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Christian Dries

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Beschreibung

"Anders' häufig essayistisch-unsystematisch anmutendes Denken erweist sich nicht nur als erstaunlich kohärent, philosophisch tiefgründig und radikal – es ist vor allem von bestechender Aktualität." Lange galt Günther Anders als akademischer Außenseiter, ein philosophe engagé, der gegen die drohende atomare und ökologische Selbstvernichtung der Menschheit anschrieb. Vor dem Hintergrund umfangreicher Nachlasseditionen, eines wachsenden wissenschaftlichen Interesses und neuer Menschheitsbedrohungen ist nun die Zeit für eine Neubewertung gekommen. Der Band nähert sich dem vielgestaltigen Werk des "Gelegenheitsphilosophen" auf unterschiedlichen Lektürewegen: über die innovative, der Literatur und Avantgarde-Kunst der 20er Jahre abgeschaute Methode und Anders' Überlegungen zur Sprachkritik, sein wegweisendes Verständnis des gegenwärtigen "Weltzustands Technik", der atomaren Drohung und unserer Unfähigkeit zur Angst, die Frage des kritischen Intellektuellen in der Gesellschaft und nicht zuletzt die frühen anthropologischen Schriften, die für das Verständnis des Hauptwerks "Die Antiquiertheit des Menschen" unerlässlich sind. Günther Anders (1902–1992) gehört zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. In den 50er Jahren avancierte er zum "wahrscheinlich schärfsten und luzidesten Kritiker der technischen Welt" (Jean Améry). Zu seinen wichtigsten Werken zählen "Die Antiquiertheit des Menschen" (2 Bde.) und "Die atomare Drohung".

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Christian Dries

ad Günther Anders

Exerzitien für die Endzeit

Europäische Verlagsanstalt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Foto: Günther Anders, s/w Fotografie auf der Bank sitzend, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Nachlass Günther Anders, Sign.: 237/L25

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-643-3

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-155-1

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Für Inhalte Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Inhalt

Einleitung: Zur Aktualität von Günther Anders

Wie man philosophische „Schreckbilder“ malt. Zu Günther Anders’ Theoriebegriff und Methode

Übertreibung und Montage

Sprachkritik und Vokabelaskese

Die Welt als Vernichtungslager

Fazit: Bewahren statt verändern

Technischer Totalitarismus. Macht, Herrschaft und Gewalt bei Günther Anders

Macht, Herrschaft und (strukturelle) Gewalt: Weber, Popitz, Galtung

Technik als Subjekt: Von der Weltfremdheit des Menschen zum prometheischen Gefälle

„Weltzustand Technik“

„Welt ohne Mensch“

Gewalt und Gegen-Gewalt im „Atom-Staat“

Zur Kritik der Gewalt: Anders und Benjamin

Günther Anders und die 68er-Bewegung. Synoptisches Mosaik

Ferne Nähe: Günther Anders und ‚1968‘

„Hot potatoes“: Anders, Adorno und die Rolle des öffentlichen Intellektuellen

‚Methode Anders‘: Übertreibung und Montage

Von Menschen, Flundern und letzten Dingen. Günther Anders’ negative Menschenkunde der Moderne

