorsorge stets dynamisch an aktuelle Entwicklungen und neu erkannte Risiken anpassen, verlangten die Karlsruher Richter. Aufgrund dieses »Gebots des dynamischen Grundrechtsschutzes« konnten die Atomaufsichtsbehörden vor der Atomgesetznovelle Nachrüstungen und höhere Sicherheitsanforderungen durchsetzen. Die »bestmögliche Vorsorge« umfasst dem Kalkar-Urteil zufolge alles – bis auf Risiken die nach »dem Maßstab der praktischen Vernunft« auszuschließen seien: das sogenannte »Restrisiko«.
Die Gefahr, Terroristen könnten ein Passagierflugzeug kapern und es in ein Atomkraftwerk steuern, galt lange Zeit als so unwahrscheinlich, dass sie dem »unentrinnbaren« Restrisiko zugeordnet wurde. Doch am 10. April 2008 hat das Bundesverwaltungsgericht diese Auffassung verworfen. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf New York und Washington seien Terrorangriffe auf Atomkraftwerke, etwa durch den gezielten Absturz eines Flugzeuges, nicht mehr als »Restrisiko« anzusehen, urteilte das höchste deutsche Verwaltungsgericht. Durch dieses Urteil konnten die Anwohner von besonders schlecht gegen Flugzeugabstürze gesicherten Kernkraftwerken klagen und die »bestmögliche Vorsorge« einfordern. Zahlreiche Anwohner haben gemeinsam mit Greenpeace von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und klagen auf den Widerruf von Betriebsgenehmigungen.
Mit dem neuen Paragraph 7d hat die schwarz-gelbe Koalition im Atomgesetz neben den Kategorien der bestmöglichen Vorsorge und dem Restrisiko eine dritte Kategorie definiert: die der weiteren Vorsorge. »Dadurch wird die bisher geltende umfassende Vorsorge in eine Vorsorge 1. Klasse und 2. Klasse unterteilt, ohne dass geregelt wird, welche Maßnahmen wozu gehören«, meint der Physiker und Jurist Wolfgang Renneberg. Die Maßnahmen der sogenannten weiteren Vorsorge seien nicht strikt verpflichtend, es gälten schwächere Anforderungen, und sie könnten auch nicht mehr eingeklagt werden, so der ehemalige Chef der deutschen Atomaufsicht.[5] »Auf diese Weise wird den Bürgern das Klagerecht entzogen, die Gerichte müssten die Klage schon aus formalen Gründen abweisen. Im Übrigen wären die Sicherheitsbehörden völlig frei zu entscheiden, ob die AKW-Betreiber überhaupt zusätzliche Schutzmaßnahmen ergreifen müssen oder welche ›geeignet und angemessen‹ wären, da der Stand von Wissenschaft und Technik nicht mehr gelten und er auch nicht durch andere gesetzliche Maßstäbe oder die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle ersetzt würde«, erläutert die Rechtsanwältin Cornelia Ziehm von der DUH.
Nach Meinung der Deutschen Umwelthilfe trägt die Novelle des Atomgesetzes die Handschrift von Gerald Hennenhöfer. Der ehemalige Manager des Atomkonzerns E.ON war von Röttgen nach der Bundestagswahl zum Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium ernannt worden. »Der ganze Vorgang ist skandalös. Das ist ein Gesetz von der Atomlobby für die Atomlobby«, kritisierte Rainer Baake.[6] Er und Hennenhöfer sind alte Bekannte, doch dazu später mehr.
Schwarz-Gelb verzichtete darauf, die Laufzeitverlängerungen an die Bedingung von Nachrüstungen zu knüpfen. Alle Atomkraftwerke können deshalb nach dem Ende der von Rot-Grün festgelegten Restlaufzeiten ohne Nachrüstungen zunächst weiterlaufen. Dabei ist zum Beispiel Biblis A nur gegen Absturz kleiner Sportflugzeuge und Biblis B nur gegen den Absturz einer Militärmaschine vom Typ Starfighter ausgelegt. Eigentlich hätte die staatliche Atomaufsicht hier schon längst Nachrüstungen durchsetzen müssen, was vermutlich auf eine Stilllegung der beiden Museumsmeiler hinausgelaufen wäre. Denn angesichts des Alters der beiden Reaktoren hätte sich der Aufwand nicht mehr rentiert – sofern es überhaupt technisch möglich ist, die alten Meiler nachträglich gegen den Absturz von großen Passagierflugzeugen zu schützen.
Wolfgang Renneberg war unter den Bundesumweltministern Jürgen Trittin (Grüne) und Sigmar Gabriel (SPD) Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit. Er erklärt, die Atomaufsicht habe seinerzeit darauf verzichtet, solche Nachrüstungen für die sieben ältesten Reaktoren durchzusetzen, da sie nach dem Atomkonsens ohnehin bald hätten stillgelegt werden müssen. Die Reststrommengen von Biblis A und B wären bei normalem Betrieb rechnerisch bis 2007 bzw. 2008 ausgeschöpft gewesen, daher sei die Nachrüstung von Biblis auch rechtlich nicht mehr verhältnismäßig gewesen. »Jetzt gilt das nicht mehr, weil jeglicher Bestandsschutz der Anlagen mit dem Ablauf der gesetzlichen Restlaufzeit des Ausstiegsgesetzes von 2002 beseitigt ist. Die Verlängerung der Laufzeit hätte somit an jede Bedingung geknüpft werden können«, so Renneberg.
Röttgen hatte mehrfach angekündigt, er wolle den Atomkraftwerken Nachrüstungen zum Schutz gegen Flugzeugabstürze vorschreiben. Doch nach Abschluss des Atomdeals war davon nichts mehr zu hören. »Der Grund (dafür) liegt auf der Hand: Planung und Genehmigung dieser Maßnahmen allein dauern mindestens 4 bis 5 Jahre. Danach müsste noch Zeit für Bau- und Umrüstungsmaßnahmen vorgesehen werden. Die Umrüstungsmaßnahmen würden also dann realisiert sein, wenn die Laufzeitverlängerung von 8 Jahren praktisch abgelaufen ist. Dazu gäbe es für Röttgen eine Alternative: gesetzlich festzulegen, dass der Weiterbetrieb der Altreaktoren nur dann zulässig ist, wenn die Nachrüstungen erfolgt sind. Dies würde jedoch zu langen Stillständen der Anlagen und hohen Investitionen in der Größenordnung von einer Milliarde Euro oder mehr führen. Für die Betreiber wäre dies nicht mehr rentabel und bedeutete das ›Aus‹ für ihre Altreaktoren. Das ist jedoch nach der Einigung mit den Betreibern nicht gewollt. Damit der Verzicht auf die Nachrüstung nicht auffällt, hält Röttgen für die Öffentlichkeit an der Fassade harter Nachrüstungsauflagen fest. Hinter der Fassade laufen die Altreaktoren ohne relevante Sicherheitsverbesserungen weiter. Zugleich werden die Sicherheitsanforderungen auch auf der gesetzlichen Ebene abgesenkt«, analysiert Renneberg.
