Ach, die Fakten! - Rolf Arnold - E-Book

Ach, die Fakten! E-Book

Rolf Arnold

0,0
28,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Fake News", "postfaktisches Zeitalter", "Lügenpresse", "Verschwörungstheorie" sind nur einige der Kampfbegriffe aus den inszenierten Redekämpfen in Talkshows und anderen öffentlichen Auseinandersetzungen. Wie wenig mit ihnen gesagt ist und welche Folgen das dahinterliegende "schwache Denken" hat, entlarvt Rolf Arnold in wünschenswerter Deutlichkeit. Das Bedürfnis, "Experten" zu folgen, wird durchaus ernst genommen, die Gefahren, die daraus entstehen, aber genauso schonungslos reflektiert. Der Unsicherheit und der Suche nach Orientierung und Hilfe von Menschen oder Institutionen, die es "wissen müssen", setzt Rolf Arnold sog. metafaktische Kompetenzen entgegen. In 10 Schritten entwickelt er Maßnahmen zur Vermeidung schwachen Denkens bei sich selbst und stellt Kriterien für den verantwortungsvollen Umgang mit der Wirklichkeit vor: Beteiligung, Selbstdistanz, Zirkularität, Reflexivität, Kontemplation sind einige davon. Gestützt auf seinen umfassenden Überblick über geistesgeschichtliche, wissenschaftliche und politische Entwicklungen gibt Rolf Arnold Handlungsvorschläge dafür, sich – ganz im Sinne klassischer Aufklärung – seines eigenen Verstandes zu bedienen. Ein notwendiges Buch zur rechten Zeit!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 266

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carl-Auer

Systemische Horizonte – Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.«Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professorfür Medienwissenschaftan der Universität Tübingen

Rolf Arnold

Ach, die Fakten!

Wider den Aufstanddes schwachen Denkens

2018

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Themenreihe »Systemische Horizonte«

hrsg. von Bernhard Pörksen

Umschlaggestaltung: Richard Fischer

Umschlagfoto: Richard Fischer · www.richardfischer.org

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2018

ISBN 978-3-8497-0226-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8132-3 (ePUB)

ISBN 978-3-8497-8131-6 (PDF)

© 2018 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autorenund zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

Wenn Sie Interesse an unseren monatlichen Nachrichten aus der Vangerowstraße haben, abonnieren Sie den Newsletter unter http://www.carl-auer.de/newsletter.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

»Natürlich können wir uns daran erinnern, was Faktum heißt. Es kommt vom Lateinischen ›facer‹, und das heißt ›machen‹. Also ein Faktum ist etwas, was wir gemacht, d. h. erfunden haben«(von Foerster et al. 1988, S. 84).

»Beginnen wir also damit, alle Tatsachen beiseitezulassen, denn sie berühren nicht unsere Frage. Man darf nicht die Untersuchungen, in die man über dieses Thema eintreten kann, für historische Wahrheiten halten, sondern nur hypothetische und bedingte Überlegungen, die mehr dazu geeignet sind, die Natur der Dinge zu erhellen, als ihren wirklichen Ursprung aufzuzeigen, und die denen ähnlich sind, die unsere Naturforscher alle Tage über die Entstehung der Welt anstellen«(Rousseau 2003, S. 33).

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1Popularisierung gegen Populismus

2Wie faktisch ist die Wirklichkeit?

3Aufklärung: Die Karriere der Vernunft

4Spürende Vernunft

Rückgriff

Der Mythos der Mathematisierbarkeit

Illustration: Die spürbare Evidenz wechselseitig verzahnter Fühlmuster

Faktenorientiert ist auch das Aufdecken dessen, was im konkreten Fall wirkt!

Wissen, was wirkt: das spürende Verstehen als Ausdruck der metafaktischen Reflexion

5Wege aus der Gewissheitsfalle: Muster des Umgangs mit Ungesichertheit

Es gibt Un(ge)sichertheit

Das Faktische im »Gefängnis unserer Sprache« (Wittgenstein)

Das Faktische der Antizipation

Das Faktische des Noch-nicht

6Auswege aus der Unvernunft

Der selbsteinschließende Umgang mit Fakten und Theorie

Die verantwortliche Fabrikation von Erkenntnis

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Die Debatte über die Fakten ist in vollem Gange. Zu Recht empört man sich über die Lügen und die Verbreitung von Fake News oder »Alternative Facts«, deren sich der Populismus bedient, indem er Wirklichkeiten erfindet, für die es keine Belege gibt. Der vorliegende Essay wendet sich entschieden gegen dieses aufkeimende schwache Denken. Er ist ein flammendes Plädoyer für das Projekt der Aufklärung, welches das mythische Denken ablöste und für Tatsachenprüfung und Vernunftgebrauch sowie wertschätzenden Dialog warb. Dadurch wurden in der Menschheitsgeschichte behauptete Geltungsansprüche hinterfragbar, und auch gesellschaftliche Macht wurde endlich vernünftig regelbar, indem ihre Legitimation an konsensfähige Kriterien und universale Maßstäbe des Argumentierens und Interessenausgleichs rückgebunden wurde – eine Praxis, die sich noch keineswegs überall durchgesetzt hat und der ständigen Bedrohung durch autoritäre Führung (nicht bloß im Ausland) ausgesetzt bleibt.

