Abschied von der Öffentlichkeit - Michael Hüther - E-Book

Abschied von der Öffentlichkeit E-Book

Michael Hüther

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Beschreibung

Michael Hüther, Ökonom und Historiker, wirft einen Blick auf unsere Gegenwart und ihre gefährdeten Grundlagen. Für Hüther droht akut der Verlust von Modernisierungserfolgen der vergangenen zwei Jahrhunderte. Denn es gibt, so Hüther, verstärkt durch die fundamentalen Krisen der letzten Jahre, eine Erosion des öffentlichen Raums als Ort der Kommunikation und des Gesprächs, aber auch der wirtschaftlichen Geschäfts- und Austauschbeziehungen. Der öffentliche Raum war immer beides: Agora und Markt. Wenn wir uns alle immer weiter ins Private zurückziehen, stehen unsere politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen zur Disposition. Ein großartiger Essay über die Veränderung des öffentlichen Raums und seine notwendige Sicherung und Neubestimmung.

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Michael Hüther

Abschied von der Öffentlichkeit

Eine kurze Theorie vom Ende der Moderne

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: total italic

Umschlagmotiv: ©Berg Dmitry / shutterstock

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print: 978-3-451-39424-9

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82996-3

Inhalt

I. Die Bedrohung der Öffentlichkeit

II. Im Maschinenraum der Moderne: Voraussetzungen und Bedingungen des öffentlichen Raums

1. Die bürgerliche Selbstermächtigung des Menschen

2. Die strukturelle Überforderung des Einzelnen in der Moderne

III. Städte: Ordnung im Raum und Leben am Vulkan

1. Infrastruktur, Daseinsvorsorge und Freiheitszwänge

2. Innovationskraft und ­Stadt-Land-Struktur

IV. Skepsis als Zumutung in Zeiten existenzieller Gefährdung

1. Erschöpfung und Müdigkeit verlangen Sicherheit statt Skepsis

2. Die Gefährdung des Zweifels in Grenzsituationen des Lebens

V. Abschied von der Öffentlichkeit und Rückkehr in das »ganze Haus«

1. Die Umwertung der Üblichkeiten und des Alltags

2. Systemwettbewerb von innen: Bruchlinien in den Gesellschaften des Westens

VI. »Zeitenwende«: Bipolare Welt und Systemkonflikt um den öffentlichen Raum

1. Weltunordnung und der Westen

2. Was wir für uns klären müssen

VII. Freiheit, Verantwortung und Vermittlung in der vielfältigen Unordnung

1. Auswege und Fluchten des bedrängten Menschen

2. Neue Perspektiven für die Öffentlichkeit

Ausblick

Über den Autor

Ein Physiker, der nur Physiker ist, kann durchaus ein erstklassiger Physiker und ein hochgeschätztes Mitglied der Gesellschaft sein. Aber gewiss kann niemand ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist – und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, dass der Ökonom, der nur Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer regelrechten Gefahr wird.

Friedrich August von Hayek, The Dilemma of Specialisation, 1956

I. Die Bedrohung der Öffentlichkeit

Warum schreibt ein Ökonom über die Bedrohung der Öffentlichkeit? Eine Kompetenzanmaßung? Mut? Übermut? Folgt man Friedrich August von Hayek, dann ist dies keineswegs so, vielmehr wird durch ihn der Ökonom geradezu ermuntert, die Grenzen des eigenen Faches bewusst zu überschreiten. Für politisch und öffentlich relevante Ökonomik ist das eigentlich eine Pflicht.

Die Motivation für diesen Text speist sich aus meiner grundsätzlichen Einschätzung, dass volkswirtschaftliche Entwicklung, unternehmerischer Erfolg und wirtschaftspolitische Möglichkeiten nie unabhängig von allgemeinen politischen Entscheidungen, legislativen Umsetzungen und administrativem Handeln sowie vom alltäglichen öffentlichen Diskurs, gesellschaftlicher Reflexion und daraus folgender Legitimation verstanden werden können. Dazu kommt meine Wahrnehmung, dass der für dieses Zusammenspiel relevante öffentliche Raum aktuell besonders unter Druck steht, sich seine Funktionalität grundlegend verändert und ein Kippmoment erreicht ist.1 Das führt mich zu Fragen an die künftige Funktionsweise der Gesellschaft. Und das verlangt einen breiteren Blick als den üblichen des Ökonomen.