In dem Geheimvertrag über die Gewinnabschöpfung wurden den Konzernen noch weitere Zugeständnisse gemacht. Zwar müssen sie einen Teil ihrer Zusatzprofite aus den Laufzeitverlängerungen in einen Ökostrom-Fonds einzahlen, aber zugleich wurde der Aufwand für Nachrüstungen auf 500 Millionen Euro pro Atommeiler begrenzt. Fallen die Kosten dafür höher aus, können die AKW-Betreiber ihre Zahlungen in den Fonds entsprechend verringern. Der Staat gerät dadurch in einen Interessenkonflikt: Macht er den Betreibern im Interesse der Bevölkerung strenge Sicherheitsauflagen und verlangt Nachrüstungen, muss er auf Einnahmen verzichten. Denn ein wirksamer Schutz gegen Flugzeugabstürze zum Beispiel würde weit mehr kosten als 500 Millionen Euro, sagen Experten.
Auf Druck der Konzerne wurde die Atom-Brennstoffsteuer nur bis zum Jahr 2016 befristet, außerdem können die Steuerzahlungen als Betriebsausgabe von der Körperschaftsteuer abgesetzt werden. Auch gegen Neuregelungen in der Folge eines Regierungswechsels sicherten sich die Konzerne ab: Sollte die Brennstoffsteuer verlängert oder erhöht werden, können sie ihre Zahlungen in den Fonds ebenfalls verringern. »Atom-Geheimvertrag schützt Konzerne«, titelte die Financial Times Deutschland, nachdem die Details des Vertrages bekannt wurden.
Den Salzstock in Gorleben will die Regierung Merkel auf Biegen und Brechen als Endlager für hochradioaktiven Atommüll durchsetzen. Dabei gibt es massive geologische Zweifel an dessen Eignung: Über dem Salzstock fehlt ein schützendes Deckgebirge und darunter befindet sich das größte zusammenhängende Erdgasvorkommen Deutschlands. Darüber hinaus hat der Salzstock Wasserkontakt und könnte irgendwann absaufen, so wie das Atommülllager Asse II. Gorleben war in den 1970er Jahren aus rein politischen Gründen als Endlagerstandort ausgewählt worden, nicht aus geologischen (dazu mehr in Kapitel 4). Um eine Bürgerbeteiligung zu vermeiden, setzte Röttgen die Wiederaufnahme der »Erkundungsarbeiten« in Gorleben auf der Grundlage eines Rahmenbetriebsplanes von 1983 durch. Gleichzeitig fügte Schwarz-Gelb in das Atomgesetz wieder einen Paragraphen ein, der die Enteignung der Grundstücksbesitzer rund um den Salzstock ermöglicht. Rot-Grün hatte diesen Paragraphen 2002 gestrichen.
Die Zusatzgewinne von RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall durch die Laufzeitverlängerungen beziffert Felix Matthes vom Öko-Institut nach Abzug aller Steuern und Abgaben auf mindestens 37 Milliarden Euro. Für die vier Großkonzerne hat sich der Atompoker also gelohnt. Selbst die Wirtschaftspresse wunderte sich, wie sehr die Bundesregierung den AKW-Betreibern entgegengekommen ist. Das Handelsblatt zeigte ein Bild des zufrieden lächelnden RWE-Chefs Jürgen Großmann, betitelt als »Strahlender Sieger«. »Milliardengeschenk für die Atomlobby«, lautete die Schlagzeile in der Financial Times Deutschland. »Die Energiefirmen feiern«, schrieb die Süddeutsche Zeitung. Damit waren aber nur die Atomfirmen gemeint. Die Stadtwerke und die Ökostrom-Branche dagegen waren sauer. Die Bundesregierung hatte nur mit den vier großen Stromkonzernen über die Laufzeitverlängerungen verhandelt und mit ihnen einen Deal zu ihren Lasten vereinbart. Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU), in dem die 800 deutschen Stadtwerke organisiert sind, kritisierte die Laufzeitverlängerungen scharf und warf der Regierung eine wettbewerbsfeindliche Politik vor. Am Tag der Bundestagsabstimmung über das schwarz-gelbe Atomgesetz schalteten 50 Stadtwerke ganzseitige Zeitungsanzeigen. Unter der Überschrift »Vier gewinnen, Millionen verlieren« schrieb die »Initiative Pro Wettbewerb und Klimaschutz«: »Heute entscheidet der Bundestag über die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken. Dies ist eine Entscheidung über Zukunft oder Vergangenheit. Während sich E.ON, EnBW, RWE und Vattenfall durch die Laufzeitverlängerung jeden Tag Millionen Gewinne sichern, werden die Länder, Kommunen und Stadtwerke geschwächt. Die Folgen: Noch weniger Geld für Krankenhäuser, Schulen und Schwimmbäder.« Die Laufzeitverlängerungen für die Atomkraftwerke stärke die Marktmacht der Konzerne und führe zu weniger Wettbewerb. Die Zeche dafür zahlten die Verbraucher in Form höherer Strompreise, so die Stadtwerke. Im Vertrauen auf den beschlossenen Atomausstieg hätten die Stadtwerke bereits 6,5 Milliarden Euro in neue Kraftwerke und die umweltfreundliche Kraft-Wärme-Kopplung investiert. Diese Investitionen würden durch den Ausstieg aus dem Ausstieg nun entwertet und damit Vermögen der Bürgerinnen und Bürger in großem Stil vernichtet.
Auch die Erneuerbare-Energien-Branche kritisierte die Entscheidung der Regierung heftig. Laufzeitverlängerungen für die Atomreaktoren bremsten Investitionen in Erneuerbare Energien und gefährdeten die angestrebten Klimaschutzziele. »Mit der Aufkündigung des Atomkonsenses droht außerdem ein grundlegender Systemkonflikt, weil mit steigendem Ausbau der Erneuerbaren immer weniger Großkraftwerke gebraucht werden, die durchgängig am Netz sind. Atomkraftwerke sind nicht in der Lage, ihre Leistung so häufig und stark herunterzufahren, wie das zur Ergänzung des Angebots aus Erneuerbaren Energien notwendig ist. Und schon heute ist bisweilen zu viel konventioneller Strom im Netz, wie man an den negativen Börsenpreisen ablesen kann. Länger laufende Großkraftwerke verschärfen dieses Problem. Stattdessen brauchen wir in Zukunft mehr dezentrale, flexible Versorgungsstrukturen, eine Optimierung und Erweiterung der Stromnetze sowie die Entwicklung weiterer Speichermöglichkeiten«, kommentierte der Präsident des Branchenverbandes BEE, Dietmar Schütz.
Mit dem Atomdeal wurde der von der rot-grünen Koalition im Jahr 2000 mit den Kraftwerksbetreibern vereinbarte Atomkonsens aufgekündigt. Bundeskanzler Schröder (SPD) hatte den Atomausstieg unbedingt im Konsens mit den Stromkonzernen regeln wollen. Und zwar so, dass die Bundesregierung auf keinen Fall Entschädigungen an die Betreiber bezahlen muss. Bis dahin besaßen die Atomkraftwerke in Deutschland unbefristete Betriebsgenehmigungen, Rot-Grün wollte diese nun nachträglich befristen. Die AKW-Betreiber argumentierten, eine nachträgliche Befristung von unbefristeten Genehmigungen sei quasi eine Enteignung, die Regierung müsse daher die Konzerne für die dadurch entgangenen Gewinne entschädigen. Gegenüber den Medien hatten die Stromkonzerne schon vor der Bundestagswahl astronomische Milliardenbeträge genannt, die ihrer Ansicht nach eine neue Regierung an sie bezahlen müsse, wenn sie mit dem Atomausstieg ernst mache.