Abschied vom ‚Menschen‘ – Antiquiertheit der Anthropologie

Von der Weltfremdheit des Menschen

Menschen ohne Welt

Welt ohne Menschen

Negation der Negation: Im Zweifel für den Menschen

Anmerkungen

Literatur von Günther Anders

Sonstige Literatur

Drucknachweise

Einleitung:Zur Aktualität von Günther Anders

Einer der ersten von Günther Anders (noch unter seinem Geburtsnamen Stern) veröffentlichten Texte ist ein kurzer, programmatischer Aufsatz mit dem schlichten Titel „Aktualität“,1 erschienen im zweiten Heft der nach eigener Aussage von Anders selbst 1924 in Berlin mitbegründeten, surrealistisch inspirierten Zeitschrift Das Dreieck.2 Dort umreißt der frisch von Edmund Husserl promovierte Autor – im Duktus zwischen Heidegger und avantgardistischem Manifest schwankend –, was nach dem Krieg unter dem Namen „Okkasionalismus“ oder „Gelegenheitsphilosophie“ (AM 1, S. 20 f.) zu seinem Markenzeichen wurde:3 „Goethe folgend, hatte ich mit dem Neologismus nichts Geringschätziges, nichts Unseriöses gemeint“, erklärt der 82-jährige im Rückblick, „vielmehr ein Philosophieren, das, und zwar aus philosophischen Gründen, von singularen empirischen Tatsachen ausging, sich gewissermaßen im Senkrechtstart in den Himmel erhob.“ (K, S. 342) Denn nicht das Allgemeine gilt Anders als das eigentlich Philosophiewürdige. Es seien vielmehr gerade die konkreten und alltäglichen Dinge (die „haecceitates“), die uns durch ihre Kontingenz, die „Beliebigkeit ihrer Faktizität, durch die absolute Unvorhergesehenheit und Unableitbarkeit ihres Da- und Soseins“ in die Philosophie regelrecht „hineinzerren oder hineinjagen“ (AM 1, S. 24). Die traditionelle Unterscheidung „zwischen philosophisch salonfähigen und ‚nur empirischen‘ partikularen Tatsachen“ sei demgegenüber beliebig, „mithin unphilosophisch“ (K, S. 342). Losgehen müsse der Philosophierende immer „auf etwas Spezifisches, auf etwas vom Grund Verschiedenes, eben auf etwas, dem er auf den Grund geht“, heißt es in der Antiquiertheit des Menschen (AM 1, S. 23). Heraus kommt bei diesem, unüberhörbar von militärischer Rhetorik begleiteten Verfahren „eine hybride Kreuzung von Metaphysik und Journalismus: ein Philosophieren nämlich, das die heutige Situation, bzw. charakteristische Stücke unserer heutigen Welt zum Gegenstande hat“ (AM 1, S. 20). Wie bei seinem akademischen Lehrer gilt auch bei Anders: „Die Sachen selbst sind ausschlaggebend.“ (AM 1, S. 27) Doch seien diese heute oft nicht mehr klassische phainomena. Was Anders in seinem Werk insbesondere seit den 50er Jahren an ‚charakteristischen Stücken‘ in Augenschein nimmt, sind zum einen (damals) jeweils absolut neuartige und philosophisch unergründete Gerätschaften und Produkte wie Fernsehapparate, Sitcoms oder Atombomben. In den Blick rückt zum anderen aber auch „der opake und beunruhigende Charakter dieser Stücke selbst“ (AM 1, S. 20), die sich nach Anders nun gerade dadurch auszeichnen, dass ihr Aussehen nicht mehr verrät, was sie eigentlich anrichten können – ein Hauptmerkmal heutiger ‚Sachen‘ (man denke gegenwärtig etwa an Smartphones oder Suchmaschinen).

Schon ganz am Beginn seiner Karriere als philosophischer Autor findet Anders für diese grundlegende Ortsbestimmung seines Denkens die Formel von der „Zwischenposition“ zwischen Philosophie und Journalismus. Das „gegenseitige Mißverstehen und Verachten“ beider Seiten müsse überwunden werden, ohne in die „Popularphilosophie“ abzugleiten, schreibt er im Dreieck.4 Die „Philosophie der Aktualität“, die ihm vorschwebt, soll „gleichzeitig theoretisch, das heißt sehend, und in aktu [sic], d.h. im Schwunge, gleichzeitig philosophisch und aktuell sein.“5 Ihre eigentliche Schwierigkeit, zugleich ihr Reiz, liegt darin, dass das Heute, das sie ins Visier nimmt, „die Begriffsbildung der Philosophie nicht an[erkennt]“, da diese dem Aktuellen hinterherhinke, während die Philosophie für gewöhnlich das Heute nicht als ‚Problem‘ anerkenne. Mehr noch: Würde sie es tun, wäre das ‚Problem‘ „schon wieder entaktualisiert und das Heute wendete sich ab, weil der Philosoph zwar Bescheid verspricht, aber erst für morgen.“6 Damit einher geht für Anders die Notwendigkeit, „vorzudringen zu einer Terminologie, die für die Aktualitäten originär ist“ – eine Frage, die ihn ein Leben lang beschäftigte. Wenn es nämlich „stets das Schicksal neu gesehener Phänomene [ist], daß sie mit nur altem Rüstzeug zuerst bearbeitet werden können“,7 dann gilt es nach Anders, das alte „Rüstzeug“ schrittweise zu modifizieren, ja gleichsam unterwegs neu zu erfinden, und zwar in etwa so, wie die künstlerischen Avantgarden seiner Zeit, von denen Anders sich methodisch inspirieren ließ, eine neue Bildsprache oder Erzähltechnik.8

Es ist eben diese Haltung, mit der Anders später an Gegenstände wie die Atombombe herantritt. So ist gleich eingangs des Kapitels „Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypseblindheit“ im ersten Band der Antiquiertheit von der Atomwaffe als „terra incognita“ die Rede, einem Gelände, auf dem man sich zunächst „herumtreiben“, auf dem man Umwege machen müsse, um durch diese Art philosophische „Landstreicherei“ schließlich einen ersten, vorläufigen „Rundblick“ zu gewinnen (AM 1, S. 261). Im Folgenden macht Anders dann aus der Not, das ‚Wesen‘ der Bombe mangels adäquater Begriffe nicht ‚positiv‘ bestimmen zu können, die philosophische Tugend, sie – analog zur negativen Theologie – dadurch zu fassen, dass er sagt, was sie (im Vergleich zu anderen Mitteln) nicht ist. Auf diese Weise gelingt ihm in seinem schlanken Essay, was Karl Jaspers zwei Jahre später in Die Atombombe und die Zukunft des Menschen9 auf 500 Seiten missglückt: Das Neue zu denken, ohne in alte Kategorien zu verfallen. Letzteres würde die bloß behauptete Neuheit performativ konterkarieren – ein Vorwurf, den Maurice Blanchot gegen Jaspers’ „beinahe maßloses Buch“ erhebt: Obwohl er angesichts der Bombe von der Notwendigkeit einer existentiellen Wandlung spreche, habe sich bei Jaspers „nichts verändert – nichts in der Sprache, nicht im Denken oder in den politischen Formulierungen, die im Zusammenhang mit zeitlebens feststehenden Ansichten […] beibehalten und sogar zugespitzt werden.“10 Wie sollte man ihm seine Erschütterung abnehmen, fragt Blanchot rhetorisch, wenn Jaspers „ohne Infragestellung oder Veränderung an derselben spekulativen Konzeption festhält, zu der er sich veranlasst sah, lange bevor er sich des einzigartigen Ereignisses, der unmittelbar bevorstehenden Möglichkeit einer Weltkatastrophe bewusst wurde, jener schrecklichen Neuerung, deren Bewusstsein uns grundlegend verändern und von der ausgehend eine andere Geschichte beginnen müsste“?11 Vorausgesetzt also, die Antwort auf die Bombe könne nur „ein radikal neues Denken“ finden – wieso findet Jaspers dann keine neue Sprache? Antwort: Weil er, so Blanchot, die Bombe mit der Gefahr des (kommunistischen) Totalitarismus gleichsetze und damit die eigene These vom „entscheidenden Wendepunkt“ ruiniere.12