Der Essay als Textgattung macht deutlich, worum es gehen soll: um einen Anstoß zum Gespräch über die sich aus vielen Quellen und unterschiedlichen Zeitschichten speisende neue Sortierung der Gegenwart. Die These lautet: Es droht eine Abwicklung der Moderne, wenn die Privatheit die Öffentlichkeit dominiert, und damit drohen Verluste an Modernisierungserfolgen, wie sie sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch eingestellt haben. Dieser Einschätzung liegt eine grundsätzlich positive Sicht auf die westliche Moderne als Epoche der Gegenwart zugrunde, weil die Selbstermächtigung des Menschen anders nicht zu denken ist. Das bedeutet nicht, dass die Moderne keine negativen Seiten hätte und dass die Modernisierung keine problematischen Folgen zeitigte.2 Wie sollte es anders sein, die »verrufene Moderne« wird dennoch nicht als Signum unserer Zeit gesehen, weil trotz aller kollateralen Schäden die »Geschichte des Westens« eine Fortschrittsgeschichte ist, eine offene, noch lange nicht auserzählte, trotz aller krummen Pfade im Grunde zielgerichtete Geschichte, denn »die subversive Kraft der Ideen von 1776 und 1789 hat sich noch längst nicht erschöpft«, und das normative Projekt ist im Hinblick auf die Universalität der Menschenrechte unvollendet.3

Zu Beginn sind zwei Aspekte deutlich zu machen: Das ist kein Text zur Corona-Pandemie, obgleich daher ursprünglich der Anstoß kam und die zu beobachtenden gesellschaftlichen Veränderungen dadurch eine besondere Zuspitzung erfahren haben. Insofern spielt die Pandemie eine wichtige Rolle für die Argumentation, aber es ist kein Buch, das Pandemie und Pandemiepolitik in den Mittelpunkt rückt. Und es ist ebenso kein Text über den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der während der Arbeit an diesem Manuskript begann, sowie dessen Folgen für Geopolitik und Geoökonomie. Allerdings führt die daraus resultierende Perspektive auf eine neue Bipolarität der Welt ebenfalls zu der Frage, wie wir unsere Modernisierungsgewinne in die Zukunft führen, wenn der Systemkonflikt mit dem staatskapitalistischen China das Gegenmodell zum transatlantischen Westen und seiner Modernisierungserfahrung offeriert. Beide Schocks – die Pandemie und Russlands Aggression – wirken verdichtend auf sich seit längerer Zeit entwickelnde gesellschaftliche Trends und sind nicht voraussetzungslos, sondern mehr Prägung als Ursache der ausgerufenen »Zeitenwende«.4

Der öffentliche Raum hat sich infolge der Modernisierung der vergangenen zwei Jahrhunderte im transatlantischen Westen als wichtige Steuerungsinstitution entwickelt, die das vielfältige alltägliche Miteinander der Menschen als Staatsbürger, als Gesellschaftsmitglieder und als Wirtschaftsakteure prägt. Demokratie manifestiert sich bei uns sowohl in willkürfreien Prozeduren und Wahlverfahren als auch im alltäglichen gesellschaftlichen Gespräch – dem für jeden Einzelnen zumutbaren »Wagnis der Öffentlichkeit« (Hannah Arendt). Wir sprechen von deliberativer Demokratie mit sich dynamisch gestaltenden sozialen Räumen als Folge und Ausdruck der öffentlichen Kommunikation. Zugleich ist unsere Wirtschaftsordnung dezentral und innovativ über Märkte getrieben, die ihrerseits von der Dichte der Arbeits-, Wissens- und Risikoteilung in der räumlichen Ordnung leben. Öffentlichkeit und öffentlicher Raum werden nicht auf den politischen Streit der besseren Argumente verengt, sondern ebenso als Ort der Vermittlung und Gestaltung des Alltags sowie des ökonomischen Austauschs verstanden.

Der öffentliche Raum steht vor grundlegenden Herausforderungen, die sich aus gesellschaftlichen Trends ableiten, welche bereits seit längerem wirken und für die Ausreifung der westlichen Moderne kennzeichnend sind. Diese Trends – Globalisierung und Fernbeeinflussung, Digitalisierung und Selbstermächtigung, Individualisierung und Identitätsegoismus, Komplexitätszunahme und Eindeutigkeitsverlust – sind je für sich beschrieben und erörtert worden. Entscheidend ist der erreichte Reifegrad der Entwicklung, der dazu führt, dass qualitative Veränderungen in der Gesellschaft eintreten, die sich in Konflikten, Widerständen und neuer Rückwärtsgewandtheit äußern. Zudem haben sich die Wirkungszusammenhänge und die wechselseitigen Bedingungen der Trends verschärft.

Seit dem Frühjahr 2020 hat sich dazu die Erfahrung der Covid-­19-­Pandemie gesellt, die tief in das öffentliche Leben eingegriffen hat. Die Hoffnung, dieser Eingriff verlöre seine Wirkmacht, sobald die Pandemie zu einem endemischen Phänomen wird, ist unrealistisch. Denn ganz unabhängig von der endemischen Manifestation des SARS-CoV-2-Virus in grippeähnlichen Wellen und der Bedeutung von Long Covid bleibt die Erfahrung fundamentaler Verletzlichkeit moderner Gesellschaften. Ein gesellschaftliches Leben ohne Öffentlichkeit, der weitreichende Rückzug aus dem öffentlichen Raum und damit ein Rütteln an den Grundfesten der westlichen Moderne zu erleben, all dies wird nicht ohne dauerhafte Wirkung bleiben. Die engstirnige Null-Covid-Strategie in China mit der Folge wiederkehrender, weitreichender Abschließung des öffentlichen Raums bestätigt diesen Zusammenhang; der Mangel an gesellschaftlichem Vertrauen, die tiefe Verankerung autoritärer Mechanismen in Politik und Gesellschaft sowie die Abwesenheit eines zivilgesellschaftlichen Korrektivs lassen zu, dass der Staat dort beliebig und umfassend Freiheits- sowie Bürgerrechte einschränken kann.