Die Bezugnahme auf evidente Gegebenheiten wurde durch das Projekt der Aufklärung in den Fragen zum verbindlichen Charakteristikum vernünftiger Einigung, zu denen unstrittige Fakten ermittelbar und verfügbar sind. Freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit und die Freiheit von Forschung und Lehre sowie die Demokratie garantieren seitdem die Diskurs- und Resonanzräume, in denen über die Evidenz der Fakten gestritten werden kann – getragen von dem Glauben an die Überzeugungskraft des besser belegten Arguments.

Nun wissen wir, dass solche harten und unausweichlichen Fakten keineswegs zu allen relevanten Themen und Zukunftsfragen unserer Gesellschaft mit der gleichen Überzeugungskraft des Augenscheines und der nüchternen Beurteilung zu haben sind. So sind die Wahrheiten der deskriptiven Statistik (z. B. zu Lebenserwartung, Einwohnerzahl etc.) meist unmittelbarer verpflichtend, während kausale Wirkungszusammenhänge sich wesentlich schwieriger evidenzbasiert eindeutig bestimmen lassen. Während wir uns z. B. kaum darüber streiten, wie viele Schüler in europäischen Universitäten ihr Studium frühzeitig abbrechen, konfrontiert uns die Frage, weshalb sie dies tun, mit einer schier unüberschaubaren Vielzahl von unterschiedlichen Variablen, die nur schwer zu faktenähnlichen Befunden verdichtet werden können. Liegt dieser Studienabbruch an der Fremdheit des akademischen Milieus im Unterschied zu den im jeweiligen Herkunftsmilieu der Studierenden verbreiteten Einstellungen, Selbsteinschätzungen und Haltungen? Oder hat er etwas mit der finanziellen Situation dieser Studierenden oder gar mit ihrem unterentwickelten Selbstwirksamkeitsvertrauen zu tun? Oder intervenieren beim Studienabbruch gar Variablen, die wir noch überhaupt nicht in den Blick gerückt haben und die vielleicht von skandinavischen, chilenischen oder indischen Sozialforschern in den Vordergrund ihrer Betrachtungen gerückt werden?

Überhaupt bleibt die Frage nach dem persönlichen – biografischemotionalen – Subtext der wissenschaftlichen Beobachtung bei der Debatte über die Fakten weitgehend ausgeblendet. Dies ist erstaunlich, sind doch auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lediglich Beobachterinnen und Beobachter, die die Welt kaum anders in den Blick zu nehmen vermögen als in der Weise, in der sie gelernt haben, die Welt zu betrachten, sich in ihr zu entwickeln und zu profilieren – eng geführt und bisweilen gar genötigt von der erdrückenden Macht der erwartbaren und als zulässig angesehenen Formen des Denkens, Fühlens und Publizierens. Es ist diese interne Plausibilität, die uns sehen lässt, was wir sehen können, und auch die von unseren Forschungen zutage geförderten »Fakten« liegen keineswegs objektiv zutage, sondern sind Ergebnis unseres zwar methodisch disziplinierbaren, aber gleichwohl persönlichen Blicks auf das Geschehen. Unser Umgang mit den Fakten sagt deshalb – ob uns das gefällt oder nicht – meist auch mehr über uns selbst und unser Sehen aus als über das, was den Gegenstand unseres Interesses bewirkt. Deshalb braucht die Bemühung um Fakten die Erweiterung um einen Blick hinter die Fakten – die metafaktische Reflexion. Sie kann uns helfen, die wissenschaftliche Beobachtung der Gegebenheiten um eine Beobachtung zweiter Ordnung zu erweitern: um die Frage, wie wir beobachten, und um die Einsicht, dass die Befunde, zu denen wir neigen, auch nicht allein deshalb evidenzbasiert erwiesen sind, weil wir sie hervorgebracht haben und für »gewiss« zu halten geneigt sind.

Wer diese metafaktische Wende beim Umgang mit Fakten versäumt, ist nicht bloß in der Gefahr, alles, was ihm der Fall zu sein scheint, bereits für faktisch gegeben zu halten, er reproduziert vielmehr auch unaufhörlich seine bisherige Sicht der Dinge, weil er den eigenen blinden Fleck (»Blind Spot«) der Wahrnehmung nicht bei sich selbst (höchstens bei anderen) erkennt und seine eigene Form des Umgangs mit den Gegebenheiten auch für andere für faktisch unbestreitbar hält. Seine Faktenorientierung ist dann seine ganz spezifische Form, sich treu zu bleiben. Er ist dabei gar nicht immer an den Fakten selbst orientiert, sondern dementiert diese Fakten in bisweilen ganz ähnlicher Art, wie er dies bei den Populisten zu Recht kritisiert – wenn auch in subtilerer Aufbereitung und meist elaborierterer Kommentierung. Gleichwohl bleibt dies dem aufmerksamen Leser dieser Kommentierungen meist nicht verborgen. Er erkennt, dass er es – wieder einmal – mit einer sich selbst erfüllenden Form der Wirklichkeitskonstruktion zu tun hat, deren Annahmen bereits in die Art der selektiven Beobachtung eingeflossen sind.

