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Das Ernestine-und-Anton-Weihnachtsschmankerl Advent 1926: Ernestine wird zu einer Ausstellung am Semmering eingeladen. Da sie und Anton dort ihr erstes gemeinsames Abenteuer erlebt haben, beschließen sie, einige Tage im Südbahnhotel zu verbringen. Höhepunkt des Wochenendes ist eine Versteigerung von Kunstgegenständen – doch das wertvollste Bild fehlt. Im weihnachtlichen Trubel findet Ernestine heraus, dass es mehrere Gäste in Geldnöten gibt, die ein teures Bild gut gebrauchen könnten. Oder steckt etwas ganz anderes hinter dem spektakulären Raub?
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Seitenzahl: 261
Veröffentlichungsjahr: 2025
Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute lebt. Zum Schreiben kam sie vor rund zwanzig Jahren. Sie widmet sich dem historischen Roman und dem historischen Kriminalroman. 2019 und 2023 war sie für den Leo-Perutz-Preis nominiert, 2021 gewann sie den Silbernen Homer.
www.beatemaly.com
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
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Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung des Bildmotivs shutterstock.com/standa_art
Lektorat: Uta Rupprecht
E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd
ISBN 978-3-98707-335-9
Eine Weihnachtsgeschichte
Originalausgabe
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
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insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß
§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Weihnachten ist keine Jahreszeit.Es ist ein Gefühl.
Edna Ferber
Wien, Staatsoper, Dezember 1910
Das Wasser in dem weißen Emailwaschbecken war so kalt, als hätte sich vor Kurzem noch eine dünne Eisschicht darauf befunden. Dennoch tauchte sie den rauen Waschlappen immer wieder hinein und schrubbte sich mit erbarmungsloser Härte die Haut. So lange, bis sie rot war und an besonders empfindlichen Stellen aufzuplatzen drohte. Es wären nicht die einzigen Verletzungen an ihrem dünnen, sehnigen Körper. Als Tänzerin war sie größere und kleinere Blessuren gewohnt. Schon im zarten Alter von sechs Jahren hatte sie gelernt, Schmerzen zu ignorieren und auch dann weiterzuüben, wenn die Zehen blutig waren und die Muskeln brannten. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Signale des Körpers zu überhören und rücksichtslos darüber hinwegzugehen, war beim Ballett selbstverständlich. Das war der Preis, den man zahlte, um eines Tages mit Erfolg auf der Bühne belohnt zu werden. Zumindest wurde einem das versprochen. Ob es tatsächlich so kommen würde, konnte niemand vorhersagen. Wie viele ihrer Kolleginnen tanzten trotz eiserner Disziplin, Härte gegen sich selbst und ständigen Verzichts ihr ganzes Leben lang in der zweiten Reihe? Nie durften sie den süßen Duft des Ruhms schnuppern, die Belohnung für all die erlittenen Qualen.
Sie kräuselte ihre klassisch geschnittene Nase. Alles, was sie im Moment roch, war der Gestank der Erniedrigung, des Übergriffs und der Gewalt. Sie rieb den Waschlappen an einem Stück Rosenseife, bis weißer Schaum entstand. Erneut machte sie sich daran, ihren Körper zu malträtieren. Da klopfte es an der Garderobentür, und im nächsten Moment wurde sie bereits geöffnet. Sie besaß keinen Schlüssel, um abzusperren. Damit war sie nicht allein, keine der Tänzerinnen konnte die Garderobe verriegeln. Beim Umziehen oder Waschen überrascht zu werden, war alltäglich. Der Körper einer Tänzerin gehörte allen, nur nicht ihr selbst. Hastig zog sie ein Handtuch über ihre nassen Schultern.
Es war eine der Schneiderinnen, die vorsichtig den Kopf durch den Türspalt steckte. Sie entspannte sich. »Soll ich das Kostüm vor der Aufführung noch abnähen?«, fragte die Handwerkerin.
Bei der Generalprobe hatten sich zwei Rüschen ihres lilafarbenen Rocks gelockert. Sie hatte sie selbst notdürftig mit Heftfaden wieder befestigt. Für den kleinen Auftritt, den sie hatte, würde es ausreichen. Aber was, wenn sich ausgerechnet in den paar Minuten, die sie auf der Bühne war, die Rüschen lösten, zu Boden fielen und sie zum Stolpern brachten?
Dann konnte sie ihre gesamte Zukunft vergessen. Alles wäre umsonst gewesen. Nie würde sie den Applaus eines gefüllten Publikumssaals genießen können und im Licht der Scheinwerfer glänzen.
»Ja, bitte«, sagte sie. »Werfen Sie einen Blick auf das Kostüm.«
Die Schneiderin trat ein, ging zum Kostüm und machte sich auf die Suche nach der defekten Stelle. Schüchtern schaute sie zu ihr, wie sie sich abtrocknete, in ihr Korsett schlüpfte und es straff schnürte. Sah die Frau die blauen Flecken an ihrem Körper? Ahnte sie, woher die Blutergüsse stammten, und konnte sie sich denken, warum sie ihren Körper mit Rosenseife und kaltem Wasser bearbeitete?
