Ach, Aachen! - Bernd Müllender - E-Book

Ach, Aachen! E-Book

Bernd Müllender

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Beschreibung

Aachen wähnt sich einmalig. Ist es auch, zumal natürlich jede Gemeinde einmalig ist. Aber: Keine Stadt wähnt sich so besonders einmalig wie Aachen. Aachen ist schön, zumindest an manchen Stellen. Aachen leidet bisweilen an Selbstüberschätzung, sieht sich gern als karlsmäßiger Mittelpunkt Europas und ist gleichzeitig eine randständige Provinzmetropole. Aachen ist ganz vorne im Alphabet (weshalb man offiziell auf den Titel »Bad« verzichtete), und in Aachen liebt man das Niedliche: Da geht man gerne für ein kleines Päuschen ins Städtchen, um im Sönnchen ein Bierchen zu genießen. Der Journalist Bernd Müllender lebt seit Mitte der 1970er Jahre in Aachen und lenkt den Blick in seinen rund achtzig hier gesammelten und über die Jahre in diversen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen veröffentlichten Texten auf vierzig Jahre Aachener Geschichte. Die Auswahl umfasst lange Reportagen, kleine Glossen, Portraits, Kolumnen, Interviews und kommentierende Berichte aus der kleinen und der großen Politik, aus Kultur- und Alltagsleben im Dreiländerland, zu Wirtschaft und Karnevalstreiben, zu Verkehrschaos, den Pferden in der Soers und manchen scheinbar nebensächlichen Dingen des tagtäglichen Aachener Daseins. Dieses Buch ist keine Hommage an unsere Stadt, keine Beweihräucherung, keine Huldigung und keine Liebeserklärung, auch wenn von den ungezählten liebenswürdigen Aspekten und Personen natürlich ausführlich die Rede ist. Es geht ebenso um eine Stadt voller Seltsamkeiten, politischer, kultureller und fußballerischer Unfähigkeiten, Absurditäten und bemühte Weltläufigkeit.

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Bernd Müllender

Ach, Aachen!

Ansichten, Aussichten, Ameröllche und Amerölle

aus fünf Jahrzehnten über eine liebenswürdige und manchmal seltsame Stadt

Eifeler Literaturverlag 2022

1. Auflage 2022

© Eifeler Literaturverlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Eifeler Literaturverlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.eifeler-literaturverlag.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Umschlaggestaltung: Dietrich Betcher

Lektorat: Christoph Swiontek

Druckbuch:ISBN-10: 3-96123-034-X

ISBN-13: 978-3-96123-034-1

E-Book:

ISBN-10: 3-96123-053-6

ISBN-13: 978-3-96123-053-2

Vorwort

Aachen wähnt sich einmalig. Ist es auch. Schon, weil jede Gemeinde einmalig ist. Aber: Keine Stadt wähnt sich so besonders einmalig wie Aachen. Oder ist dieser Satz mit dem »Keine Stadt« jetzt schon wieder eine typische Übertreibung in puncto Einmaligkeit? Sagen wir: Es ist kompliziert. Also so weit so normal.

Dieses Buch sammelt etwa 90 Texte, die ich seit Anfang der 1980er Jahre für diverse Zeitungen, Zeitschriften und Magazine aus Aachen und über Aachen geschrieben habe. Diese Auswahl beinhaltet lange Reportagen und kleine Glossen, Portraits, Kolumnen, Interviews und kommentierende Berichte – aus der kleinen und der großen Politik, aus Kultur- und Alltagsleben im Dreiländerland, aus Wirtschafts- und Karnevalstreiben, über Verkehrschaos, Fahrradpolitik, den Soers-Sport und manche scheinbar nebensächliche Dinge des alltäglichen Aachener Daseins.

Die Texte mögen verdeutlichen: Aachen ist schön, zumindest an manchen Stellen. Aachen leidet bisweilen auch an Selbstüberschätzung. An Aachen kann man sich wunderbar reiben – die Stadt wähnt sich gern als Mittelpunkt Europas und ist gleichzeitig eine randständige Provinzmetropole mit Überraschungen und einer leider weitgehend dramatisch verstorbenen Innenstadt. Aachens größtes Plus ist die einmalige Nähe zu zwei sehr unterschiedlichen Nachbarländern, deren Eigenheiten in diesem Buch angemessen ausführlich vorkommen.

Besonders ist Aachen durchaus: Westlichste Großstadt. Höchster Männeranteil Deutschlands, erste vom Hitler-Faschismus befreite Stadt (21. Oktober 1944) und erste mit Nachkriegszeitung (Aachener Nachrichten, 24. Januar 1945). Keine Stadt hat mehr Karl. Und keine andere kann einen Dax-Konzern so anders betonen: Continental statt restweltüblich Continental. Nirgends sonst gab es in Deutschland jahrelang so viele bunt-alternative Fußballteams wie in Aachen (über 70) – mit Namen wie Knallgas Strikers, Kullen Nullen, Nothing Toulouse oder schlicht Deutschland: »Damit ich später meinen Enkeln einmal sagen kann, ich habe hundert Mal für Deutschland gespielt.«

Aachen ist ganz vorne im Alphabet, weswegen man auf den offiziellen Titel »Bad« verzichtet. Eine vielsinnige Interpretation gab es 2020: Corona-Masken mit der Aufschrift »Make Aachen Bad Again«. Aachen liebt das Niedliche: Man geht für ein Päuschen ins Städtchen, um bei einem Bierchen das Sönnchen zu genießen, ausgesprochen gern mit der im Rheinland üblischen ch-sch-Chwäsche. Das rheiniche Auf und Ab im Sprachklang schafft etwa in Krefeld eine große Terz – und in Aachen noch größere Schwankungen, dass einem Seemann schlecht würde. Im Öcher Idiom kann man sich herrlich einkuscheln; Nichtaachener haben allerdings, häufiger als man meinen möchte, eine Allergie gegen unseren Heimatsound – zu diesem morbus printii hat Ulla Schmidt mit ihren Reden als Gesundheitsministerin in Berlin einiges beigetragen.

Aachen hat sogar die Nizzaallee. Es ist dies das einzige deutsche Wort (nicht nur einziger Straßenname) mit vier aufeinanderfolgenden Doppelbuchstaben. Und es gibt sie nur in Oche. Auch eine Pizzaallee gibt es nirgends. Fast wäre Regensburg dazugekommen, aber die schreiben ihre Walhalla-Allee offiziell mit unterbrechendem Bindestrich. Merssi vielmals nach Bayern für den »-«!

Wie ist unsere Stadt nun wirklich? Heinrich Heine lassen wir mal beiseite, mit seinem Urteil von den stocksteif herumstolzierenden Menschen, die den Knüppel verschluckt zu haben scheinen, mit dem sie eben noch geprügelt worden waren. Lauschen wir einem neueren, womöglich neutraleren Urteil von auswärts: »Reizvoll, ja anmutig« sei dieses Aachen, »mit Sinn für Gefälle und Gefälligkeit, für gemäßigte Proportionen, die einen Zug ins heiter Behäbige verraten«. Klingt ziemlich zutreffend, ist aber leider aus dem Kölner Stadtanzeiger – und Urteile aus diesem Köln über Aachen können nicht neutral sein.

Dieses Buch ist keine Hommage an unsere Stadt, keine Beweihräucherung, keine Huldigung oder Liebeserklärung. Auch wenn es genug liebenswürdige Aspekte und Personen gibt, schöne Begebenheiten, wunderbare Erlebnisse. Davon wird ausführlich die Rede sein. Aber es geht auch um eine Stadt voller Seltsamkeiten, um politische, kulturelle und fußballerische Unfähigkeiten, Absurditäten, Provinzialität. Charme und Elend - alles das zusammen macht eine Stadt aus, immer und überall, nicht nur hier in diesem gern so selbstbesoffenen Oche.

Habe ich für solche Urteile über unsere Stadt die alles entscheidende Qualifikation? Tja, gebürtiger Aachener bin ich nicht. Vielmehr begannen meine Öcher Wurzeln schon vor der Geburt in Aachen zu wachsen. Meine Mutter erzählte mir wenige Jahre vor ihrem Tod, dass ich in einem Hotelbett in der Franzstraße gezeugt worden sei, mitten in der Stadt also. Und vor allem: es geschah an einem 11. im 11. Im Jahre 5x11, also 1955. Toll! Woher sie das so genau weiß? Sie war dabei! Aber es war eben der Abend nach der Beerdigung meines Großvaters Adam, eines Aachener Dentisten, deswegen ihr Wissen um das genaue Datum: »Leben geht, Leben kommt«, so ihr Kommentar. Mit diesem Wissen habe ich im Ansehen meiner Original-Aachener FreundInnen (vorher: »Du biss ja jar kejne rischtije Öscher«) mächtig an Image gewonnen. Und ich wähne mich ein wenig mehr befugt, ein Buch über Aachen zu schreiben.

