Aegeria - Seelenruf - Katelyn Erikson - E-Book

Aegeria - Seelenruf E-Book

Katelyn Erikson

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Beschreibung

Was ist, wenn du bereits einmal gelebt hast? Was geschieht, wenn die Vergangenheit dich findet? . Eine einzige Begegnung kann das gesamte Leben verändern. So war es, als die angehende Ärztin Elenya Fairings auf ihren Patienten Logan trifft. Als sei es nicht genug, dass er behauptet, der König eines unbekannten Landes zu sein, weiß er zudem Dinge über sie, die er nicht wissen dürfte. Weshalb trägt er dasselbe Symbol an seinem Körper wie sie? Weshalb verändert sich die Farbe seiner Augen? Und was ist es, das sie so sehr zu ihm hinzieht? Zu viele Fragen. Zu wenig Antworten. Bist du bereit für die Wahrheit?

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Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Über die Autorin

GedankenReich VerlagDenise ReichowHeitlinger Hof 7b30419 Hannoverwww.gedankenreich-verlag.deAegeriaSeelenruf

Text © Katelyn Erikson, 2018

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Grasshoff, www.marie-grasshof.de

Lektorat: Libri melior, Michael Weyer

Satz & Layout: Grittany Design, www.grittany-design.de

ISBN: 978-3-947147-07-6

© GedankenReich Verlag, 2018Alle Rechte vorbehalten.

Dank dir habe ich nie

mit dem Schreiben aufgehört

Schmerz schoss durch ihre Brust. Ihr Atem ging hektisch und nur noch stoßweise. Jemand schrie ihren Namen. Schluchzen erklang, doch sie wusste nicht, ob es von ihr kam.

Eine tiefe Gleichgültigkeit breitete sich allmählich in ihr aus.

Leere wuchs in ihr heran, wie ein tiefschwarzes Wesen, das sich in ihrem Inneren eingenistet hatte und lauerte. Tag und Nacht hatte es gewartet. Geduldig und schweigend, bis sie endlich nachgegeben hatte. Gierig stürzte sich die eisige Kälte in ihren Körper und riss an ihrem Leben. Wie lange dieses Schrecken bereits darauf gelauert hatte, war unklar und doch war es längst vorherbestimmt worden. Niemand hatte ihm Beachtung geschenkt, diesem Monstrum, das sich nun köstlich amüsierte.

Ihre Lippen öffneten sich. Sie zitterten. Trotz aller Bemühungen drang kein Wort aus ihrem Mund. Stattdessen lief etwas Feuchtes und Klebriges an ihren Mundwinkeln hinunter.

Blut.

Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zu Boden gegangen war. Sie war einfach in diese Position geglitten. Ihre Knie brannten. Sie musste gegen etwas gestoßen sein.

Keuchend stützte sie sich mit den Handflächen auf dem Boden ab. Auf allen Vieren hockend starrte sie das Blut an, das tröpfchenweise auf den Boden fiel und sich mit ihren Tränen vermischte.

Erneut sprach jemand zu ihr. Die Stimme klang verzweifelt. Es handelte sich jedoch nicht um die Stimme, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Nie wieder würde sie diese Stimme zu hören bekommen. So gerne hätte sie ihm ein letztes Mal mitgeteilt, wie sehr sie ihn liebte. Trotz allem, was geschehen war, gehörte ihr Herz noch immer ihm.

Beinahe hätte sie aufgeschrien. Ein Taubheitsgefühl kroch durch ihren Körper. Der Schmerz wurde milder und verschwand allmählich. Wann sie sich auf die Seite gelegt hatte, wusste sie schon gar nicht mehr.

Es war auch nicht von Bedeutung.

Neben ihr erblickte sie eine schlaffe, weibliche Hand. Blut klebte an ihren Fingern. Die Ringe um das Handgelenk kamen ihr bekannt vor. Armreifen der Sklaven. Ein Name bildete sich auf ihren Lippen.

Suraja, ihre Sklavin und zugleich beste Freundin.

Niemals hätte Suraja ihr folgen dürfen. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen, diesen Weg zu wählen, denn ohne ihn konnte sie dieses Leben nicht überstehen. Ohne ihn starb sie Tag für Tag mehr. Der letzte Ausweg war für sie selbst bestimmt gewesen, nicht für ihre einzige Freundin.

Zu einfach war ihr der Weg erschienen. Zu leicht die Flucht in den Tod. Doch mit den Schmerzen des Fluches, der auf ihr lastete, hatte sie nicht gerechnet. Man durfte Götter und ihren Rachedurst nicht unterschätzen, denn selbst den süßesten Suizid vermochten sie zu verderben.

Das Letzte, das sie vernahm, bevor die grellen Flammen der Magie ihren Körper ergriffen, war, wie die Tür zu ihrem Gemach aufgerissen wurde und Männer in Stiefeln hereinstürmten. Ihre Leibwachen.

Das interessierte sie jedoch längst nicht mehr.

Der Schmerz schoss durch ihr Mal. Ihre Leiste schien zerfleischt zu werden, als würde man sie an dieser Stelle in sämtliche Richtungen reißen, damit auch jeder ein Stück von ihr erhielt. Kreischend wand sie sich, während sie das Gefühl hatte, das man sie bei lebendigem Leibe häuten würde. Jemand labte sich an ihrem Blut. Sie wimmerte und doch hörte sie nichts davon, spürte nur das verräterische Zittern ihrer Kehle, ehe die Stimmbänder sich zum lautlosen Schrei anspannten. Das Fleisch wurde ihr von den Knochen genagt. Schmatzende Geräusche erklangen an ihrem Ohr.

Hektisch glitt ihr Blick hin und her, aber außer grellem Licht konnte sie nichts erkennen.

Sie wollte flehen, man möge sie einfach töten, aber kein Wort klang aus ihrem Mund.

Übelkeit stieg in ihr auf, als ihre Knochen zu bersten begannen. Man brach sie ihr, einen nach dem anderen. Blutige Tränen verließen ihre Augen und liefen langsam über ihre eingefallenen Wangen, ihre Haare fielen ihr in Strähnen aus, ebenso jeder Zahn. So sehr sie sich auch versuchte zu winden und zu fliehen, es gelang ihr nicht. Sie war nicht mehr Herr ihrer Gliedmaßen.

Gefangen durch schwarze Magie.

Niemals hätte sie diesen Weg gehen dürfen. Sie hätte an Ort und Stelle bleiben müssen, wie man es ihr gesagt hatte. Aber der Weg war so verlockend gewesen. Er war ihr im Traum erschienen. Wie blind hatte sie sein können zu glauben, dass es sie in ein besseres Leben geleiten würde? Dass dieser Weg die Erlösung darstellte und sie zurück in seine Arme führen könnte?

Ihre Stimmbänder erzitterten, zum ersten Mal erklang ihr schmerzerfüllter Schrei. Wie eine kreischende Säge hallte es in ihren Ohren nach. Unaufhörlich presste sie den Schmerz durch ihre Lunge und gab ihn jedem Kund, der sich in diesem Augenblick an ihr labte.

Jemand spannte etwas über ihren Körper. Langsam wurde sie wieder zusammengedrückt, als würde man sie in eine Form pressen. Eine winzig kleine Form. Der Schmerz raubte ihr noch immer die Sinne, brachte sie um den Verstand.

Schläge gegen ihren Schädel sorgten für einen Funkenregen vor ihrem Auge.

Langsam trat die Erkenntnis an die Stelle der Ahnungslosigkeit. Mit Entsetzen realisierte sie, was soeben mit ihr geschah. Was ihre Familie ihr da antat. Der Schleier des Vergessens wollte sich über sie legen, doch noch wehrte sie sich und kämpfte dagegen an. Diesen Weg hatte sie nicht gewählt. Das entsprach nicht ihrem Willen.

»Nein!«, wollte sie schreien. Doch alles, was ihrer Kehle entglitt, war ein jämmerliches Krächzen. »Nicht! Tut mir das nicht an!«

Bislang eine vergebliche Bemühung um Aufmerksamkeit. Niemand ging darauf ein. Niemand sprach ein Wort zu ihr.

Wo war er? Er hatte geschworen, sie zu schützen! Doch wo versteckte er sich, wenn sie ihn am dringendsten brauchte?

Die Veränderungen kamen mit einer perfiden Genauigkeit einher. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr der Weg, der nun für sie bestimmt war.

Der Tod wäre auch zu erlösend gewesen. Zu einfach. So leicht würde sie ihrer Familie nicht davonkommen. Der Magie, die ihren Körper umgab.

Allmählich verlor sie ihr Augenlicht. Auch das Reißen verklang. Der Schmerz schwand.

So sehr sie sich auch konzentrierte, so stark sie es versuchte, es genügte nicht. Die Sinnesorgane versagten nach und nach ihren Dienst und verwehrten ihr jegliche Eindrücke und Wahrnehmungen auf das, was kommen würde.