Zudem werden die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges in den westlichen Gesellschaften für den öffentlichen Raum zunehmend sichtbar: Historische Teuerungseffekte, Störung der Weltenergiemärkte und der globalen Liefernetze haben neue ökonomische Anforderungen gestellt. Die Verteidigungsfähigkeit muss massiv gestärkt, der gesellschaftliche Widerstandswille außen- und sicherheitspolitisch neu formiert werden. Die Wohlstandsverluste sind nicht zu verdrängen und wegzubuchen, sie müssen hingenommen werden; die zu verändernden Prioritäten verlangen nach Umschichtungen im öffentlichen Haushalt. All das birgt soziale Konflikte und gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Die Illusion einer dauerhaften Friedensdividende ist jedenfalls zerstoben. Neu bewertet wird zudem die Globalisierung, manche rufen gar deren Ende aus, weil sie eine Politik für die Gestaltung der weltweiten Kooperation ablehnen. Der globale Systemkonflikt setzt die offenen Diskurse liberalerer westlicher Gesellschaften verschärft unter Druck. Die Sicherheit der individuellen Selbstermächtigungsoption ist gefährdet, und der öffentliche Raum droht seine Orientierungs- und Steuerungsfunktion zu verlieren.

Die genannten gesellschaftlichen Trends, die Pandemieerfahrung und die russische Aggression haben die gleiche Stoßrichtung: eine Gefährdung des öffentlichen Raums als Ort der Kommunikation und des Gesprächs, der Positionsbestimmung und der Aushandlung, des Streits über Interessengegensätze und der Konfliktlösung, der friedlichen Gewaltenteilung. Die Gefährdung ergibt sich einmal durch die Überforderung des gesellschaftlichen common sense of interest (eines gemeinsamen Sinnes für ein gemeinsames Interesse, David Hume) aufgrund von Globalisierung, Digitalisierung und der Verengung der Identitätsidee auf die subjektive Existenzwahrnehmung (Identitätsegoismus), zudem durch den pandemiepolitisch geforderten Rückzug in die Privatheit sowie durch die Neubewertung kollektiver Prioritäten seit dem 24. Februar 2022. Mehr als nur emblematisch steht für diese Verquickung die Konjunktur der Heimarbeit als extremer Rückzug in die Privatheit und die Vermischung der unterschiedlichen Lebenssphären, als Abkehr vom öffentlichen Raum mit einer dominanten Kultur der Präsenz – dem Alltagskonzept der Moderne – sowie als Einkehr in das technisch ertüchtigte »ganze Haus« (Otto Brunner) – das Alltagskonzept der agrarischen Welt Alteuropas, der Vormoderne.5

Begreift man in der Deutung von Peter Berger und Thomas Luckmann6 die alltägliche Lebenswirklichkeit als eine gesellschaftliche Konstruktion, in der sich das breitenwirksame Wissen – nicht im Sinne von Wissenschaft, sondern als weithin akzeptierte Deutung von Sachzusammenhängen – manifestiert, dann richtet sich die Frage darauf, was sich in diesem Wissen verändert hat oder verändern muss. »Die Alltagswelt breitet sich vor uns aus als Wirklichkeit, die von Menschen begriffen und gedeutet wird und ihnen subjektiv sinnhaft erscheint.«7 Darin verbirgt sich der Hinweis, dass die Gesellschaft eine doppelgründige Wirklichkeit ist, als objektive Gegebenheit sowie als subjektive Aneignung und Deutung. »Die Alltagswelt wird ja nicht nur als wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung von jedermann hingenommen, sondern sie verdankt jedermanns Gedanken und Taten ihr Vorhandensein und ihren Bestand.«8

Wenn nach der Neuformierung unserer Lebenswelt gefragt wird, dann kann dies nicht nur auf die objektiven Bedingungen makrostruktureller Veränderungen und exogener Schocks – wie die Pandemie, den Krieg gegen die Ukraine oder die Klimakrise – zielen, sondern bindet immer mit ein, was die Menschen diesen Daten als Verständnis und Bedeutung beimessen, aber auch, wie sie diese durch Haltung ausdrücken und durch Handlung umsetzen. Erst dann wird aus den objektiven Daten eine neue Alltagswelt. Ebenso gilt bei den aufgeführten Trends, dass diese zwar grundsätzlich bestimmte Wirkungen entfalten, deren Ausmaß und Intensität aber schwanken. Das Alltagsweltwissen differiert in Raum und Zeit. Gesellschaften reproduzieren trotz aller Globalisierung und Offenheit in erstaunlicher Beharrlichkeit das über eine lange Vergangenheit Gelernte und habituell Reflektierte. »Die historischen Gesellschaftsstrukturen erzeugen Identitätstypen, die im individuellen Fall erkennbar sind.«9 Jede Gesellschaft hat – so Helmuth Plessner – spezifische »Widerlager« ihres Bewusstseins, die unweigerlich zu stabilen Differenzierungsprozessen zwischen Gesellschaften führen.10