Meine Entstehung am Tag des Sessionsauftaktes 1955/56 klingt nach einer mächtigen karnevalistischen Prägung. Und diese müsste sogar noch einen Extraschub bekommen haben durch frühkindliche Sozialisation über meinen Patenonkel Horst. Der gehörte 1963, Klein-Bernd stand kurz vor der Einschulung, als Jungfrau Horstine zum Kölner Dreigestirn. Und dennoch blieb mir der Humbta-Fastelovend zeitlebens eher fremd, erst recht die Tuschwelt des Prominentenzirkels AKV mit seinen selbsternannten Lackschuhkarnevalisten. Ganz anders die grandiose Strunx-Sitzung! Beide jecken Pole fanden einen angemessen breiten Platz in meinem journalistischen Schaffen.

Ich bin Sohn des Ruhrgebiets, Jahrgang 1956 und lebe mit einer dreijährigen Unterbrechung seit 1976 hier. Seit 1984 (nach erfolgreich abgebrochenem Wirtschafts- und Publizistikstudium an der RWTH und der Uni Münster) schreibe ich für Zeitungen wie taz und Süddeutsche, Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Grenzecho, Publik Forum, für die Aachener Blätter, das Magazin login der regio iT und lange für den WDR-Hörfunk. Dazu kommt ein Dutzend Bücher, zuletzt gleich zwei über unser wunderbares Nachbarland Belgien, das Anarchistan Mitteleuropas und hier im Eifeler Literaturverlag der Radroman »Die Zahl 38.185«.

Sport? Das beste am Chio bleibt für mich der alte Sauerbraten-Kalauer: »Gestern noch geritten, heute schon mit Fritten.« Bei der Reit-WM 2006 verfolgte ich das Distanzreiten und sah mich bestätigt, dass Mensch und Pferd nicht zum Sportwettkampf taugen, vor allem nicht in diesem. Und die Alemannia? Dazu gehörte immer ein zwiespältiges Verhältnis. Wer Realsatire und ungewollte Anarchie mag, kann diesen Klub nur lieben, der mit seiner Strahlkraft immer Inkompetenz in Serie anzog, dass Motten geblendet gewesen wären. Oder man kann sich begeistern lassen: von den drei Siegen nacheinander gegen das Böse aus München oder von der großen Europapokalsaison 2004/05. Staunen gehört dazu: Wo sonst in der Welt ergibt der Stadionname rückwärts gelesen ein Liebesbekenntnis? Tivoli – I lov it.

Die wiederentdeckten Texte in diesem Buch sind weitgehend naturbelassen, abgesehen von kleinen redaktionellen Korrekturen und Kürzungen. Oft sind Ergänzungen beigefügt: manchmal wie es dazu kam, was daraus wurde, was sonst noch geschah, vielleicht eine kleine Einordnung in die heutige Zeit oder ein Ausblick.

Noch ein Hinweis zum Untertitel - zum Begriffepaar Ameröll/Ameröllche schreibt Karl Allgaier vom Verein Öcher Platt: »Die Herkunft des Wortes Ameröllche ist unklar; auch der alte Will Hermanns weiß nichts dazu. Ich vermute einen Zusammenhang mit Amouren (Liebesgeschichten). Zum offensichtlichen Diminutiv gibt es jedenfalls im Öcher Platt keine Grundform. Ein französisches Wort Amourelle o.ä, finde ich nicht.«

Ich finde, wenn der Franzose schon nichts anzubieten hat, wird es Zeit, die Aachener Sprache selbsttätig um den Begriff »Ameröll« zu ergänzen.

Das Buch ist kein vollständiges Portrait dieser Stadt. Wohl aber sollen die Geschichten Erinnerungen auslösen, gestern Selbstverständliches grotesk oder seltsam erscheinen lassen, Unbekanntes nachliefern, Verbindungen zum Heute schaffen. Und somit als Geschichtenbuch ein bisschen Stadtgeschichte transportieren.

Und Aachen ist nicht nur Aachen. Sehr wohl geht es zwischendurch auch mal um unsere Nachbarn, national wie international. Wobei seltsam scheint, dass die Niederländer Aken sagen; mit dem Original-Namen Aachen könnten sie doch so richtig scheveningenhaft den Rachen tanzen lassen. Das französische Aix-la-Chapelle ist indes gleich Gegenstand der ersten Geschichte in diesem Buch.

Aachen/Aken/Aix-la-Chapelle, im Frühjahr 2022 –

Bernd Müllender

Zum Einstieg: Sieben besondere Themen

Verhaixt in Aix

Eine Betrachtung über den wenig originellen Zwang zur Originalität.

taz, 26. Oktober 2001

Dass die folgende Betrachtung über das Wesen der höheren Witzigkeit und die Raffinesse der Namensfindung nur in Aachen entstehen konnte, hat mehrere Gründe: Aachen ist als Humorstandort eisern positioniert (man lacht über den Orden wider den tierischen Ernst) und hat auch einen französischen Namen, Aix-la-Chapelle. Und weil man hier immer schon damit kokettierte, sich besonders weltläufig und geschichtsbewusst zu geben, hat der wohlklingende Name Besitz von Herz und Verstand der EinwohnerInnen ergriffen. Aix ist angesagt. Aix ist überall. Und: Aix zersetzt das Leben.

Stellen Sie sich vor, Sie gründen eine Firma: Da gibt man sich einen modernen, humornahen Namen. Dieser, raten Marketing-Fachleute, solle identitätsstiftend sein, möglichst prägnant, leicht merkbar und unverwechselbar. Besonders kreativ ist eine Verbindung zwischen Produkt und Herkunft, am besten lokal und international wirkend.

Also zum Beispiel das Wortspiel mit Aix. Aixtron, die Software-Firma aus Aachen, war eine der ersten Aix-Schöpfungen. Schnell ging es weiter, nach Art des Flächenbrandes. Französische Weine gibt es in den Höhlen bei Caves d’Aix. Es zieht Sie auf die Bühne: vielleicht zum Aixpertentheater? Den neuen Gebrauchtwagen gibt es in Aachen bei Aix Automobile, versichert wird er bei AIXellent. Die Büro-AIXperten helfen am Schreibtisch, das Vermögen verwaltet die AIXpert GmbH. Feine Körperpflegemittel? Bei Aixclusive Cosmetique. Ein Männerchor nennt sich Aix-Harmonists. Mein lieber Herr Gesangsverein!

Aix, Aix, Aix. Wenn man AixConsult konsultiert, kann man erfahren, dass AixHibit zumindest kein Exhibitionistenzirkel ist, sondern ein Homepage-Designer. Zum Flughafen nach Köln geht es mit dem Airport-Aixpress, in die Luft mit der Firma AixBalloon. Aix Libris ist der Antiquar, Aixakt eine Druckerei, neue Software bietet Aixtrasoft. Und überall in Aix-la-Chapelle belagern einen Aix-Reklamen und Aix-Sprüche.

Die unverwaixelbare Stadt leidet an einer aixzessiven Aix-Manie. Es gibt kein Entkommen. Schon droht das Alltagsleben aixtrem aus den Fugen zu geraten: Bald wird in Aachen aixhumiert (Friedhofsservice GmbH), Stadtführungen heißen beschmunzelt Aixpedition, Museen zeigen in ihren Waixelausstellungen nur noch aixtravagante Aixponate des Aixpressionismus, an der aixzellenten Hochschule macht man aixotisch aixaltierte Aixamen. Zwischendurch hat man mit dem oder der Aix Saix. Am besten Französisch. Vielleicht sogar in einer Chapelle.

Es ist wie verhaixt in Aix. Am besten geht man ins Aixil.

***

Manche Aix-Firmen von 2001 sind längst zu Ex-Aix-Firmen geworden oder ochekorrekt: Aix-Aix-Firmen. Andere sind neu entstanden, wie der Taixter dieser Zeilen flink herausfand: Eso d´Aix: die Esoterikmesse, Al-Aix: das Kindermaskottchen der Alemannia, Aix Cathedra ein Bildungsforum. Und Aix Act? Das ist nicht etwa ein nackter Öcher, sondern ein Hausmeisterservice.

Aixsolution ist heute eine Unternehmensberatung, die aixperiencedays anbietet; relaix ein Internetprovider. Bei Altbausanierung kann man sich an Baukomplaix wenden. Es gibt die Netzagentur Aixtra-Web, die Anwaltskanzlei AixLaw, das Modegeschäft Aixtravaganza. Aixpo ist kein gewesenes Hinterteil, sondern eine Messebaufirma, Aixvers macht in Versicherungen. Die belgische Bimmelbahn euregioAIXpress schaukelt einen nach Spa. Und Aachens Metzger haben sich eine Aixtrawurst gebraten und den Zusammenschluss Aixtra-Fleisch kreiert.

Man sieht, die Aixpest hat dauerhaft Potenziale: Die einen gehen, andere werden kommen, wahrscheinlich bei aixorbitant aixponenziellem Wachstum sehr viele. Wo bleibt das Positive? Hier: das Geschäft für Künstlerbedarf Farbklaix, gleich gefolgt vom Fassadenreiniger Clean Aix.