Die Gewissheit raubte ihr erneut den Atem. Krampfhaft klammerte sie sich an ihre Erinnerung an ihn, an ihren Seelengefährten, aber sie wusste, dass dieser Versuch erfolglos sein würde.

Ihre Erinnerungen zerflossen und verließen ihren Körper durch jede ihrer Poren. Ein letztes Mal beschwor sie sich sein Bild hervor. Ein letztes Mal formte sie mit ihren Lippen seinen Namen.

»Logan.«

Dann wurde alles schwarz.

Die Erinnerungen waren fort.

Los, haltet ihn fest!«

Immer mehr Leute stürmten in den Gang hinein, von wo aus das Geschrei kam.

Immer wieder bäumte sich der Patient auf und versuchte, jemanden zu ergreifen und nach diesem zu schlagen.

Mühsam schaffte es das Sicherheitspersonal, ihn zurück auf die Liege zu drücken. Ein Arzt versuchte, ihm eine Beruhigungsspritze zu injizieren. Das Resultat war kläglich. Von allen Seiten war keuchender Atem oder zorniges Fluchen zu hören.

In dem Moment, in dem zwei Krankenschwestern den Flur betraten und ihren Kollegen zu Hilfe eilten, hatte dieser Mann es geschafft, sich vorzubeugen und einen Polizisten zu beißen.

Der Uniformierte schrie auf und versuchte vergeblich, sich loszureißen. Der Wahnsinnige hinterließ eine klaffende Wunde am Hals des Polizisten. Mit einem lauten Schrei wich der Verwundete zurück und presste seine Hand seitlich gegen den Hals, sodass das Blut nun an seinem Arm hinablief. Augenblicklich eilte eine weitere anwesende Ärztin zu ihm und führte ihn hinaus.

Unterdessen stierte der Patient sein nächstes Opfer mit blutigen Lippen und wildem Blick an.

Genau in dem Moment schaffte es einer der Ärzte, die Spritze in seinen Körper zu rammen. Gerade noch rechtzeitig wich Dr. Sanchez aus, bevor auch er gebissen werden konnte.

Diesen Tag würde niemand der hier Anwesenden so schnell vergessen.

Es war der Tag, an dem alles begann.

Der Anfang vom Ende.

Elenya Fairings blickte immerzu auf ihre Armbanduhr. Jeden einzelnen Blick bedauerte sie. Die Zeit schien nicht voranschreiten zu wollen. Es hieß, dass die Zeit unter Beschäftigung und Arbeit schneller vergehen würde, jedoch schien es in diesem Fall nicht zuzutreffen. Ginge es nach Elenya, so könnte die Zeit nicht schnell genug vergehen. In Anbetracht der Situation mit einem Psychopathen im Behandlungsraum Eins, war dies nicht weiter verwunderlich.

Als angehende Ärztin, die sich aktuell im Praxisabschnitt ihres Medizinstudiums befand, hatte sie derzeit eine Stelle als Arzt im praktischen Jahr in einer großen Uni-Klinik in Florida.

Es entsprach ihrer Aufgabe, sich um die Akten zu kümmern und einige Handlangerarbeiten zu erledigen. Nicht jedoch, um sich aufgrund von fehlendem Personal wegen Urlaub und Krankheit solchen Gegebenheiten entgegenstellen zu müssen. Arbeiten war in Ordnung, doch die eigene Gesundheit aufs Spiel setzen?

Sie nippte an dem Tee, welchen sie von zu Hause mitgebracht hatte. Eine Mischung, die sie seit Kindheitstagen täglich trank.

»Miss Fairings?«

Aus den Gedanken gerissen, folgte sie schnell ihrem Chefarzt in den Konferenzraum. Die vorherige Schicht war noch anwesend. Ihr Blick glitt über die einzelnen Gesichter, suchend nach dem einen. Ein jedes wirkte unmotiviert, die Müdigkeit war bei den meisten zu erkennen.

»Guten Morgen.« Die gelangweilte Stimme des hageren Mannes am vordersten Ende des Raumes sorgte für Ruhe. Er würdigte seine Kollegen nicht einmal eines Blickes. Während Dr. Stephan Martinez die Aufnahme der vergangenen Nacht kundgab, blickte der Stationsleiter Dr. José Sanchez trocken drein. Seine Miene wirkte unergründlich. Wachsam musterte Elenya dieses zu alt wirkende Gesicht des Anfang Vierzigjährigen.

»Wir hatten im Nachtdienst insgesamt fünfunddreißig Patientenaufnahmen zu verzeichnen. Bitte überfliegen Sie die Daten. Danach machen wir weiter.«

Für sie war dieser Mensch eine sprechende Schlaftablette.

Es war nicht verwunderlich, dass sie von ihren Aufzeichnungen aufblickte und sich im Raum umsah. Auf der gegenüberliegenden Seite erkannte sie die Frau, nach der sie Ausschau gehalten hatte. Naomi, ihre beste Freundin. Eine hübsche Latina mit braunen Augen und langem Haar. Elenya trug ihr goldenes Haar meist zu einem Zopf hochgebunden. Naomi hingegen behielt das ihre vorzugsweise offen, sodass dunkelbraune Strähnen über den Kittel tanzten.

Während Elenya meistens eifrig in den Vorlesungen mitschrieb, schlief ihre beste Freundin mit dem Kopf auf ihrem Anatomie Ordner und träumte von ihren Affären. Naomis liebste Tageszeit war die Nacht, die von Elenya der Tag. Müsste die Latina nicht arbeiten, würde sie so einige Nächte in der Partyszene verbringen. Einen festen Freund hatte sie selbstverständlich keinen. Dafür gab es ihrer Meinung nach zu viele schöne Körper, um sich auf nur einen zu begrenzen. Christian, Ace, Stanley, Daryl, Alex der Erste, Alex der Zweite, Alex der Dritte, Monty.

Naomis Liste war lang.

Bei dem Gedanken musste Elenya sich ein breites Grinsen verkneifen und blickte unauffällig auf ihr Handy. Erst auf die Uhrzeit, dann auf das Datum.

Vor Weihnachten mangelte es nie an Arbeit. Vereitelte Suizidversuche, Menschen, die ihren Kummer in Alkohol ertränkten und dann durch ihre Trunkenheit Unfälle verursachten.

Zu viele Menschen. Zu viel Unglück.

Dabei galt Weihnachten als das schönste Fest des Jahres.

Doch ohne Familie verfielen manche in eine endlose Trostlosigkeit. Langsam zerfraß der Schatten das Herz, bis irgendwann ein Loch entstand, sehnsuchtsvoll darauf wartend, geheilt zu werden. Doch die Heilung kam nicht.

Und das Herz?

Es wurde klein. Es verkümmerte. Die Liebe wurde versagt und die Hoffnung verklang. Der Strick zog sich enger. Der Schmerz breitete sich aus, spann seine Fäden fester. Klauen griffen nach dem ehemaligen Leben, bis das Herz starb und nichts als Leere zurückließ.

Eben diese Herzen mussten die studentischen Fachkräfte versorgen. Eine Woche vor Weihnachten fanden keine Vorlesungen statt, die besucht werden mussten. Jedoch konnte man stark davon ausgehen, dass es eben jene Studenten sein würden, die sich während ihrer Praktika um sämtliche Patienten kümmern mussten, für die das feste und bereits ausgebildete Personal kein Interesse hatte.

»Kommen wir zum Abschluss und somit zu dem namenlosen Patienten. Wir haben es hierbei höchstwahrscheinlich mit einem Fall von unbekanntem Substanzmissbrauch zu tun. Bislang liegen noch keine Laborergebnisse vor. Minimale äußere Verletzungen. Die Leberwerte sind leicht erhöht. Zuletzt verhielt sich der Patient aggressiv und unkooperativ. Die Neurologie ist zu kontaktieren, da noch Untersuchungen gemacht werden müssen. Zudem brauchen wir ein neues EKG. Steve, übernimm bitte diese Aufgaben.«

Damit war die Besprechung endlich vorbei.

Nachdem Elenya ihre Mitschriften sortiert hatte, begab sie sich nach draußen. Dort wurde sie sogleich aus der Masse herausgezogen und fand sich in einem Seitengang Naomi gegenüber.

»Hey, Miss Workaholic.«

»Du sollst mich doch nicht so nennen«, stöhnte Elenya auf.

»Sei nicht so.« Naomi knuffte ihre beste Freundin in die Seite und entlockte der Blondine ein leises Lachen. Zufriedenheit war in dem Blick der Latina zu erkennen.