Die Schneiderin schwieg und senkte den Blick wieder auf das Kostüm. Niemals würde sie es wagen, ihr Fragen zu stellen. Sie selbst griff nach einer Dose mit hellem Körperpuder. Mit einer großen Quaste aus weichen Federn verteilte sie den Puder, der nach Veilchen und Lavendel roch, über Schultern, Oberarme und Gesicht. Bald waren keine Unregelmäßigkeiten mehr zu erkennen. Sie wandte sich zum Spiegel. Eine zerbrechlich wirkende Frau mit dem feinen Teint einer Porzellanpuppe schaute ihr entgegen. Die Augen waren von tiefschwarzem Kohlestiftstrich umrahmt, was sie im schmalen Gesicht noch größer erscheinen ließ, als sie ohnehin waren. Das lange Haar war zu einem so strengen Dutt nach oben gebunden, dass die Kopfhaut spannte. Er erinnerte an ein kleines Krönchen, und das Blumenband, mit dem sie ihn umwickelte, verstärkte den Eindruck noch. Sie bot das Bild der perfekten Tänzerin. Wenn alles gut ging, würde sie eines Tages eine Primaballerina sein. Sie rang sich ein Lächeln ab, das ihre Augen nicht erreichte. Wie fühlte es sich wohl an, wenn der Traum in Erfüllung ging? Würde sie das lang ersehnte Glück empfinden?
Ihr Blick glitt zum Programmheft. In geschwungenen Buchstaben war »Aschenbrödel von Johann Strauss (Sohn)« zu lesen. Daneben die Namen der Solotänzer.
Der Ehrgeiz packte sie. Eines Tages wollte sie ihren eigenen Namen auf der Titelseite des Programmheftes lesen. Es war nicht sicher, ob sich die ganze Qual dafür lohnte, aber sie war schon so weit gegangen, dass es kein Zurück mehr gab. Sie konnte nur eines tun: Zähne zusammenbeißen und weiterkämpfen.
Wien, Mariahilf, 9. Dezember 1926
»Ist das dein Nikolaussack?« Anton zeigte auf ein prall gefülltes Jutesäckchen, das im Wohnzimmer am Fensterbrett stand. Ein Zwetschkenkrampus mit spitzer, langer Papierzunge im Walnussgesicht lehnte daneben. »Du hast ja noch nichts von deinen Süßigkeiten genascht.« Fassungslos sah Anton zu seiner Enkeltochter Rosa. Die Neunjährige lächelte ihn stolz an.
»Ich habe mit Fritzi eine Wette abgeschlossen. Er hat behauptet, dass er seinen Schokoladennikolaus länger aufheben kann als ich.«
Fritzi war Rosas bester Freund, die zwei Kinder steckten ständig zusammen. In der Reformschule von Lili Roubiczek besuchten sie dieselbe Klasse, waren beide Mitglieder im Wiener Eislaufverein und hatten gemeinsam schwimmen gelernt. Immer wieder forderten sie einander mit Aufgaben zu besonderen Leistungen heraus. So wetteten sie, wer mehr Tore beim Eishockey schoss, wer mehr Powidltascherl essen und wer beim Tauchen länger die Luft anhalten konnte.
Herauszufinden, wer länger auf seinen Schokoladennikolaus verzichten konnte, war neu und erschien Anton, der eine besondere Leidenschaft für Süßigkeiten hegte, geradezu masochistisch.
»Warum wollt ihr die Schokolade, den Lebkuchen und die getrockneten Feigen denn nicht essen?«, erkundigte er sich bestürzt. »Die Köstlichkeiten werden ja alt und schmecken dann nicht mehr gut.«
»Wir haben uns auf einen Endtermin geeinigt, damit das nicht passiert«, beruhigte ihn Rosa und setzte sich zu ihrem Großvater an den Tisch. Seit Schulbeginn war sie schon wieder ein ordentliches Stück gewachsen. Anton war sich sicher, dass sie ihren Freund jetzt um ein paar Zentimeter überragte. Das würde sich in spätestens fünf Jahren wieder geändert haben. Doch im Moment schien es Rosa zu gefallen, dass sie die Größere von ihnen war.
»Wer von uns den Nikolaus bis zum vierten Adventsonntag nicht aufgegessen hat, der hat gewonnen«, erklärte sie stolz.
»Womit wird der Gewinner belohnt?« Anton glaubte aber zu wissen, was es war.
»Wenn Fritzi gewinnt, kriegt er meinen Nikolaus, wenn ich siege, ist es umgekehrt.«
»Und wenn ihr beide bis zum vierten Adventsonntag durchhaltet?«
»Dann sind wir beide Sieger und bekommen von Ernestine einen Extraschokoriegel.«
»Ah ja!« Es überraschte Anton nicht, dass die pensionierte Lateinlehrerin Ernestine Kirsch, mit der er seit einigen Monaten das frisch renovierte Kutscherhäuschen im Garten seiner ehemaligen Apotheke bewohnte, hinter der ungewöhnlichen Abmachung steckte.
»Eigentlich wollten wir ja wetten, wer bis Weihnachten mehr Lebkuchen und Vanillekipferl essen kann«, gab Rosa zu. »Weil doch nach Weihnachten mein Geschwisterchen zur Welt kommt und ich dann alles teilen muss.«
Schon bald würde Anton zum zweiten Mal Großvater werden. Seine Tochter Heide hatte im Mai den Kriminalbeamten Erich Felsberg geheiratet und war nun schwanger.