»Die Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit« setzt »die fundamentale Erfahrung des Anderen […] von Angesicht zu Angesicht« – eine Kultur der Präsenz – voraus. »Die Vis-à-Vis-Situation ist der Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion.« Dort »erkenne ich das Subjekt-Sein des Anderen an einer Fülle von Anzeichen«.11 Und nur im Miteinander erfahre ich, ob Vorstellungen, Werthaltungen, Handlungen einen Sinn ergeben, weil sie mit den entsprechenden Äußerungen und Reaktionen der anderen konfrontiert werden. Diese Quasiobjektivierung durch Kompromissbildung ist die elementare Voraussetzung für Sinnfindung als kollektiven Vorgang. Das ist gleichermaßen schmerzhaft und ermutigend. Was aber bedeutet es, wenn dieser Prozess unterbrochen, gestört oder in die digitale Welt verlegt wird? Diese Frage drängt sich umso mehr auf, wenn man bedenkt, dass die Sprache als Ausdruck die Alltagserfahrung und das Vis-à-vis bestimmt. Denn anders als Mimik und Gestik weist die Sprache durch ihr Potenzial dokumentarischer Verschriftlichung über den Augenblick der Begegnung hinaus, ist aber von diesem meist nicht zu trennen. Berger und Luckmann nennen es die Kraft der Objektivation, die der menschlichen Ausdrucksform eigen sei. Im Zusammenspiel mit der Externalisierung von Gesellschaft durch die Ausbildung und Legitimation von Institutionen einerseits und der Internalisierung von Gesellschaft sowie Spiegelung des Alltags durch Sozialisation des Einzelnen andererseits lassen sich die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und ihre aktuelle fundamentale Bedrohung systematisch verstehen.

Dieser ständige Rückkopplungsprozess gesellschaftlicher Konstruktion findet vor allem dort statt, wo Öffentlichkeit und soziale Präsenz ganz selbstverständlich und intensiv gegeben sind: in Städten, genauer in Städten europäischen Typus als Muster der Urbanisierung in der Moderne. Dort hat sich auf dem Weg zur Moderne eine Sphäre der Öffentlichkeit entwickelt, die der alteuropäischen, der agrarisch geprägten Welt fremd war. In hoher Dichte und Intensität trafen unterschiedliche Lebensformen und Erfahrungen aufeinander, die in den Bürgerrechten eine Objektivierung durch Institutionen erreichten. Die Stadt ist gekennzeichnet durch die Latenz der Vielfalt und Diversität, deren Ausbruch in die Realität oder Ausdruck als Realität den kontextualen Bedingungen jeder Zeit folgt.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts bewirkte dieser permanente Wandel der Öffentlichkeit einen Wandel der Entfremdungsidee von der frühindustriellen Marx’schen Deutung hin zur allgemeineren Klage über die »Totalität des Anonymen« und als »nie ganz erloschener Widerwillen gegen eine durchfunktionalisierte Lebensordnung«.12 Damit erweist sich die Doppelgründigkeit der Gesellschaft als Herausforderung für den Einzelnen, der seine soziale Rolle im Konflikt mit seiner Privatheit verspürt und in Sorge um diese immer wieder eine Abwehrhaltung gegen das Soziale einnimmt. Dieses »Doppelgängertum [öffentlich und privat] kann der Mensch nicht aufheben«.13 Sichtbar wird diese Spannung in den einzelnen Rollen, die der Mensch einnimmt, zum Beispiel als Eltern oder als Berufstätige. Jeweils prägen private Vorstellungen, Normen und Erfahrungen, deren Wirkung auf Gesellschaft und Wirtschaft jedoch ebenso offenkundig ist und eine besondere Verantwortung begründet. Anders gewendet: »No man is an island, entire of itself« (John Donne).

So sind gesellschaftliche Trends stets im Licht der grundsätzlichen Spannung moderner Alltagslebenswirklichkeit einzuordnen und zu bewerten. Die formulierte These einer Bedrohung der Öffentlichkeit mit der Folge einer Abwicklung der Moderne gewinnt damit eine zusätzliche Perspektive. Ausgehend von diesen Befunden und Überlegungen stellen sich deshalb Fragen sehr grundsätzlicher Art über die historischen Voraussetzungen und systematischen Bedingungen des öffentlichen Raums als Institution der Moderne in unserer Zeit. Offenkundig haben dafür Städte – als Latenz der Vielfalt und Diversität – eine herausragende Bedeutung. Denn beide Sphären gesellschaftlicher Entäußerung – die deliberative Demokratie sowie die innovative Marktökonomie – sind nicht nur historisch an städtische Lebensräume, verdichtete Agglomeration und urbane Kultur gebunden. Städte sind der Maschinenraum der Moderne. In Anbetracht dieses Potenzials sowie des Verlusts an Urbanität soll in Kapitel II dem prägenden Konstrukt der modernen Lebenswirklichkeit nachgespürt werden, um dessen Bedeutung für die Gegenwart und ebenso deren Gefährdung zu erfassen.