»Ich könnte dich auch Königin des Ostens nennen. Verrätst du mir nun endlich dein Geheimnis?«

»Es gibt keines.« Elenya lächelte entschuldigend. Königin des Ostens war ein alter Spitzname, den sie einst erhalten hatte. Ihre Haut wirkte golden. Trotz wochenlangem Regen wies sie meist eine gebräunte Hautfarbe auf. Kaum trat die Sonne hervor, wurde sie bereits braun.

Gesegnete Gene. Naomi hatte des Öfteren ihren Neid gegenüber Elenya bekundet. Für Bräunungscremes und Sonnenstudios fehlte bislang jedoch die Zeit, auch wenn Elenya sich ziemlich sicher war, dass ihre Freundin diese Zeit gewiss erübrigen könnte. Dafür müsste sie nur ihren Männerverschleiß etwas herunterfahren.

Es war jedoch nicht immer alles Gold, was glänzte. Ein Schatten lag um Elenyas Leben.

Bislang war sie von ihrer Vergangenheit verschont geblieben. Doch das Schicksal verschonte niemanden. Es war unnachgiebig.

Hart.

Erbarmungslos.

Es holte jeden ein. Früher oder später erreichte es seine Opfer mit unbarmherziger Strenge.

In letzter Zeit hatte Elenya öfter unangenehme Träume gehabt. Doch wenn sie erwachte, besaß sie keinerlei Erinnerungen mehr an die verwirrenden Bilder. Manchmal fühlte es sich so an, als würde sie jemand würgen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Sie halten und nicht mehr loslassen. Panikattacken kratzten in diesen Momenten an ihrer Oberfläche und wollten hervorbrechen. Wenigstens jetzt blieb sie davon verschont, sodass sie Naomi gedankenlos in den Aufenthaltsraum folgen konnte.

»Wie läuft es mit Brandon?«

Ein Seufzen entwich Elenya bei dem Gedanken an den bevorstehenden Umzug. »Abgesehen von dem Umzug ziemlich gut.«

Sie war bereits seit drei Jahren mit Brandon zusammen. Er war nicht perfekt, weder äußerlich, noch innerlich. Elenya würde jedoch zu gerne jemanden kennenlernen, der dies von sich behaupten könnte. Brandon war das, wonach sie gesucht hatte. Mehr brauchte sie nicht. Zudem kannten sie einander seit dem Kindergarten und waren schon immer die besten Freunde gewesen. Auf einer Party war es von einem zum anderen gekommen. Es hatte lange gedauert, bis sich etwas zwischen ihnen entwickeln wollte. Ebenso lange waren sie umeinander herumgetänzelt. Für manch einen zu lange, denn die meisten hatten nur noch darauf gewartet, bis die beiden endlich ihre Scheuklappen abgenommen hatten.

Doch wie das Sprichwort schon sagt – was lange währt, wird endlich gut.

Sie liebte ihn. Das tat sie bereits seit dem Kindesalter. Jedoch kam es ihr manchmal so vor, als fehle irgendetwas. Es war nicht greifbar. Der Schmerz war nicht oberflächlich, sondern tiefgründig und ging bis in den Kern ihres Seins, hatte Fuß gefasst und Wurzeln geschlagen. Er umfasste sie in einem drastischen Klammergriff. Immer stärker überkam sie in letzter Zeit die Sorge, dass etwas falsch war. Doch dafür blieb nun keine Zeit, sie musste ihre Schicht beginnen und achtete also wieder auf den Klang der Stimme neben sich.

»Ich habe drei deiner Fälle erhalten. Sollen wir sie durchgehen?«, kehrte Elenya wieder in das Gespräch zurück.

Naomi stimmte zu. »Bald siehst du nicht mehr aus, wie aus dem Ei gepellt. Der Wahnsinnige wird dir stark einheizen.«

Gemeinsam betraten sie den Aufenthaltsraum. Naomi ging zielstrebig zur Kaffeemaschine. Ein Knopfdruck genügte und billiger Kaffee floss in einen noch billigeren Becher. Elenya lehnte sich mit der Hüfte an die Kommode, auf der die Maschine stand und sah in die entsprechende Akte. Eine Augenbraue wanderte empor, während sie ihre Hand ausstreckte, um den Kaffee entgegenzunehmen.

»König Aegerias?«, las sie ungläubig vor.

Naomis Mundwinkel zuckten.

»Das klingt, als wäre es einem schlechten Buch entsprungen.«

»Nun, er ist zumindest stark davon überzeugt.«

Bedeutungsvolle Blicke wurden gewechselt, während Elenya an ihrem Kaffee schlürfte.

Elenya schüttelte schließlich nur widerspenstig den Kopf. »Bald benötigen wir zusätzlich eine psychiatrische Ausbildung zu unserem Medizinstudium. Ich sehe ihn mir später an. Zum Einstig die einfachen Fälle und du versuchst, etwas zu schlafen.«

Eine kurze Umarmung folgte. »Pass ja auf dich auf. Nicht, dass der Typ dir noch an die Wäsche will – vergiss nicht, ich habe ihn zuerst gesehen.« Naomi zwinkerte Elenya zu, woraufhin die Blondine lachen musste.

»Der muss ja wirklich sehr gutaussehend sein, dass du über Aggressionen und psychische Störungen hinwegsiehst!«, kommentierte Elenya amüsiert, woraufhin sie den Schalk in den Augen ihrer Freundin erkannte.

»Gegen ein kleines Abenteuer habe ich wirklich nichts einzuwenden. Das tue ich nie.«

Bei dem scheinheiligen Blick der Latina konnte Elenya nur seufzen. Die Brünette wusste genau, was Elenya von ihrem freizügigen Leben hielt, jedoch hatte sie es sich abgewöhnt, noch länger auf sie einzureden.

Sie verabschiedeten sich. Der eine Weg führte nach rechts in Richtung Ausgang, der andere nach links in Richtung des Herzens des Krankenhauses.

Viel Papierkram. Röntgenbilder besorgen. Eine Wunde desinfizieren. Eine Mutter beruhigen, deren Sohn Feuerwerkskörper gefunden und sich schlussendlich daran verbrannt hatte.

Zwischendurch schrieb Elenya Brandon eine Nachricht. Sie tat es selten, da sie kaum Zeit hatte und die seltenen Pausen, die man ihr zusprach, zum Essen nutzte.

Ein Zusammenbruch inmitten einer Behandlung wäre nicht nur äußerst unangenehm, sondern könnte auch einen Eintrag in ihrer Akte mit sich führen. Es war einem selbst überlassen, sich um die eigene Gesundheit und Fähigkeiten zu kümmern. Wer in dem Becken voller Haie nicht zurechtkam, sollte es bleiben lassen und zu den Seepferdchen wechseln. Nur manchmal fühlte es sich an, als hätte sie nicht nur zahlreiche blutende Wunden, die die Haie anlockten, sondern obendrein auch noch mehrere Kilo blutiger Steaks um ihren Körper gewickelt, was dazu führte, dass man ihr noch mehr Last auf die Schultern legte. Als hätte sie nicht schon genug zu tun.

Elenya verbat sich solche Gedanken. Dafür war in den Pausen oder zu Hause auch noch genügend Zeit. Sie war hier, um zu lernen und um zu arbeiten. Zumindest größtenteils. Der Patientenkontakt war schließlich auch von hoher Bedeutung. Man könnte dies natürlich auch in gewisser Form als Arbeit bezeichnen, doch mit einigen Patienten war es dann doch mehr, als nur das. Beispielsweise mit Mrs. Donnavan.

»Lady? Beweg mal deinen Hintern hierher, mir geht es schlecht!«

Mit einem Lächeln drehte sich Elenya um neunzig Grad und trat in das Patientenzimmer der älteren Dame, die schon seit zwei Wochen hier stationiert war.

»Was kann ich für Sie tun, Mrs. Donnavan?«

»Mir meine Hüfte wiedergeben! Mein Henry wartet schon zu Hause auf mich.« Lüstern grinste die alte Dame bei diesen Worten. Anfänglich hatte diese Frau so manch einem hier einen roten Kopf verpasst. Mit ihren siebenundachtzig Jahren war sie nicht mehr die Jüngste, hatte jedoch ein intensiveres Sexleben als Elenya. Dahingehend war es bei ihr jedoch auch etwas komplizierter, was Berührungen anbelangte.

»Sie wissen doch, dass solch eine Operation nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf, Mrs. Donnavan.«

»Ach, Papperlapapp! Ihr jungen Dinger wisst doch wie es ist, wenn ein williger Mann daheim wartet. Wie sagt deine Generation doch gleich? Er ist willig, beritten zu werden!« Gut, manchmal brachte sie immer noch eine zarte Röte auf Elenyas Wangen. »Mrs. Donnavan!«

»Was denn? Noch nie über Sex gesprochen, Liebes? Soll ich dich aufklären?« Eine Ampel könnte nicht röter werden.

»Danke, diesbezüglich bin ich schon im Bilde.«

Mrs. Donnavan lächelte mitfühlend. «Ein Spinnennetz um die Höhle?»