Ach so, und unter dem Dach dieses Buchverlags gibt es die Edition Aixact. Und da ist das spannende Start-Up Aixponic, die mit der Züchtung von Meeresfischen ausgerechnet in der flussfreien und meeresfernen Stadt Aachen Furore machen wollen (meine Reportage hier: www.regioit.de/regioit/newsroom/magazin-login, Heft Herbst 2021, Gemeinwohl)

Was aber gar nicht geht: In Würselen wirkt die Verkaufsagentur AixSELLent. Diese hintertriebenen kleinen Nachbarn wollen Aachen verkaufen! Schande!

***

Eines Tages im Sommer 1985 rief mich eine junge Frau an. Sie erzählte, sie sei Auszubildende im Hotel Quellenhof gewesen und leider nicht übernommen worden. Warum weiß ich nicht mehr: Vielleicht war sie ungeeignet, vielleicht war sie zu frech, vielleicht war es Zufall, dass sie ausgesiebt wurde. Jedenfalls war sie empört, zumindest enttäuscht. Und sie wollte mir ein paar Geschichten erzählen, »vom Scheich«. Ob es Rache war, Wichtigtuerei?

Solche Informanten sind entweder die Pest, weil sie ungare Sachen erzählen, vom Hörensagen oder sogar Fantasiertes. Oder sie berichten selbst erlebte Fakten, nachprüfbar, stimmig und korrekt. Diese Frau hatte viele selbst erlebte Fakten zu erzählen, und alle stellten sich beim Nachprüfen als wahr heraus. Ein Glücksfall für einen Journalisten.

Auf in die Recherche. Ein unglaublicher Kosmos tat sich auf, einer, der heute, in Zeiten massenhafter Leaks und Whistleblower, auch noch reichlich faszinierend sein dürfte. Damals war es die Geschichte erst recht. Die Zeit in Hamburg wählte eine extra zurückhaltende Überschrift und Unterzeile:

Aachen ist gut für die Zähne

Die Patienten aus dem Orient fühlen sich wohl im Rheinland.

Die Zeit, 27. September 1985

Quietschende Reifen, hektische Sicherheitsbeamte. Eine Krankenschwester, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, läuft gegen eine Wand von ausgebreiteten Armen: »Hier ist jetzt alles dicht.« Patienten und Besucher im Aachener Klinikum eilen an die Fenster. »Da kommt er ja, der Scheich!«

Die Türen der Mercedes-Karawane öffnen sich, Beduinengewänder quellen hervor, fünf, zehn, fast zwanzig. Nicht einmal eine halbe Minute vergeht, dann sind die Araber durch den VIP-Nebeneingang im Krankenhauslabyrinth verschwunden. Die Scharfschützen oben auf den Dächern ziehen die Mündungsrohre wieder ein.

Seine Hoheit Scheich Zayed bin Sultan al-Nahayyan nähert sich dem Behandlungsstuhl von Professor Dr. Hubertus Spiekermann, Chef der Abteilung für Kieferchirurgie und Zahnprothetik.

Scheich Zayed ist einer der wichtigsten politischen Führer auf der arabischen Halbinsel, Präsident der sieben Vereinigten Arabischen Emirate an der Piratenküste bei Hormuz, gleichzeitig Oberhaupt des Fürstentums Abu Dhabi, das schon seit Jahrhunderten im Besitz der Nahayyans ist.

Zayed gilt zudem als der reichste Mann der Welt, und das hebt ihn schon von den gewöhnlichen Kassenpatienten ab. Da sprießt die Neugierde – wie mag er sich in Aachen zurechtfinden?

Zweieinhalb Jahre ist es her, da rief der Bonner Botschafter der Emirate beim jungen Professor Spiekermann, damals gerade 40 Jahre alt, an und erbat ärztliche Hilfe für sein Staatsoberhaupt. Noch verblüfft darüber, dass ausgerechnet er zu solcher Ehre kam, machte sich der Arzt auf ins Morgenland. Im Palast des Scheichs Zayed war er indes nicht der einzige westliche Kieferspezialist; etliche Okzidentisten waren angereist. Spiekermann, ein Kölner Kollege, zwei Briten und vier Amerikaner untersuchten die Mundhöhle des Herrschers; ein jeder lieferte seine Expertise ab. Hubertus Spiekermann nahm die Gewissheit nach Aachen mit, »im Bereich des Mundes« von Scheich Zayed lägen die Dinge »sehr kompliziert«. Warum dann einige Wochen später gerade sein Behandlungskonzept den Zuschlag erhielt, auch das ist Spiekermann bis heute nicht klar. »Manchmal denke ich, das hängt mit Dingen zusammen wie dem Leopard II, mit Vertrauen in deutsche Wert- und Präzisionsarbeit.«

Der 67-jährige Zayed sei »ein durchaus lieber Patient«, sagt Spiekermann, aber er ist kein Kranker wie jeder andere, und er ist auch kein Scheich wie jeder andere. Auf 60 Milliarden Dollar wird sein Privatvermögen geschätzt. »Wenn der Scheich wollte«, sagte Harald Bock, Geschäftsführer der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, »könnte er sich ganz Aachen auf einmal kaufen.«

Die Begleitumstände von Zayeds Aufenthalten in Aachen sind entsprechend. Eine halbe Hundertschaft zählt seine Leibgarde, dazu kommt noch ein gutes Dutzend deutscher Zivilbeamter. Ihn zu fotografieren, erklärt der Einsatzleiter der Polizei, sei unter keinen Umständen erlaubt, die Araber wünschten das nicht. Nun ist Zayed eine »Person der Zeitgeschichte«; nach deutschem Recht darf er in der Öffentlichkeit fotografiert werden. Das weiß auch der Einsatzleiter. »Wir können aber für das Verhalten der Leibwächter nicht garantieren«, gibt er zu bedenken. »Bei denen sitzen die Waffen lockerer als bei uns.«

So kommt ohne weißen Kittel auch niemand bis auf den richtigen Flur des Klinikums. Hinter jeder Ecke lauern tiefschwarze Augenpaare, und unmittelbar vor dem Behandlungszimmer stellen vier maschinengewehrbestückte Beduinen die ungestörte Zahnbehandlung sicher.

Achtzig Personen stark ist das Gefolge insgesamt, neben den Leibwächtern all die Fahrer und Dolmetscher, Berater und Sekretäre, dazu der Finanzminister, ein Kalif, der jede Rechnung sofort bar aus seinem Aktenkoffer begleicht. Einige Leibärzte, der Hofkoch. Zwei Sicherheitskräfte beobachten in der Küche des Quellenhof-Parkhotels jede Bewegung der Pfeffermühlen und Teflonpfannen. Und wenn einem der Hotelbediensteten in der Nähe der zartrosa gehaltenen Scheichsuite auch nur ein Unterteller entgleitet, schnellen augenblicklich zwei Leibwächter mit gezückten Waffen um die Ecke. Es gibt einfachere Gäste.

In diesem Sommer war Zayed bereits das dritte Mal in Aachen. Bei seinem ersten Besuch vor zwei Jahren weilte auch Saudi-Arabiens Ölminister Jamani für einige Tage in der Stadt, um mit Zayed die eine oder andere Ölpreisangelegenheit zu besprechen. Die Aachener Nachrichten bekamen vom Geheimtreffen Wind und verkündeten stolz: »Es kann gut sein, dass derzeit in Aachen Entscheidungen für die gesamte, ins Wanken geratene Wirtschaftswelt getroffen werden.«

Kaum dass mal wieder ein Patient von den sprudelnden Ölquellen seiner orientalischen Heimat in die »Stadt der sprudelnden Vielfalt« gekommen ist, verbreiten sich sofort die abenteuerlichsten Geschichten. So heißt es beispielsweise, das weibliche Servicepersonal sei in diesem Jahr »aus Sicherheitsgründen« von den beiden angemieteten Hoteletagen abgezogen worden. Scheich Zayed sei nun zwar nicht mit Harem angereist, habe aber »aus Repräsentationsgründen« ein Quartett hübscher pakistanischer Mädchen im Gefolge, zusammen nicht älter als Seine Hoheit selbst.

Oder die Sache mit dem Essen. Da Zayed die Kost im Klinikum verschmähte, hat ein Taxifahrer alle halbe Stunde frische Speisen vom Quellenhof zum Krankenbett chauffiert. Wollte der Scheich etwas zu sich nehmen – gut; verspürte er gerade keinen Appetit, gingen die Milchlammstückchen und Wachtelbrüste unangetastet retour.

Auch die Dankbarkeit Zayeds hat sich herumgesprochen. Deutschen Kriminalpolizisten gab er vor zwei Jahren – zufrieden mit ihrer Wachsamkeit – jeweils eine goldene Uhr von fünfstelligem Wert. Bedauernd mussten die Beamten später jedoch einsehen, dass solche Zulagen mit den hiesigen Gesetzen nicht vereinbar sind. Die großzügigen Geschenke wurden nach Abu Dhabi zurückgeschickt.