Der heutige DUH-Geschäftsführer Rainer Baake war damals beamteter Staatssekretär unter Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne). Zuvor war er Staatssekretär im hessischen Umweltministerium gewesen, erst unter Joschka Fischer (Grüne), dann unter dessen drei grünen Nachfolgerinnen. Er hatte bereits vor der Bundestagswahl auf der Grundlage von zwei Rechtsgutachten einen Gesetzentwurf für eine Novelle des Atomgesetzes erarbeitet, den sogenannten »Baake-Entwurf«. Baakes Gutachter waren zu dem Ergebnis gekommen, es sei sehr wohl möglich, die Betriebsgenehmigungen entschädigungsfrei nachträglich zu befristen, denn das Grundgesetz räume dem Schutz der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung Vorrang vor den Eigentumsrechten der Atomkraftwerksbetreiber ein. Die Juristen Alexander Roßnagel und Gerhard Roller argumentierten, schon das alte Atomgesetz habe die Möglichkeit vorgesehen, die Betriebsgenehmigungen zu widerrufen. So sei nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das »Gewicht des Eigentumseingriffs gering«, wenn die Berechtigten bereits nach bisherigem Recht »mit Einschränkungen rechnen mussten«. Zudem sei den Betreibern die energie- und umweltpolitische Bedenklichkeit des Betriebs ihrer Anlagen bekannt gewesen, auch wenn sie diese Bewertung nicht teilten. Die Bemühungen sowohl zu einer gesetzlichen Beendigung der Atomenergienutzung als auch die Vorhaben zum Widerruf durch die Exekutive seien ihnen bekannt gewesen. Zudem seien die Investitionen in die Atomkraftwerke nicht nur mit eigenem Vermögen der Energieversorgungsunternehmen erfolgt, sondern auch durch öffentliche Mittel.
Dagegen verfassten die Juristen der Atomindustrie umfangreiche Gutachten, die – wen wundert es – den Eigentumsrechten der Betreiber einen weit höheren Stellenwert einräumten. Über Monate erklärten Juristen, Bundeskanzler Schröder, Wirtschaftsminister Werner Müller (parteilos) und viele andere, dass ein schneller Atomausstieg aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich sei – es sei denn, man zahle aus Steuergeldern riesige Entschädigungen an die Konzerne, was ja keiner wollen könne. Die Medien gaben ständig diese Positionen wieder, berichteten jedoch kaum über die Rechtsauffassung der Atomkraftgegner.
Atomkraftwerke sind durchschnittlich nach 15 Jahren, spätestens aber nach 20 Jahren abgeschrieben. Trittin wollte daher die Laufzeit der Atomkraftwerke auf 25 Jahre ab Inbetriebnahme begrenzen, dann hätten die Betreiber ihre Investitionskosten wieder hereingeholt und noch mindestens fünf Jahre Gewinn mit den Anlagen gemacht. Damit sei man verfassungsrechtlich auf der sicheren Seite und komme um Entschädigungszahlungen herum, glaubte man im Umweltministerium. Das letzte Atomkraftwerk wäre dann im Jahr 2014 abgeschaltet worden. Doch 25 Jahre waren den Konzernen viel zu wenig. In den Verhandlungen kam Rot-Grün den Konzernen dann noch weiter entgegen, man einigte sich auf eine Regellaufzeit von 32 Jahren ab dem Tag der ersten Inbetriebnahme. Die Laufzeiten wurden in Reststrommengen umgerechnet, die jedes einzelne Atomkraftwerk noch produzieren darf. Bei ihrer Berechnung legte man großzügig den Durchschnitt der fünf höchsten Jahresproduktionen zwischen 1990 und 1999 des jeweiligen Kraftwerkes zugrunde. Bei Erreichen der Strommenge erlischt die Betriebsgenehmigung automatisch. Die Strommengen können außerdem von einem Reaktor auf andere Reaktoren übertragen werden. Da die jüngeren Meiler als etwas sicherer gelten als die älteren, dürfen Strommengen von alten auf jüngere Anlagen übertragen werden, ohne dass dafür eine Genehmigung nötig ist. Für die Übertragung von Strommengen von jüngeren auf ältere Atomkraftwerke ist dagegen eine Erlaubnis des Bundesumweltministers einzuholen, im Einvernehmen mit dem Kanzleramt und dem Bundeswirtschaftsministerium.
Den Konzernen wurden noch weitere Zugeständnisse gemacht. So wurde beispielsweise auf die Einführung einer Brennelementesteuer verzichtet. Die steuerfreien Rückstellungen der Konzerne für den Rückbau der Atomkraftwerke und die Atommüllentsorgung wurden nicht in einen öffentlich-rechtlich Fonds überführt, sondern es wurde für sie lediglich ein sogenanntes »Abzinsungsgebot« eingeführt. Das heißt, die Rückstellungen blieben steuerfrei, aber immerhin mussten nun jedes Jahr 5,5 Prozent »abgezinst« werden. Auf Druck der Konzerne wurde die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennstäbe im Ausland erst ab 2005 verboten (und nicht schon im Jahr 2000, wie im Koalitionsvertrag 1998 vereinbart). Um die Zahl der Atommülltransporte zu verringern, sollten bei den Atomkraftwerken Zwischenlager für die Castoren mit abgebrannten Brennelementen eingerichtet werden. Bei den »Zwischenlagern« handelt es sich genau wie in Gorleben um oberirdische Leichtbauhallen. Diese Zwischenlager waren für die AKW-Betreiber existentiell, ohne sie hätten sie den für den Betrieb der Atomkraftwerke nötigen Entsorgungsnachweis verloren. Die Erkundung des Salzstockes in Gorleben sollte für mindestens drei und höchstens zehn Jahre unterbrochen werden. Bis dahin sollten Experten wissenschaftliche Kriterien für eine neue Endlagersuche entwickeln.
Statt der »Förderung der Kernenergie« wurde nun die »geordnete Beendigung« der Atomenergie als Zweck des Atomgesetzes festgeschrieben und der Neubau von Atomkraftwerken gesetzlich verboten. Daran zu rütteln, traute sich Schwarz-Gelb bisher nicht. Zudem verfünffachte Rot-Grün die gesetzlich vorgeschriebene Deckungsvorsorge für einen Atomunfall von den bis dahin lächerlichen 500 Millionen Euro auf 2,5 Milliarden Euro. Dennoch wäre das angesichts der gigantischen gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Schäden (vom ohnehin mit Geld nicht aufzuwiegendem unermesslichem menschlichen Leid einmal abgesehen), die ein Super-GAU im dicht besiedelten Deutschland verursachen würde, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Stromkonzerne haften zwar theoretisch mit ihrem gesamten Betriebsvermögen. Doch bei einer Reaktorkatastrophe könnte ein Gebiet von der Größe Belgiens auf Dauer unbewohnbar werden. Ein Super-GAU in einem Atomkraftwerk im dicht besiedelten Deutschland würde Gesundheits-, Sach- und Vermögensschäden in Höhe von 2500 Milliarden Euro bis 5500 Milliarden Euro nach sich ziehen, wie die Prognos AG 1992 in einem Gutachten für das FDP-geführte Bundeswirtschaftsministerium errechnet hat. Die Deckungsvorsorge der Atomkraftwerksbetreiber deckt mit 2,5 Milliarden Euro also nur 0,1 Prozent des zu erwartenden Schadens. Die Schäden wären so gigantisch, dass selbst so große Konzerne wie E.ON oder RWE Insolvenz anmelden müssten – letztlich also müssten die Steuerzahler haften.