»Mrs. Donnavan!«

»Sagt man das heutzutage nicht so?« Die rüstige Rentnerin begann zu lachen. Eine attraktive Frau. Wenn man sie näher betrachtete mit ihren intelligenten, grauen Augen und dem weißen, schulterlangen Haar konnte man hinter den Lachfalten ein schönes Gesicht erkennen. Noch immer war sie eine schöne Frau, die ihr Leben in vollen Zügen genoss. Bei ihr kam die Schönheit durchaus von Innen, jedoch sah sie obendrein keineswegs so aus, wie man sich eine fast Neunzigjährige vorstellen würde. Auch ihre Art zu sprechen war eher jugendlich und pubertär geblieben. Keinesfalls konnte ihr Mundwerk einer reifen Dame zugeordnet werden.

Sie war eine wahre Frohnatur und sprach aus, was sie dachte. Ob dem schon immer so gewesen war, ließ sich nicht sagen. Zumindest war sie, trotz der typischen Grimmigkeit ihrer Generation, sehr offenherzig und direkt. Grimmig war sie ohnehin meist nur dann, wenn man sie nicht beachtete oder sie ihren Willen nicht bekam. Eine geborene Diva.

»Du solltest endlich mal den Keuschheitsgürtel ablegen und leben, Kindchen. Ein wenig mit dem süßen Po wackeln und die Hüften kreisen lassen.« Die Augen der älteren Dame erstrahlten in einem ungewohnten Glanz.

»Ein wenig Wodka trinken, wie es Russen nun mal tun.«

»Jedoch sind weder Sie noch ich eine Russin«, entgegnete Elenya.

»Ich weiß, ich sagte ja auch nur, dass die das so machen.« Die Dame zwinkerte der studentischen Praktikantin zu. »Könntest dir ein Beispiel daran nehmen.«

Leise lachte Elenya auf, ehe sie liebevollen Blickes zu Mrs. Donnavan sah. »Sie sollten sich nun etwas ausruhen. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie etwas Gutes tun?«

»Ja, du könntest dir das Foto mal ansehen und mir sagen, ob das gut so ist für das Alter.«

Trotz des hohen Alters beherrschte diese Frau das Handy in ihrer Hand außerordentlich gut. Elenya musste nicht lange warten, bis sie ihr das Display vor die Nase hielt. Erschrocken stieß sie einen spitzen Schrei aus, ehe sie sich errötend abwandte.

»MRS. DONNAVAN!«

Doch diese lachte nur und blickte nun wieder auf das Nacktfoto ihres Freundes. Ihr Mann war bereits vor über zehn Jahren verstorben und da hatte sie sich wohl gedacht, dass man nie zu alt sei für eine neue Beziehung.

»Na, deiner Reaktion nach ist das durchaus noch annehmbar. Geh ruhig, Kindchen. Eine alte Frau braucht nun ihre Ruhe für ein paar Fantasiereisen.«

Das ließ Elenya sich gewiss nicht zweimal sagen. Dieses Bild, widerlich! Es würde noch elend lange in ihrem Kopf herumspuken. Schnell verließ sie peinlich berührt dieses Zimmer und wollte die Tür gerade schließen, als die Stimme der älteren Dame von Neuem erklang.

»Ach, Liebes?«

Kurz öffnete Elenya die Tür einen Spalt, um die Patientin ansehen zu können. Bei dem ungewohnt ernsten Blick der alten Dame lief es ihr eiskalt den Rücken herab.

»Nicht jeder Freund ist ein Freund. Nicht jeder Feind ein Feind. Man sieht nur durch das Herz, nie mit dem Auge. Bleibe wachsam, mein Kind, denn böse Mächte gleiten durch die Gänge und warten darauf, sich in deinen Adern zu festigen. Selbst der Tee kann nicht helfen. Nun geh und lass mich alleine.«

Kopfschüttelnd und noch immer ziemlich durch den Wind, schloss Elenya leise wieder die Tür hinter sich.

Für heute hatte sie definitiv genug von sexuellen Themenbereichen. Schlimm genug, dass ihre beste Freundin ein reges Sexualleben führte und davon gerne zu berichten wusste, dann brauchte sie nicht auch noch visuelle Einblicke in das Sexleben einer alten Frau! Hoffentlich stellte sie alleine auf ihrem Zimmer nichts Dummes an. Es wäre nicht gerade angenehm für die Schwestern oder einen der Ärzte, wenn sie Mrs. Donnavan bei etwas Intimen stören würden. Erneut schüttelte es Elenya.

Mrs. Donnavan war ihrem Geschmack nach noch zu aktiv für ihr Alter. Doch sie gönnte es ihr. Würde sie selbst mit fast neunzig Jahren noch immer derart agil sein, sie würde Gott tausendfach danken. Die letzte Warnung begriff Elenya nicht, doch das war auch nicht ihre eigentliche Problematik.

Seit einigen Stunden prickelte ihre Leiste unaufhaltsam. Verheißungsvoll. Verkündend. Es war eine bestimmte Stelle an ihrem Körper, die markiert war und die ihr gesamtes Leben zu zerstören schien. Ein einziges Mal, das insbesondere ihr Liebesleben mit Brandon erschwerte. Sie hatte immer gehofft, dass es mit der Zeit besser werden würde. Während ihrer Beziehung hatte sie gelernt, mit dem Schmerz umzugehen. Hatte es erlernen müssen. Eine andere Wahl war ihr nie geblieben.

Sie nutzte die Zeit, um sich zu sammeln und dann erneut in die Akten zu sehen. Es waren nur noch zwei übrig.

Die Arbeitszeit verging und die letzten Akten waren fort.

Die schlimmste Zeit begann.

Die Zeit, in der man nicht wusste, was man tun sollte. Wenn sämtliche Handlangerarbeiten vollzogen waren und die Ärzte ihren Operationen nachgingen.

Langsam schlenderte sie durch den Flur. Als Praktikantin hatte man ein geringes Maß an Kompetenzen und Zugängen. Es war zudem ihr erstes Praktikum, sodass man ihr noch nicht sonderlich viel zutrauen wollte. Zu Recht, wie sie fand. Überforderung wäre kontraproduktiv in ihrem Stadium der Ausbildung. Sie hatte erst die ersten zwei Jahre des Studiums hinter sich gebracht, befand sich demzufolge nun zu Beginn des dritten Studienjahres mit ihren jungen zwanzig Jahren.

Ob der wahnsinnige Patient wirklich so schlimm war, wie Naomi dargestellt hatte?

Gut, dass sie gerade nicht dorthin musste. Erst wenn jemand Alarm schlug, sollte sie in diesen Bereich gehen. Jedoch erwartete man in den nächsten Stunden kaum eine Reaktion, die über Blinzeln und starr Löcher in die Luft schauen hinausgehen dürfte. Dafür hatte der Patient zu viele Beruhigungsmittel erhalten.

Elenya studierte unterdessen auf dem Flur den Einsatzplan der kommenden Woche, als plötzliches Geschrei erklang. Sie fuhr herum und sah, wie eine Schwester weinend aus einem Raum floh. Zornige Schreie erklangen. Zwei Ärzte eilten in das Zimmer. Sofort erkannte Elenya, um welches Zimmer es sich dabei handeln musste.

Hatte sie nicht gerade eben noch gedacht, dass die Beruhigungsmittel ausreichend seien? Anscheinend hatte man sich in der Dosierung geirrt oder einen anderweitigen Fehler begangen, denn das klang alles andere als beruhigt.

Schnell wandte sie sich dem Raum zu und atmete tief ein. So tun, als würde sie nichts mitbekommen, konnte sie leider nicht. Sie musste helfen und bereitstehen, falls sie irgendwelche Dinge holen musste.

Handlangerarbeiten. Wie immer.

Ein letztes Mal atmete sie tief ein und spürte das wilde Pochen in ihrem Herzen. Ein zorniger und gefährlicher Patient wartete dort drinnen auf sie. Doch statt Angst zu empfinden, begann ihre Leiste angenehm pulsierende Wellen durch ihren Körper zu schicken. Eine atypische Reaktion, für die sie jedoch in diesem Augenblick keine Zeit hatte.

Elenya ging los. Hinein in die Höhle des Löwen.

Überall diese inkompetenten Idioten. Panisch hetzte sein Blick hin und her. Wo war er? Warum half ihm niemand? Dieser Gestank! Wo kam er her? Es roch widerlich und reizte seine empfindliche Nase. Ein wutentbrannter Schrei entwich ihm, während er an den Fesseln riss, die um seine Hand- und Fußgelenke gebunden waren. Die Haut darunter war bereits wund, jedoch realisierte er dies längst nicht mehr. »Ich bin der König von Aegeria! Ihr unwürdigen Kreaturen, lasst mich frei oder ich enthaupte euch!«

Es war wohl nicht die klügste Entscheidung, diese Menschen derartig zu bedrohen. Doch der Zorn in ihm brodelte, seine Augen glühten golden und das Verlangen, seine Frau endlich in den Armen halten zu können, wuchs ins Unermessliche.