Überhaupt ist Zayeds Finanzkalif großzügig. Ungeniert dürfen sich Kellner und Zimmermädchen auf tausend Mark Trinkgeld freuen. Pagen, die im Akkord arbeiten, erlaufen sich bei den orientalischen Gebührensätzen von 50 bis 100 Mark pro Last weit höhere Summen.

Eine andere Begebenheit erzählt Hotelmanager Kurt Seidler, der sonst sehr zurückhaltend ist, was Scheichgeschichten angeht. Vor zwei Jahren habe einer Begleitgruppe nachts um vier der Sinn nach Hamburgern gestanden. Der Küchenbetrieb für die arabischen Besucher laufe »zwar selbstverständlich rund um die Uhr«, erläutert Seidler, »doch Hamburger sind nun einmal nicht Teil unserer Speisekarte«. Über Polizeifunk hätten sie damals versucht, Hackscheiben aufzutreiben – erfolglos; selbst die benachbarte Autobahnraststätte meldete Fehlanzeige. »Heute«, sagt Seidler stolz, »sind wir auf solche Wünsche selbstverständlich vorbereitet.« Durch Vorratskäufe bei McDonalds, wie aus Hotel-Quellen zu erfahren war.

Selbstverständlich wurde dem Falkenfreund Zayed auch ein Doppelzimmer für zwei seiner gefiederten Lieblinge zur Verfügung gestellt. Hatten die Raubvögel Hunger, wurden Wachteln und Mäuse für eine kleine Suitenjagd losgelassen. Die Renovierungsarbeiten wurden später als Nebenkosten verbucht.

Hotelchef Seidler sagt: »Der Besuch eines solch außerordentlich aristokratischen Potentaten, mit seinem ganzen Hofstaat, das ist für uns immer eine besonders aufregende Großveranstaltung.« Und, räumt er als Geschäftsmann gerne ein, »der Gesundheitstourismus aus dem Nahen Osten« biete eben »eine enorme Umsatzchance«. 20 000 Mark investierte die Exilregierung der Emirate täglich für den Telefonkontakt in die Heimat. Die Woche Totalpension im Quellenhof summiert sich für den Scheich jedes Mal auf mehr als ... Aber wer will hier von Geld reden? Es geht um Gesundheit.

Überall in der Bundesrepublik begeben sich betuchte Orientalen in die Obhut deutscher Ärzte, denn die klinische Infrastruktur am Golf ist schlecht, trotz aller Petrodollars. Die Unikliniken in Bonn haben rund tausend solcher Privatpatienten pro Jahr. Aachen dürfte ein Jahr nach Eröffnung des Klinikums schon mehr zählen.

Ein guter Teil des Patientenstroms ist der Lufthansa zu verdanken. Sie wirbt seit dem vergangenen Jahr mit einem aufwendigen Hochglanzmagazin in arabischer Sprache für die »weltweit unübertroffene Hochleistungsmedizin Made in Germany«. In Rekordzeit verspricht die Fluglinie die Trennung zwischen Orient und Okzident zu überwinden, denn »der Weg nach Deutschland ist zwei, drei Flugstunden nah« (in Wahrheit sind es etwa von Frankfurt sechs Stunden). Die Vermittlung von Arztterminen und Klinikaufenthalten sowie »alle weiteren Arrangements« gehören zum Service. Sehr zur Freude der Ärzte, die so das Werbeverbot in ihrem Berufsstand umgangen sehen.

Aachen kommt unter den zwölf von der Lufthansa angepriesenen Kliniken »als Zentrum der deutschen Medizin in einem architektonisch zukunftsweisenden Gebäude« besonders gut weg. Wo die nörgeligen Deutschen die vielen Skandale um Europas größtes und modernstes Krankenhaus anprangern (Volksmund: »Gigantikum«), sollen die Heilungssuchenden aus dem Orient mehr den Worten des nordrhein-westfälischen Bauministers Christoph Zöpel vertrauen, der die Heilstätte mit dem Erscheinungsbild einer Ölraffinerie als »Mekka der Hochleistungsmedizin« rühmte.

Hinzu kommt die Pionierarbeit der Leitfigur Zayed. »Die Leute lesen da unten in ihren Zeitungen, dass ihrem Oberhaupt in einer Stadt namens Aachen geholfen wurde«, sagt Professor Spiekermann, »und viele machen sich dann auf der Stelle auf nach Deutschland, landen in Köln, setzen sich ins Taxi und stehen ohne jede Ankündigung hier vor meiner Tür. Das bringt oft ungeheure Organisationsprobleme.«

Und es geht um viel Diskretion. Das ist durchaus verständlich nach Zayeds Reaktion auf seine Erfahrungen in Großbritannien. Die medizinische Behandlung dort mag er als durchaus zufriedenstellend empfunden haben, die übrigen Umstände hingegen nicht. Sowohl Krankenhauskosten als auch die Preise für Konsumartikel des gehobenen Scheichbedarfs schnellten Jahr für Jahr in die Höhe. Als sich dann auch noch eine Londoner Zeitung mit der Überschrift »Zayed geschlechtskrank?« um das Wohl des prominenten Gastes sorgte, verließ die Krankendelegation das Inselreich auf Nimmerwiedersehen.

Auch deutsche Kaufleute träumen vom großen Geschäft mit kranken Scheichs. Zayed weist den Weg. Bei seinem letzten Besuch in Aachen reiste er mit zwei Lastwagen Gepäck an, verließ die Stadt aber mit deren sieben. Die Krankenhauskosten, streng nach den Honorarrichtlinien, wie die Ärzte betonen, machen da nur einen Bruchteil aus. »Die Araber wissen immer sehr genau, ob sie fair behandelt werden oder ob jemand sie übers Ohr hauen will«, sagt Professor Spiekermann. »Was es kostet, ist egal, nur muss der Preis eben stimmen, und die rechnen die kleinsten Posten nach«, das hat der Arzt bei seinen eigenen Rechnungen erlebt. »Wenn nicht, ja, dann zahlen sie auch, ohne mit der Wimper zu zucken, aber sie kommen nicht wieder.«

Bei Scheich Zayed sieht es danach momentan nicht aus. Ins Gästebuch des Hotels schrieb er, dass er sich »bestens aufgehoben und umsorgt« gefühlt habe. Er muss Aachen wohl mögen und auch die Aachener. Denn in diesem Jahr erreichte seine Mildtätigkeit ihren vorläufigen Höhepunkt. Unmittelbar nachdem der letzte Bohrer abgestellt war, verfügte Zayed in einem Anflug von Solidarität mit seinen Leidensgenossen im Klinikum, jedem der 1500 Patienten möge doch bitte ein Tausendmarkschein aus seiner Samsonite-Schatztruhe überreicht werden. Der Finanzminister öffnete den Koffer. Doch zu seiner Bestürzung musste er melden, dass er die anderthalb Millionen gerade nicht dabeihatte. Scheich Zayed hatte seine momentane Liquidität überschätzt.

So unglaublich diese Geschichte auch klingen mag: Bei Allah und allen Propheten – so ist es geschehen am Freitag, dem 23. August 1985, gegen 15 Uhr im Behandlungszimmer von Professor Hubertus Spiekermann, im ersten Stock des Aachener Klinikums.

***

Heute darf man schreiben, auf welche Weise wir uns damals im Klinikum umsahen. Fotograf Georg Helmes und ich hatten einfach weiße Arztkittel angezogen, ein paar Fantasie-Schildchen angesteckt – so gelang es, mild grüßend, die Krummsäbel-Wachen an den Eingängen zu passieren. Im zweiten Stock entdeckten wir einen nicht abgeschlossenen Tagungsraum, legten uns auf die Lauer und warteten an den Fenstern, bis die Karossen vorfuhren. Jedenfalls blieb einer immer oben, der andere Schein-Doktor verschwand mit Kamera gegenüber in den Büschen.

Die Geschichte selbst hatte gleich mehrere Folgen: Einige Wochen nach Erscheinen des Textes rief mich Professor Spiekermann an. »Da haben Sie mir ja was angetan.« Wo immer er seitdem auftauche, etwa auf Symposien, fragten ihn Kollegen und Kolleginnen nicht nach neuem wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn, sondern nach Erfahrungen mit dem Scheich, nach dessen Wohlergehen. Manche seien sicher neidisch gewesen auf ihn und manche hätten ironische Bemerkungen gemacht, ob so viel Publicity denn nötig sei fürs heilende Dasein?

Zayed selbst schien vom Bericht über sein Leben in Aachen, so in den Emiraten die Zeit gelesen wird, nicht indigniert - er kam noch einige Male wieder. 2004 starb er mit 86 Jahren. Prof. Dr. Dr. Dr. hc Hubertus Spiekermann starb 2009, kurz nach seiner Pensionierung.