Um dieser Gefahr zu begegnen, hält Anders, wie schon im Dreieck annonciert, stets an der „‚Vorläufigkeit‘ der begrifflichen Benennung jedes jeweiligen Heute“ fest.13 Es ist „dieses Sprachproblem“, zu dem außerdem der Anspruch zählt, im eigenen Denken und Schreiben auch ‚gewöhnliche Leute‘ zu adressieren, das für Anders „sehr im Vordergrund“ steht, wie er in einem späten Interview betont.14 Dem Bekenntnis liegt freilich weder ein Ausweichmanöver in die bloß oberflächliche, anekdotische Befassung mit dem Gegenstand zugrunde noch eine Absage an das Niveau akademischer Philosophie. So flicht Anders in späteren Schriften immer wieder akademische Exkurse, „Abschweifungen“ und Anmerkungen in die gelegenheitsphilosophische Analyse ein (AM 1, S. 20–27). Und schon in jungen Jahren will er die Vorläufigkeit seines Zugriffs auf die ‚heutigen Sachen‘ nicht als schlechte Zwischenlösung verstanden wissen, sondern teleologisch als eine Art „Vorlauf“ – mit zweifachem Anspruch auf „Richtigkeit“: Erstens, „jemanden (das Publicum) auf das Neue heutige richten; das Plakat ist in diesem Sinne richtiger als das Gemälde.“ (Weil es, mit dem Anders der Antiquiertheit gesprochen, methodisch übertreibt.) Zweitens soll die Darstellung „Richtung geben: der Zeigefinger zeigt nicht nur, wo etwas ist, sondern wo etwas sein soll.“15 Richtig meint hier also nicht ‚objektiv richtig‘; dieser Anspruch wird als verfehlt zurückgewiesen. Gesucht wird die ‚Sache‘, in der sich das Heute in verdichteter Weise ausdrückt (auch wenn man ihr das nicht auf den ersten Blick ansieht): „Ist etwas als Heutiges identisch mit dieser Heutigkeit – die begrifflich nicht fixiert werden kann –, so daß es typisch für sie ist, so sieht man durch es hindurch das Heute. Es kommt nun darauf an, aus dem, was der Strom des Heute mit sich trägt, derart Typisches herauszusichten, daß es schon nicht mehr ‚typisch‘ im Sinne von ‚durchschnittlich‘ ist, daß es schon a-typisch ist.“16 Richtig ist nach Anders ferner, dieses Typisch-atypische, ist es einmal ‚herausgesichtet‘, in aller Vorläufigkeit klar und scharf zu konturieren, also ein beherztes, ja provozierendes Urteil zu fällen darüber, wie es als Heutiges im Heute einzuordnen ist, sich zu ihm verhält, das Heute ausdrückt und zugleich prägt.17