Und selbst für die 2,5 Milliarden Euro vorgeschriebene Deckungsvorsorge schließen die vier deutschen Atomkonzerne keine Haftpflichtversicherung ab. Sie haben sich lediglich gegenseitig eine Garantieerklärung über diese Summe gegeben. So sparen sie die Versicherungsprämien. »50 Autos auf dem Parkplatz eines Atomkraftwerks sind zusammengenommen besser versichert als das Atomkraftwerk selbst«, heißt es dazu treffend auf der Internetseite »100 gute Gründe gegen Atomkraft« des Ökostromanbieters Elektrizitätswerke Schönau (EWS, http://100-gute-gruende.de/index.xhtml).
Besonders problematisch am rot-grünen Atomkonsens war die folgende Vereinbarung:
»Während der Restlaufzeiten wird der von Recht und Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter gewährleistet; die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern. Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen.«
Rein rechtlich beinhaltete dies zwar keinerlei Sicherheitsrabatt, die Sicherheitsbestimmungen blieben unverändert. In der Praxis war damit jedoch die klare Erwartung verbunden, dass rot-grüne Landesregierungen die Gesetze künftig betreiberfreundlicher auslegen, als es vor dem Atomkonsens der Fall war. An diese Vereinbarung sind die Landesregierungen nach der Aufkündigung des Atomausstieges nun nicht mehr gebunden. Anfang 2011 waren allerdings alle Bundesländer mit Atomkraftwerken noch CDU- oder CSU-geführt. Für den Uraltmeiler in Obrigheim wurde eine Übergangsfrist bis 31. Dezember 2002 vereinbart. Damit war klar, dass bis zur Bundestagswahl 2002 kein einziges Atomkraftwerk stillgelegt werden würde. Das empfanden viele Atomkraftgegner als besonders bitter, denn wäre 2002 Edmund Stoiber (CSU) Kanzler geworden, hätte man so gut wie nichts erreicht gehabt. Die Konzerne sind mit dem Atomkonsens also nicht schlecht gefahren. Doch ihren Teil der Vereinbarung waren sie niemals ernsthaft bereit einzulösen – obwohl sie mit dem Vertrag auch den folgenden Satz unterschrieben hatten: »Beide Seiten werden ihren Teil dazu beitragen, dass der Inhalt dieser Vereinbarung dauerhaft umgesetzt wird.«
Von Anfang an versuchten sie mit allen Tricks, die Abschaltung ihrer alten Schrottreaktoren möglichst lange hinauszuzögern, in der Hoffnung auf eine Zurücknahme des Atomausstiegs durch eine schwarz-gelbe Regierung nach der nächsten Wahl. Reaktoren, die ihre Reststrommenge fast ausgeschöpft hatten, drosselten sie einfach oder schalteten sie vorübergehend ganz ab, um ein Erlöschen der Betriebsgenehmigungen zu verhindern. Es war ein Konstruktionsfehler des rot-grünen Ausstiegsgesetzes, dass es für die Reststrommengen kein Verfallsdatum gab. Nur deshalb konnten die Atomkraftwerksbetreiber ihre sieben ältesten Atomkraftwerke ins Jahr 2011 retten, obwohl sie längst älter als 32 Jahre waren. Lediglich die Atomkraftwerke Stade und Obrigheim wurden stillgelegt – die beiden ältesten und kleinsten Meiler.
Genau zu dem Zeitpunkt, als der Atomausstieg endlich zu greifen begonnen hätte, wurde er aufgekündigt: Sieben alte Atomkraftwerke hätten im Laufe der Jahre 2011/2012 ihre Reststrommengen ausgeschöpft gehabt. »Ehrbare Kaufleute verhalten sich anders«, kritisierte Rainer Baake, der als Staatssekretär den Atomkonsens mit ausgehandelt hat. Verträge mit den Stromkonzernen sind ganz offensichtlich nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurden. Kaum war die Tinte unter dem schwarz-gelben Atomdeal trocken, erklärte RWE-Manager Schmitz, in acht Jahren werde man erneut über die Laufzeiten reden müssen. Die Konzerne wollen die Atomkraft nicht als Brücke, sondern für immer.
Der schwarz-gelbe Atomdeal wurde von der Bundesregierung innerhalb weniger Wochen durch den Bundestag gepeitscht. Man wollte das unpopuläre Thema möglichst schnell vor den wichtigen Landtagswahlen im März 2011 »abräumen«. Im Umweltausschuss kam es zu tumultartigen Szenen, weil sich die Abgeordneten der Oppositionsfraktionen in ihren Rechten verletzt sahen. Die Ausschussvorsitzende Eva Bulling-Schröter von der Linksfraktion befand sich plötzlich zwischen allen Stühlen. »Ich musste da die Übersicht behalten und durfte nicht parteiisch sein. Auch wenn mir das als Oppositionspolitikerin in der Seele wehgetan hat«, erinnert sie sich. Selbst Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisierte seine eigene Koalition und sprach von einer Zumutung für das Parlament. Die Beratungen über das Atomgesetz seien kein »Glanzstück von Parlamentsarbeit« gewesen. Er habe den »Verdacht mangelnder Sorgfalt«. Die Laufzeiten seien nicht sachlich begründet, sondern schlicht ausgehandelt worden. »Das entspricht nicht meinen Anforderungen an ordentliche Gesetzgebungsarbeit.« Der Bundestag habe sich letztlich auf Druck der Regierung zu wenig Zeit genommen. Aus Protest enthielt sich Lammert bei der Abstimmung über das Gesetz der Stimme. Auch neun weitere Abgeordnete von CDU/CSU und FDP verweigerten dem Atomgesetz der eigenen Regierung die Zustimmung.[7]
Das Gesetz wurde ohne die Zustimmung des Bundesrates verabschiedet, da dort Schwarz-Gelb seit dem Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen keine Mehrheit mehr hatte. Dabei waren mehrere namhafte Gutachter zu dem Ergebnis gekommen, eine Zustimmung der Länderkammer sei erforderlich. Diese Auffassung vertrat unter anderem der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, ein CSU-Mitglied. Lediglich eine Minderheit der Verfassungsrechtler, darunter der frühere Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz (CDU), war der Meinung, die Zustimmung des Bundesrates sei nicht erforderlich.
Auch der heutige Bundespräsident Christian Wulff hatte als niedersächsischer Ministerpräsident seinen Regierungssprecher erklären lassen, Niedersachsen gehe davon aus, dass die Länderkammer der Gesetzesänderung zustimmen müsse. Dieser Äußerung folgend startete Campact eine Kampagne unter dem Motto »Wulff tu’s nicht«. 127 932 Menschen haben den Appell an den Bundespräsidenten unterschrieben und ihn damit aufgefordert, das Atomgesetz der Bundesregierung nicht zu unterzeichnen. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Deutschen Umwelthilfe (DUH) begründete die Rechtsanwältin Cornelia Ziehm, warum die schwarz-gelbe Atomgesetznovelle nach Auffassung von Campact und DUH gegen das Grundgesetz verstößt. »Die Festlegung auf acht bzw. 14 Jahre Laufzeitverlängerung erfolgt ohne konkrete Begründung, weil es eine solche Begründung nicht gibt. Insbesondere geht sie nicht aus den von der Bundesregierung beauftragten Energieszenarien hervor, auf die sich die Regierung beruft. Die Bundesregierung selbst schreibt der Atomenergie in der Gesetzesbegründung für die Zukunft eine gegenüber der Gegenwart veränderte Rolle zu«, führte Ziehm aus. Wegen des zunehmenden Beitrags der Erneuerbaren Energien müssten die Atomkraftwerke technisch anders betrieben werden. Das aber bedeute neuartige Anforderungen an die Atomaufsicht, verbunden mit ebenso neuartigen Nachrüstanforderungen. Damit erhalte die Atomaufsicht der Länder eine »wesentlich andere Bedeutung und Tragweite«. Dies wiederum löse nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes im Bundesrat aus.