»Ich glaube nicht, dass du dir so schnell Sorgen wegen des Teilens machen musst«, beruhigte Anton seine Enkelin. »Bis so ein kleines Buzerl Schokolade essen darf, vergeht viel Zeit.«
»Das weiß ich doch!« Rosa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber Fritzi meint, es ist klüger, auf Vorrat zu essen. Er weiß das, schließlich hat er vier Brüder.«
Den Gedanken fand Anton ganz vernünftig. Was man mal gegessen hatte, konnte einem niemand mehr stibitzen.
»Ernestine fand unsere Wette nicht gut«, erklärte Rosa. »Sie sagt, zu Weihnachten gibt es ohnehin den Christbaum mit Zuckerbehang und zu viele Süßigkeiten wären ungesund.«
Anton räusperte sich. »Na ja, allzu streng muss man das nicht sehen.«
»Fritzi und ich fanden das Aufheben der Schokolade aber spannender«, sagte Rosa.
»Wirklich?« Anton sah sie verständnislos an. Wäre der Jutesack sein eigener, wäre er längst leer gegessen.
»Ja«, erwiderte Rosa überzeugt. »Ich freu mich jeden Tag, wenn ich den Zwetschkenkrampus am Fensterbrett sehe.«
Anton setzte eben zu einer Antwort an, als Ernestine den Raum betrat.
»Hier habt ihr zwei euch versteckt!« Sie klang so gut gelaunt, dass Anton sich ahnungsvoll fragte, was wohl der Grund dafür war. Ihre rosigen Wangen und die hellen Augen strahlten förmlich, was für gewöhnlich bedeutete, dass sie etwas plante. Leider standen Ernestines Pläne oft in krassem Gegensatz zu Antons Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung.
Sie setzte sich zu ihnen.
»Ich habe Opa gerade von unserer Wette erzählt«, sprudelte Rosa heraus. »Er würde den Nikolaus auf der Stelle vernaschen.«
»Das habe ich nicht gesagt!«
Sowohl Ernestine als auch Rosa kicherten leise.
»Das war auch nicht notwendig«, meinte Rosa. »Wir kennen dich, Opa.«
»Ihr stellt mich ja hin, als wäre ich ein Vielfraß!« Anton war beleidigt. »Schließlich gehören Süßigkeiten zu Weihnachten, wie der Krampus zum Nikolaus. Stellt euch einen Advent ohne Vanillekipferl vor. Das wäre doch ein Jammer.«
»Das wäre wirklich traurig«, stimmte Ernestine ihm zu. »Und was ebenfalls zu Weihnachten gehört, ist der Schnee.«
»Der will aber nicht kommen!« Enttäuscht sprang Rosa vom Sessel auf und lief zum Fenster. Sie stützte die Ellbogen am Fensterbrett ab und bettete ihr Kinn in die Hände. Traurig schaute sie zum grauen Himmel. Seit Tagen hielt die Sonne sich hartnäckig hinter der dichten Wolkendecke versteckt. Kälte, Nebel und Nieselregen hielten Wien im Griff. Von Schnee fehlte jede Spur.
»Das Wetter lässt sich leider nicht beeinflussen«, sagte Anton.
»Das nicht, aber wir könnten in eine Gegend fahren, in der so viel Schnee liegt, dass es für eine Schlittenfahrt und einen Schneemann ausreicht«, meinte Ernestine.
»Wo ist das?« Rosa drehte sich um und kehrte zum Tisch zurück.
Ernestine schnitt eine geheimnisvolle Grimasse und schwieg. Anton war sich sicher, dass ihre gute Laune mit dieser Schneeidee im Zusammenhang stand. Er beschloss, auf der Hut zu sein. Jede voreilige Antwort konnte seinen ruhigen Alltag bedrohen.
»Worüber unterhaltet ihr euch?« Antons Tochter Heide platzte ins Zimmer. Ihr Bauch war zu einer enormen Größe angewachsen. Hätte Anton es nicht besser gewusst, würde er glauben, Großvater von Zwillingen oder gar Drillingen zu werden. Doch die Hebamme hatte das dezidiert ausgeschlossen. Erschöpft ließ sich Heide auf das Sofa plumpsen und legte die Beine auf einem Hocker ab. Das ständige Stehen in der Apotheke, die sie seit Antons Pensionierung führte, war beschwerlich.
Ernestine erklärte stolz: »Für meine Arbeit in der Bibliothek habe ich Einladungen für eine Kunstauktion erhalten.« Seit ein paar Wochen engagierte Ernestine sich in der Arbeiterbücherei in Margareten. Der zunehmend rauere Ton zwischen der christlich-sozialen Regierung und der sozialdemokratisch geführten Hauptstadt Wien sowie der stetig wachsende Druck auf jüdische Mitbürger hatten Ernestine den Anstoß dazu gegeben. In Ungarn ging man schon so weit, die jüdischen Bürger von den Universitäten und wichtigen Funktionen auszuschließen. Als ehemalige Lehrerin war sie fest davon überzeugt, dass die junge Demokratie nur durch mehr Bildung geschützt werden konnte. Und wo gelang das besser als in einer öffentlich zugänglichen Bibliothek, in der junge Menschen sogar Gratisnachhilfeunterricht erhielten, um im zweiten Anlauf einen höheren Schulabschluss nachzuholen? Nur zu gerne hätte Anton sie davon abgehalten. Aber nicht, weil er die Arbeit nicht sinnvoll fand. Im Gegenteil, der Schutz der Demokratie war wichtiger denn je. Doch er hätte solche Aufgaben lieber anderen überlassen, fürchtete er doch, dass sein ohnehin schon viel zu turbulentes Leben noch mehr durcheinandergewirbelt würde, wenn Ernestine ein Ehrenamt übernahm. Und nun schien er recht zu behalten, hier war schon die erste Aufregung.