Hier kommt bereits ein weiterer, für Anders’ Philosophieren grundlegender Gedanke ins Spiel: Objektivität sei nämlich schon deshalb nicht zu erreichen, weil das Heute kein Gegenstand im herkömmlichen Sinne – kein „Gegenüberstand“ – sei,18 sondern ein „Umstand“, also etwas, in dem wir uns je selbst befinden und das wir, wollten wir es ‚objektivieren‘, umgehend „entheutigen“ würden. Daher sei es „wichtiger, den eigentlichen Bezug, den das Heute als sich erkennendes zu sich hat, motivisch zu verstehen, als sich kritiklos in eine falsche Objektivität hineinzusteigern.“19 Nicht zu große Nähe ist also das Problem, nicht der vermeintlich beliebigalltägliche, bloß subjektive Standpunkt. Umgekehrt sei das Heute, so der junge Anders gut heideggerianisch, „die apriorische Bedingung seiner eigenen Erkenntnis. Das […] Faktische, das Darinstehen im Faktischen, ist – und dies ist rein theoretisch gemeint – Bedingung des Theoretischen. Nicht das interesselose Wohlgefallen, sondern das ‚Inter-esse‘, das Darin-Sein, gibt Objektivität.“20 Wer die Signatur der Zeit – die Zeit-Schrift – lesen wolle, dürfe also nicht „wie der Passant am Straßenrand“21 stehen (Heideggers „Man“ lässt grüßen). Damit rückt schließlich das Verhältnis des Erkennenden zu seinen Erkenntnisgegenständen in den Blick und das bedeutet, die Art und Weise, wie dieser selbst durch den Erkenntnisvorgang „modifiziert“ wird: Die „Selbstinterpretation des Heute“ sei nicht bloß Spiegel, „sondern auch Faktor, ‚Macher‘, denn die theoretische Interpretation macht eben praktisch den Reflektierenden zu einem anderen.“22 Wie das Auge, dass sich beim Sehen nicht selbst beobachten kann, ist die Erkenntnis dessen, was das Heute ausmacht, für Anders ein Daseinsvollzug, aus dem man nicht herausspringen kann, aber eben auch nicht muss – im Gegenteil: „Das Auge lernt sich kennen im aktuellen Sehen, im Sehen anderer Dinge, nicht im sich Ansehen.“23 (Hier klingt bereits das aktivistische Motiv an, das bei Anders nach 1945 voll durchschlägt. Man will – in diesem Fall mit der neu gegründeten Zeitschrift – eben nicht nur den Blick „auf das Neue heutige richten“, sondern auch etwas ausrichten.) Die daraus folgende Erkenntnis „ist nicht schlecht, weil sie nicht endgültig ist; sie will nicht endgültig sein, sondern vorläufig; das Subjekt will im ‚Vorlauf‘ sich selbst hin und wieder sehen, um zu wissen, wo es steht.“24 Abermals weist der frühe Aufsatz auf das Spätwerk voraus: Wenn Anders in der Antiquiertheit davon spricht, dass uns die Technik gleichsam entlaufen sei und wir sie daher „wie […] eine ausgeworfene Leine“ wieder einzuholen hätten (AM 1, S. 304), dann setzt der junge Anders darauf, dass dies prinzipiell auch möglich ist – sofern man das passende „Rüstzeug“ und die richtige theoretische Einstellung mitbringt: „wie der Kutscher: die Pferde der Zeit sehend und doch im gleichen Tempo fahrend.“25 Was dieser Kutscher sieht, ist in Anders’ Aufsatz kein Thema. Von seiner reichen Bildsprache, den Elementen direkter Rede und impliziten Bezugnahmen auf beziehungsweise Spitzen gegen die akademische Schulphilosophie, gegen Heidegger, Simmel, Hegel, Lebens- und Kulturphilosophie abgesehen – Stilelemente, die auch spätere Schriften kennzeichnen –, bleibt der Text im Kern rein programmatisch, auf der Ebene der Methode. Er will „nur Anweisungen“26 für die Kutschfahrt ins Heute geben; spezifische Inhalte transportiert er nicht.

Die Aktualität, die Anders 1924 fordert und beschwört, hat er selbst später nachdrücklich eingelöst. Doch was schon früh für den Anspruch ans eigene Philosophieren gilt, galt lange Zeit nicht mehr für den philosophischen Autor. Seine Aktualität schien längst verblasst. Als akademischer Außenseiter fand er – im Gegensatz zu seinem Studienfreund Hans Jonas oder seiner ersten Frau Hannah Arendt – keinen Eingang in den universitären Betrieb,27 während seine durchaus populäre These von der Antiquiertheit des Menschen gegenüber der Technik „mitunter zum Schlagwort oder zur nichtssagenden Handformel“ herunterkam.28 Das Etikett des ‚Atom-Philosophen‘ und das Zerrbild des Untergangspropheten wurde er am Ende nicht mehr los, ja, man unterstellte dem bekennenden Atheisten einen geradezu religiösen Eifer.29 Das hat sich inzwischen geändert, wie zahlreiche Übersetzungen seiner Werke in viele Sprachen, die stetig wachsende Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Tagungen belegen; seit 2012 gibt es zudem eine Internationale Günther Anders-Gesellschaft, die seit einigen Jahren sogar einen Anders-Preis verleiht.30 Diskutiert wird Anders heute wieder, weil die „Grundformel“31 seines Denkens, die These vom „prometheischen Gefälle“, das heißt von der Kluft zwischen unserem Herstellungs- und Vorstellungsvermögen, zwischen Tun und Fühlen, Wissen und Gewissen, Maschine und menschlichem Leib, aufschließenden Charakter für zentrale Gegenwartsfragen hat. Ob in der Anthropozändebatte oder im Digitalisierungsdiskurs, in der Technikphilosophie, der Medientheorie und den Cultural Studies, der Literaturwissenschaft, der Pädagogik oder der angewandten Ethik, im posthumanistischen und (post-) apokalyptischen Denken, in der Theorie der Migration und des Antisemitismus – Günther Anders ist wieder aktuell.32 Und das nicht obwohl, sondern wahrscheinlich gerade weil er erstens „bei offener Tür philosophiert“ – nämlich „um, wenn nötig, unverzüglich ins Freie rennen und irgendwo draußen mit Hand anlegen zu können“ (PS, S. 5), aber auch, um seine Leserinnen und Leser in die eigene Denkwerkstatt blicken und an seinen methodologischen Reflexionen teilhaben zu lassen, das heißt um sie selbst zur Kutschfahrt ins Heute zu befähigen; weil er sich zweitens an der „Frontlinie der Aktualitäten“ (AM 1, S. 27) bewegt, sich also mit den ‚Sachen‘ befasst, die uns alle in eminenter Weise angehen, und weil er drittens „schwer klassifizierbar“33 bleibt, das heißt, sich in seinen Texten nicht nur unterschiedlichster literarischer Genres bedient, sondern auch unbekümmert Fachgrenzen überschreitet, vornehmlich zwischen Philosophie, Soziologie und (Sozial-)Psychologie, positiv formuliert: weil er tatsächlich interdisziplinär zu denken versucht. „Der wirklich Philosophierende treibt sein Handwerk auch dann weiter, wenn er in actu seiner Arbeit nicht weiß, ob er nicht die erlaubte Grenze des Speziellen überschritten hat“, heißt es in der Antiquiertheit (AM 1, S. 26).