Doch nicht nur die Umgehung der Länderkammer, sondern auch wesentliche Inhalte des Gesetzes sind nach Meinung von DUH und Campact verfassungswidrig. Mit der Laufzeitverlängerung lässt der Bundestag die Produktion von rund 25 Prozent mehr Atommüll zu. Und das, obwohl Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) gleichzeitig betont, es sei vollständig offen, ob der Salzstock Gorleben als Endlager geeignet ist oder nicht. Es gibt also derzeit nicht einmal eine »realistische Planung« für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle. »Da der Bund bereits für den schon angefallenen Atomabfall seiner – aus der Verfassung abgeleiteten und im Atomgesetz konkretisierten – Entsorgungspflicht nicht nachkommt, so darf er den Anfall noch weiteren hochgefährlichen Mülls nicht genehmigen«, so Ziehm. Verfassungsrechtlich bedenklich sei aber auch die Absenkung des Sicherheitsniveaus durch die Einführung des bereits erwähnten neuen Paragraphen 7d in das Atomgesetz. »Mit der Regelung weicht die Novelle das Gebot der ›bestmöglichen Schadensvorsorge‹ auf, das bisher alles umfasst, mit Ausnahme von Risiken, die nach dem Maßstab praktischer Vernunft (das sogenannte Restrisiko) auszuschließen sind.« Der Bundespräsident müsse deshalb den kalkulierten Verfassungsbruch der Regierungskoalition stoppen. In einer repräsentativen, von Campact in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage von TNS Emnid waren 66 Prozent der Bundesbürger der Meinung, Bundespräsident Wulff sollte dem umstrittenen Atomgesetz seine Unterschrift verweigern. Wulff unterzeichnete letztlich trotzdem, das Gesetz trat in Kraft. Doch die öffentliche Debatte hatte die Anti-Atomkraft-Bewegung vorerst gewonnen. Im März 2011 reichten die Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in Karlsruhe eine Verfassungsklage gegen das Gesetz ein. Auch die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Berlin, Brandenburg und Bremen reichten eine sogenannte Normenkontrollklage gegen das Atomgesetz beim Bundesverfassungsgericht ein. Zuvor hatten Anwohnerinnen und Anwohner mehrerer Atomkraftwerke bereits gemeinsam mit Greenpeace eine Verfassungsbeschwerde formuliert. Die Greenpeace-Juristen argumentieren in ihrer Klageschrift überzeugend, dass die Laufzeitverlängerungen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Anwohner verletzen.
Schon wenige Monate, nachdem Schwarz-Gelb die Laufzeitverlängerungen durchgeboxt hatte, wurde der Pro-Atomkurs der Merkel-Regierung radikal in Frage gestellt. Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9,0 auf der Richterskala Japan. Es war eines der schwersten Erdbeben in der Geschichte des Inselstaates. Anschließend verwüstete ein gigantischer Tsunami große Teile des Landes, die Flutwelle riss Schiffe, Autos, Brücken und sogar ganze Häuser mit sich. Ersten Schätzungen zufolge forderten das Erdbeben und der Tsunami mehr als zwanzigtausend Todesopfer. Doch als wäre das alles nicht schon schrecklich genug, zeichnete sich nach der Naturkatastrophe auch noch eine Atomkatastrophe ab. Das Erdbeben löste zwar eine automatische Schnellabschaltung der Kernkraftwerke aus, doch die nukleare Kettenreaktion endet nicht sofort auf Knopfdruck. In den Reaktoren entsteht auch nach der Abschaltung eine sehr große Hitze, denn die bei der Kernspaltung entstandenen radioaktiven Stoffe zerfallen weiterhin. »Die Restzerfallswärme ist ungeheuer groß, nämlich sieben Prozent der Kraftwerksleistung«, erklärt der Atomexperte Mycle Schneider. Daher müssen die Brennstäbe nach dem Herunterfahren des Reaktors noch mehrere Monate lang gekühlt werden, sonst beginnen sie zu schmelzen und die nukleare Kettenreaktion gerät außer Kontrolle.
Doch die Kühlsysteme eines Reaktors benötigen Strom, der die Kühlmittelpumpen antreibt. Beim Reaktor Fukushima 1 hatte das Erdbeben die externe Stromversorgung zerstört. Wie die deutschen Atomkraftwerke verfügen auch die japanischen Meiler für einen solchen Fall über Diesel-Notstromaggregate. Die sprangen nach dem Erdbeben zunächst auch an, doch dann kam der Tsunami und schwemmte die Dieseltanks regelrecht davon: Fukushima 1 liegt direkt am Strand, das ganze Kraftwerksgelände stand unter Wasser. Den Kraftwerkstechnikern gelang es zwar, Notbatterien zu schalten, doch die sind eigentlich nur dafür gedacht, ein paar Minuten zu überbrücken, und reichen höchstens für ein paar Stunden. Der Kühlwasserstand im Reaktordruckbehälter sank immer tiefer, die Brennstäbe sollen bis zur Hälfte aus dem Wasser geragt haben. Dadurch liefen sie immer heißer und begannen schließlich zu schmelzen. Da der Druck und die Radioaktivität immer weiter stiegen, wurde radioaktiver Dampf in die Umwelt abgelassen. Trotzdem kam es zu einer Wasserstoffexplosion, bei der Teile des Reaktorgebäudedachs weggesprengt wurden. Auch der Sicherheitsbehälter (Containment) um den Reaktordruckbehälter wurde bei mindestens zwei der sechs Reaktoren in Fukushima 1 beschädigt. Sollte dieser zerbersten, könnte das radioaktive Inventar aus dem Reaktorinneren komplett an die Umwelt gelangen. Zudem bestand die Gefahr, dass sich der schmelzende Reaktorkern zunächst durch den Boden des Reaktordruckbehälters und dann durch den Boden des Sicherheitsbehälters fressen und das Erdreich sowie das Grundwasser radioaktiv kontaminieren könnte. In ihrer Not griffen die japanischen Ingenieure zu einer verzweifelten Maßnahme, die in keinem Handbuch vorgeschrieben ist: Sie fluteten den Sicherheitsbehälter von außen mit Meerwasser, das mit Bor versetzt wurde. Was genau im Reaktor vor sich ging, wussten die Kerntechniker längst nicht mehr: Die unvorstellbare Hitze im Inneren hatte alle Messinstrumente zerstört, der Reaktor befand sich im Blindflug. Unterdessen gelangten immer neue Schreckensmeldungen aus anderen Atomreaktoren an die Öffentlichkeit, gleich in mehreren Reaktoren war die Kühlung ausgefallen und die Kernschmelze hatte begonnen.