Mein Text hatte zwei weitere Folgen: Kurz nach Erscheinen brachte der Spiegel eine launige Geschichte über den Gesundheitstourismus in deutschen Kliniken. Ich staunte: Die Passagen über Aachen waren teils sätzeweise aus meinem Zeit-Text abgeschrieben. Was macht man da: Klagen, also Säbel? Lieber das feine Florett: Ich schrieb im Journalisten-Magazin der IG Medien einen langen Text »Wie ich freier Mitarbeiter des Spiegels wurde« und dröselte die kaum getarnten Textdiebstähle auf. Der Autor rief mich an, war empört, das sei unkollegial. Fand ich auch. Aber von ihm. Bald darauf wurde ihm beim Spiegel gekündigt.

2010 erschien das Aachen Merian Heft, für das ich einen Querschnitt der besten Kneipen und Übernachtungsmöglichkeiten der Stadt zusammenstellte. Unter anderem durfte ich eine Nacht im Quellenhof testnächtigen, wenn auch nicht in einer der Scheichsuiten, aber immerhin in einem der banal-luxuriösen Standardzimmer und zum Glück ohne jedes Zahnweh. Angereist war ich mit dem Pedelec statt mit Chauffeur in der Oberklassenlimousine – ob man darauf wohl eingestellt ist im Quellenhof? War man tatsächlich: In der Tiefgarage gibt es einen eigens reservierten Fahrradbereich. Mein Fazit damals:

»Ein Aufenthalt in dem massigen Prachtbau mit der neoklassizistischen Fassade von 1916, voller Eleganz und Weite, ist wie eine Zeitreise ins großbürgerliche Gestern. Der quellenhöfische Schlaf geriet abgrundtief, was die britische Königin bestätigen könnte. Sie hat denselben Matratzenlieferanten.«

Das Frühstück war übrigens auch superb (Brötchen von Leo Schumacher), in der Elephant Bar schmeckte der Cocktail. Dort wirbt man bis heute: »In der Elephant Bar ist das koloniale Flair spürbar.« Koloniales Flair: Ob den Nachfahren der einstigen Sklaven bei so viel verstecktem Rassismus der Drink wohl auch schmecken würde?

Und noch einmal Zähne und Prominenz: In den Jahren 1986/87 schrieb ich eine kleine Serie über kuriose Doktorarbeiten an deutschen Hochschulen. Die Beiträge liefen im WDR Hörfunk. Zum Beispiel dieser über eine Diss an der RWTH:

L´eclat c´est moi

Kadavriger Geruch aus dem Sonnenkönig: Die Zahnkrankheiten Ludwig XIV.

WDR Hörfunk, Aus Wissenschaft und Technik, 1987

»In Ihrem Oberkiefer sieht es ja aus wie beim Sonnenkönig.« Diese erste, und wie wir sehen werden, niederschmetternde Diagnose könnte ein Zahnkranker zu hören bekommen, der bei Dr. Ute Weidmüller den Patientenstuhl besteigt. Denn den akademischen Grad Dr. dent. und damit die Berechtigung zu bohren, zu spritzen, zu kronen und zu ziehen, erhielt Weidmüller kürzlich an der Technischen Hochschule Aachen für ihre Dissertation über das bohrend wichtige Thema »Die Zahnkrankheiten Ludwig des Vierzehnten«.

Eine medizinisch und geschichtlich brisante Frage: Wo mag es ihn gezwickt haben? Ob er Karies hatte? O ja, hatte er, und nicht nur das. In der königlichen Mundhöhle war so gut wie alles marode. Schon bei der Geburt zeigte Jung-Ludwig ein ungewohntes Bild. Er kam nämlich, entdeckte die Doktorandin in zeitgenössischen Quellen, bereits mit zwei Zähnen auf die Welt. »Wie bei Herkules«, bemerkte damals ein Hof-Biograph und erkannte damit schon bei Baby Ludwig die vorbestimmte Karriere eines Herrschers. Nicht so erfreut über die geburtliche Mundausstattung waren andere, wie wir lesen können, denn »die vorzeitigen Zähne waren stark genug, um die Ammen in die Brüste zu beißen.«

Ludwigs Zeit als französischer König muss qualvoll gewesen sein. Wir erfahren von den ersten dokumentierten Zahlschmerzen im Jahr 1676. Zwei Jahre später hatte er einen Kieferabszess, Karies und »geballten Eiter«. Brenneisen mussten eingesetzt werden, mindestens 17 mal. 1686 plagte ihn eine Zahnfistel im linken Oberkiefer. Es wurde eine barbarische Operation: »Sämtliche Zähne waren ihm auf dieser Seite gezogen, und es war danach ein Loch im Kiefer zurückgeblieben, durch das bei jedem Trinken und Gurgeln das Wasser aus der Nase wie aus einer Fontäne herauslief.« Bald darauf emittierte Ludwig »üblen Geruch des schleimigen Sekrets, das er ausschneuzte.«

Schließlich war die Mundhöhle seiner Majestät gänzlich zerfressen. Gründe: von »bourbonischer Gefräßigkeit« war damals die Rede und von seinem Hang zu Wein und Süßigkeiten. Auf dem Höhepunkt seiner Macht, mit 50 etwa, war Ludwig XIV. längst zahnlos. Eine Prothese, fand Weidmüller heraus, habe ihm »nicht behagt«. Und so weist die Aachener Doktorandin quasi als Beweis für des Sonnenkönigs Zahnlosigkeit auf ein großes Ölgemälde hin, das heute in Versailles hängt. Dort könne man »die stark eingefallene Mundpartie« des 53-jährigen Königs sehen.

Als Folge seiner Zahnkrankheiten ging es schließlich mit der gesamten königlichen Gesundheit steil bergab. Ludwigs Hofärzte notierten: chronische Entzündung der Nasennebenhöhlen, starke Kopfschmerzen, Entzündungen der Augen, Fieber, Gelenkschmerzen, Drehschwindel, Migräne, Katarrhe, später Gicht sowie »Schaum im Stuhlgang«.

In dieser beeindruckenden, mit 52 Seiten bedauerlicherweise recht kurzen Promotion, lässt sich, leider, nicht eindeutig nachvollziehen, welche Auswirkungen die dauernden Gesundheitsprobleme auf Ludwigs Machtpolitik hatten. Hinweise aber gibt es: »Es war im Feld von Flandern«, schrieb ein Chronist, »als der König hartnäckige Zahnschmerzen hatte. Oft konnte er sich mit Nelkenöl und Thymian helfen, wenn Ludwig aber »wegen der extremen Schmerzen die Essenzen zu stark verwendete, verbrannte er sich den Mund und musste erbrechen«. An grandiose Feldzüge war da nicht zu denken, im Gegenteil: Der Kampf in Flandern gegen Wilhelm von Oranien und sein »Holland in Not« blieb weitgehend erfolglos.

Im Lichte von Ludwigs Leiden werden zwei weitere politische Taten verständlich. Das Jahr 1686, als er von seinen Ärzten offenbar besonders perfide gemartert worden war, ernannte er zum »Jahr der Fistel«. Und 1699 bekamen französische Dentisten durch ein königliches Dekret erstmals einen eigenen Stand zugesprochen.

Gerne hätte Weidmüller, wie sie schreibt, den »Schädel Ludwigs XIV für Untersuchungen verfügbar« gehabt. Doch der, musste sie erfahren, »ist in den Wirren der Französischen Revolution abhandengekommen«. Wie bedauerlich, womöglich hätte es Anlass gegeben die Geschichte ein wenig umzuschreiben. Kann ja sein, dass Ludwig in Wahrheit seine eklatant kranken Mundwerkzeuge meinte, als er sagte: »L´eclat c´est moi«.

Ute Weidmüller hat heute noch eine Zahnarztpraxis in Wiesbaden.

Vater der Falten

Das offizielle Aachen verehrt seinen Kaiser Karl und feiert 2014 dessen 1.200. Todestag. Viel bewegender als Karl selbst ist sein Hoftier: der weiße Elefant Abul Abbas. Den wird die Kulturszene der Stadt im Jubiläumsjahr würdigen.

taz, 5. Dezember 2013

Der 20. Juli 802 soll es gewesen sein, als er schweren Fußes erstmals Aachener Boden betrat: ein leibhaftiger Elefant, begleitet von einer Handvoll fremder Gestalten, beladen mit prächtigen Geschenken. Vielleicht hat er trompetet, als läge Jericho in der Voreifel. Ob die Menschen dabei an den Jüngsten Tag dachten, ob der Klang schauerlich war oder von wohltemperierter Süße – man weiß es nicht. Sicher ist nur eines: Solch ein Geschöpf hatte noch kein Mittelalter-Öcher jemals leibhaftig gesehen, wohl nicht mal von seiner Existenz etwas geahnt. Staunen und Erschrecken müssen übermächtig gewesen sein.

Abul Abbas, so der Name des Elefanten, war ein Geschenk des mächtigen Kalifen Harun al-Raschid aus Bagdad an Karl den Großen (dessen Gesandte vorher Gunstbeweise ins Morgenland gebracht hatten). Und dieser Abul Abbas soll auch noch weiß gewesen sein.