»Wir können nicht hinter die Fakten zurück – dort, wo wir sie haben und mit anderen im Konsens teilen können!« Dort, wo die Wirkungszusammenhänge hingegen nicht offen zutage liegen, benötigen wir den erkenntnis- und beobachtungstheoretischen sowie selbstreflexiven Blick auf unseren eigenen Subtext des Erkennens, um nicht im Brustton der Gewissheit als Faktum auszugeben, was uns immer schon der Fall gewesen zu sein schien. Faktenorientierung benötigt deshalb eine metafaktische Reflexion, damit wir das, was wirkt, erkennen und durch wirksame Weisen der Gestaltung und Intervention verändern können. Denn letztlich zeigt sich die »Wahrheit« einer Interpretation nicht in der Übereinstimmung der Beurteilung durch die zufällig am Diskurs Beteiligten, sondern in der Wirksamkeit und Akzeptanz der aus der Interpretation ableitbaren Handlungen.

Es ist also viel komplizierter, als es auf den ersten Blick zu sein scheint: Wer sich bloß für Faktenorientierung starkmacht, ohne zugleich zwischen augenscheinlicher Evidenz und interpretativ erschließbarer Emergenz zu differenzieren, der hantiert mit einem unterkomplexen Faktenbegriff. Schlimmer noch: Auch er tendiert dazu, letztlich faktische Wirkungszusammenhänge für entdeckbar zu halten, wo nur ein Nachvollzug der Bedeutungsverleihung der Akteure sowie spürende Vernunft uns näher an das heranzuführen vermögen, was tatsächlich im Gegenübersystem am Wirken ist. Vertreter einer einheitswissenschaftlichen Empirie der Berechenbarkeit neigen, indem sie die Beobachtertheorie bewusst ausblenden und sich meist den Gesetzen der Mathematik unterwerfen, ebenso wie die Vertreter einer materialistischen Erkenntnistheorie zu solchen Vereinfachungen. Beide tendieren dazu, Faktisches zu behaupten, wo bloß Perspektivisches zu haben ist – eine Reduktion von Komplexität, die durchaus Parallelen zu den Vereinfachungen der im Populismus zu Recht kritisierten Behauptungswahrheiten aufweist. Beiden Tendenzen zugrunde liegt ein geschlossenes Weltbild – nicht frei von der Gefahr, einem freiheitsbedrohenden Totalitarismus zuzuarbeiten (vgl. Popper 1992). Während der rechte Populismus die schuldzuweisende Vereinfachung der schlichten Parole bevorzugt, wählt der kritische Populismus gerne die Form eines dogmatisch-anmaßenden Intellektualismus. Beide halten die Erkennbarkeit der Welt – ihrer Welt – für unstrittig. Sie verbindet auch ein mehr oder weniger deutliches Feindbild und ein ausgrenzender Gestus, welcher dem Andersdenken seine Berechtigung vollständig abspricht (vgl. Peglau 2017), ihn abwertet und bekämpft, häufig offen beschimpft und als minderwertig, bisweilen als »unnötig« und »widersinnig« (vgl. Pongratz 2014) – man beachte die Rechthaberei, die aus solchen Bewertungen spricht! – charakterisiert. Im einen Fall bietet dafür die ethnische Fremdheit den Anlass, im anderen Fall der mehr oder weniger deutlich artikulierte Vorwurf eines von dunklen Mächten ausgelösten und genutzten – »falschen« – Bewusstseins.

Der vorliegende Essay greift an einigen wenigen Stellen auf bereits publizierte Arbeiten des Autors zurück. Diese Arbeiten wurden gründlich überarbeitet, ergänzt und aktualisiert sowie mit der Ursprungsquelle ausgewiesen. Gleichwohl wurde auch hier und da großzügig mit der Frage des Selbstplagiats umgegangen, damit der Text insgesamt nicht mit Verweisen überfrachtet wird. Mein Dank gilt meinen Kollegen an der TU Kaiserslautern sowie den Vertretern zahlreicher Beratungs- und Begleitkontexte für ihre kritischen Anregungen zu den aufgeworfenen Fragen. Ohne diese Rückbindung wären diese Fragen kaum mit ihren tief greifenden Implikationen für die Thematik der Veränderung und Gestaltung überprüfbar gewesen, was insofern schade gewesen wäre, als mein vorrangiges Anliegen darin besteht, theoretische Klärungen stets im Blick auf die Nutzbarkeit der gewonnen Einsichten voranzubringen – nicht motiviert durch das abgehobene Bemühen, eine Deutung immer detaillierter auszufalten, der ich bereits anhing, bevor ich begann, mich mit diesen Fragen und ihren Implikationen für die Praxis der Gestaltung, Veränderung und Begleitung zu beschäftigen.