Es schließt sich die Frage an, welche institutionell-technischen Voraussetzungen und Prägungen die gesellschaftlich gerahmte Lebenswirklichkeit der Moderne hat und was damit auf dem Spiel steht. Verstädterung und Urbanisierung charakterisieren moderne Gesellschaften und grenzen sie gegenüber früheren Welten ab. Agglomeration und Fühlungsdichte im menschlichen Miteinander sind politisch und ökonomisch wirksam, jedenfalls latent vorhanden. Städte definieren und verankern die Ordnung des Lebens im Raum und fungieren als innovationsspeiende »Vulkane der Ökonomie«. Damit wird deutlich, was auf dem Spiel stehen kann, wenn Städte sozial und wirtschaftlich an Bedeutung verlieren. Die sich daraus ergebende Frage, welche institutionell-technischen Voraussetzungen und Prägungen die gesellschaftlich gerahmte Lebenswirklichkeit der Moderne hat und was damit auf dem Spiel steht, wird in Kapitel III behandelt.

Die Covid-19-Pandemie stellt als Antimodernisierungsschock zusätzliche Fragen an Ökonomie und Gesellschaft. Die Zukunft der Globalisierung ist eine, die sich aufdrängt; die Zukunft der Staatsfinanzen eine andere. Aber was ist mit der Zukunft des öffentlichen Raums, wo doch die gesellschaftliche Licence to operate, die gesellschaftliche Akzeptanz, der Unternehmen ausgestellt wird? Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen in Kapitel IV bildet der Befund eines Abschieds von der Skepsis, was mehr bedeutet als eine weniger kritische oder distanzierte Sicht auf die Dinge, nämlich eine Veränderung der Denkungsart, die Skepsis nun als Zumutung statt als Anregung und Bereicherung begreift.

Welche Bedeutung erlangen, so lautet die sich daraus ableitende Frage, die Abkehr von der Öffentlichkeit und die (durch die Pandemie noch verschärfte) Rückkehr in die umfassende Privatheit im Zusammenspiel mit der digitalen Transformation? Diese Reaktionsmuster sind deshalb so beachtenswert, weil sie auf das zuvor schon länger wahrgenommene Unbehagen an der Moderne einzahlen. Gesellschaftliche Spaltungen, die sich entlang der Globalisierungswirkungen zwischen den Anywheres und den Somewheres herausgebildet haben, werden vertieft und erweitert, wenn Öffentlichkeit vor allem als Wagnis gesehen wird. Denn ohne eine gemeinsame Öffentlichkeit laufen die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen Gefahr, Kontakt und Gelegenheiten für die Kommunikation sowie gemeinsame Erfahrungen zu verlieren, wie Kapitel V zeigen wird.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 haben sich grundlegende Bedingungen unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit verändert. Daraus resultiert eine neue, historisch für überholt geglaubte Bedrohungslage, die sich militärisch auf die Vernichtung der Städte und des städtischen Lebens in der Ukraine konzentriert. Deren Folgen sind noch kaum zu übersehen, doch klar ist, dass dadurch bei uns eine gesellschaftliche Grenzsituation entstanden ist, die den Einzelnen ebenso fordert wie die freiheitliche Gesellschaft im Allgemeinen. Dieser Krieg wird zur politischen Schwächung und ökonomischen Verarmung Russlands führen. Eine Rückkehr in eine balancierte geopolitische und geoökonomische Machtstruktur wird dem Land unter dem diktatorischen Regime Putins verwehrt sein. Der Ausweg in die Juniorpartnerschaft mit der Volksrepublik China verschärft die Bedingungen des Systemkonflikts. Im Kontrast zur chinesischen Realität eines Kapitalismus ohne öffentlichen Raum, mangelnder gesellschaftlicher Bindung und fehlenden innergesellschaftlichen Zutrauens sowie institutionellen Vertrauens seitens der Menschen werden – wie in Kapitel VI entwickelt wird – die Modernisierungsgewinne des transatlantischen Westens umso wertvoller, aber zugleich auch umso bedrohter.

In Reaktion auf die russische Aggression hat es eine erstaunliche Parallele im wissenschaftlichen Diskurs zu den Einlassungen und Auseinandersetzungen während der Pandemie gegeben. In beiden Fällen wurde Wissenschaft in hohem Maße moralisiert. Der gesellschaftliche Schock infolge der Pandemie und deren lebensbedrohlichen Konsequenzen hat ebenso wie der Schock infolge des Krieges in Europa und des unermesslichen menschlichen Leids in den dabei besonders befragten wissenschaftlichen Disziplinen zu Positionen geführt, die eine eindeutige Prognosequalität ihrer Ergebnisse betonen, einem gebotenen methodischen Zweifel jedoch nicht standhalten. In der Pandemie galt dies etwa für die mathematische Modellierung der Virusausbreitung, nach dem Kriegsbeginn für die Frage, ob Deutschland volkswirtschaftlich unbedenklich sofort und vollständig auf den Import von russischem Gas verzichten könne. Dabei soll nicht negiert werden, dass man solche Ergebnisse ermitteln kann, nur eben nicht als eindeutige Resultate, die bar jeder normativen Setzung sind. Wissenschaft methodisch auf formale Ansätze zu verengen, scheint ein Zug der Zeit zu sein, in der Menschen nach vermeintlicher Sicherheit lechzen.