Abul Abbas, übersetzt »Vater der Falten«, lebte fürderhin in einer Menagerie (»Wildbann«) der Kaiserpfalz, einem ummauerten Wald- und Wiesengebiet (das sich, soweit man weiß, über Burtscheid, das Frankenberger Viertel, das Ostviertel bis Haaren und eventuell weiter erstreckte). Er sorgte für Glanz, Macht und Ansehen. Der zeitgenössische Dichter Walahfrid Strabo nannte solch exotische Tierbestände »irdisches Abbild des himmlischen Paradieses«.

Bei der Ankunft war Abul Abbas gewiss erschöpft von seinem einjährigen Fußmarsch über mehr als 5.000 Kilometer. Aber unterwegs war es wenigstens nicht immer so kalt und regnerisch gewesen wie in diesem 400-Seelen-Nest. Der Elefant, allein, ohne Artgenossen und fern seines natürlichen Habitats, dürfte an Aachen gelitten haben wie ein Schwein. Ein paar Jahre später war er dann auch schon tot.

Diese tragische Geschichte vom einsamen Rüsselriesen hat den Aachener Komponisten Florian Zintzen schon vor geraumer Zeit inspiriert. Passend zum Karlsjahr 2014 wird sein »Requiem für einen weißen Elefanten« nun erstmals im großen Stil der Öffentlichkeit präsentiert, gefördert von der Stadt Aachen. In dem Requiem ist der Dickhäuter bald nach seiner Ankunft erkrankt. Bei Hofe ringen Medicus, Heiler, Astrologin und der Herr Pastor um Ideen. Die Meldungen an Karl (»Herr, der Elefant – er frisst nicht mehr!«) werden bang und bänger. Wie nur helfen!?

Das donnernde Werk (Text: Marion Simons-Olivier) hat dadaistische Züge, einigen feinen Witz und nette historische Verdrehungen. So singt der Medicus Aachens Stadthymne »Urbs Aquensis« (mit verändertem deutsch-lateinischem Text) 400 Jahre bevor sie komponiert wurde. Es gibt Anleihen bei Goethes »Faust«, der Chor schmettert »Wer heilt, hat recht«. Am Ende sind die Gelehrten – »Ich spüre die Vergiftung seiner Seele« – einig, dass Einsamkeit, Heimweh und Kälte den armen Elefanten gefrustet und gefrostet aufs Stroh zwingen.

»Den Kulturtransfer zu Karls Zeiten fand ich immer schon wahnsinnig faszinierend«, sagt Zintzen, 40, »und die Elefantengeschichte seit meiner Kindheit sowieso. Aber niemand hat mal darüber nachgedacht, wie es dem Tier hier wohl erging.« Orchester und fast 200 SängerInnen werden das Oeuvre im Mai und Juni 2014 auf die Bühne bringen.

Gleichzeitig wird auch das Stadttheater aktiv: Eine Art Elefanten-Wallfahrt soll Anfang Juni durch Aachen ziehen, »eine einzigartige Performance mit Tanz, Musik und jeder Menge Überraschungen«. In einer Realschule texten sie schon am Abul-Abbas-Rap. Vielleicht werden die Bäcker der Stadt einen Wettbewerb mit Riesenprinten in Elefantenform (mit viel weißem Zuckerguss) ausschreiben.

Die fränkische Propaganda nutzte das Prachtgeschöpf als Beleg dafür, wie eng man mit dem sagenhaften Kalifat im Morgenlande verbunden war. Das auch als Wink an den gemeinsamen Feind: Byzanz. Für Karl war Abul Abbas eine vierbeinige Insignie der Macht; gleichsam Zepter und Reichsapfel in einem.

Und der große Karl wurde zum großen Vorbild. Nach ihm hatte Stauferkaiser Friedrich II. einen Elefanten, Heinrich III. von England legte nach, es folgten Papst Leo X. und Sonnenkönig Ludwig XIV.

Weiß aber war ein sensationelles Alleinstellungsmerkmal. »Weiß«, singt der vierstimmige Chor im Elefanten-Requiem gleich in der Ouvertüre, »ist die Farbe, die alles in den Schatten stellt …«

Weiße Elefanten gelten in vielen Kulturen als heilig, Siam (heute Thailand) hatte bis 1916 sogar einen im Staatswappen. Ein großes Problem hatten dabei alle buddhistischen Verehrer: Wer einen weißen Elefanten besaß, musste ihn den Gläubigen zeigen, musste sie beherbergen und verköstigen. Das konnte einen ruinieren. Deshalb gelten bis heute in unterschiedlichen Kulturen und Sprachen (etwa englisch) als »white elephants« Dinge oder Projekte, die nur Kosten und Ärger verursachen – wer dächte da nicht an Investitionsruinen wie den Bahnhof Stuttgart 21 oder den Berliner Flughafen BER.

Aber war Karls Elefant wirklich ein Albino? Oder einfach nur sehr hell? Dass er weiß gewesen sein soll, meint der Jenaer Mittelalterforscher Prof. Achim Hack, »habe ich in der älteren Forschungsliteratur nirgends gelesen«. Wahrscheinlich sei diese Behauptung »eine spätneuzeitliche Zuschreibung«: »Die fast uferlose populäre Literatur über den Frankenkaiser könnte der Nährboden für derartige Vorstellungen sein.«

Vielleicht war Abul Abbas auch nur etwas weniger grau als der Aachener Wolkenhimmel. Oder man war vom Elfenbein geblendet. Oder tollkühne Landmänner der Nordeifel hatten ihn beim Durchmarsch mit Mehl beworfen. Oder sein Leiden war der Grund: »Herr«, ruft der Hofstallmeister im Requiem einmal verzweifelt, »Herr, der Elefant wird täglich blasser!«

Die offizielle Geschichtsschreibung will wissen, dass Abul Abbas am Schlachtengetümmel der Karl’schen Heere beteiligt war. Tatsächlich waren Elefanten schon früher in Kriege gezogen. Eine indische Streitmacht stellte sich einst Alexander dem Großen mit einer Armee aus 200 Kampfdickhäutern in den Weg, quasi als Panzer des Altertums.

In den hofnahen Reichsannalen, der einzigen originären Quelle, steht zu lesen, dass Abul Abbas im Jahre 810 »plötzlich starb«, und zwar 150 Kilometer nordöstlich von Aachen. Und was hätte er sonst dort machen sollen, außer mit Karl gegen die Normannen und dieses ungläubige Sachsenpack zu ziehen!

Heldentod eines treuen Gefährten? Nüchterne Forscher vermuten eher die Maul-und-Klauen-Seuche, die in jenen Jahren nahezu jedes Huftier dahinraffte.

Vieles spricht dafür, schreibt Achim Hack, dass al-Raschid den Elefanten, ob weiß oder nicht, gar nicht extra für diesen Karl in Indien hatte besorgen lassen, sondern dass das Tier selbst »schon damals ein diplomatisches Geschenk war«. Och, hat der Kalif vielleicht überlegt, da machen wir ein Schleifchen drum und schicken ihn diesem neu gekrönten Haudegen tief im Westen. So gesehen wäre Abul Abbas nur ein frühmittelalterliches Wichtelgeschenk gewesen. Und zugleich ein praktisches Transportmittel für die vielen anderen prunkvollen Gaben.

Für Bagdad hatte nicht mal der Frankenkaiser selbst eine besondere Bedeutung: »In der arabischen Historiografie«, schreibt der Mediävist Hack, »hat der Gesandtschaftswechsel zwischen Harun al-Raschid und Karl dem Großen keinen Niederschlag gefunden.« Für das Kalifat war dieser Charlemagne eben ein kleines Licht. Militärisch erfolgreich, aber ungebildet und peripher – ganz anders als Bagdad, damals intellektuelles und multireligiöses Zentrum der Welt mit Universitäten und Gelehrten. »Boomtown und Weltkontakthof«, schrieb einmal die Zeit.

Der Elefant vom anderen Ende der Erdenscheibe ist somit auch ein wenig Legendenvernichter von Karls angeblich überragender Bedeutung. Die Herrscher aus Bagdad haben ohnehin gern Elefanten verschenkt. 746 bekam der Kaiser von China einen Elefanten. Und noch ein Nashorn dazu.

Über ein Nashorn Kaiser Karls, womöglich sogar ein weißes, ist nichts bekannt.

Das neue Geld bekommt einen Geldpreis

Der Euro, kaum auf der Welt, wird in Karls Namen geehrt.

taz, 27. März 2002

Geld? Darüber wissen wir doch wirklich alles. Dass es weder glücklich macht noch stinkt, auch wenn man es wie Heu hat. Dass es als Mammon zwar schnöde sein mag, man aber dennoch den Teufel damit tanzen lassen kann. Als Money macht es die Welt rundgängig. Beim Tommy reimt es sich auf süßen Honey, im Deutschen pragmatisch auf die große Welt, die es sowieso regiert.

Zeit ist Geld. Kaum dass unsere Mark verkohlt worden ist in extragroßen Müllverbrennungsanlagen, lernen wir ganz neue Eigenschaften unseres neuen Geldes kennen. Der Euro leistet »einen hervorragenden Beitrag im Dienste der Humanität«, er ist »nicht allein Werteinheit, sondern vielmehr Wertmaßstab« und »ein Stück gemeinsamer Kultur«. Und von wegen »Geld bringt mehr Leute um als eine Keule«, wie der russische Volksmund weiß – der Euro entwickelt »friedensstiftende Wirkung«.