Rolf Arnold, im Januar 2018

Einleitung

Von John Maynard Keynes ist die Äußerung überliefert:

»Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Meinung. Und Sie, was machen Sie?« (zit. nach Chamberland 2016, S. 191) –

… eine Frage, die uns mit unserer eigenen Praxis des Denkens und Beurteilens konfrontiert. Sind wir wirklich in der Lage, lieb gewonnene Einschätzungen aufzugeben, wenn nüchterne Analysen uns eines Besseren belehren? Welche Gefühle beschleichen uns, wenn wir erkennen müssen, dass wir uns geirrt haben? Korrigieren wir uns, oder insistieren wir, indem wir uns darum bemühen, einen Teil unserer bisherigen Überzeugungen beizubehalten? Oder argumentieren wir gar in Unkenntnis der Gegebenheiten – Belege erfindend, die es nicht gibt, bloß um recht zu bekommen? Vielen ist dies nicht genug: Sie erfinden nicht bloß Belege, sondern verbreiten sie auch. Dadurch gewinnen sie eine soziale Bedeutung, welche sie zwar nicht ihrer Wahrheit, wohl aber ihrer Verbreitung verdanken. Längst schon sind die willkürlich erfundenen Fakten eine soziale Tatsache eigener Art. Im Cyberspace gibt es keine Qualitätskontrolle mehr, die dafür sorgt, dass sich bloß verbreiten kann, wofür es wirkliche Belege gibt. Nicht mehr das geprüfte Faktum, sondern das penetrante Novum bestimmt die Themen der Öffentlichkeit. Gezielte Desinformation ist zu einem Mittel der Steuerung von Politik und Öffentlichkeit geworden – mit verheerenden Folgen für das Klima und die Dialogkultur in unserer Gesellschaft. So titelte das Time Magazine vom April 2017 mit der Frage »Is Truth Dead?« und bejahte diese Frage u. a. mit einer detaillierten Analyse der Lügen des amerikanischen Präsidenten Trump:

»Trump hat im 21. Jahrhundert etwas über die Erkenntnistheorie entdeckt. Die Wahrheit mag richtig sein, aber die Lüge funktioniert oft besser. […] In der rigorosen Demokratie der sozialen Medien haben sogar die Retweets von empörten Wahrheitsfanatikern den Wiederholungseffekt falscher Nachrichten. Kontroverse hebt die Botschaft hervor. […] ›Diese großen Lügen sind anders‹, erklärt Bill Adair, der PolitFact hervorbrachte, die journalistische Seite zur Faktenüberprüfung, die einen Pulitzer-Preis gewann. ›Sie sind wie eine Neutronenbombe. Sie ergreifen Besitz von der Diskussion und löschen viele andere Dinge aus, die wir diskutieren sollten‹« (Frizell et al. 2017, p. 25; Übers.: R. A.).

In der Jubiläumsausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL beschreibt Klaus Brinkbäumer (2017, S. 12) anlässlich des 70-jährigen Bestehens, worum es geht:

»Es geht heute um Freiheit, Aufklärung, Demokratie, es geht wieder oder immer um alles. […] Postfaktisch wird die Gegenwart genannt, da für viele Menschen Lügen so unterhaltsam und bald so wahr sind wie die Wahrheit. Wenn Algorithmen zu Chefredakteuren werden, werden Menschen, die rassistische Texte lesen wollen, mit rassistischen Texten beliefert. So wird die Welt endlich logisch und der Rassist endlich mächtig. […] Lügner müssen Lügner genannt werden. Rassisten sind zu entlarven als das, was sie sind. Auch Facebook und Twitter sind zu beschreiben: als manipulative Medienkonzerne, die Verantwortung tragen für das, was sie verbreiten. All das sollten wir nicht unterschätzen. Unsere Art zu leben, die Pressefreiheit, viele andere Freiheiten und die Demokratien des Westens stehen auf dem Spiel.«

Im Grunde genommen geht es in diesem peinliche[n] Zeitalter (Pörksen 2017) um die Wirksamkeit der Aufklärung. Aufklärung bezeichnet nicht bloß eine Epoche der Geistesgeschichte (etwa 1650 bis 1800), in der die Bemühungen um vernünftige Lösungen den Aberglauben mehr und mehr abzulösen begannen, sondern auch den Beginn einer nüchternen Tatsachenprüfung, durch welche Wissenschaft und Technik, aber auch Philosophie und Demokratie in der Form, wie wir sie heute kennen, überhaupt erst möglich wurden. Überkommene Formen der Geltungsbegründung von Einsichten, Einschätzungen oder Folgerungen wurden nachdrücklich von der Aufforderung abgelöst, sich des »eigenen Verstandes zu bedienen«, wie dies Immanuel Kant in seiner berühmten Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? ausformulierte (Kant 1784). Damit ist gemeint, nicht alles zu glauben, was man hört, sondern nach Belegen, Widersprüchen sowie Beweisen und Prüfungen zu fragen.

Doch ist diese Hinwendung zu den wahren Gegebenheiten tatsächlich der einzige Stoff, aus dem wir unsere Weltbilder und unsere Wirkungen speisen? Lebt nicht das Stellungnehmen auch von dem ganz persönlichen Bemühen in uns, gesehen, anerkannt und ernst genommen zu werden – selbst in den Bereichen, in denen wir nicht über Sachverstand verfügen? Erklärt sich vielleicht aus diesem Bemühen eines jeden Einzelnen das wiederholte Erstarken der Unvernunft im 20. und 21. Jahrhundert?

Der vorliegende Text folgt der These des verstorbenen Soziologen, Diplomaten und US-Senators Daniel Patrick Moynihan:

»Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten!« (zit. nach Roll 2016).