Nachdem immer neue atomare Hiobsbotschaften aus Japan Deutschland erreichten, versuchten die Atomkraftwerksbetreiber zu beschwichtigen: In Deutschland gebe es weder Erdbeben dieser Stärke und auch keine Tsunamis. Die deutschen Atomkraftwerke seien die sichersten der Welt. Genau das hatten japanische Politiker ihrer Bevölkerung auch immer erzählt. Doch in Deutschland würden einige der älteren Meiler schon bei einem viel leichteren Erdbeben, wie sie auch hierzulande vorkommen, in Schwierigkeiten geraten. Und Tsunamis sind hierzulande zwar unwahrscheinlich, doch Hochwasser und Sturmfluten bedrohen auch deutsche Atommeiler. Das Problem in Japan war außerdem nicht das Erdbeben oder der Tsunami, sondern der Stromausfall. Bei einer Zerstörung der Stromversorgung und der Notstromaggregate eines Atomreaktors durch eine Naturkatastrophe, einen Brand, eine Explosion oder einen Terroranschlag wäre eine Kernschmelze auch in deutschen Reaktoren nicht mehr zu verhindern.
Das Design der Unglücksreaktoren in Fukushima Daiichi ähnelt sehr stark dem der deutschen Siedewasserreaktoren der sogenannten Baulinie 69, die fast genauso alt sind. Diese deutschen Reaktoren waren zwar eine Eigenentwicklung von AEG und Siemens, doch als Vorbild dienten dabei die von General Electric gebauten Siedewasserreaktoren, zu denen auch Fukushima Daiichi gehört. Block 1 der Anlage sollte ursprünglich Anfang 2011 stillgelegt werden, doch die japanische Regierung verlängerte die Laufzeit um zehn Jahre.
Besonders die vier Atomkraftwerke in Neckarwestheim und Philippsburg gelten als erdbebengefährdet. Das Erdbeben von Basel im Jahre 1356 erreichte 6,9 auf der Richterskala. Japan bewies, dass man immer mit stärkeren Beben rechnen muss, als es sie bisher gab. Schon Erschütterungen von der Stärke des Basler Erdbebens würden die Anlagen kaum standhalten. In Neckarwestheim müsste nicht einmal die Erde beben, dort müsste nur die Erde zusammensacken. Der Geologie-Professor Hermann Behmel warnte bereits vor vierzig Jahren vor dem Bau der beiden Reaktoren in Neckarwestheim. »Der Ort ist eine geologische Zeitbombe«, sagt der mittlerweile 72-jährige Geologe. Neckarwestheim steht auf einem alten Steinbruch, der Untergrund besteht aus porösen Schichten aus Kalk und Gips, in die das Grundwasser immer neue Hohlräume spült, das poröse Gestein zerbröselt. Etwa fünf Kilometer von den beiden Atomkraftwerken tat sich im Sommer 2010 auf einem Acker urplötzlich ein 18 Meter tiefer Krater auf – ohne jede Vorwarnung. Der Kühlturm des Kraftwerks sackte bereits um 40 Zentimeter ab. Die unter der Erde liegenden Rohre des Kühlsystems könnten abreißen, wenn die Gesteinsschichten in Neckarwestheim nachgeben. Dieses Problem betrifft nicht nur den Uralt-Reaktor Neckarwestheim 1, sondern auch das jüngste deutsche Atomkraftwerk Neckarwestheim 2. Auch Professor Dr. Gerhard Jentzsch, ehemaliger Präsident der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft, kommt in einem Gutachten aus dem Jahr 2005 zu dem Ergebnis, dass in der Umgebung des AKW Neckarwestheim lediglich »mittelsteifer, poröser Untergrund« vorliege (Bodenklasse M). Bei einem Erdbeben bedeute dies, dass mit um 30 Prozent stärkeren Erschütterungen zu rechnen sei. Um folgenschwere Schäden zu vermeiden, müssten Bauten auf solch instabilem Grund entsprechend stabiler errichtet werden.
Andere Gefahren drohen im Norden Deutschlands: Die Atomkraftwerke Brokdorf und Unterweser gelten als besonders hochwassergefährdet. An der Nordseeküste ist zwar ein Tsunami unwahrscheinlich, doch auch Hochwasser und Sturmfluten können eine Gefahr für Atomkraftwerke darstellen. »Ein gleichzeitiges Auftreten von Sturmflut und Tidehochwasser kann dort (Atomkraftwerk Unterweser; Anmerkung des Autors) für eine Gefährdungssituation sorgen«, schreibt die Physikerin Oda Becker in einem Gutachten für den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Laut einer Studie ist bei einer Überflutung des AKW-Geländes von gefährlichem Notstromfall auszugehen.
Eine noch größere Gefahr bestünde bei einem Deichbruch. Laut Aufsichtsbehörde würde der Wasserstand bei einem Deichbruch auf 3,95 Meter ansteigen. Diese Berechnungen beruhten aber zum Teil auf veralteten Analysen, so Becker. »Dieser Wasserstand ist nur fünf Zentimeter höher als die Anlagensicherheitsgrenze. Steigt das Wasser höher, ist ein folgenschwerer Kernschmelzunfall unvermeidlich«, heißt es in der BUND-Studie.
Nach der Atomkatastrophe in Japan verkündete Bundeskanzlerin Merkel ein »Moratorium« mit den Reaktorbetreibern. Die Laufzeitverlängerung wurde für drei Monate »ausgesetzt«, die sieben ältesten Reaktoren, die nach dem rot-grünen Atomkonsens im Jahr 2011 ihre Reststrommengen ausgeschöpft hätten, mussten vorübergehend vom Netz. In der Zwischenzeit sollten die Anlagen einem Sicherheitscheck unterzogen werden. Sollte auch nur einer dieser gefährlichen Schrottreaktoren jemals wieder ans Netz gehen, würde die Kanzlerin auch noch ihren letzten Rest Glaubwürdigkeit verlieren.
Über die Versorgungssicherheit mache sie sich keine Sorgen, erklärte die Kanzlerin, schließlich sei Deutschland gegenwärtig Stromexporteur. Warum wurden die Laufzeiten dann überhaupt verlängert? Hatten Politiker von Union und FDP doch immer behauptet, wenn es beim Atomausstieg bliebe, entstünde eine »Stromlücke« und man müsse Atomstrom aus dem Ausland importieren.
Schon heute gibt es wegen des Booms der Erneuerbaren Energien und den Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke massive Überkapazitäten auf dem deutschen Strommarkt. Horst Seehofer behauptete im Sommer 2010 dennoch, wenn es beim Atomausstieg bliebe, sei man auf Atomstrom aus dem Ausland angewiesen. Das ist eines der beliebtesten Argumente der Atomkraftbefürworter, aber mit der Realität hat es nichts zu tun, wie ein Blick in die Statistiken der Energieversorger zeigt. Allein im ersten Quartal 2010 lieferte Deutschland über 18 Milliarden Kilowattstunden Strom ins Ausland, während im gleichen Zeitraum nur 8,9 Milliarden Kilowattstunden aus dem Ausland importiert wurden. Mit gut 9 Milliarden Kilowattstunden erzielte die Bundesrepublik den höchsten Strom-Exportüberschuss ihrer Geschichte. Damit wurde im ersten Quartal in Deutschland 6,7 Prozent mehr Strom erzeugt als verbraucht – obwohl die Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel nicht eine einzige Kilowattstunde produzierten. Das belegen die Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen, einem Zusammenschluss von sieben Verbänden der Energiewirtschaft.