All dies führt schließlich zu Überlegungen darüber, wie der Einzelne in diesem Gewirr von Freiheitsüberforderung und Identitäts­egoismus, von Modernisierungsmüdigkeit und digitalen Steuerungsgewinnen sowie vielfältigen Bedrohungen zurechtkommen kann. Können wir der Verlustandrohung entgehen und ihr etwas entgegensetzen oder müssen wir die Antimodernisierungstendenzen hinnehmen? Wir brauchen neue Formen gesellschaftlicher Vermittlung und wechselseitiger Bezüglichkeit, um dem Einzelnen im öffentlichen Raum jene Stabilität und Sicherheit zu offerieren, die er so grundsätzlich benötigt. Jedenfalls kann nur dann die Privatheit als Zufluchtsort die erhofften Versprechen auf Schutz, Stabilität und Sicherheit erfüllen, wenn die Modernisierungsgewinne der Öffentlichkeit – gesellschaftliches und institutionelles Vertrauen als Bedingung für die Selbstermächtigung des Einzelnen – gesichert werden können. Die vielfältige Unordnung unserer Zeit ruft nicht nach Utopien, die global und auf lange Sicht vage Hoffnung adressieren, sondern nach Handreichungen praktischer Vernunft mit der Aussicht auf Realisierbarkeit, wie sie in Kapitel VII diskutiert werden.

* * *

Jedes Buch hat seine Geschichte. Die inhaltlichen Perspektiven lassen es erkennen. Jedes Buch lebt von den beiläufigen wie absichtsvollen Hinweisen und Impulsen anderer. Jedes Buch profitiert von der konkreten Begleitung. Dafür danke ich in unterschiedlichen Phasen meinen Kollegen Knut Bergmann und Matthias Diermeier sowie meinem Sohn Paul Hüther. Das Manuskript hat von ihren Interventionen und Hinweisen sehr profitiert.

1 Goldschmidt, Nils/Wolf, Stephan, Gekippt. Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten, Freiburg 2021.

2 Diner, Dan, Aufklärungen. Wege in die Moderne, Stuttgart 2017.

3 Winkler, Heinrich August, Geschichte des Westens. Band 4: Die Zeit der Gegenwart, München 2015, S. 18.

4 Scholz, Olaf, Regierungserklärung vom 27. Februar 2022, https://www.bundeskanzler.de/bk-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356 (abgerufen am 4.6.2022); ders., Nach der Zeitenwende, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.8.2022, S. 6.

5 Brunner, Otto, Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 21968, S. 103 ff.

6 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 27/2018.

7 Ebd., S. 21.

8 Ebd., S. 21 f.

9 Ebd., S. 185.

10 Plessner, Helmuth, Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung, in: ders., Schriften zur Soziologie und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. 2003, S. 212.

11 Berger/Luckmann, 2018, S. 31. Vgl. dazu Arendt, Hannah, Vita activa oder vom tätigen Leben, München/Zürich 1981, S. 63.

12 Plessner, 2003, S. 219.

13 Ebd., S. 224.

[Die Großstadt] ist mehr als nur der Ort oder das Laboratorium der Moderne. Denn sie ist nicht allein der Platz, an dem sich bestimmte Phänomene wie Geldwirtschaft und Konsumgesellschaft am frühesten ausbilden, sondern zugleich der Ort, an dem – am prominentesten in den Künsten – eine spezifisch moderne Wahrnehmungsweise entsteht.

Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne, 2014

II. Im Maschinenraum der Moderne: Voraussetzungen und Bedingungen des öffentlichen Raums

Zwei begriffliche Konzepte stehen hier zur Diskussion: Moderne und Maschinenraum. Der Maschinenraum kann als mobilitätsbezogene Metapher gedeutet werden, denn ursprünglich findet sich der Begriff im Zusammenhang mit Schiffen und anderen Formen technikgetriebener Mobilität wie Lokomotiven. Maschinen werden eingesetzt, um in zielgerichteter Weise Energie für Bewegung zu produzieren. Maschinenräume sind Kinder der industriellen Revolution und damit eine Voraussetzung für die Modernisierung der vergangenen zwei Jahrhunderte. Die Moderne beschreibt einen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebensraum als Ergebnis dieser Modernisierung, und sie schafft neue Formen der Wahrnehmung sowie Möglichkeiten, die Welt anzuschauen und sich anzueignen.