Vor diesem Hintergrund liegt Günther Anders’ eigentliche Aktualität, denke ich, weniger in den konkreten Inhalten – das auch, denn viele Anders-Texte lesen sich, als wären sie für unser Heute geschrieben –, sondern vielmehr in seiner spezifischen Methode. Sie nährt sich aus einer zentralen Einsicht, die Anders der „Grundformel“34 seines Denkens abgewinnt: Weil das prometheische Gefälle zwischen Mensch und Technik uneinholbar groß geworden sei, gelinge es uns nicht mehr, die Gefahr, in die wir uns damit selbst gebracht haben, überhaupt wahrzunehmen. Unsere menschlichen Grundvermögen – Verstand, Urteilskraft, Gefühl usw. – seien dem gegenwärtigen „Weltzustand Technik“ (AM 2, S. 9) nicht mehr gewachsen. Es ist dieses Problem – unsere buchstäbliche Fassungslosigkeit, über die wir bis heute viel zu wenig irritiert sind –, auf das Anders’ Philosophieren nach der „Kehre“ vom 6. August 1945 (MW, S. XI) nicht nur inhaltlich abzielt, sondern mit der permanenten Reflexion seines eigenen philosophischen „Rüstzeugs“ auch methodologisch. Fündig wird man diesbezüglich neben einigen verstreuten Stellen in den philosophischen Hauptwerken (siehe beispielsweise die „Methodologischen Nachgedanken“ im zweiten Band der Antiquiertheit), den Fabeln (BT) sowie in unveröffentlichten Nachlasstexten35 vor allem in Anders’ Arbeiten zu Kunst und Film, zu Bertolt Brecht, Alfred Döblin, George Grosz, John Heartfield oder den Surrealisten. Alle diese Texte stehen für sich, sind aber zugleich ein umfangreiches methodisches Importgeschäft und als substanzieller Werkbestandteil Ausdruck jenes grundlegenden Problems, das Anders schon 1924 formulierte: Wie lässt sich das Heute in seinem Sosein begreifen, wenn die Philosophie es stets mit überkommenem Vokabular, mit (vermeintlich) überzeitlichen Kategorien und universalistischem Anspruch traktiert und es auf diese Weise – die Eule der Minerva beginnt ihren Flug bekanntlich erst mit hereinbrechender Dämmerung – gerade ‚entheutigt‘? Dabei geht es Anders jedoch nicht bloß um treffende Begriffe. Die Darstellung des heute Charakteristischen darf nicht nur in philosophisch elaborierte Analysen ‚vorlaufen‘, sie soll zugleich und zuvorderst unser prometheisches Unvermögen, die Technik angemessen zu begreifen, als gegenwärtiges Grundübel spürbar machen. An Karola Bloch schreibt Anders am 30. Juli 1967 über sein Breslau-Tagebuch (BH): „Wenn dieses Buch überhaupt für jemanden geschrieben worden ist, so gewiss nicht für diejenigen, die effektiv gelitten haben und weiter zu leiden verstehen, sondern für diejenigen, die leidensunbegabt oder -unwillig sind. Die freilich sollen verletzt, oder wie Sie schreiben: ‚blutig geritzt‘ werden.“ (BW, S. 159) Eine Einschätzung, die sich mühelos auch auf Anders’ Hauptwerk und die meisten anderen Schriften übertragen lässt. Mit provozierenden Mitteln, die er weniger der Phänomenologie oder Heideggers Daseinsanalyse, sondern vor allem der bildenden Kunst, der Literatur und dem Theater der 1920er und 30er Jahre entlehnt, will Anders seine Leserinnen und Leser dazu bringen, ihre auf groteske Weise verkehrte Welt – „die Subjekte von Freiheit und Unfreiheit sind ausgetauscht. Frei sind die Dinge: unfrei ist der Mensch“ (AM 1, S. 48) – als solche zu erkennen, damit sie sich schließlich – begrifflich und emotional – wieder auf deren Höhe begeben können. Die These des ontologischen Platzwechsels von Mensch und Technik fungiert dabei als hermeneutischer Generalschlüssel. Das methodische Inversionsprinzip offenbart, dass nicht nur wir die Technik nutzen; nicht selten benutzt sie vor allem uns; dass wir nicht Kunden sind, sondern unbezahlte Angestellte (etwa der großen Tech-Konzerne, die wir kostenlos mit unseren Daten füttern), dass die Technik uns nicht die Welt ins Haus bringt, sondern entzieht (etwa in Form des animatronischen Illusionstheaters oder eines virtuellen ‚Metaversums‘).36