»Freiwillige Arbeit wird doppelt belohnt«, fuhr Ernestine begeistert fort. »Die Karten für die Kunstauktion sind rar. Ich habe die allerletzten erhalten.«
»Wo finden die Ausstellung zur Auktion und die Versteigerung denn statt?«, fragte Heide.
»Am Semmering!«, erklärte Ernestine stolz. »Die Ausstellung ist für dieses Wochenende anberaumt. Es wird auch einen Christkindlmarkt geben mit Köstlichkeiten aus der Region. Am Abend wird zu einem mehrgängigen Menü geladen. Dabei kann man schon überlegen, für welches Kunstwerk man sich entscheidet, und danach werden ein paar der Objekte versteigert. Die Hälfte des Erlöses wird an karitative Zwecke gespendet.«
Anton wurde flau im Magen. Bei seinem letzten Besuch in dem Luftkurort nahe Wien hatten er und Ernestine ebenfalls an einer Wohltätigkeitsveranstaltung teilgenommen. Anton hatte Tango tanzen und gemeinsam mit Ernestine zwei Mordfälle aufklären müssen.
»Das klingt ganz wunderbar«, meinte Heide.
Doch Anton hob abwehrend beide Hände. »Bestimmt wird es dann spät«, sagte er vorsichtig. »Wie sollen wir danach nach Wien zurückkommen?«
»Selbstverständlich nehmen wir uns ein Zimmer und übernachten am Semmering«, erklärte Ernestine.
»Keine zehn Pferde bringen mich dazu, noch einmal einen Fuß ins Panhans zu setzen«, entgegnete Anton. Nicht dass es ihm in dem Luxushotel nicht gefallen hätte. An besagtem Wochenende vor ein paar Jahren hatte er köstlich gegessen und in einem geräumigen Zimmer und einem bequemen Bett geschlafen. Außerdem war er Ernestine zum ersten Mal ein bisserl nähergekommen. Dennoch waren die Erinnerungen an die Verbrechen noch zu präsent.
»Keine Sorge, Anton. Die Ausstellung findet im Südbahnhotel statt. Die drei großen Hotels Panhans, Südbahnhotel und Kurhaus Semmering versuchen, einander mit Attraktionen zu übertreffen. Man will an die Zeit vor dem Großen Krieg anschließen, damals waren die Hotels regelmäßig ausgebucht. Jetzt müssen sich die Betreiber immer wieder etwas Besonderes ausdenken, um Gäste anzulocken.«
»Darf ich mitkommen?« Rosa faltete flehend die Hände. »Bitte! Bestimmt gibt es ganz viel Schnee. Ich pack meine Rodel ein.«
»Natürlich kommst du mit. Und ich bin mir sicher, dass es Rodeln im Hotel gibt«, erwiderte Ernestine.
Anton überlegte, ob man ihn absichtlich ignorierte. Hatte denn niemand gehört, dass er nicht am Semmering übernachten wollte?
Ernestine wandte sich an Heide. »Wir können auch für dich und Erich ein Zimmer reservieren.«
Heide legte die Hände auf ihren Bauch. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich fühle mich wie ein Nilpferd, das passt nicht in den Schnee. Und was, wenn das Kleine etwas früher als geplant kommt? Außerdem hat Erich am Wochenende Dienst.«
»Das wäre nicht gut«, gab ihr Ernestine recht. »Aber Rosa nehmen wir mit.«
»Au ja!« Das Mädchen umarmte Anton und drückte ihn herzlich. »Das wird so schön, Opa. Wir bauen einen Schneemann und geben ihm deinen Namen. Natürlich nur, wenn er hübsch wird. Darf Fritzi auch mitkommen?«
Wie immer, wenn ihn seine Enkeltochter stürmisch um etwas bat, schmolz Antons Widerstand wie Schnee in der Sonne.
»Na ja, so ein Christkindlmarkt im Hof des Südbahnhotels ist vielleicht ganz nett«, meinte er. »Und ein mehrgängiges Menü klingt auch interessant.«
»Danke, Papa!«, sagte Heide und sah unglaublich erleichtert aus. »Erich und ich könnten dann am Freitag- oder Samstagabend in Wien essen und anschließend ins Lichtspieltheater gehen. Das nehmen wir uns schon lange vor. Es wäre wie ein Vorweihnachtsgeschenk.«
Dass er mit dem Ausflug nicht nur Rosa und Ernestine, sondern auch Heide glücklich machen konnte, überzeugte Anton.
»Was machen wir mit Minna? Ich glaube nicht, dass Hunde in Hotels erlaubt sind.«
»Doch!«, widersprach Ernestine.