Moynihan war ein nüchterner Analyst. In zahlreichen seiner Studien hielt er bereits in den 1960er-Jahren der amerikanischen Gesellschaft ihren Spiegel vor, indem er die Mechanismen der Entstehung von Armut schonungslos aufdeckte (z. B. Moynihan 1969). Er führte uns unabweisbar vor Augen, dass es »oft unklar und umstritten ist, woraus sich Fakten generieren« (Banaji u. Greenwald 2015, S. 15). Doch wie kommen solche aufdeckenden und ernüchternden Analysen, wie sie Moynihan vorlegte, an? Wie müssen sie ankommen, bei denen, die ihre gefühlsbedingten Vorurteile und Meinungen zwar nicht zu belegen vermögen, aber trotzdem gesehen und ernst genommen werden wollen? Sind sie durch Nachweise und bessere Argumente zu überzeugen, oder erhöhen Nachweise und bessere Argumente bloß ihren Groll und verstärken ihre Bereitschaft, populistischen Parolen zu folgen, die zwar nicht wahr sind, aber emotional anschlussfähig, weil vorurteilsgemäß? Denn: Endlich dürfen auch sie sich mit ihren Vorurteilen, d. h. ihrer gefühlten Konstruktion von Wirklichkeit, treu bleiben, können sie sich doch vermeintlich auf Fakten beziehen – auf »alternative Fakten«, wie Kellyanne Conway, die Beraterin des amerikanischen Präsidenten Trump, ihre erlogenen Zahlen der seiner Inauguration tatsächlich beiwohnenden Zuschauermassen (vgl. Abb. 3) nannte:

»Die besondere Qualität dieser Lüge besteht darin, dass sie ohne jede Vorbildung nur mit der Kraft der eigenen Wahrnehmung von jedem durchschaut werden kann. Es ist gewissermaßen ihr Zweck, der Wahrnehmung zu widersprechen« (Weisband 2017).

In der Süddeutschen Zeitung schrieb Jagoda Marinic (2016): »Man darf nicht erblinden am Hochmut des Gelingens« – ein weiterer wichtiger Zwischenruf zur Fakten- und Evidenzorientierung unseres Weltbildes und Weltumgangs. Die Fakten nämlich stärken uns nicht bloß als Menschheit, sie schwächen uns auch als Einzelne – was wir erst auszuhalten lernen müssen, bevor wir uns für Aufklärung und Fortschritt zu begeistern vermögen. Es ist diese Einsicht in die eigene Unvollkommenheit als fühlende Beobachter, aus welcher das ständige Bemühen um noch genauere und bessere Einblicke in die Zusammenhänge seine Energie bezieht. Die Wahrheit ist somit nichts für Schwächlinge, sie wird aber bedroht, wenn das Gelingen, welches sie ermöglicht, immer mehr Menschen »abhängt« – wie man heute so gerne sagt – und es in Kauf nimmt, dass diese Abgehängten sich ihre eigene Welt erfinden und vehement oder gar extrem für sie einstehen.

Deshalb braucht die Faktenorientierung die Menschenorientierung, d. h. die Rückbindung an die Akzeptanz durch den Menschen. Der Liedermacher Konstantin Wecker fasste diese innige Wechselbezüglichkeit in einem Interview mit den Worten zusammen:

»Wenn die Ratio nicht gebunden ist an das Menschsein, führt sie in den Wahnsinn, in die Zerstörung der Erde. Leider ein aktuelles Thema« (Wecker 2017, S. 54).

Diese Balance zu entwickeln und zu sichern ist eine Bildungsaufgabe, aber auch eine Kultur- und Politikfrage. Nicht die technische Überlegenheit oder gar die Maßlosigkeit, alles zu tun, was möglich ist, sondern die Verbindung der Erkenntnis mit den Lebenszwecken der Menschen ist das Gebot der Stunde. Die Aufklärung setzt sich nicht von alleine durch; sie braucht die Akzeptanz und das Engagement an ihrer Seite. Fakten können nur dann zu unseren besten Freunden werden, wenn ihre Nutzung in Entwürfen ihren Ausdruck findet, deren Sinnhaftigkeit verstehbar sowie erlebbar ist und (mit)geteilt werden kann. Diese persönliche Dimension der Faktenorientierung als Element der Subjektivierung wurde bislang auch von den Wissenschaftstheorien häufig viel zu wenig beachtet. In den modernen Gesellschaften beschränkte man sich vielmehr auf das Bemühen, »die institutionelle Verortung der Wissensproduktion« (Eder 1998, S. 103) eindeutig zu regeln. Dieser Verortung liegen folgende Überlegungen zugrunde:

»Es kommt darauf an, wer welche Elemente von Wissen wie zusammenstellt. Die Gesellschaft produziert Wissen über die Natur in besonderen Kontexten, in denen Ereignisse als relevant selegiert werden und dann in einem Modell zusammengefügt werden. Nichtrelationierte Fakten sind dann irrelevante Fakten. Sie mögen existieren, aber sie werden nicht in die Kommunikation zugelassen; das gilt für wissenschaftliche wie für Alltagskommunikation. Wissensproduktion ist also ein durch soziale Regeln gesteuerter Prozess der Selektion relevanter Fakten. Wie die selegierten Fakten verknüpft werden, variiert. Es handelt sich immer um Regeln, sei es des analogischen Schließens, sei es der popperschen Falsifikation, sei es der interpretativen Erschließung. Welche dieser Regeln des Schließens gelten sollen, ist wiederum eine soziale Konvention, die variiert« (ebd., S. 103).