Der beschwerliche Weg zu diesen und ähnlichen Einsichten ins jeweils Heutige, Aktuelle, lässt sich Anders zufolge nur mit Hilfe einer jeweils adäquaten Sprache, jeweils treffender Begriffe bahnen und darüber hinaus nicht bloß im nüchtern-temperierten Denken, sondern auch mit den Mitteln der methodischen Übertreibung, der Dichtung und nicht zuletzt der „moralischen Phantasie“ (AM 1, S. 301–306), das heißt einer Art Präventivdenken und -fühlen möglicher katastrophischer Zukünfte. All dies sind Anders’ Exerzitien für die Endzeit, für das (Über-)Leben in einem von atomaren Bedrohungen und hausgemachten Umweltkatastrophen geprägten „Weltzustand Technik“.37 Ihr Ziel ist – anders als das der jesuitischen Selbsttechnologien, auf die Anders anspielt – nicht die Erhebung der individuellen Seele, also nicht bloß „die Rettung des Authentischen, Individuellen, Konkreten und Diversen“, die Anders in allen seinen Arbeiten und als politischer Aktivist „in entschiedener Opposition gegen jede Art von Konformismus, Kommerzialisierung und Phantomisierung“ (das heißt der Auflösung der Welt im Fernsehbild) zweifellos verfolgte.38 Im Vordergrund steht immer das menschliche Verhältnis zur Welt, in die das Individuum eingebettet oder die ihm fremd geworden ist. An diesem Punkt treffen sich bei Anders Anthropologie, Technikphilosophie und Gesellschaftskritik, Husserl, Heidegger, Simmel, Plessner und Marx. Wie Hannah Arendt empfand auch Anders eine beinahe romantische Liebe zur Welt (Amor mundi), die sich in seinem Fall jedoch vor allem als Sorge um deren Fortbestand ausdrückte: „Ich habe Angst um die Welt“.39 Auch damit dürfte er heute wieder ziemlich aktuell sein.

Günther Anders war, wie Kerstin Putz und Reinhard Ellensohn in ihrem Nachwort zur jüngsten Nachlassedition bedeutender Briefwechsel treffend formulieren, ein „leidenschaftlicher philosoph engagé, der zwei philosophische Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts in sich vereinte: die phänomenologisch-ontologische bzw. existenzphilosophisch-anthropologische Linie auf der einen, die materialistisch-marxistische Dialektik und Kulturkritik auf der anderen Seite.“40 Die hier versammelten Aufsätze befassen sich mit beiden Facetten dieses eminent engagierten Philosophierens und sind so arrangiert, dass sie zugleich die von Anders selbst im Nachhinein konstatierte „Systematik après coup“ (AM 2, S. 11), den roten Faden seines breit gefächerten Œuvres, sichtbar zu machen versuchen. Die binnen einer Dekade erarbeiteten Lektürewege, von denen die folgenden Texte Auskunft geben, führen dabei – auch das eine Art Systematik après coup – immer wieder zum selben Punkt zurück: Günther Anders’ Methode. Ohne sie im Hinterkopf zu haben, muss vieles, was Anders geschrieben und in Interviews geäußert hat, überzogen, anmaßend, bisweilen abstoßend oder mindestens antiquiert erscheinen; ohne ihre Elemente und Ursprünge zu kennen, lässt sich sein Denken nicht richtig einordnen, vor allem aber: nicht aktualisieren. Wer Anders’ Kerngedanken und seine griffigen Thesen zur modernen Technik, zum Fernsehen oder zur Atombombe unumwunden auf unser gegenwärtiges Heute ‚anwenden‘ will, verfehlt eben diesen, für Anders zentralen Punkt: dass es darauf ankommt, jenem philosophischen Kutscher zu gleichen, den Anders in seinem frühen Aufsatz über Aktualität zum Vorbild wählt: „Der sitzt hinter den Pferden, aber er steht ihnen vor. Im Wagen sitzen, dennoch die Pferde sehen, und nicht nur sehen, sondern von ihnen gezogen werden und nicht nur gezogen werden; bei jeder Biegung mit in Gefahr sein, da man die Gefahr mitverantwortete. Das soll versucht sein.“41

Alle für den vorliegenden Band ausgewählten Texte wurden gründlich renoviert, das heißt teils stark umgearbeitet und erweitert, teils (um – leider nicht ganz vermeidbare – Redundanzen zu reduzieren) gekürzt, auf den neuesten Stand gebracht und wo nötig korrigiert. Der Beitrag zu Macht, Herrschaft und Gewalt basiert auf zwei inhaltlich verwandten Aufsätzen, die hier zu einem Text zusammengeführt sind. Die Drucknachweise finden sich am Ende des Bandes. Hervorhebungen in Zitaten entsprechen, wenn nicht anders gekennzeichnet, denjenigen des Originals.