Seine letzte Erinnerung bestand darin, dass er in den Schrein der Götter gegangen war. Gefleht hatte er, man möge ihm seine Frau zurückgeben. Auf die Knie war er gefallen. Er, Gott und König zugleich.

Selbst Tränen waren ihm entwichen. Der Schmerz. Die Leere in seinem Inneren. Geschluchzt hatte er. Geweint und den Verlust hinausgeschrien.

So leer.

So einsam.

Ihr Tod hatte ihn zerrissen. Seine Seele in unzählige winzige Teile zerfetzt. Schlimmer hätte es nicht kommen können, war seine Frau doch sein Lebensinhalt gewesen. Die Luft aus seinen Lungen war ihm geraubt worden. Langsam war er eingegangen, wie eine Pflanze, die man vergessen hatte zu gießen, einst wunderschön in ihrer Pracht, doch nun nur noch ein Häufchen Elend. Von innen ausgetrocknet, bis sämtliche Organe zu feinstem Pulver zerfallen waren. Ein sanfter Windhauch und hinfort waren sie gewesen.

Seine Frau.

Seine Seele.

Sein Leben.

Fort in eine Welt, in der sie sich wieder manifestiert hatten.

In einer Welt, in der man ihm Fesseln anlegte. Wo keiner seiner Soldaten anwesend war. Wo man ihn nicht kannte, sondern demütigte. Und dann dieses Teufelszeug, welches man ihm einflößte.

»Erhöht die Dosis. Er muss dringend ruhiggestellt werden.«

Ein Protest lag bereits auf seinen Lippen. Das Teufelszeug sollte fernbleiben. Es raubte ihm die Sinne und schwächte ihn. Der Blickwinkel wurde kleiner, war schwarz geworden. Noch bis zum Ende kämpfte er gegen die Macht dieser Tinktur an, die man ihm eingeflößt hatte. Wie ein Bulle sträubte er sich, bis sein Körper erschlaffte und sich nicht mehr regen konnte.

Als er das nächste Mal erwachte, war eine widerwärtige Frau gerade zugange, seinen Körper mit Tüchern zu reinigen.

»Du elendes Weib! Du erdreistest dich, mich mit deinen schmutzigen Händen zu berühren? Was fällt dir ein? Hinfort, bevor ich dich den Wölfen zum Fraß vorwerfe! Verschwinde!«

Es folgten viele Flüche und Beleidigungen. Er bleckte wie wild geworden die Zähne und stieß sich so weit hoch, wie es die Fesseln zuließen und biss dieser Frau in die Hand, sodass sie zu schreien begann.

Dieser Laut ließ ihn kalt.

Angewidert verzog der König sein Gesicht, auf den Boden spuckend, um den Geschmack aus dem Mund zu befördern. Sogleich stürmten zwei Männer in weißen Umhängen herein. Er riss von Neuem an den Fesseln und gab ein Brüllen von sich. Ein weiterer Mann stürmte herein. Er trug eine Uniform. Es sah befremdlich aus. Schon lagen die Pranken dieses Mannes auf seiner Brust und pressten ihn hinab. Worte erklangen, die er nicht verstand.

»Ich bin Loren Gandriel, erster meines Namens, König Aegerias, Sohn des Dreiköpfigen Wolfsgottes, Neffe des Todes! Ich bin der Beschützer meines Landes, Herr der Wälder und Meister der Schatten! Treuer Gemahl der Halbgöttin Celestia, die … Lasst mich los, lasst mich …«

In diesem Augenblick schaffte es einer der weiß gekleideten Männer, ihm eines dieser Teufelsdinger in den Arm zu rammen und eine seltsame Flüssigkeit in seinen Körper zu injizieren. Seine Gegenwehr verklang langsam. Allmählich wurde er ruhiger und glitt immer weiter in die Kissen. Alles um ihn herum drehte sich, leichte Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus. Er verdrehte die Augen, die sich von einem strahlenden Gold zurück in ein tiefes Grün verwandelten.

Die drei Männer wichen zurück. Einer wirkte hager. Er zitterte und wischte sich über die Stirn. Der in der Uniform gab ein Grummeln von sich und positionierte sich neben der Tür, während der Dritte ihn aufmerksam musterte.

Wachsam. Etwas an diesem Blick gefiel Logan absolut nicht. Doch je mehr Zeit verging, desto mehr war er zur Ruhe gezwungen. Was hatten diese Hexer ihm angetan? Was hatten sie ihm gegeben?

»Guten Tag, Fairings mein Name.«

Diese weibliche Stimme … es konnte nicht sein. Dieses Zeug in seinem Körper musste ihm einen Streich spielen. So lange Zeit hatte er sich danach gesehnt, diese Stimme endlich wieder zu hören. Dem Gesang zu lauschen und unter den sanften Klängen einzuschlafen. Kurz erlag er der Versuchung, sich dem Traum hinzugeben.

»Ich bin heute für Sie zuständig. Wie geht es Ihnen, Sir?«

War er mittlerweile erwacht? Es schien beinahe so. Das Gift musste ihn für einen nicht allzu langen Zeitraum ruhiggestellt haben. Jetzt jedoch kehrten zumindest die kognitiven Fähigkeiten Schritt für Schritt zu ihm zurück.

Sein Blick war weiterhin stur an die Decke gerichtet. Die Lippen leicht geöffnet, die Augen halb geschlossen. Er war zu benommen. Grundgütige Götter, diese Stimme. Sie sollte aufhören. Sollte verschwinden. Litt er nicht schon genug in dieser Welt? Er betete sehnlichst um die Hilfe seiner Genossen. Die anderen Götter gönnten sich auf seine Kosten einen üblen Scherz. Vermutlich würde er jeden Moment erwachen und sich in ihren lachenden und amüsierten Reihen wiederfinden.

Blätter raschelten.

»Stimmt das, was in der Akte steht, Dr. Sanchez?« Die Frau blickte von ihren Unterlagen auf und sah fragend zu dem noch immer prüfend dreinsehenden Mann, der ihn zu keiner Zeit aus den Augen ließ.

»Was genau meinen Sie, Miss Fairings?«

Die Angesprochene räusperte sich leise. »Sie wissen, worüber geredet wird. Wurde er wirklich komplett nackt auf dem Parkplatz gefunden?«

Sanchez stieß ein Grummeln aus. »Das war er in der Tat. Bis auf die Kette um den Hals hatte er nichts getragen. Seine Herkunft ist ebenfalls unbekannt.«

Die Frau kam näher ans Bett, doch Logan weigerte sich weiterhin, sie anzusehen.

»Sir? Wie geht es Ihnen?«, wiederholte sie ihre Frage.

Logan rührte sich einfach nicht und hoffte, dass man ihn in Ruhe lassen würde. Wie es ihm gehen sollte? Abgesehen von den Fesseln und den Umständen, dass er nicht wusste, wo er sich derzeit befand und alle um ihn herum als Teufelsdiener ansah?

Sein Rachen fühlte sich trocken an, obwohl die Kochsalzlösung intravenös zugeführt wurde. Das Gefühl wich dennoch nicht, dass sein Hals rau war, als hätte er sandigen Boden als Mahl gehabt.

Er ahnte, dass seine eigene Stimme anders klingen würde. Fremd, als wäre es die eines anderen. Er war jedoch nicht gewillt, dies nun auszuprobieren. Die Demütigung war so schon schlimm genug. Sollten sie ihn doch alle in Ruhe lassen!

Zudem quälte ihn noch immer die Frage, welches Gift man ihm verabreicht haben mochte. Der Zorn war nicht mehr spürbar. Dafür hatten diese Wesen gesorgt. Das Wissen darum, dass er jedoch voller gleißender Wut sein musste, blieb. Er wollte seine Muskeln anspannen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Der elende Kreislauf des Schicksals. Wollten die Götter ihn strafen, weil er zu seiner Frau wollte? Die Liebe in seiner Brust war das Einzige, das ihn nach vorne trieb. Das ihn am Leben erhielt. Und nun sollte eben jene Liebe ausgenutzt werden, um ihm den höchstmöglichen Schaden zuzufügen und ihn zu Boden zu ringen.

Vielleicht sollte er vorerst nach ihren Regeln spielen? Scheinbar fürchteten sie ihn und das vollkommen zu Recht. Wäre er frei und bei vollster Gesundheit, wären längst Köpfe gerollt.