Erst, indem wir die Faktenorientierung auch als Ausdruck einer sozialen und mithin persönlichen Frage zu verstehen beginnen, können wir auch im Kampf gegen den Populismus bestehen. Wenn wir uns hingegen darauf beschränken, recht zu haben und uns selbst in dieser wohltuenden Trance der Berechtigung zu genügen, werden wir scheitern, selbst wenn wir recht haben. Denn Rechthaben muss man sich leisten können – emotional sowie gesellschaftlich und ökonomisch. Wem nichts bleibt außer seiner Enttäuschung und Wut, dem kann man nicht bloß mit einer erdrückenden Faktenlage und überlegenen Formen des Argumentierens kommen. Auch er möchte eine Berechtigung spüren – und sei es um den Preis falscher Einschätzungen und unberechtigter Schlussfolgerungen.

Bislang haben wir die emotionale Kraft des Falschen unterschätzt.

Auch die Fälschung entwickelt sich mehr und mehr zu einem Faktum ganz eigener Art – einem Faktum, welches die Faktenorientierung als Maßstab des humanen Zusammenlebens infrage zu stellen droht und an deren Stelle dem Ressentiment Raum gibt. Die Lüge missachtet den Menschen. Zu lügen heißt auch, den Einzelnen

»tendenziell nicht als vernunftfähiges, freies Subjekt ernst zu nehmen, ihn vielmehr als Objekt kommunikativer Fremdsteuerung zu behandeln, nicht zuletzt auch Betroffene in ihrer Ehre als Person bewusst zu verletzen« (Rößner u. Hain 2017, S. 13).

In diesem Zusammenhang weist der früh verstorbene Soziologe Helmut Dubiel (1946–2015) bereits in den 1980er-Jahren darauf hin, dass sich eine populistische Bewegung zumeist

»eben auf jene Ressentiments, Vorurteilsstrukturen und Angstaffekte (stützt), die durch den Ausschluss der unteren Schichten von Macht und Bildung erst erzeugt worden sind« (Dubiel 1985, S. 646) –

… eine wegweisende Spur zum Verständnis der Ausbreitung des schwachen Denkens, welche aber gerade im Hinblick auf die soziale Zusammensetzung der aktuellen populistischen Bewegungen differenzierter betrachtet werden muss. Diese Bewegungen beziehen ihren Zulauf nämlich keineswegs bloß aus den unteren Schichten, vielmehr handelt es sich auch um den »Protest der gut situierten Mittelschicht« – getragen von tief verwurzelten Ressentiments gegenüber den Eliten mit ihrer meinungsbildenden Dominanz, wie eine Studie der TU Dresden darlegt (Vorländer, Herold u. Schäller 2015).

Das schwache Denken entspringt somit nicht zwangsläufig der sozioökonomischen Schwäche, einem Empfinden des Übersehen- und Verdrängtwerdens, sondern einer wahrscheinlich auch angstgesteuerten kognitiv-emotionalen Disposition, der mit Aufklärung allein schwer beizukommen ist. Die aufgeklärten Argumentationen werden vielmehr häufig auch als arrogant und dominant – auf alle Fälle: infrage stellend – erlebt und entsprechend abgelehnt. Die naheliegende Lösung, die Lüge mit eindeutigen Beweisen zu widerlegen, droht deshalb bisweilen das Symptom selbst eher zu stärken als zu überwinden. Verschwörungstheorien, Panik und Apokalypseängste wurzeln nämlich in tieferen Strukturen der Persönlichkeit, welche dem Argument unzugänglich sind. Es scheint auch deutliche Zusammenhänge zwischen der Disposition zur Angstapokalypse und ihrer Inszenierung durch Amoklauf im Sinne eines »erweiterten Suizids« (vgl. Zeibig 2015) oder gar politischer Gräueltaten zu geben, wie u. a. Helm Stierlin (1995) in seinen Analysen der Kindheitserfahrungen von Hitler herausgearbeitet hat. Auch weniger dramatische – aber für zahlreiche der maßgeblichen Denker und Denkerinnen gleichwohl grundlegende – emotionale Einspurungen als »Kriegskinder« oder »Kriegsenkel« scheinen den Sachverhalt zu belegen, dass wir die Welt in ihren Fakten nicht nur so deuten, wie sie sich uns zeigt, sondern vielmehr so, wie wir dies auszuhalten vermögen. Im »Nebel« der diffusen Angst, »selbst verschlungen zu werden« (Süss 2015, S. 37) finden Versprechungen offene Ohren. Eine Bildungsbewegung ganz eigener Art hingegen würde sich den eigenen frühen emotionalen Entbehrungen sowie den Denkformen und Weltbildern, aber auch Formen der Vermeidung von Unsicherheit zuwenden können und die charakteristischen (Ent-)Täuschungen des »Nebelkindes« hinter sich lassen, »eines Menschen also, der nicht sehr weit blicken kann, weder zurück noch nach vorne« (ebd., S. 36).

Wirklichkeit teilt sich uns bloß außerhalb der eigenen biografischen Nebelschwaden mit. Diese Nebelschwaden trüben unseren Blick und drohen, uns noch mehr in unseren Gefühlen der Gewissheit einzuschließen – ohne uns mit den Fakten selbst wirklich in Berührung kommen zu lassen.