In den Gesellschaftswissenschaften, aber auch in der Geschichtswissenschaft ist das Konzept der Moderne konzeptualisiert und diskutiert worden. Dabei ist ebenso allgemein von »Moderne« die Rede, wenn die großen Linien gesellschaftlichen Wandels der letzten zweihundert Jahre thematisiert werden, als auch von »klassischer Moderne«, »Postmoderne«, »anderer Moderne«, »zweiter Moderne«, »Welt-Moderne«, »flüchtiger Moderne«, »verrufener Moderne« oder »Spätmoderne«, wenn speziellere Pfade oder spätere Zeiträume in den Blick genommen werden sollen. Moderne soll im Weiteren als Epochenbegriff verwendet werden, der die großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Trends seit der Epochenschwelle von 1750 bis 1850 – verbunden mit Reinhart Kosellecks Begriff der »Sattelzeit«, mit dem er in Anknüpfung an die Metapher eines Bergsattels den Übergang von der Vormoderne in die Moderne beschrieb – bündelt und deren gemeinsame Stoßrichtung herausdestilliert: die historisch bewusste, gesellschaftlich organisierte und politisch gerahmte Selbstermächtigung des Menschen im öffentlichen Raum bei gleichzeitiger Abgrenzung, Stärkung und Sicherung der Privatheit.

Dieser Zugewinn an Kompetenz und Freiheit und damit das Hineinwachsen in die doppelgründige Wirklichkeit der Moderne als objektive Gegebenheit und als subjektive Aneignung sowie Deutung ist immer stärker Ambiguitäten ausgesetzt, die sich aus den technischen und prozessualen Bedingungen der Moderne, genauer des Lebens in der Moderne ergeben. Das verbirgt sich hinter den verschiedenen angeführten begrifflichen Konzepten. Daraus folgen Trends, die die Moderne aus sich selbst heraus unter Druck setzen, Herausforderungen und Gefährdungen sowie eine Überforderung des Individuums in der Freiheit begründen.

1. Die bürgerliche Selbstermächtigung des Menschen

Selbstermächtigung setzt voraus, dass die Menschen sich selbst gewiss werden, dass sie ihren Lebenslauf nicht mehr (nur) als vorbestimmt ansehen und dass sie sich auf organisierte sowie gesicherte öffentliche Räume verlassen können. Erst das langsame kollektive Durchbrechen der gläsernen Decke des Standesdenkens eröffnet die Perspektive auf eine freie Gestaltung des eigenen Lebens. Dadurch wird offenbar, dass die Selbstermächtigung nicht nur als individuelle Herausforderungen erscheint, sondern ebenso als kollektive Leistung. Der Einzelne wird erst in der modernen bürgerlichen Gesellschaft wirklich zum Akteur, weil neue, leicht zugängliche Kommunikationsmedien um ihrer selbst willen entstehen (wie Zeitungen und Informationsschriften als Wissensspeicher), weil Kunst, Theater und Wissenschaft aus höfischen Bezügen befreit werden; es kommt »zu einem Bedeutungsaufschwung öffentlicher Verständigung«.1 Damit wird der Blick auf die Voraussetzungen für den Einzelnen ebenso gerichtet wie auf die historische Bedingtheit des Daseins. In diesem Sinne ist der Begriff der »bürgerlichen Selbstermächtigung« zu verstehen.

Geistesgeschichtlich greift die Selbstermächtigung des Menschen weit zurück, nämlich auf die Gesinnungsfreiheit im Verständnis Martin Luthers und auf die politische Freiheit im Sinne von Thomas ­Hobbes. Beide haben im Zusammenspiel mit den späteren politischen und ökonomischen Revolutionen neue Handlungsräume eröffnet und neue Handlungsmöglichkeiten geschaffen. »Was der Protestantismus auf spirituellem Gebiet zur Befreiung des Menschen begann, hat der Kapitalismus auf geistig-seelischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet fortgeführt. […] Die individuelle Beziehung zu Gott war die psychologische Vorbereitung für den individuellen Charakter der weltlichen Betätigung des Menschen.«2

Doch zugleich wurde die Überforderung des Menschen in der Freiheit, sein »Doppelgängertum« (Plessner), erlebbar. Die mit der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit eingeläutete, durch die Reformation mitbetriebene und in der politischen Philosophie reflektierte Neubestimmung des Menschen hat nicht nur die Potenziale deutlich gemacht, sondern ebenso die Herausforderungen, Überforderungen und Konflikte. Die Freiheit als absolute, nicht kompensierbare Anforderung an den einzelnen Menschen ist nur zu bewältigen, wenn es zugleich Mechanismen und Strukturen der partiellen Entlastung gibt, die selbst allerdings wiederum durch formale und anonyme Ordnung als Zumutung erscheinen. Der Mensch sucht deshalb nach besonderen Räumen der Unbelangbarkeit, weil es in der westlichen Moderne eine Befreiung von der Freiheit nicht geben kann. Er braucht diese Entlastung, um die Fähigkeit zur Freiheit zu entwickeln. Er braucht sie umso mehr, weil mit der Aufklärung der Mensch selbst in die Verantwortung für die Welt geriet.3