Er hatte keine Verbündeten hier und auch wenn dies alles an seinem Stolz nagte, so brauchte er eine Strategie. Einen Lösungsweg hier raus! Würde er sie in dem Glauben lassen, dass er zahm war und diese Angriffe nur vorübergehender Verwirrtheit geschuldet waren, so könnte er diese Gestalten in falscher Sicherheit wiegen. Würde er es schaffen, den richtigen Moment abzupassen, könnte ihm eine Flucht durchaus gelingen.

Doch wohin sollte er fliehen, wenn er erst einmal diese Hölle verlassen hatte?

Es war ihm gleichgültig, wer hier war. Sie waren seiner alle nicht würdig. Doch er brauchte diese Menschen. Vorerst. Zudem war da noch immer diese eine Stimme, die ihn zu locken versuchte.

Schritte erklangen. Dann hörte er etwas Seltsames. Es klang, als würde jemand tippen. Doch er regte sich nicht. Sah keinen Zweck darin, seinen Blick zu erheben.

»Haben Sie Hunger? Verspüren Sie Durst?«, versuchte es die so vertraute Stimme erneut.

Diese Sprache … sie fühlte sich falsch an. Warum sprach sie nicht in ihrer Muttersprache zu ihm? Das zeigte doch nur, dass es nicht Sie sein konnte. Ein Teufelsdiener hatte gewiss ihre Stimme geklaut und versuchte, ihn nun zu betören.

»Wie heißen Sie? Ich benötige Ihre persönlichen Daten oder eine Sozialversicherungsnummer. Besitzen Sie so etwas?«

Gequält schloss er seine Augen. Diese weiche, melodische Stimme. Wie sehr sehnte er sich danach. Die menschlichen Gelüste, sie waren so berechenbar. Doch sie zeugten von Gefühlen. Von Emotionen. Ohne diese wäre der einstige König nun nicht hier. Und bei den Göttern – er war auch nur ein Mann! Ein Mann, der die Stimme seiner Frau nach so vielen Jahren endlich wieder hören durfte. Es war ihm nicht zu verübeln, wenn kurzzeitig seine Fantasie mit ihm durchging. Wie gut, dass sein Körper diszipliniert war und keinerlei Anzeichen offenbarte, die ihn und seine kurzweilige Gefühlslage verraten könnten.

Und doch war der Geist geradezu willig und schwach herauszufinden, welches Gesicht sich hinter dieser Stimme verbarg. Er schaffte es nicht mehr, seinen Drang zurückzuhalten und seine Neugierde einzusperren. Sein Körper war stark, doch wenn es um seine Frau ging, war sein Wille schwach. So war es schon immer gewesen, nur hatte er es bislang gut verbergen können.

Widerstrebend wanderte sein Blick langsam zu der Frau neben sich. Etwas in ihm veranlasste ihn dazu, dies zu tun. Womöglich die Ruhe, mit der diese Frau ihn ansprach. Doch er wusste es besser – es war seine Sehnsucht. Das Herz in ihm, welches drohte zu zerreißen.

In dem Moment, in dem sein Blick diese Frau fand, war es, als wäre ein Blitz in seinen Körper eingeschlagen.

Dieses Haar, diese Haut, diese Augen.

Welch bezaubernde Augen. Es war nicht greifbar. Dieses Glück in seinem Inneren, es breitete sich aus. Das Atmen fiel ihm schwer. Emotionen kochten in ihm über. So lange. So unendlich lange hatte er sich nach ihr gesehnt. Hatte sie gesucht. Er wollte sie. Er brauchte sie. Sein Magen verkrampfte sich vor Sehnsucht. Sprachlos starrte er sie an. Dass ihr unter seinem Blick unbehaglich zumute wurde, fiel ihm auf, doch es kümmerte ihn nicht. Nein, stattdessen glitt sein Blick über ihren Körper. Nahezu gierig musterte er die jugendliche Gestalt vor sich, auch wenn der Arztkittel seiner Ansicht nach zu viel versteckte.

Erinnerungen kehrten zurück.

Erinnerungen an Niederlage, Verrat und Demütigung. Sie hatten ihn in den vergangenen Jahren unerbittlich verfolgt und fest in ihrem Griff gehalten.

Blut war geflossen. Freunde entpuppten sich als Spione, Vertraute wurden zu Verrätern, Geliebte zu Opfern. Eine Niederlage war die Konsequenz seines Vertrauens in seine Männer geworden. Das Exil wurde zur einzigen Lösung auserkoren, um zu überleben. Eine Niederlage für sein Land. Eine Entehrung seines Namens. Der Verlust seiner Frau.

Celestia. Seine über alles geliebte Tia.

Seine Augen wurden innerhalb kürzester Zeit dunkler und dann geschah es. Er verlor erneut die Fassung.

Mit einer radikalen Bewegung, die er so hastig vollführte wie es ihm in diesem Moment möglich war, drehte er seine rechte Schulter nach vorn und biss in den Schlauch, welcher mit seiner Vene verbunden war. Er zerrte daran und spürte ein Reißen. Die Kanüle steckte zwar noch halb in seiner Armbeuge, was sein Blut jedoch nicht daran hinderte, spritzend seine Vene zu verlassen.

Selbstgefällig spuckte er den Schlauch gegen die Brust der falschen Hexe und blickte dann bedrohlich auf, um der Frau ins Gesicht zu sehen und sie damit einzuschüchtern.

Aus der Nähe wirkte sie nur noch schöner. Erneut ertappte er sich dabei, dass er versucht war, sich in ihrer Schönheit zu verlieren und dem Bild des Bösen zu glauben.

Wäre diese Frau seine Celestia, so hätte sie ihn längst von den Fesseln befreit und in ihre Arme geschlossen. Mit Küssen hätte sie ihn versehen, statt ihn mit Gift zu betäuben.

Übelkeit überkam ihn. Er versuchte, es weiterhin zu leugnen, doch sie war es. Dieser Blick. Dieses Entsetzen in ihren Augen, als sie zurückwich. Die Handbewegung. Alles sie. Alles seine Celestia.

Die wirkliche Erkenntnis, dass es sich um seine Frau handelte, wurde erst in dem Moment zur Wahrheit, als sein Mal begann, sich zu bewegen. Es wurde zum Leben erweckt und erfreute sich neuer Kraft. So lange hatte es seit ihrem Tod geschwiegen, dass es mittlerweile ungewohnt war, wenn es sich regte. So verwirrend und doch vertraut.

Ein leichter Hauch ihrer Angst wehte zu ihm herüber. Mittlerweile war er geübt darin zu erkennen, wann es sich um seine und wann um ihre Emotionen handelte.

»Celestia. Ich bin es, Loren Gandriel. DeinLogan.«, raunte er kaum hörbar und verharrte in der aufgebäumten Haltung, bis ihm wieder schwarz vor Augen wurde. Diese tollkühne Provokation führte zu einem schnellen Blutdruckabfall. Er sollte die Beruhigungsmittel in seinem Körper gewiss nicht unterschätzen und doch tat er es.

Einem nassen Sack gleichkommend fiel er in sich zusammen. Die Kanüle steckte noch immer in seinem Arm. Normalerweise würde der Einstich nicht dazu führen, dass viel Blut aus der Ader entweichen konnte, doch diese ungezähmte Handlung hatte dazu geführt, dass das Loch sich zu einem schmalen Riss vergrößert hatte.

Obwohl er sich selbst für seine Schwäche verfluchte, galt sein letzter Gedanke nicht seiner eigenen Schmach, sondern dieser Frau.

Einer Frau, die so vertraut wirkte und ihm in diesem Moment doch so fremd war, als wären sie sich zuvor noch nie begegnet. Ein Widerspruch, der ihn verwirrte.

Er spürte nach all den Jahren noch immer ihre Lippen auf den seinen. Vermochte zu sagen, wie der rosige Duft seine Nase umschmeichelte. Es erschütterte und erfreute ihn zugleich.

Sie, seine Sonne.

Der Dämon in seinem Inneren begehrte auf. Das Mal ruckte und zuckte. Immer wieder brach er in einen Fieberwahn aus. Der Schweiß lief über seinen Körper und die Frauen, die ihn säuberten, schienen den Schmerz zu verstärken. Sein Unterbewusstsein nahm alles wahr, was um ihn herum geschah. Der Wunsch zu erwachen, war groß. Doch der Wille unterlag seinem Körper.

Logan war ein stattlicher, ansehnlicher Mann, der sich seines Körpers und der Nacktheit nicht zu schämen brauchte. Dennoch würde es ihm missfallen, hätte er bei Bewusstsein bemerkt, wie man ihm sein Krankenhaushemd auszog und gründlich begann, seinen Körper mit Tüchern und warmem Wasser zu säubern. Dafür hatte man ihn auf eine Liege gehoben, damit sein Bett frisch bezogen werden konnte.

Im medizinischen Schlaf jedoch fühlte es sich an, als würden dutzende Dämonen nach ihm greifen. Jede Berührung bedeutete Schmerzen.