Als die Cockerspanieldame ihren Namen hörte, hob sie den Kopf und richtete die Ohren auf. Sie mochte den Schnee, also würde Anton mit dem Ausflug auch ihr eine Freude bereiten.
»Wenn das Wochenende so viele glücklich macht, werde ich mich nicht querlegen.«
Ernestine klatschte in die Hände. »Dann ist es abgemacht. Ich werde am Weg zur Bibliothek die Fahrkarten für die Südbahn kaufen.« Sie lief aus dem Zimmer, bevor Anton seine Meinung wieder ändern konnte.
In der Südbahn, 12. Dezember
Bis nach Gloggnitz hatten Rosa und Fritzi unentwegt geplaudert und gelacht und der eintönigen Landschaft, die an ihnen vorbeizog, keine Beachtung geschenkt. Jetzt, da die weiten Felder, zwischen denen nur hin und wieder ein Bauernhof oder ein kleines Dorf zu sehen waren, einer plötzlich aufragenden Felsformation wichen, wurden die Kinder still. Neugierig drückten sie ihre Nasen gegen die Fensterscheiben des Waggons und bestaunten aufgeregt die Viadukte, über die der Zug ratterte. Langsam, aber stetig bewegte er sich den Berg hinauf.
Die Südbahn war auch rund siebzig Jahre nach ihrer Eröffnung ein technisches Wunderwerk. Niemand hätte damals gedacht, dass es möglich ist, einen Zug über felsiges Gebirge zu führen.
Schon bald säumten erste Schneeflecken den Weg und entlockten den Kindern einen Aufschrei der Freude. Anton war dankbar, als es danach wieder still wurde. Er schloss die Augen, um noch ein kleines Nickerchen zu machen, bevor sie auf der Passhöhe ausstiegen. Doch aus der Ruhe wurde nichts. Mit einem Ruck öffnete sich die Abteiltür.
»Isch bei Ihne noch was frei?« Der Mann sprach mit schwäbischem Dialekt. Bevor Anton oder Ernestine antworten konnten, hievte der Mann zwei riesige Koffer ins Gepäckfach und ließ sich auf einen der beiden leeren Plätze plumpsen. Den anderen nahm seine Frau in Beschlag, die hinter ihm ins Abteil trat.
Beide schnauften erleichtert durch. »Hier läscht sich’s aushalte bis zum Semmering«, sagte die Frau. Auch sie hatte einen hörbaren Dialekt. Sie war um die fünfzig und trug ein elegantes Wollkostüm. Ihr Haar war in perfekte Wasserwellen gelegt, im Schoß hielt sie einen weißen Pelzmantel. Ihr Mann nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn an einen der Haken in den Ecken des Abteils. Auch er war vornehm gekleidet. Sein Anzug war maßgeschneidert, in seiner Weste steckte eine Taschenuhr, sie hing an einer goldenen Kette und lugte aus der Tasche. Beide waren ausgesprochen dick, weshalb sie die Sitze mehr als nur ausfüllten. Anton und Ernestine mussten ein Stück zu den Kindern rücken.
»Grüß Gott«, sagte Ernestine höflich. »Ich fürchte, der Aufwand lohnt sich nicht. Es ist nicht mehr weit bis zum Semmering. In einer halben Stunde sind wir da.«
»Des wisset mir«, erklärte die Frau. »Mir kommet jedesch Jahr hierher. Aber im Nebenabteil hätt ich’s kei weitere Minut mehr ausg’halte. Des versicher ich Ihnen.« Sie verdrehte genervt die Augen.
»Darf ich mich vorstelle, mein Name isch Karl Kruger, und des isch meine Ehefrau Klara Kruger. Unsch g’hört die Reifenfabrik Kruger und Söhne in Stuttgart. Bestimmt habet Sie davon schon g’hört.« Er reichte zuerst Ernestine, dann Anton die Hand.
»Sehr angenehm«, meinte Ernestine und fügte entschuldigend hinzu: »Leider habe ich von Ihrer Fabrik noch nichts gehört. Der Grund wird wohl darin liegen, dass wir aus Wien kommen. Über Unternehmen im Nachbarland wissen wir nur bedingt Bescheid.«
»Sie habet noch nie von Kruger Reifen g’hört? Wie kann des sein? Mir liefere unsere Ware bis in die Staaten.«
Ernestine hob entschuldigend beide Hände.
»Na, dann kennet Sie uns jetzt«, grunzte Karl Kruger selbstgefällig. »Mir beliefern auch Betriebe in Wien, deswegen semmer jeden Dezember in der Stadt. Danach erhole mir uns am Semmering. Vielleicht kaufet mir uns ein Häusle in der Gegend. Mir sind da arg gern.« Es klang so, als wollte er ein Päckchen Mehl oder Zucker erstehen und kein Haus samt Grund in einem Luftkurort, der nur zweieinhalb Reisestunden von Wien entfernt lag.
Nun stellte auch Ernestine sich, Anton, Rosa und Fritzi vor. »Was war denn so schlimm im Nebenabteil?«, fragte sie neugierig.
»Theodor Sedlaczek«, sagte Karl Kruger.