Erster Schritt zur Vermeidung schwachen Denkens: Akzeptanz

Als »wahr« können im gesellschaftlichen Diskurs nicht automatisch solche Befunde Geltung entfalten, die sich auf Fakten zu stützen vermögen, sondern solche, deren Aussagegehalt zudem ausgehalten und akzeptiert werden kann – von den Einzelnen, über Milieugrenzen hinweg und im öffentlichen Diskurs. Akzeptanz ist dabei ein soziales Phänomen, kein durch Exaktheit, Logik und Methode erzwingbares. Sie verbreitet sich bei sozialer Kohärenz, nicht in einem Gesellschaftsklima der sozialen Segmentation, der Ausgrenzung oder des Abgehängtseins.

Frage:

Sind die Argumentationen, Entwürfe und Ergebnisse verstehbar, erlebbar und mitteilbar sowie rückgebunden an die Lebenszwecke der Menschen?

1Popularisierung gegen Populismus

In seinem Buch Die Abstiegsmoderne. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne (Nachtwey 2016) lotet der Autor schonungslos die Auflösungserfahrungen, mit denen das Erleben der Modernisierung für viele Menschen verbunden ist, aus. An diesen Menschen wird Anerkennung versäumt, wie der französische Philosoph Paul Ricœur in seinem Buch Wege der Anerkennung (2006) verdeutlicht; er spricht von einem »Kampf um die Anerkennung« (ebd., S. 274). Wo sie vermisst wird, wächst die Gefahr des Populismus. Der kann, wie u. a. der britische Soziologe Colin Crouch (2008) in seinen Studien herausgearbeitet hat, als Reaktion auf die misslungene Integration wachsender Teile der Bevölkerung gedeutet werden, die infolge der Globalisierung befürchtet wird – für Deutschland (anders als für die USA und die meisten der europäischen Nachbarn) empirisch mit allerdings weit weniger dramatischen Begleiterscheinungen (vgl. Dauth et al. 2017). Gleichzeitig weiten sich neue Formen der Bürgerbeteiligung aus (z. B. »Stuttgart 21«, Fluglärmproteste) und stärken die lebendige Demokratie, doch können sie die gefühlte Akzeptanzschere – so die These – keinesfalls schließen, da nicht selten auch

»die soziale Basis dieser neuen Demokratie tendenziell oligarchische Züge besitzt, mit der Konsequenz eines Nachlassens egalitärer Politikinhalte« (Jörke 2011, S. 5).

Dies bedeutet, dass die elaborierten Diskursstile, in denen relevante Beteiligung stattfindet, gleichzeitig von denen als fremd und ausgrenzend erlebt werden müssen, die sich ihrer nicht zu bedienen wissen oder dies nicht wollen. Zu diesen Ausgrenzungselementen zählen:

•die Fähigkeit zur nüchternen Tatsachenprüfung

•die Fähigkeit, die eigene »emotionale Konstruktion der Wirklichkeit« (Arnold 2005) zu reflektieren

•die Fähigkeit zur begründenden Rede

•die Fähigkeit zum verständlichen Ausdruck

•die Fähigkeit, Komplexität und Unübersichtlichkeit auszuhalten

•die Fähigkeit zur sachbezogenen Argumentation

•die Fähigkeit, überzeugbar zu bleiben.

Alle diese Beteiligungsfähigkeiten setzen letztlich eine mitbürgerliche Bildung voraus, die über die Dichte des Eigenen hinausweist und sich gegenüber dem anderen zu öffnen weiß. Wer, in seinen Ängsten gefangen, lediglich für Standpunkte, Entscheidungen und Positionen zugänglich ist, die ihm eine warme Gewissheit der Berechtigung stiften, ist ebenso potenziell autistisch unterwegs wie jemand, der im gesellschaftlichen Miteinander rücksichtslos nur seinen eigenen Vorteil zu realisieren sucht. In seinen viel beachteten autobiografischen Klärungen, Rückkehr nach Reims (2016), reflektiert Didier Eribon, »einer der wohl wichtigsten Intellektuellen Frankreichs«, wie es auf dem Klappentext der deutschen Ausgabe heißt, auch seine »Herkunftsscham« (ebd., S. 19) – eine innere Bewegung, die ihn auch

»auf jene Aspekte der Subjektivierung hätte bringen können, ja bringen müssen, die von sozialen Zugehörigkeiten und der Inferiorisierung ›niedrigerer‹ Klassen bestimmt sind. […]

Um eine neue Weltsicht zu eröffnen und neue politische Perspektiven anzubieten, muss man als Erstes die internalisierten Wahrnehmungsund Bedeutungsmuster sowie die soziale Trägheit, die aus ihnen folgt, aufbrechen« (ebd., S. 21, 46).

Die Sicherung von Demokratie, Frieden und Freiheit allein aus einer Kultivierung des eigenen »Ich-Gesichtswinkels« (Mann 1948) heraus, wie der ehemalige Leiter der Breslauer Volkshochschule das bildungsbürgerliche Engagement bezeichnete, kann deshalb auch nicht gelingen. Es bewirkt im Gegenüber nicht automatisch Aufklärung – dies war bereits der »Neuen Richtung« der deutschen Erwachsenenbildung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bewusst. Diese neue Richtung sah deshalb die vornehmste Aufgabe der Volkshochschulen nicht in

»der Unterhaltung und der popularisierenden Belehrung in der Art der bisher üblichen Veranstaltungen des freien Bildungswesens. Ihr Endziel ist nicht die Vermittlung von Kenntnissen, von Bildungsrohstoff, sondern Ausbildung des Denk- und Urteilsvermögens« (Henningsen 1960, S. 155).