Der Exportüberschuss entsprach ziemlich exakt jener Menge, die in der gleichen Zeit in den alten Reaktoren Biblis A und B, Neckarwestheim I, Isar 1, Philippsburg 1 und Grafenrheinfeld erzeugt wurde. Das bedeutet: Deutschland hätte auf acht Atomkraftwerke verzichten können – und selbst dann noch über eine ausgeglichene Bilanz verfügt. Von einer »Stromlücke« kann also überhaupt keine Rede sein. Zumal der Strom-Exportüberschuss Deutschlands seit dem Jahr 2002 kontinuierlich steigt. Bis dahin war die Bilanz mit kleinen Schwankungen recht ausgeglichen. Der Grund für die gewaltigen Stromexportüberschüsse ist der anhaltende Boom bei den Erneuerbaren Energien, den das rot-grüne Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ausgelöst hat.
Im Jahr 2008 waren sieben Atomkraftwerke monatelang abgeschaltet, trotzdem erzielte Deutschland einen Exportüberschuss in Höhe von 22,5 Milliarden Kilowattstunden Strom. Das ist etwa so viel, wie vier mittlere Atomkraftwerke im Jahr produzieren. An diesen Zahlen kann man sehen: Die sieben ältesten und gefährlichsten Atomkraftwerke und der Pannenreaktor in Krümmel können problemlos endgültig stillgelegt werden, ohne dass wir deshalb Strom aus dem Ausland importieren müssten.
Trotz des sogenannten Moratoriums betonte die Kanzlerin auch nach Fukushima, die Atomenergie sei weiterhin als »Brückentechnologie« nötig. Eine Rückkehr zum schrittweisen Atomausstieg bis 2022 schloss sie ausdrücklich aus, und sie glaubt nicht, dass es bis dahin möglich sei, die Atomkraft durch Erneuerbare Energien zu ersetzen. Die schwarz-gelbe Regierung hält Atomkraftwerke, von denen viele in den 1960er und 1970er Jahren auf dem Stand der damaligen Technik konzipiert wurden, für sicher. Doch sie traut es Ingenieuren und Technikern nicht zu, 23 Prozent Atomstrom bis 2022 durch einen solaren Energiemix aus Wind, Sonne, Wasser, Erdwärme und nachhaltig erzeugter Biomasse zu ersetzen oder mit Hilfe einer höheren Energieeffizienz einzusparen. Damit zeigen sich die Atomkraftbefürworter weit technikpessimistischer als die meisten Atomkraftgegner. Dabei wird gerade ihnen doch immer Technikfeindlichkeit unterstellt.
Noch in den 1990er Jahren behauptete die Atomlobby in Zeitungsanzeigen, mehr als 4 Prozent Strom aus erneuerbaren Energiequellen seien in Deutschland langfristig nicht möglich. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel erklärte im Juni 2005: »Den Anteil Erneuerbarer Energien am Stromverbrauch auf 20 Prozent zu steigern ist wenig realistisch.« Doch sie erwies sich immerhin als lernfähig. Zwei Jahre später setzte sie, inzwischen Kanzlerin einer großen Koalition, als EU-Ratsvorsitzende einen Beschluss durch, der bis 2020 einen Anteil von 20 Prozent Erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch vorschreibt. Der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) war noch 2006 der Meinung, der Anteil Erneuerbarer Energien an der Stromversorgung könne bis 2025 nur bei maximal 27 Prozent liegen. Drei Jahre später strebte seine Partei in ihrem Bundestagswahlprogramm 2009 für 2020 bereits 35 Prozent Erneuerbare Energien an, im Jahr 2030 sollten die Erneuerbaren »mindestens die Hälfte« ausmachen.
Das Wachstum der Erneuerbaren Energien hat bisher stets alle Prognosen übertroffen, selbst die optimistischsten. Als im Jahr 2000 der Atomkonsens ausgehandelt wurde, wollte die rot-grüne Bundesregierung den Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromversorgung bis 2010 auf 12,5 Prozent verdoppeln. Das hielt die damalige Opposition aus Union und FDP für völlig unrealistisch, und selbst manche Experten meinten, das Ziel sei zu ambitioniert. Tatsächlich betrug der Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromversorgung im Jahr 2010 sogar 17,4 Prozent und an der gesamten Energieversorgung (also einschließlich Wärme und Verkehr) schon 10,5 Prozent.[8]
Auch wissenschaftliche Prognosen und selbst die Lobbyverbände der Erneuerbaren-Energien-Branche haben die Dynamik des Ausbaus stets unterschätzt. Gestützt auf renommierte wissenschaftliche Institute veröffentlichte die EU-Kommission 1996 ein »baseline scenario« und ein »advanced scenario«. In ersterem sprach sie von 6799 Megawatt installierter Windkraftkapazität in den damals 15 Mitgliedsländern der EU bis 2007: »eine Fehlerquote von 732 Prozent gegenüber dem dann bereits erreichten realen Ausbau«, wie der Solarenergie-Experte Hermann Scheer feststellte. Im zweiten, optimistischeren Szenario sprach die Kommission von einem Anteil des Wind- und Solarstroms von 30 280 Megawatt bis 2020. Ein Wert, der bereits im Jahr 2008 mit 73 504 Megawatt weit höher lag. Auch die Internationale Energieagentur (IEA) liegt mit ihren Prognosen regelmäßig kräftig daneben. 2002 sagte sie in ihrem »World Energy Outlook« für die EU-15 im Jahr 2030 eine installierte Windkraftkapazität von 71 000 Megawatt voraus, die aber bereits 2009 erreicht war. Für die Photovoltaik rechnete sie bis 2020 mit einer Kapazität von 4000 Megawatt, doch im Jahr 2008 waren es schon 9331 Megawatt. »Der systematischen Unterschätzung der Erneuerbaren Energien stellt die IEA regelmäßig Überschätzungen fossiler Energien und der Atomenergie gegenüber«, schreibt Hermann Scheer. »Mit ihren Fehlprognosen hat sie in erheblichem Maße zu politischen Fehlentscheidungen, zu Fehlinvestitionen im Bereich konventioneller Energien und zu unterlassenen Entscheidungen zu erneuerbaren Energien beigetragen. Dennoch wird sie nach wie vor von den Regierungen – insbesondere von den Weltwirtschaftsgipfeln (G8 bzw. G20) – mit neuen Studien beauftragt.«
Doch solche Fehleinschätzungen sind bei neuen Technologien nicht ungewöhnlich. 1878 erklärte die Western Union, damals die größte Telekommunikationsgesellschaft in den USA: »Das Telefon hat zu viele ernsthaft zu bedenkende Mängel für ein Kommunikationsmittel.« Lord Kelvin, Präsident der Royal Society, war im gleichen Jahr der Überzeugung, dass niemand Flugmaschinen bauen könne, die schwerer sind als Luft. Ken Olsen, Chef der Digital Equipment Corporation (DEC), eine der ersten großen Computerfirmen in den USA, meinte 1977: »Es gibt keinen Grund für irgendein Individuum, einen Computer zu Hause haben zu wollen.« IBM wollte das noch junge Unternehmen Microsoft 1982 nicht kaufen, weil es nicht die geforderten 100 Millionen Dollar wert sei. Die IBM-Manager waren ebenso felsenfest davon überzeugt, die Zukunft gehöre den Zentralrechnern, wie die Manager der Stromkonzerne in Deutschland heute davon überzeugt sind, Großkraftwerke hätten noch eine Zukunft. Die Unternehmensberatung McKinsey prognostizierte 1980 im Auftrag des amerikanischen AT&T-Konzerns, dass es bis zum Jahr 2000 in den USA nur 0,9 Millionen Mobiltelefone geben werde – tatsächlich waren es dann schon 109 Millionen. »Derartige Irrtümer resultieren aus strukturkonservativem Denken, Tunnelblicken anerkannter Experten und der Fehleinschätzung menschlicher Bedürfnisse. Nicht zuletzt entstehen sie aus einer Unterschätzung der Marktdynamik, wenn die Einführung einer neuen Technologie nicht von wenigen Großabnehmern abhängig ist, sondern über zahllose Nachfrager erfolgt, die deren Gebrauchswert für sich selbst erkennen«, meinte Scheer, aus dessen Buch Der energethische Imperativ (zusammengesetzt aus »energetisch« und »ethisch«) die meisten der erwähnten Beispiele für »affirmativen Expertenpessimismus« stammen.