»Den Namen kenne ich«, meinte Ernestine nachdenklich. »Ich habe ihn erst kürzlich gehört oder gelesen.«
»Er isch en aufstrebender Künschtler«, sagte Klara Kruger. »Des Wochenende wird eins von seine Bilder im Südbahnhotel ausgestellt. Dort findet eine große Kunscht-auktion statt.«
»Ja, richtig!«, rief Ernestine und fasste sich an die Stirn. »Ich habe den Namen im Programmheft gelesen.«
»Sind Sie auch unterwegs zum Südbahnhotel?«, wollte Frau Kruger wissen.
»Ja, wir haben Karten für die Ausstellung, das Abendessen und die anschließende Auktion. Außerdem werden wir ein bisserl rodeln und einen Schneemann bauen.« Ernestine lächelte Rosa und Fritzi an, die zustimmend nickten.
»Des isch ja ein Zufall!« Karl Kruger patschte so laut auf seinen Oberschenkel, dass Anton neben ihm zusammenzuckte. »Dort wohnen mir auch. Des isch doch so, Klärle, oder?«
»Ja, Bärli.«
Damit meinte sie offenbar ihren Ehemann. Fritzi unterdrückte ein Kichern, und bevor auch Rosa einstimmen konnte, stieß Ernestine sie sanft in die Seite. Das Mädchen drehte sich zum Fenster, damit niemand ihren Gesichtsausdruck sehen konnte.
»Sonst steiget mir ja im Panhans ab«, fuhr Klara Kruger fort. »Aber die Auktion isch scho äbbes B’sonderes.«
»Ja, mir hoffet, dass mir für Weihnachten ein paar schöne G’schenkle kaufe kennet. Freilich, von dem Sedlaczek, dem Graddlhuber, kaufet mir bestimmt nix. Schnurzegal, wie berühmt der isch.« Karl Kruger schnaufte verärgert. Dabei wippte sein zu akkurat gedrehten Schnecken geformter Schnurrbart. Fasziniert starrte Fritzi auf die Pomadekringel. Nun gab Ernestine auch ihm einen sanften Stupser mit dem Fuß, und er drehte sich ebenfalls zum Fenster.
»Bärli, des steht no ned fest!«, entgegnete Klara Kruger. »Erscht will i des Bild von der Tänzerin in echt sehe. Unn wenn’s so grandios isch, wie sie in dem Heftle schreibe, will i des unbedingt haben. Des wär doch a schönes G’schenk für die Lore und die Tina.«
Sie öffnete die Lacklederhandtasche auf ihrem Schoß und kramte darin. Schließlich zog sie ein Heft heraus. »Habet Sie auch einen Katalog von der Auktion g’kriegt?«, fragte Frau Kruger.
»Leider nein«, gab Ernestine zu.
»Da, schauet Sie mal!« Frau Kruger schlug das Heft auf und reichte es Ernestine. »Des isch des Bild von dem Theodor Sedlaczek. Der Künschtler hat in eins wegg’schwätzt. Aber des G’mälde sieht interessant aus. Der Mann denkt, dass er damit berühmt wird. Unn wenn des so isch, will i mir des ned entgehe lasse. Wär des ned ein Dusl! Als würdet mir a G’mälde von Klimt oder van Gogh kaufe, lang bevor se überall berühmt worde sind. Des däd so gut passe, weil unsere zwei Töchterle au ganz begeischtert tanze.«
Anton gab seinen Versuch, ein Nickerchen zu halten, auf. Er versuchte sich auszudenken, wie viel jemand sprechen musste, um den Redeschwall dieser Frau noch zu überbieten. Und er fragte sich, wie die Töchter des korpulenten Ehepaars wohl aussahen. Auch wenn Anton nichts von den dürren Schönheitsidealen und den eng geschnürten Taillen des letzten Jahrhunderts hielt, fiel es ihm dennoch schwer, sich einen der beiden Krugers in eng anliegenden Strumpfhosen oder rosaroten Seidenkleidern vorzustellen.
Jetzt entdeckte Frau Kruger Minna, die friedlich am Boden lag und schlief.
»Was für ein goldiges Hundle!« Sie beugte sich zu Minna und streichelte der Hundedame den Kopf.
Unterdessen lugte Anton zu Ernestine und erspähte einen Blick auf das abgelichtete Gemälde. Es zeigte eine Balletttänzerin in einem weißen Tutu, die in einer Garderobe saß und sich einen Schuh schnürte. Es erinnerte Anton an Gemälde eines französischen Malers, dessen Name ihm entfallen war.
»Sedlaczek scheint von Edgar Degas inspiriert worden zu sein«, sagte Ernestine. Wieder einmal hatte sie es geschafft, Anton mit ihrem Gedächtnis zu beeindrucken. Niemals wäre ihm der Name von selbst in den Sinn gekommen.
»Sie meinet, des hat der abg’malt?«, fragte Frau Kruger.
»Das kann ich nicht beurteilen«, gab Ernestine zu.
»Er soll eine berühmte Primaballerina von der Wiener Staatsoper g’malt haben«, fuhr Klara Kruger fort. Je länger sie redete, umso schriller fand Anton ihre Stimme. »Mir könnet uns des Bild bald selber angugge, dann wisset mir des. Die Tänzerin kommt übrigens au zur Auktion. Isch des ned großartig? I kann’s kaum erwarte, bis ich ihr die Hand geben kann.«
Ernestine blätterte das Heftchen durch, warf auch noch einen Blick auf die anderen Objekte und gab es dann an Frau Kruger zurück. Die ließ es in ihrer Handtasche verschwinden, der Verschluss schnappte mit einem leisen Knacken zu.