Er wollte schreien, aber seine Kehle, dieses nichtsnutzige Ding, verweigerte ihm den Dienst. Er fühlte sich, als würde man ihm die Haut abziehen. Sein Körper begann zu zittern. Es war ein zartes Vibrieren, das nicht von Lust, sondern von Schmerz herrührte. Irritiert verfolgten die Schwestern diese Reaktion und ließen einen Arzt rufen, der ihm noch mehr Schmerzmittel gab. Dies grenzte bereits an dem humanen Limit, das man einem Menschen zuführen durfte. Das Zittern hörte auf, der körperliche Schmerz wurde betäubt, doch der seelische Teil litt umso mehr. Es gab kein Ventil, um sein Leid hinauszulassen.

Als man sein Glied reinigte, fiel niemandem auf, wie eine winzige Träne aus seinen Augenwinkeln entglitt und seine Schläfe hinablief. Selbst für ihn gab es Schmerzen, die an der Grenze zum Erträglichen nagten. Würde man eine Orange fragen, wie es sich anfühlte, lebendig geschält und gehäutet zu werden, so würde diese Grauenhaftes antworten.

Wie sollte es sich demnach anfühlen, Stück für Stück seines Seins entrissen zu werden?

Endlich wurde er angekleidet und wieder auf sein Bett gelegt.

Der Schweißausbruch hörte auf. Der Schmerz klang langsam ab. Nur noch die Schwärze der Unendlichkeit blieb zurück, doch linderte sie die Qualen nicht weiter. Erst die Zeit würde ihm wieder helfen können.

Unterschwelliger Zorn war jedoch erwacht. Niemand berührte den König ohne seine Erlaubnis. Erst recht nicht auf diese Art. Er würde sich rächen. Würde zeigen, zu was er fähig war. Doch jetzt galt es erst zu ruhen und neue Kraft zu schöpfen. Er durfte sich nicht zu stark anstrengen und hatte einen klaren Kopf zu bewahren. Anders würde er die Fesseln nicht loswerden.

Anders würde er nicht an seine Celestia gelangen.

Überhaupt … wo war das Spiegelbild seiner Auserkorenen nur?

Es war Zeit. Er würde sich endlich das holen, was ihm gehörte.

Langsam öffneten sich die grünen Augen, durchzogen von goldenen Fäden.

Es war Zeit zu erwachen.

Das Ziel war zum Greifen nahe.

Erschrocken war Elenya zurückgewichen und starrte voller Entsetzen auf den Schlauch.

Abgebissen.

Er hatte diesen verdammten Schlauch einfach abgebissen, wie ein wildes Tier, das Tollwut hatte.

Einem Unmenschen gleichkommend hatte er mit diesem wilden Blick direkt in ihre Seele geschaut und sie dabei zutiefst getroffen. Es war nicht sein Handeln, welches sie dermaßen schockierte, sondern seine Augen, die etwas in ihr ausgelöst hatten.

Noch immer starrte sie ihn fassungslos an. Sie fühlte sich hilflos. In solchen extremen Momenten zweifelte Elenya an ihrer eigenen Kompetenz als angehende Ärztin.

»Was ist nur mit diesem Mann, Dr. Sanchez?«, fragte sie leise, ohne den Blick von dem Besessenen zu heben.

Der Chefarzt trat mit einem grimmigen Gesichtsausdruck an das Bett.

»Helfen Sie mir.« Statt einer Antwort begann er, sie dahingehend zu unterweisen, wie man die vorliegenden Wunden versorgte.

»Welche Komplikationen können bei dieser Art Wunden auftreten und wie gehen wir vor, um diese zu verhindern?«, fragte der Arzt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das weiß.«

Sein eisiger Blick traf Elenya und ließ sie unangenehm zittern.

»Dies ist ein angesehenes Lehrkrankenhaus und Sie streben an, Ärztin zu werden. Solche Dinge«, er deutete auf den bewusstlosen Mann. »Müssen Sie ausblenden können. Wie wollen Sie sonst eine Ärztin werden, wenn sie nicht fähig sind, sich auf die Sache selbst zu konzentrieren und eine einfache Frage zu beantworten?«

Elenya schluckte schwer. Harte Worte. Mühsam ging sie innerlich sämtliche Dinge durch, die sie erlernt hatte und die nun auf diesen Fall zutreffen könnten. Während sie Dr. Sanchez zur Hand ging, erklärte sie die psychosomatischen Folgeschäden und Symptome für mögliche neurologische Erkrankungen, die sich auf Nerven und Geist auswirken können. Ebenso, welche Folgen solch ein Riss haben könnte. In der Praxis traten bei sofortiger Behandlung selten Probleme auf. In der Theorie sah es hingegen anders aus. Es konnten sich Entzündungen bilden, die eine schwerwiegende Infektion nach sich ziehen könnten. Man musste immer auf alles gefasst sein und für eine Prüfung auch alles wissen.

»Und nun, Miss Fairings?«

»Ich würde ihn von sämtlichen Gerätschaften nehmen. Das Risiko ist zu hoch, sich damit selbst zu verletzen. Zudem sind alle Werte im Normalbereich. Es liegt demzufolge keine Notwendigkeit zur weiteren Behandlung mit den Geräten vor.«

Anerkennend nickte Dr. Sanchez. »Guter Einwand, aber noch lassen wir sie dran. Ich werde mich später selbst darum kümmern, bevor er wieder zu Bewusstsein kommt. Machen Sie eine Pause.« Elenya nickte dankbar und sah ein letztes Mal zu diesem Mann. Er wirkte so vertraut. Als wäre er ein Teil ihrer Selbst. Ihre Leiste kribbelte unangenehm. Es zog sich von ihrem Magen bis hin zu ihrer Seite und umspielte das verborgene Zeichen auf ihrer Haut.

Nein, nicht jetzt. Nicht das. Alles, nur nicht das!

Ihr fiel nicht auf, wie ein leichter Schatten über die Haut des Patienten schlich und begann, sich züngelnd in ihre Richtung zu bewegen.

Logan.

Sein Name schob sich in ihre Gedanken und wirkte so vertraut. Eine unaussprechliche Anziehung ging von ihm aus, gegen die sie sich kaum erwehren konnte.

Unauffällig drückte Elenya eine Hand an ihre Leiste und verließ das Zimmer, um sich in den Aufenthaltsraum zu begeben und sich etwas auszuruhen. Der Aufenthaltsraum diente für alle Angestellten des Krankenhauses als Rückzugsort. Aus diesem Grund wunderte es sie nicht, dass sich auch Dr. Steve Willow unter dem sich ausruhenden Personal befand. Er schob in letzter Zeit wie die meisten hier zu viele Doppelschichten.

»Seit wann darfst du operieren?«, scherzte der Mediziner bei ihrem Anblick.

Sie sah an sich hinab und verzog ein wenig das Gesicht, ehe sie sich daransetzte, ihre Teeblätter aufzugießen und zu überlegen, dass sie bei den ganzen Blutsprenkeln wohl gezwungen war, sich umzuziehen. Es war zwar nicht viel, doch es genügte, um anwesende Kinder zu erschrecken.

»Ich bin gespannt, was noch alles mit diesem Mann geschehen wird. Wenn man mich fragt, leidet er unter einem Trauma«, spekulierte Steve stirnrunzelnd.

Fragend hob Elenya den Blick. »Trauma?« Das wäre zumindest nicht abwegig.

»Vielleicht hat er deswegen den Infusionsschlauch durchgebissen«, mutmaßte sie angewidert.

Steve verschluckte sich prompt an dem Bissen, den er soeben zu sich genommen hatte und blickte aus großen, leicht tränenden Augen zu ihr. Erst, nachdem er sich hustend und schluckend wieder gefangen hatte, schüttelte er ungläubig den Kopf. »Man muss ihn definitiv einweisen lassen. Hoffentlich bekommt Dr. Mason etwas aus ihm heraus.«

Logan hatte das Gefühl, unaufhaltsam zu fallen. Immer weiter und tiefer hinab, bis in den bodenlosen Abgrund seiner Selbst, aus dem er keinen Ausweg fand.

Als er seine Augen aufschlug, verärgerte ihn die Hoffnung, dass er SIE sehen könnte.

Tatsächlich saß neben dem Bett eine blonde Frau. Das anfängliche Bedürfnis nach Nähe versank im bodenlosen Abgrund, als ihm bewusst wurde, dass seine Hoffnung vergebens war und dort nicht seine Angebetete saß, sondern eine fremde Frau. Wäre es Tia gewesen, hätte er ihre Seele gespürt.

»Guten Tag. Mein Name ist Dr. Juliette Mason. Ich bin Psychiaterin dieses Krankenhauses.« Langsam nahm er die Konturen der Frau wahr. Sein Blick glitt musternd über das Gesicht und den Teil ihres Körpers, den er von seiner Position aus erkennen konnte.