Doch nicht nur die Erneuerbaren Energien, auch die Potentiale der Energieeffizienz werden häufig unterschätzt. »Der ambitionierte Ausbau der regenerativen Stromerzeugung und das entschiedene Fördern der Stromeffizienz könnten bis spätestens 2020 sämtliche Atomkraftwerke in Deutschland ersetzen. Allein mit Energieeffizienzmaßnahmen ließen sich sechs Atommeiler überflüssig machen«, erklärt Torben Becker, Energieexperte des BUND. Die längeren Laufzeiten für Atomkraftwerke blockierten hingegen eine verbraucher- und klimafreundliche Stromversorgung. Der BUND veröffentlichte dazu ein mit Unterstützung des Heidelberger ifeu-Instituts für Energie- und Umweltforschung erarbeitetes Maßnahmenpaket für mehr Stromeffizienz. Die mit Effizienzmaßnahmen bis 2020 erreichbare Reduzierung des Stromverbrauchs in Deutschland entspreche der Jahresproduktion von mindestens sechs Atomkraftwerken, rechnete Martin Pehnt vom ifeu-Institut vor. Die Greenpeace-Studie »Plan B« zeigte bereits im Jahr 2007, dass alle deutschen Atomkraftwerke nach und nach schon bis zum Jahr 2015 vollständig ersetzt werden könnten – also etwa sieben Jahre früher als im rot-grünen Atomkonsens vereinbart. Ohne dass die Lichter ausgehen oder die Klimaschutzziele gefährdet werden.
Zu diesem Ergebnis kommt auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung. Er fordert die Bundesregierung auf, jetzt die Weichen für eine »klimafreundliche, sichere und bezahlbare Energieversorgung« aus 100 Prozent Erneuerbaren Energien zu stellen. Die Energieexperten des Umweltrates betonten: »Für die Übergangszeit sind weder Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke noch neue Kohlekraftwerke erforderlich. Die Brücke zu den erneuerbaren Energien steht bereits.« Weder eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken noch der Bau neuer Kohlekraftwerke mit Kohlendioxidabscheidung und -speicherung seien notwendig für den Übergang zur erneuerbaren Stromversorgung. Die Umweltweisen warnen davor, dass durch die Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke Überkapazitäten im System entstehen. »Die konventionellen Kraftwerke sind auf Dauer nicht mit der erneuerbaren Stromerzeugung vereinbar, da ihre Leistung nicht schnell genug an die Schwankungen der Wind- und Sonnenenergie angepasst werden kann. Das dauerhafte Nebeneinander von konventioneller und wachsender erneuerbarer Stromerzeugung würde das System ineffizient und unnötig teuer machen«, heißt es in einer Pressemitteilung der Regierungsberater.
Die Sachverständigen ließen mehrere Szenarien einer vollständig regenerativen Stromversorgung vom renommierten Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt durchrechnen. Das Ergebnis: Die Strompreise in einem vollständig regenerativen System würden wahrscheinlich sogar niedriger sein als bei einem Mix aus regenerativen und atomar-fossilen Energien. Das klingt plausibel, denn bei den Erneuerbaren Energien (mit Ausnahme der Biomasse) gibt es die Primärenergie gratis. Und während die atomar-fossilen Energien immer teurer werden, sinken die Kosten der Erneuerbaren kontinuierlich. In Teil II wird ausführlicher auf dieses Thema eingegangen.
Auch das Umweltbundesamt hält Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke und den Neubau von Kohlekraftwerken für überflüssig und schädlich. Eine Stromlücke gebe es nicht, lautet das Fazit der Studie »Energieziel 2050«. Doch die Bundesregierung hört lieber auf Lobbyisten als auf ihre eigenen wissenschaftlichen Berater.
Wie wurden die Stromkonzerne so mächtig, dass sie der Bundesregierung ein Gesetz diktieren konnten? So mächtig, dass sich die Bundesregierung sogar die Verfassung zurechtbiegt, nur um die Laufzeit einer veralteten Risikotechnologie zu verlängern? Nach der Lektüre des Buches Aufstieg und Krise der deutschen Stromkonzerne von Peter Becker wundert sich niemand mehr über den Ausgang des Atompokers. Der Rechtsanwalt schildert darin, wie alles mit drei genialen Unternehmern begann: Emil Rathenau, Werner Siemens und Hugo Stinnes.
Auf der Weltausstellung im Jahre 1881 in Paris witterte Emil Rathenau das Geschäft seines Lebens. Während alle Welt über die von 100 elektrischen Bogenlampen hell erleuchteten Champs-Élysées sprach, interessierte er sich mehr für die Ausstellung des amerikanischen Erfinders Thomas Alva Edison. Auf einem kleinen Tisch stand eine Glühlampe, die man mit einem Schalter »anzünden« und ausschalten konnte. Edison und seine Mitarbeiter hatten nicht nur die Glühlampe erfunden, sondern auch alles, was dazugehört: Schalter, Steckdosen, Fassungen, Sicherungen, Stromzähler und den Dynamo »Jumbo«, eine Dampfmaschine mit 120 PS, die einen 50-Kilowatt-Dynamo antrieb. Jumbo war der größte Generator seiner Zeit.
Rathenau war seit dem Verkauf einer von ihm gegründeten Maschinenfabrik Goldmarkmillionär. Er sicherte sich die deutschen Rechte von Edisons Glühlampensystem und beschloss, die Elektrizität in Berlin einzuführen. Nur ein Viertel der Berliner hatte damals Gaslicht, der Rest verfügte nur über Petroleumlampen. Berlin war daher ein riesiger Markt für Glühlampen, die Einwohner mussten nur ihre Vorzüge kennenlernen, war sich Rathenau sicher. Außerdem wuchs die Stadt damals sehr schnell: Berlin sollte zu einer Metropole für vier Millionen Menschen ausgebaut werden. Erst vor wenigen Jahren war mit dem Bau der Kanalisation für 1,2 Millionen Menschen begonnen worden. Rathenau konnte also darauf setzen, dass sein Stromnetz auf dieser Riesenbaustelle mitwachsen würde.