»Sind Sie zum ersten Mal am Semmering?«, fragte Klara Kruger. Sie war einfach nicht zu stoppen.
»Nein, wir waren vor einiger Zeit im Hotel Panhans und haben dort an einem Tangotanzkurs teilgenommen.«
»Oh, des klingt ja schön. So etwas müsset mir au mal mache, Bärli! Ein ganzes Wochenend tanze. Davon träum i seit viele Jahr.«
»Hm!« Frau Krugers Bärli schien nicht sonderlich begeistert von der Idee.
»Wisset Sie, in unsrer Familie isch Tanzen ganz arg wichtig. Hab i scho g’sagt, dass unsere Töchterle au tanzet?«
»Ja, das haben Sie!«
»Sie nehmet Ballettunterricht und sind sehr, sehr begabt. Bestimmt werdet sie irgendwann au Primaballerinen und von Künschtlern g’malt, ned wahr, Bärli?«
»Ja, unsere Mädle kommet gewiss weit nauf!« Davon war auch der stolze Vater überzeugt.
Frau Kruger öffnete erneut ihre Handtasche und kramte eine Fotografie hervor, die zwei pummelige Mädchen zeigte. Sie waren das Ebenbild ihres Vaters, beide hatten Knubbelnasen und ein breites Kinn. In den duftigen Tutus erinnerten sie an niedliche kleine Tanzbären. Anton hoffte für die Kinder, dass das Tanzen ihr eigener Wunsch war und nicht ausschließlich der ihrer Mutter. Den ernsten Kindergesichtern war es nicht zu entnehmen.
»Womöglich wär die Wiener Staatsoper äbbes für sie«, überlegte Frau Kruger.
Zu Antons großer Erleichterung wurde die Tür zum Abteil erneut geöffnet. Der Schaffner kündigte die Ankunft am Semmering an. »Bitte machen Sie sich zum Aussteigen bereit!«
»Des war echt ned lang«, sagte Klara Kruger. »Wollet mir zusammen einen Schlitte zum Hotel nehmen?«
»Sehr gerne«, meinte Ernestine. Den vorwurfsvollen Blick, den Anton ihr daraufhin zuwarf, ignorierte sie lächelnd. Als Rosa von dem Pferdeschlitten hörte, war sie hellauf begeistert. Auch Fritzi konnte es kaum erwarten, die Sommersprossen auf seinen Wangen leuchteten.
Kurz darauf verließen alle den Zug. Neben dem umfangreichen Gepäck der Krugers erschien die winzige Tasche von Ernestine und Anton, in der sich außer Zahnbürsten, Unterhosen und Pyjamas sogar noch Ersatzsocken befanden, lächerlich klein.
»Isch des alles, was Sie dabeihabet?«, fragte Frau Kruger.
»Wir bleiben nur eine Nacht«, antwortete Anton knapp. Das klang so unhöflich, dass Frau Kruger sich jeden weiteren Kommentar verkniff. Jetzt erhielt auch Anton von Ernestine einen sanften Stoß in die Seite.
»Aua«, brummte er leise.
»Das kann unmöglich wehgetan haben«, flüsterte sie zurück.
Er verzog bloß den Mund und schwieg.
Vorbei am Denkmal für Carl Ritter von Ghega, den Ingenieur der Südbahnstrecke, ging es zum Pferdeschlittenplatz. Rosa und Fritzi liefen zu einem, der von zwei dunkelbraunen Pferden gezogen wurde. Gemeinsam mit dem Ehepaar Kruger kletterten sie in den Schlitten. Die Kinder durften am Kutschbock sitzen. Anton hob Minna hoch, denn freiwillig wäre die Hündin nicht hineingesprungen. Unter fröhlichem Gebimmel kleiner Glöckchen, die sich am Pferdegeschirr befanden, glitt der Schlitten über die verschneite Höhenstraße, vorbei am Hotel Panhans und mehreren prächtigen Jugendstilvillen.
»Des da wär doch was«, meinte Frau Kruger und zeigte auf ein besonders schönes Gebäude, das eine mit Metall beschlagene Eingangstür aufwies.
Schon von Weitem war das Südbahnhotel zu sehen, ein Fachwerkbau mit Türmchen und Erkern, der an ein Schloss erinnerte.
»Das ist ja wie im Märchen!«, rief Rosa begeistert. »Schade, dass Mama und Erich nicht dabei sind und sehen können, wie schön es hier ist.«
Der Schlitten fuhr in den Innenhof des Hotels, wo hölzerne Marktstände in einem Kreis aufgestellt waren. Die Standbesitzer waren dabei, die weihnachtliche Ware für die Kunden hübsch zu drapieren. Lichterketten verbanden die einzelnen Stände miteinander, in ein paar Stunden würden sie den Hof in festliches Licht tauchen. In der Mitte des Platzes stand ein riesiger Weihnachtsbaum, der ebenfalls mit Lichterketten sowie mit roten Samtmaschen und Kugeln geschmückt war.