Diese Fokussierung auf das »Denk- und Urteilsvermögen« beinhaltet auch im Hinblick auf den Umgang mit Fakten wichtige Anregungen. Die erwähnte »institutionelle Verortung der Wissensproduktion« (Eder 1998, S. 103) allein genügt nämlich nicht, um die Akzeptanzschere zwischen Intellektualismus und Populismus in den modernen Gesellschaften zu schließen. Es bedarf vielmehr einer anderen und stärker anschlussfähigen Neubegründung des nüchternen Vernunftgebrauchs. Sie bezieht sich nicht bloß aus der Kraft des Faktischen, sondern ist auch um Verständlichkeit und »Popularisierung von Wissenschaft« (Conein et al. 2004) bemüht – Bestrebungen, in denen auch das tatsächliche Bemühen um soziale Inklusion (und mithin Akzeptanz) statt Exklusivität (und mithin Ausgeschlossen- oder Abgehängtsein) ihren überzeugendsten Ausdruck findet (vgl. Langner, Schulz von Thun u. Tausch 2015). Der Populismus findet nämlich auch und gerade in dem Unpopulären seine Nahrung – insbesondere, wenn die sprachliche Inszenierung unnötig komplex gerät:

»In manchen Fällen verbirgt der Wissenschaftler hinter seiner nebulösen Sprache bloß Unsicherheit. Oder der Autor will zeigen, dass er zum exklusiven Klub der Gelehrten gehört. Manche Forscher formulieren aus Angst undeutlich; sie blieben unscharf, um nicht angreifbar zu sein, sagt Ludwig Eichinger, Präsident1 des Instituts für Deutsche Sprache. Eine elegante Prosa gelte nichts. ›Sie schreiben ja schön.‹ Für viele Wissenschaftler gebe es kein schlimmeres Kompliment. ›Leider herrscht immer noch das Vorurteil, dass die Komplexität eines Textes mit der Tiefe der Gedanken korrespondiert‹, klagt Eichinger« (de Souza Soares 2012).

Dem Populismus kann deshalb durch Popularisierung – dieser verlorenen und bisweilen diskreditierten2 Kunst – entgegengewirkt werden.

Das Bemühen um Verständlichkeit sowie um populärwissenschaftliche Aufbereitung und Verbreitung spezialisierter Erkenntnis und reflexiver Denkformen war bereits ein ganz zentrales Anliegen der Arbeiter- und Volksbildungsansätze im 19. Jahrhundert. Die Popularisierung des wissenschaftlichen Wissens sowie des Wissen-Schaffens ist das eine zentrale Standbein des Volksbildungsgedankens, das Bemühen um die Förderung der Denk- und Urteilsfähigkeit der Teilnehmenden das andere. Die Volksbildung wusste sich in diesem doppelten Sinne dem Anspruch der Aufklärung verpflichtet und erkannte gerade in der wissenschaftlichen Faktenorientierung eine grundlegende Dimension für das Entstehen einer aufgeklärten demokratischen Öffentlichkeit. Die Popularisierung der Wissenschaften war »Teil eines emanzipatorischen Bildungsprogrammes« (Nöthlich et al. 2005, S. 244). Die Arbeit von Populisatoren erwies sich in diesem Zusammenhang geradezu als die grundlegende Voraussetzung für einen allmählichen Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas 1971; vgl. auch Habermas 2004). In dessen Verlauf konnten sich auch die Ausdrucks- und Diskursformen verbreiten, die es letztlich mit ermöglichten, Entscheidungen an sozial anerkannten und eingespielten sowie institutionalisierten Verfahrensund Vernunftregeln zu orientieren und dadurch Macht sowie Gewalt oder gar Willkür als Legitimationsformen dessen, was gilt, zurückzudrängen. Wo dieser Strukturwandel misslingt oder seine verbindenden Muster verliert, da sei die gesellschaftliche Integration in Gefahr – so die frühen Warnungen von Jürgen Habermas. In seinen Beiträgen zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates (ursprünglich aus dem Jahre 1998) findet sich der Hinweis, dass

»(sich) die Öffentlichkeit am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen (beschreiben lässt); dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten. Wie die Lebenswelt insgesamt, so reproduziert sich auch die Öffentlichkeit über kommunikatives Handeln, für das die Beherrschung einer natürlichen Sprache ausreicht; sie ist auf die Allgemeinverständlichkeit der kommunikativen Alltagspraxis eingestellt« (Habermas 2014, S. 436).

Aus diesen Argumentationen lässt sich ein weiterer Schritt zum angemessenen Umgang mit Fakten ableiten:

Zweiter Schritt zur Vermeidung schwachen Denkens: Beteiligung

Sich über Wahrheit zu verständigen setzt gesellschaftliche Gleichheit und Beteiligung voraus. Grundlegende Bedingungen für beides sind