Freiburg, im Dezember 2022

Wie man philosophische „Schreckbilder“ malt. Zu Günther Anders’ Theoriebegriff und Methode

Seit den Anfängen philosophischen Denkens ist die Frage nach der Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit von Theorie nicht minder virulent als die theoretische Reflexion von Wirklichkeit und Praxis.1 Zur Gretchenfrage zugespitzt wurde sie im Zeitalter der Industrialisierung und des Pauperismus, als die geistigen Erben der Aufklärung die Realität entfremdeter Verhältnisse mit dem emanzipatorischen Programm ihrer idealistischen Väter konfrontierten. „Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik?“, fragt Bruno Bauer im gleichnamigen Aufsatz von 18442 und liefert – in einem anderen Text – selbst die polemische Antwort: „Um doch etwas Großes zu haben, hat man neuerlich die Masse auf das Schild gehoben.“3 Bauer selbst hielt an Hegels Primat des Bewusstseins und der Wissenschaft, am dialektischen „Prinzip der Kritik und des Fortschritts“ fest.4 Sein einstiger Protegé und baldiger Kontrahent Karl Marx hingegen projizierte dieses Prinzip in die Masse und überbot Bauer „und Consorten“ wenig später in seinen Thesen „ad Feuerbach“ mit dem wohl meistzitierten Aphorismus der Philosophiegeschichte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“5 Verstehen, deuten, kritisieren – schön und gut, heißt es bei Marx; was zählt, ist Praxis, nicht die reine Kritik, die von den junghegelianischen Diadochen Bauer’scher Provenienz als vermeintliche Fundamentalprovokation gegen Staat und Kirche geführt wurde und doch nie mehr sein konnte als die von Marx und Engels verhöhnte „kritische Kritik“: radikal, aber zahnlos, weil ohne jeden Effekt auf die verkehrten Verhältnisse, deren ‚Schleier‘ sie allein mit Worten (Marx und Engels: „Schwindeleien“) wegzureißen gedachte.6 Die Praxis dieser Theorie war in den Augen des Autors der Feuerbach-Thesen ein Bauen von Gedankengebäuden ohne Mörtel und ohne Tür zur wirklichen Welt. „In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen“,7 schrieb Marx 1845 in sein Notizbuch. Wie jene Praxis genau aussehen könnte, blieb dabei (allerdings folgerichtig) unbestimmt.8 Schon der junge Marx griff daher in seinen Pariser Manuskripten ersatzweise auf poiesis zurück.9 Ein theoretischer Registerwechsel mit fataler Fernwirkung auf alle marxistisch-leninistischen Ideologen, deren Gedankengebäude, an polytechnischen Oberschulen errichtet, sich praktisch haltbarer zeigten, wenn man sie als stacheldrahtbewehrte Sozialtechnologie konzipierte. Den Bauschutt entsorgten jene, die den Gesellschaftsplanern der neuen Welt im Weg standen. Anschließend an die 11. Feuerbachthese formuliert: Wer im Geist hobelt, lässt die Späne im Gulag zusammenkehren. Glücklicherweise sind jene totalitären Großbaustellen (vorerst) Geschichte; den Kalten Krieg des vergangenen Jahrhunderts hat nur ein einziges Wirtschaftssystem überdauert. Dessen kommunistische Transformation, das heißt die Überführung der permanenten Revolution des Kapitalismus in eine Assoziation, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ ist,10 war das Ziel der von Marx propagierten praktischen Kritik der Verhältnisse. Materielle Voraussetzung und Motor der erhofften Umwälzung sollte die volle Entfaltung der kapitalistischen Produktivkräfte sein, vulgo: technologisches Know how.

Der Anthropologe, Sozialphilosoph und Technikkritiker Günther Anders, von Marx, Husserl und Heidegger gleichermaßen inspiriert, hat an dieser Stelle heftig widersprochen.11 Zu Zeiten, in denen die Differenz von Theorie und Praxis qua angewandter Wissenschaft beziehungsweise Technologie, das heißt durch die Produktivkräfte selbst aufgehoben ist, wurde ihm die Interpretation der daraus resultierenden Veränderungen erneut zur ersten Philosophenpflicht, sprich zur kritischen Praxis par excellence. In seiner Glosse „Verändern genügt nicht“ aus dem Band Visit beautiful Vietnam von 1968 polemisiert er, Revolutionäres gebe es heute „in Hülle und Fülle“ (BV, S. 178), in erster Linie im Bereich der technologischen Entwicklung, die für Anders zur eigentlichen, Epoche machenden politischen Gewalt, zum „Subjekt der Geschichte“ (AM 2, S. 9) wird. Wie der Kapitalismus bei Marx ist bei Anders die Technik revolutionär, das heißt in beständiger Umwälzung, Veränderung und Erneuerung begriffen, was freilich nicht bedeutet, dass dadurch genuin politische Revolutionen obsolet wären. Im Gegenteil: „Nichts ist heute dringlicher als sie – wozu gehört, daß der Begriff von ‚Revolution‘, und zwar aufs revolutionärste, neu interpretiert werde“, mahnt Anders:

Was heute fällig ist, mindestens ebenso fällig wie die Veränderung der Welt, ist die wirkliche Interpretation jener Veränderungen, die malgré nous, auch im Lager unserer Gegner, vor sich gegangen sind und vor sich gehen. Wenn es uns gelänge, die Bewandtnis und die Effekte dieser Veränderungen (z. B. die Bewandtnis derjenigen ‚Entfremdungen‘, die nicht Eigentumsverhältnissen entspringen, sondern der Technik […]) wirklich zu deuten, so würde gerade diese Deutung etwas ungleich Revolutionäreres sein und ungleich mehr ‚Aktion‘ darstellen, mindestens auslösen, als jene tausende von Aktionen, die die tägliche technologische Revolution unserer Welt ausmachen. Nur wenn wir diese technologische Revolution interpretiert haben werden, wird es wieder klar werden können, auf was die politische Revolution abzuzielen hat. Und das von neuem zu wissen, wäre revolutionär. Was wir vor allem nötig haben, ist Interpretation, d. h. Theorie, weil allein sie wirkliche Praxis möglich macht. Diejenigen, die sich damit bescheiden, in unserer heutigen sich täglich verändernden Welt blindlings und mit abgewetzten Begriffen weiterzuwurschteln, die sind um nichts weniger reaktionär als die von Marx bemängelten, die sich darauf beschränken, eine stationäre Welt mit täglich changierenden Kategorien anzuleuchten. Praxis ohne Theorie ist nicht minder stur und nicht minder leer, vielleicht sogar sturer und leerer, als Theorie ohne Praxis. (BV, S. 179)

Übertreibung und Montage

Auf den ersten Blick riecht Anders’ Plädoyer für „wirkliche Interpretation“ nicht nur für marxistisch geschulte Nasen, die hinter theoretischen Geltungsansprüchen ideologische Reinigungs- und Verfremdungsprozesse wittern, ziemlich verdächtig.12 Einmal mehr scheint sich hier, ausgerechnet zur Hochzeit der Studentenrevolten, der Bürgerrechts- und Friedensbewegungen, ein Denker vom Getümmel der Welt in den klassischen locus amoenus der Philosophen zurückziehen zu wollen: auf das exklusive, a-politische Plateau der vita contemplativa. Doch eine solche Unterstellung träfe Anders nicht. Schon Heidegger hatte ihm in jungen Jahren vielmehr umgekehrt vorgeworfen, er wolle – für einen Philosophen unerhört! – in die Praxis „desertieren“ (AM 2, S. 12). Im Laufe seines Lebens wurde Anders schließlich zur idealtypischen Verkörperung der Figur des engagierten Intellektuellen. Von den Nationalsozialisten 1933 aus dem Deutschen Reich vertrieben, bereits in den 20er Jahren durch den Kontakt zu Bertolt Brecht und zum marxistischen Milieu Berlins politisiert, mischte er sich nach seiner Rückkehr nach Europa 1950 über Jahrzehnte hinweg in politische Auseinandersetzungen um die atomare Wiederbewaffnung der BRD, den Vietnam-Krieg und die sogenannte ‚zivile Nutzung‘ der Atomenergie ein, schrieb Leserbriefe, Pamphlete, Grußworte und Protestadressen. Beide Register – politisches Engagement und philosophische Reflexion – sind bei Anders nicht voneinander getrennt. Im ZEIT-Interview mit Fritz J. Raddatz entgegnet er auf die Frage „Sie meinen also, daß Ihre Arbeit Praxis ist? Sie trennen nicht zwischen einem Ostermarsch und Ihrer schriftstellerischen Arbeit?“ vehement: „So wenig wie zwischen Kochrezept und Schnitzelessen. – Glauben Sie vielleicht, nach Hiroshima sei ich ‚als Theoretiker‘ geflogen? Oder gar ‚qua Theoretiker‘?“ (BR, S. 10) Und so geht es Anders nicht um eine Form von Deutung, die sich im Sinne der Marx’schen Kritik an den Junghegelianern einbildet, politisch maligne Verhältnisse durch deren „kritische Kritik“, das heißt mit ausschließlich theoretischen Provokationen zu kurieren, um den Purismus der Kritik nicht zu beflecken. Leitziel aller theoretischen Anstrengungen ist auch für ihn die Veränderung eines als dringend veränderungsbedürftig diagnostizierten Weltzustands – freilich unter der Voraussetzung, dass das, was Revolution unter den gegebenen historischen Bedingungen eigentlich bedeutet respektive zu bedeuten hätte, erst noch, erst wieder zu klären ist. Theorie wird unter diesen Voraussetzungen zur propädeutischen Praxis, zur ersten und zugleich fundamentalen Stufe praktisch-revolutionärer Aktion.13

Doch die unablässige Rede von der Revolution klang in Anders’ Ohren gerade 1968 hohl.14 Es handelte sich für ihn seinerzeit um einen „abgewetzten“, verselbständigten, abstrakten, und das bedeutet ideologischen