Kaum dass der Schlitten stand, sprangen die Kinder hinaus in den Schnee und liefen aufgeregt zum Christbaum. Minna folgte ihnen bellend. Es sah aus, als würde sie mit allen vier Beinen gleichzeitig durch die weiße Pracht springen. Ihre Ohren flogen, kleine eisige Klümpchen fingen sich in ihrem Fell.
Anton bezahlte den Kutscher und wartete darauf, dass Herr Kruger ebenfalls seinen Teil beglich, doch der Mann drehte ihm den Rücken zu, als ginge ihn die Rechnung nichts an, und wollte zum Hotel gehen. Ernestine rief ihn zurück.
»Herr Kruger, die Fahrt macht fünfzig Groschen für jeden.«
»Sie sind zu viert, mir bloß zu zweit«, entgegnete der reiche Industrielle. Er holte dreißig Groschen aus seiner Geldbörse und reichte sie Ernestine mit einer so großzügigen Geste, als gäbe er Almosen.
»Komm!« Anton zog Ernestine sanft am Ellbogen mit sich. »Lass es gut sein«, flüsterte er ihr zu, »wir streiten uns nicht wegen zwanzig Groschen. Das ist es nicht wert.«
»Es geht ums Prinzip«, raunte Ernestine. Nur widerwillig ließ sie sich mitziehen. Anton konnte ihr an der Nasenspitze ansehen, dass sie dem aufgeblasenen Unternehmer gerne die Meinung gesagt hätte.
»Würdet Sie uns einen Pagen rausschicke?«, bat Klara Kruger sie.
Ernestine tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört, drehte sich um und ließ das Ehepaar Kruger mitsamt seinem Gepäck im Schnee stehen. Gemeinsam mit Anton folgte sie den Kindern zum Christbaum. Sobald Ernestine das Funkeln in Rosas und Fritzis Augen sah, schienen die Krugers vergessen.
»Lasst uns einen Spaziergang über den Christkindlmarkt machen«, schlug Anton vor.
»Ach, Opa, wir wollen doch rodeln und einen Schneemann bauen«, jammerte Rosa.
»Rosa hat recht«, stimmte Ernestine zu. »Es ist nicht mehr lange hell, wir sollten das verbleibende Tageslicht ausnutzen. Wobei sich das Rodeln heute nicht mehr ausgehen wird, das verschieben wir auf morgen.«
Sowohl rodeln als auch einen Schneemann bauen klang in Antons Ohren anstrengend. Ihm war mehr nach einem Spaziergang über den Christkindlmarkt, mit einem Stanitzel Maroni in einer Hand und einem Becher Punsch in der anderen. Doch leider war die offizielle Eröffnung des Marktes erst für Einbruch der Dämmerung geplant.
»Bevor wir irgendetwas tun, sollten wir die Zimmer beziehen«, sagte er.
»Dürfen wir so lange dort hinten einen Schneemann bauen?« Rosa zeigte zu einem Nebengebäude, vor dem ein riesiger Schneehaufen lag. »Wir nehmen auch Minna mit!«
Das war ein Vorschlag ganz nach Antons Geschmack. Wenn das Zimmer gemütlich war, konnte er vielleicht noch das Nickerchen nachholen, das zuvor nicht möglich gewesen war.
»Das ist eine hervorragende Idee«, meinte er zufrieden.
Durch den Haupteingang betraten Ernestine und Anton das Hotel. Ein Page in dunkelgrüner Uniform verbeugte sich dezent und hielt ihnen die Tür auf. Das Gebäude war innen so prunkvoll gestaltet wie außen. Hohe Räume, riesige Spiegel an den Wänden, ausladende Kristalllüster und ein bis zur Decke reichender Christbaum, der über und über mit Lichtern, Lametta und goldenen Kugeln geschmückt war, machten den Ort zu einem Tempel des Luxus. Links der Halle führte eine offen stehende Glastür in ein Kaffeehaus, das offenbar zum Hotel gehörte. Der Duft gerösteter Kaffeebohnen, in den sich Zimtzucker mischte, strömte aus dem Raum, untermalt von den gedämpften Stimmen der Gäste.
Ein dunkelroter Teppich am Boden leitete Ernestine und Anton direkt zur Rezeption, einer auf Hochglanz polierten Holztheke. Dahinter stand ein junger Mann in ähnlicher Uniform wie der Page. Eine kurze Warteschlange hatte sich am Tresen gebildet. Ernestine und Anton reihten sich ein und wurden von einem kleinen Herrn in dunklem Anzug begrüßt. Seine Schläfen waren grau meliert, er ging neben den Wartenden auf und ab und wirkte nervös. »Guten Tag! Wie schön, Sie im Südbahnhotel willkommen zu heißen. Darf ich mich vorstellen, ich bin Moritz Silberstein, der Direktor des Hauses.« Er reichte zuerst Ernestine, dann Anton die Hand. Es war erstaunlich, dass er offenbar alle seine Gäste persönlich in Empfang nahm.
»Sehr erfreut!« Anton stellte Ernestine und sich vor. »Meine Enkeltochter, ihr Freund und unser Hund sind noch im Innenhof. Sie kommen später nach.«
»Ah!« Ein Erkennen zeigte sich auf Silbersteins rundem Gesicht. »Sie sind die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bibliothek, die die Karten für die Auktion geschenkt bekommen hat.«
»Ja, richtig«, sagte Ernestine.