In Aachen bekommt der Euro im Mai den Karlspreis, und heute schon gratulieren wir dem Direktorium zu seiner innovativen Entscheidung. Dabei ist es durchaus strittig zugegangen im hochgeheimen Wahlzirkel. Manche fanden »die Ehrung einer Währung langweilig«, die Mehrheit indes »sehr charmant«, denn listig könne man mit dem Geld »dem Personenkult entkommen«. Politiker waren »ja nicht mehr zu toppen«, sagt einer, seit Bill Clinton im Jahr 2000 Charly’s Price of Aken abgegriffen hatte. Dann lieber die Unperson Euro.

Aachen lenkt unser Bewusstsein jetzt noch stärker auf Zaster, Kohle und Penunsen. Wo auch das Geld selbst jetzt seinen Geldpreis hat, erhoffen wir neue Erkenntnisse der Weltendenker ( »Geist denkt, Geld lenkt«) und lebensklugen Völker mit ihren trefflichen Sprichwörtern. Her mit Euro-zentristischen Wahrheiten wie Euro makes the world go teuro … oder so. Nur besser. Feiner. So wie die Aachener Juroren: Der Euro ermögliche, »Europa wortwörtlich als bare Münze in der Tasche mit sich zu tragen«.

Das ist schön. Übrigens kriegt auch das gepriesene Geld ordentlich was zu schleppen. Denn als Preisgeld, bislang 5.000 Mark, gibt es jetzt 5.000 Euro. Somit sorgt der ausgebuffte Euro erst für Spezialinflation und profitiert dann selbst üppig davon durch übertriebene Kompensation. Das ist endgültig karlspreiswürdig.

Der erhobene Zeigefinger ist überall

Für seine Verdienste um die europäische Einigung erhält der Papst den Aachener Karlspreis. Die halbe Stadt pilgert dafür nach Rom. Unser Autor ist dabei.

taz, 6. Mai 2016

VATIKANSTADT taz | Jetzt. Da, die Tür öffnet sich. Da kommt er. Jorge Mario Bergoglio, 79, alias Papst Franziskus. Freitagmittag 12.05 Uhr. Augenblicklich wird Ruhe zu einer atemlosen Stille. Ist es seine Aura? Die weiß strahlende, alles absorbierende Heiligkeit? Es folgt schüchterner Applaus.

450 festlich gekleidete AachenerInnen recken in der Sala Regia des Apostolischen Palasts die Hälse zu ihm. Die Kameras von ZDF, WDR und BR recken ihre Objektive. Der Aachener Domchor singt »Gloriosa dicta sunt« – Herrliches sagt man dir nach. Der Domchor ist der älteste deutsche Knabenchor, den Karl der Große himself einstens gegründet hat.

Vorher waren die Kinder nicht aufgeregt, sagt Chorleiter Berthold Botzet, aber wehe, wenn man den Vatikan betritt: »Da hat man sofort das Gefühl, in einer Sekunde um 600 Jahre zurücktransportiert zu sein.«

1215 Jahre und ein paar Wimpernschläge ist es her, da war Karl der Große an gleicher Stätte, hier, von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt worden. Jetzt sind die Aachener wieder da und bringen dem Papst ein Geschenk, im Namen ihres größten Sohnes: den Karlspreis. Für die Einheit Europas. Den wichtigsten politischen Preis des Kontinents. An Franziskus, die »moralische Instanz«. Quasi als weltliche Gegenkrönung.

Eskortiert werden all die Aachener in Rom von Kanzlerin Merkel, dem EU-Triumvirat Tusk, Juncker, Martin Schulz, dem spanischen König, dem italienischen Staatspräsidenten.

Aber ein Argentinier für Europa? Franziskus mischt sich bekanntlich ein. Er sprach eindringlich vor dem EU-Parlament, war zuletzt auf Lesbos, um zu sehen, was Europas groteske Flüchtlingspolitik anrichtet. Der Preis an einen Südamerikaner gilt auch als politische Ohrfeige an einen Kontinent, dessen Repräsentanten derzeit in Reihe versagen. Und von denen niemand preiswürdig wäre.

Der Pontifex möge Lösungen andenken, sagen sie alle, Europa wachrütteln, mahnen. Er solle, so der Karlspreisvorsitzende Jürgen Linden, »ins Gewissen reden«, man erwarte »einen Impuls, ein Signal aus Rom«. Franziskus sei schließlich »eine Autorität gegenüber der Politik«. Ob die das weiß – in Polen, Ungarn, Österreich? Und: braucht man die überhaupt?

Offenbar ja. Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp hält seine Laudatio. Er sei »in tiefer Sorge um den Zusammenhalt Europas. Wir empfinden Hilflosigkeit.« Europa sei am Rand der Dekadenz, von Verfall bedroht: »Die Erosion des Fundaments ist beängstigend«. In den Festreden wird beschworen, gemahnt, von Visionen und Visionären gesprochen, von Moral, Solidarität, Würde, Respekt. Der erhobene Zeigefinger ist überall.

Martin Schulz sieht »Europas gemeinsame Wertebasis ins Wanken geraten«. Man stehe »vor einer epochalen Herausforderung.« Jean-Claude Juncker sagt flehentlich: »Also, ihr alten Europäer, wacht auf! Hört die Stimme von Papst Franziskus!« Vor dessen Rede hebt der Domchor an: »Jubilate Deo«. Mit »hingezaubertem, verzücktem Klang«, wie der Chorleiter verlangt hatte, »ganz, ganz fein mit meditativem Charakter«.

Sonst winken Päpste bei weltlichen Ehrungen meist ab. Franziskus’ deutscher Berater in Rom, Kurienkardinal Walter Kasper, hatte dem Papst »das Anliegen dieser Auszeichnung erläutert«, sagt er. »Ich war der Briefträger.« Später erklärte Franziskus sein Ja: »Das liegt an der Dickköpfigkeit von Kardinal Kasper.« Eine der Organisatorinnen der Stadt Aachen stöhnte ein paar Tage vor dem Event: »Die machen mich wahnsinnig im Vatikan. Alles dauert, dauert. Die rechnen nicht in Tagen, die sind in Ewigkeiten unterwegs.«

Neben den 450 Ehrengästen bei der Preisverleihung haben sich auch Privatleute nach Rom aufgemacht. Nicht beim Festakt, aber nach Rom angereist sind beispielsweise zwölf Schüler einer Gymnasialklasse 10 und ihre Lehrerin. Gleich 60 Theologie-Studierende waren per 20-stündiger Busreise für vier Tage angereist. Da es die Chance gab, über die Warteliste in die Hauptveranstaltung zu rutschen, hatte man »vorher eine Liste ausgelost«, sagt der Religionspädagoge Guido Meyer. Deshalb musste auf Verdacht festliche Kleidung ins Gepäck. Fünf schafften es schließlich sogar. Habemus papam.

Der Dresscode schrieb für Herren einen festlichen dunklen Anzug vor und für die Damen: »Dunkler Hosenanzug ist möglich; wenn Kostüm oder Kleid getragen wird, dann sollte dieses beim Sitzen eine Handbreit über das Knie gehen. Bitte Schultern bedecken. Ein Hut oder Schleier ist nicht erforderlich.« Das Protokoll verlangte ferner: »Nicht komplett in Weiß kleiden.« Denn weiß ist nur der Heilige Vater.

Die Prozession der vielen Aachener wirkte wie die Reisen Tausender Fußballfans, die ohne Chance auf eine Eintrittskarte ihren Lieblingen bei einem wichtigen Endspiel nah sein wollen. Und das Spiel im Fernseher unbedingt zwei Kilometer vom Rasen entfernt sehen wollen statt 2.000.

Dann sprach Seine Heiligkeit. 31 Minuten lang – auf Italienisch. »… multilaterale … poco a poco …« Es gibt im Saal keine Übersetzung. Im Fernsehen wissen alle simultan Bescheid, die Festgesellschaft ahnt nicht, ob Europa die richtigen Signale bekommt. »… generositá … Adenauer … generale …« Die Unruhe im Saal wächst. Gleichzeitig nicken Dutzende ein. »… una cultura … grazie!« Europa 2016: Man versteht sich nicht.

Der Papst stellte selbst Fragen: »Was ist mit dir los, humanistisches Europa, du Verfechterin der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit? Was ist mit dir los, Europa, du Heimat von Dichtern, Philosophen, Künstlern, Musikern, Literaten? Was ist mit dir los, Europa, du Mutter von Völkern und Nationen, Mutter großer Männer und Frauen, die die Würde ihrer Brüder und Schwestern zu verteidigen und dafür ihr Leben hinzugeben wussten?« Und wie weiter? Martin Schulz sagte nachher, ihm habe gefallen, wie sehr der Papst den »gegenwärtigen Zynismus in Europa angegriffen« habe. Angela Merkel fühlte »Ermutigung«.