Raum für Verantwortungsfähigkeit entsteht im bürgerlichen Miteinander, in der konkreten Lebensumgebung dort, wo die Moderne organisiert und gelebt werden kann: in den Städten europäischen Typs. Dabei handelt es sich um Städte, die topografisch und historisch bis heute einzigartig geprägt sind, weil sie vom Zentrum her entstanden, hochverdichtet auf kleiner Fläche eine große Vielfalt von öffentlichen Einrichtungen und öffentlichen Räumen verbinden. Die Innenstadt ist kompakt gestaltet, verbindet alle zentralörtlichen Funktionen und beinhaltet die denkmalpflegerisch aufwendig gestalteten weltlichen und kirchlichen Repräsentationsbauten; der Bodenwert ist dort regelmäßig am höchsten; die Straßenführung ist eng und zumeist komplex; die Mehrgeschossbauweise nahm seit der Industrialisierung zu und führte zu einer vorher nicht gekannten Trennung der Arbeits- und Wohnfunktion von Gebäuden.4

Für den Bedeutungszuwachs der europäischen Städte kam seit der revolutionären Epoche vieles zusammen. Während Reformation und Aufklärung auf der geistesgeschichtlichen Seite stehen, ermöglichten realgeschichtliche Innovationen in der Landwirtschaft (Fruchtwechselwirtschaft, bessere landwirtschaftliche Geräte) und neue Formen der Lebensgestaltung (Wegfall der Heiratsverbote), dass die Bevölkerungsentwicklung aus der Malthusianischen Falle – jede dynamischere Bevölkerungsentwicklung gerät schnell an die Grenzen der nur linear sich entwickelnden Ernährungsbasis – ausbrechen und das Leben in Städten an Bedeutung für viele Menschen gewinnen konnte. Das Pro-Kopf-Einkommen begann in den fortschrittlichen Ökonomien kontinuierlich zu steigen, Bevölkerungszunahme und Produktivitätsanstieg griffen auf zuvor unbekannte Weise ineinander. Gewerbebetriebe mit einer neuen räumlichen Organisation der Produktion traten in den Mittelpunkt und beförderten den Handel; der technische Wandel ermöglichte Massenproduktion. All das erforderte erhebliche Anstrengungen zur Entwicklung der Energieversorgung und der Verkehrsinfrastruktur, was wiederum neue Potenziale schuf. Eine besondere Bedeutung erlangte der Ausbau der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert. Damit wurden Raumerschließung, Raumüberwindung und Zeitmanagement in neuer Qualität für grundsätzlich jeden zugänglich.

Die Menschen erlebten ungeahnte Gewinne an selbstbestimmter Zeit, weil die Steigerung der Lebenserwartung mit einer Separierung von privatem Leben und Beruf sowie mit einer Verkürzung der Arbeitszeit einherging, ermöglicht durch die dank technischen Fortschritts erzielten Produktivitätsgewinne. Der Kampf der Arbeiterbewegung in nahezu allen Industrieländern nach Mitte des 19. Jahrhunderts um den Achtstundentag und dessen dann erreichte Einführung steht symbolisch dafür. Neue Zeitmuster, vor allem Zeitsouveränität sind Folgen der Modernisierung. Damit stellten sich Fragen nach der Zeitverwendung, auch nach der Möglichkeit und Akzeptanz der Langeweile. Die produktive Nutzung souverän zu gestaltender Zeit traf in den Städten auf andere Angebote als im ländlichen Raum. Kultur, Bildung und Sport als sinnvolle, sozial gebundene Zeitverwendung in der Freizeit erhielten eine ganz neue und tiefgreifende Bedeutung für die Lebensgestaltung. Die Latenz der städtischen Vielfalt wurde zum realistischen Versprechen: Museen, Theater, Konzerte sowie Volks- und Bürgerfeste antworteten auf die neuen Möglichkeiten und Wünsche der Menschen.

Das Ineinandergreifen des geistesgeschichtlichen und des realgeschichtlichen Aufbruchs zu neuen Möglichkeiten und Horizonten manifestierte sich in derStadt. Die Verdichtung, aber auch Standardisierung und Konventionalisierung des städtischen Lebens im Alltag war umgeben von kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Formen des Miteinanders, die sich sowohl kooperativ wie konfliktär ausformten als auch in hoher Dynamik Neues schufen. Ohne dieStadt mit ihrer Umschlagsgeschwindigkeit, ihrer Wahrnehmungsdichte und ihrer Latenz von Vielfalt und Diversität sind die Modernisierung, die sich bis in unsere Zeit verlängerte, und die Konstitution der Moderne nicht denkbar.

»Man hat die städtische Modernität, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, zu fassen versucht als Verbindung von rationaler Planung und kulturellem Pluralismus (David Ward, Olivier Zunz), als Ordnung in der Verdichtung (David Harvey) oder als Raum von Experiment und ›factured subjectivity‹ (Marshall Berman).«5