Psychiaterin? Welch Teufelswerk sollte das nun wieder sein? Hatte man ihn denn nicht längst zur Genüge gefoltert mit der Anwesenheit irgendwelcher Weiber und halbstarker Männer?

Diese perverse Gier in ihren Augen erzürnte ihn. Sie sah ihn als Objekt. Als Experiment.

Logan verspürte dank seinem inneren Höllenhund feine Sinneswahrnehmungen, die ihm dabei halfen, das zu sehen, was anderen verborgen blieb und hinter eine professionelle Maske zu blicken.

Sein innerer Höllenhund stieß ein bedrohliches Knurren aus. Bislang blieb er fein säuberlich eingesperrt. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis das Fass überzulaufen drohte und den Dämon in ihm hervorlocken würde. Ab dem Zeitpunkt würde Logan für nichts mehr garantieren können.

Der Wunsch nach Anerkennung und Ruhm sickerte durch die Poren der Fremden. Allmählich wurden seine Instinkte wieder feinfühliger, auch wenn sie bei der Psychiaterin nicht so ausgeprägt waren, wie bei seiner Frau.

Solch eine Möglichkeit, die sich der Fremden bot, war gewiss selten. Wann bekam man schon die Gelegenheit, einen König zu foltern?

Größenwahnsinnig wie sie war, träumte sie gewiss bereits jetzt von ihrem Erfolg. Prächtige Kleider würden nur für sie entworfen und geschneidert werden. Bei dem Gedanken hätte Logan beinahe aufgelacht, denn die Einzige, der diese Ehre zuteilwerden würde, war seine Frau. Sonst niemand.

Bei einem mühsamen Seitenblick erkannte er die Schrift eines Kleinkindes. Krakelig und unförmig. Entweder entsprach dieses Bild der Welt, in der er gelandet war, oder aber es zeugte von Nervosität und Anspannung.

Diese Hexe war wie ein offenes Buch für den knapp zwei Meter großen Krieger. Da er schon über offene Bücher nachdachte, linste er zu ihren Notizen. Es war von der Entfernung aus schwer zu erkennen, doch zwei Wörter wiederholten sich des Öfteren, die er als Bipolare Störung identifizierte.

Solche Äußerungen hatte er im anfänglichen Delirium gehört. Ebenso die Diskussionen darüber, was dies zu bedeuten hatte. Vage erinnerte er sich daran, dass es sich dabei um Momente handelte, die sowohl ruhige, wie auch extreme Bewusstseinsphasen aufwiesen.

»Fangen wir an.«

Dr. Masons Lächeln ließ ihn kalt. Er stierte sie einfach nur finster an. Alles war falsch an dieser Situation. Diese Frau, diese Räumlichkeit, diese Fesseln – falsch! Er riss an den Tüchern und versuchte erneut, sich zu befreien. Zwecklos. »Können Sie mir Ihren Namen nennen?«

Er stöhnte auf und wollte sich das Gesicht mit den Händen reiben, aber die Fesseln hinderten ihn daran. Frustriert schüttelte er daher nur den Kopf. Wie oft musste er sich bei diesen Idioten noch wiederholen? Waren sie denn ihrer eigenen Sprache nicht mächtig oder weshalb fragten sie ihn ständig dieselben Fragen?

Erschöpft und noch immer leicht benommen begann Logan, dieses falsche Lächeln zu erwidern. Was sie konnte, konnte er schon lange. Der wahre Krieger wusste seinen Feind zu überlisten. Er musste mitspielen, damit man ihm diese Fesseln abnahm. Erst dadurch würde er seinem Ziel näher kommen und seine Frau zurückholen können.

Während diese Fremde sprach und er freundlich lächelte, malte er sich aus, was er alles mit ihr anstellen würde, sollte sie es wagen, ihm zu nahe zu kommen.

Er war alles andere als zimperlich. Schreien lassen würde er sie, bis sie vor Schmerz dem Wahnsinn verfallen würde. Mit Genuss würde er sie in die Hölle zurückschicken, wo sie herkam.

Diese Gedanken sah man ihm nicht an. Der dunkle, zornige Blick aus seinen tiefgründigen Augen war nicht deutbar. Ohnehin milderte das Valium seine Gelüste zum Morden ab, nicht aber die Sehnsucht und die damit einhergehende Frage, wo Celestia war.

Diese Frau schrieb etwas und nickte dabei immer wieder leicht. War sie dabei, ihm einen Trank zu kreieren, um ihn damit zu vergiften? Sämtliche Fragen wurden von ihm mit unbefriedigenden Antworten abgewunken.

Allmählich wirkte sie gereizt, aber das kümmerte ihn nicht.

»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«

»Ich erinnere mich an meine Frau«, gab er kryptisch zurück und musste kurz husten. Verdammter trockener Hals. »Ich erinnere mich an das Gift, das ich hier bekommen habe.«

»Niemand versucht Sie zu vergiften. Wir wollen Ihnen nur helfen.«

Mürrisch ließ Logan sie nicht aus den Augen, während diese Frau weiter sprach. Als sie mit einem Mal davon ausging, dass der Ruf nach seiner Frau eine bloße Einbildung sein sollte, flammte der bislang unterdrückte Zorn von Neuem auf. Fort war sein Vorsatz, Ruhe zu bewahren.

»LÜGEN!«, knurrte Logan.

»Bitte beruhigen Sie sich doch!«

Doch er wollte sich nicht mehr beruhigen. Das Valium verlor abrupt seine Wirkung, stattdessen schoss ungebremst das Adrenalin durch seinen Körper.

»Ich will zu meiner Frau! Bring sie sofort her, du unwürdiges Weib!«

Dr. Mason schien nicht einmal daran zu denken. Er roch ihre Angst, erkannte ihre Zweifel. Allmählich verlor er die Geduld und begann, stärker an den Fesseln zu reißen. Aggressiv fletschte er dabei die Zähne und fixierte Dr. Mason mordlustig.

»Wo ist meine Frau? Was habt ihr kleinen, dreckigen Maden mit ihr angestellt?«

Sein Brüllen würde Aufmerksamkeit auf sich ziehen, das war ihm bewusst und auch erhofft. Vielleicht würde Celestia von seinen Rufen angelockt werden.

Als jemand in das Krankenzimmer kam, war es jedoch nicht seine Celestia, sondern irgendein Mann. Uninteressant. Während Dr. Mason mitten im Raum stand und sich das Klemmbrett mit ihren Notizen schützend an die flache Brust drückte, begann Logan nur noch lauter nach seiner Frau zu rufen.

»Was ist hier los?«, donnerte die tiefe, verärgerte Stimme des Arztes. Er wirkte wichtig und stellte eine berechtigte Frage, deren Antwort klar auf der Hand lag.

Die Sensationsgier war aus dem Blick der Psychiaterin gewichen, stattdessen wurden Angst und Beklommenheit sichtbar.

Anscheinend hatte sie sich das Gespräch mit ihm einfacher vorgestellt, als es in Wahrheit war.

Eigentlich hätte eine ausgelernte Doktorin in ihrem Fachbereich wissen müssen, dass solche Patienten langjährige Therapien benötigten und man nicht innerhalb von kürzester Zeit zu irgendwelchen Ergebnissen kommen konnte.

Doch wie Logan es längst erkannt hatte, glänzte sie stattdessen mit unreifen Entscheidungen und sinnfreien Lösungsansätzen.

Was war das überhaupt für ein metallisches Ding auf ihrer Nase? Eine schwarze, dicke Umrandung, worin sich Gläser spiegelten. Es wirkte zu groß für ihre Nase und vergrößerte auf einer unnatürlichen Art und Weise ihre Augen.

Und da fand man tatsächlich ihn unheimlich, wenn solch ein seltsames Weib hier herumlief?

»Kann ich helfen?«

Logan fuhr herum und starrte den blonden Engel an. Das wachsende Unbehagen in ihrem Blick ignorierte er.

Logans weit aufgerissenen Augen waren teilweise blutunterlaufen, die Lippen leicht geöffnet. Seine Hände hielten sich noch immer an den Fesseln fest. Statt sich auf seine Frau zu stürzen, ließ er sich langsam wieder zurück in die Kissen gleiten.

Der Ausdruck in seinen Augen veränderte sich und wurde wachsamer. Er durfte keine ihrer Bewegungen verpassen.

»Celestia«, gab er knapp von sich.

Ihm entging nicht, wie distanziert sie zu ihm war. Zwar hatte er sich allmählich damit abgefunden, dass man ihm seinen Titel aberkannt hatte, jedoch begriff er nicht, warum sie ihn noch immer nicht erkannte.

Anscheinend wollte sie ihn erzürnen. Anders konnte er sich ihr Verhalten nicht erklären.