Der Pontifex hatte angeregt, »Brücken zu bauen und Mauern einzureißen«. Eine genaue Exegese seiner fußnotengespickten Rede wird noch dauern. Aber was sollte der Vatikan konkret tun? Mit der Schweizergarde den mazedonischen Grenzzaun einreißen? Alle Polen kollektiv exkommunizieren? Glorios adicta sunt – gerade dem Papst sagt man Herrliches nach.

40 ausgewählte Gäste durften nach der Verleihung die päpstliche Hand schütteln. Alle offenkundig ergriffen. Wie war es? Berührend, einmalig, sagten sie nachher. »Wenn man den Papst berührt«, so Chorleiter Botzet, »ist man schon beseelt.«

***

Als ich noch ein kleines Kind war, besuchten wir mindestens einmal im Monat Oma, Tante und Nichte in der Hanbrucher Straße in ihrem etwas heruntergerockten Haus, das einst die Gesindebleibe hinter der »Villa Modesta« gewesen war. Das war nicht immer prickelnd, aber meine Eltern lockten den kleinen Bernd mit einem kulinarischen Versprechen auf die Reise: Wir würden nachher Fritten essen gehen. Die waren in Duisburg noch unbekannt, wo die Salzkartoffel alleinherrschte, ergänzt höchstens um Bratkartoffeln. In Aachen aber gab es sie, dank der kulinarisch-kulturellen Nähe zum Frittenerfinderland Belgien. Mal hielten wir unterwegs an einem dieser Straßenbegleit-Wohnwagen in Baal oder Setterich (eine Autobahn gab es noch nicht), oft an einer Imbissbude am Kaiserplatz.

In meiner Erinnerung ist sie wie ein Badezimmer komplett verkachelt gewesen und in riesigen Siedetöpfen wurden unfassbare Mengen der Kartoffelstangen goldgelb geröstet. Das Ambiente war immer von Fettschwaden vernebelt, dass es in den Klamotten nachher bis Duisburg so wohlig roch. Zuhause hatte man schon mal von Pommes gehört. Hier in Aachen sagte man Fritüren. Es gab sie immer in der Tüte! Und das für 30 Pfennig! Und immer mit Senf, der umsonst war, was mich als Kind extra beeindruckte.

Die frühkindlich-frittürale Prägung fand eine Fortsetzung fünfzig Jahre später in einem umfänglichen Frittentest, der im Euregio GastroGuide erschien und hier wiederaufgebacken erneut Appetit machen soll.

In Frittenland

Wo in der Euregio gibt es die besten Pommes Frites? Eine fast wissenschaftliche Untersuchung.

GastroGuide Euregio, Ausgabe 2012

Lange galten Pommes Frites als billige Beilage, Junk Food, als Sattmacher quasi-proletarischen Ursprungs. Erfunden worden sind sie wohl im 17. Jahrhundert, als Maas-Fischer bei Huy und Namur auf die Idee kamen statt frischer Fische geschnittene Kartoffeln in heißem Fett zu frittieren. French Fries sind also Belgian Fries und eine Erfindung am Rande der heutigen Euregio!

Das Sujet Fritte ist längst Wirtschaftsfaktor und sorgt für Guinness-Rekorde. Der neue Pächter einer Imbissstube am Haarener Markt in Aachen zahlte in den 90er Jahren beim Vorgänger eine Ablösesumme für das Currysoßen-Rezept. Die Fritüre bei Ralf in Kelmis stellte 2003 einen Weltrekord auf: eine 3,5 Meter hohe Tüte mit 1,2 Tonnen Inhalt. Mittlerweile werden Fritten zu einem Glas Champagner serviert und in Mayonnaisen-Ensembles getunkt, die teurer sind als die Kartoffel-Portion selbst. Der Präsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgiens, Karl-Heinz Lambertz, schreibt den Fritten sogar eine kulturübergreifende Kraft zu: »Die Chinesen lieben sie wegen ihres perfekten Designs: Essen und Essstäbchen in einem!« Und er weiß: »Die Fritte ist wie Europa: Außen fest und innen weich, aber immer verdammt abhängig vom Öl.«

Fett ist wirklich wichtig. Während in Deutschland meist preisgünstiges und geschmacksneutrales Palmfett genommen wird, brät der Belgier gern in Rindernierenfett. Aber egal welches: »Das Allerwichtigste ist die Frische«, sagt Klaus Jörissen vom Lebensmittel-Untersuchungsamt Rheinland in Aachen, und wie oft das Fett gewechselt wird. Das Wasser aus der Kartoffel sei »chemisch der größte Fettfeind«, deshalb »beginnt mit dem ersten Braten der Zersetzungsprozess.«

11 Millionen Tonnen Kartoffeln werden allein in Deutschland jährlich geerntet. Wie viele Kilogramm Fritten jeder pro Jahr isst, weiß selbst das Statistische Bundesamt auf Anfrage nicht. Allein an Tiefkühlware (meist für daheim) sind es in Deutschland rund 300.000 Tonnen, das entspricht fast einer Milliarde Portionen mit einem Gewicht von 200.000 PKW. Kommt das gleiche noch mal in Buden und Restaurants dazu, gar ein Mehrfaches? Ist es in den Niederlanden, der Heimat von friet special, und in Belgien, beim wahren hommes frites, die gleiche Menge und wenn ja, nur relativ oder sogar absolut?

Wo gibt es in der Euregio die besten? Welche Frittenbude aus den hunderten, wahrscheinlich tausenden wollen wir testen? Wir haben bei Prominenten um Hinweise gebeten. Absagen kamen von Bischof Heinrich Mussinghoff, der »als Tippgeber nicht zur Verfügung steht«, so sein Referent. Auch Schmachtgeiger André Rieu aus Maastricht mochte »das bitte nicht machen, sorry«. Ulla Schmidt musste einräumen, dass sie nur sehr selten Fritten esse. Ein stadtbekannter Aachener Bühnenkünstler schämte sich für seine Vorliebe: »... also, äh, ich traue es mich ja gar nicht zu sagen, aber... am besten finde ich die dünnen knackigen Dinger von McDonald´s ... Tut mir leid.« Da verzichteten wir.

Sechs Fritten-Paten fanden sich. Ihre Tipps beruhen auf sehr unterschiedlichen Motiven. Neben Geschmack und kulinarischem Glück an erster Stelle waren das: Kultstatus des Etablissements, die Frittenbeigaben, das Verspeisens-Procedere, das Ambiente, das Flair der Mitesser.

Ich bin ihren Empfehlungen gefolgt – ausgerüstet mit allen Sinnen, gutem Appetit, Briefwaage, Millimeterband, mit einem NCS-Farbfächer zur Bestimmung des Bräunegrades und vielen Fragen an die Fritteure.

Hinweis: In Belgien haben selbst Sternerestaurants, ganz anders als in Deutschland, durchgängig eine Fritteuse bereitstehen, halt für hochkulinarische Sternefritten. Und die Spitzenköche können lange Fachvorträge zum Thema halten. Ich habe das selbst mal recherchiert quer durch Flandern, es war verblüffend:

www.tagesspiegel.de/themen/genuss/pommes-aus-belgien-fein-und-fettig/7791416.html

Nun aber zu den detaillierten Testergebnissen der sechs Frittenverköstigungsorte (der besseren Übersichtlichkeit halber hier im Querformat):

Sport I: Alles außer Fußball

Aachen ist zwar eine Sportstadt. Allerdings sind hier Disziplinen beheimatet, die woanders nicht unbedingt zu den ersten Publikumsmagneten zählen. Zum Beispiel der Pferdesport.

Nun kann man die mäßige Begeisterung außerhalb Aachens für die sportive Reiterei manchmal verstehen. Etwa die drei Kerndisziplinen: Springen über Hindernisse ist dem Pferd wesensfremd (sie würden immer drumherum laufen), die Ästhetik von Dressurstückchen erschließt sich einem nicht unmittelbar und Distanzreiten funktioniert nur deshalb ohne Todesopfer, weil Tierärzte und -ärztinnen die Tiere massenhaft aus den Rennen nehmen.

Auf in die Soers!

Tiriac auf Tiriac

Der Guru der Tennisbälle will auf Pferdeäpfel umsatteln.

taz, 20. Juni 1989

Reitersleut haben sich mit großem Erfolg den Stallgeruch des Versnobten und bedingungslos Erzkonservativen aufgebaut. Wie es ist, ist es gut, Hafer wird nie zu Weizen und ein Wassergraben bleibt immer nass. Immer noch hören Rösser, wie beim Reiterchampionat CHIO zu bestaunen, auf so seltsam altbackene Namen wie Wotan, Wallenstein, Schiwago, Marquis oder Prinzregent. Jetzt aber kommt ein dee jay daher, einer sitzt auf Fleet Wood Mac, einer auf dirty dancing, und gar auf the freak, der sicher einmal ein besonders hässliches, langschweifiges oder ausschweifiges Fohlen war. Jedenfalls scheint Musik gerade Trumpf zu sein im Sattel.