Aequipondium: Schiffbruch im Süden - Ima Ahorn - E-Book
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Aequipondium: Schiffbruch im Süden E-Book

Ima Ahorn

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Beschreibung

Kälte, Drachen und Götter – und ein Abenteurer, der gern darauf verzichtet hätte

Endlich ist dem ungeschickten Entdecker Siegbald Sockenloch die Flucht vom magischen Gegengewicht-Kontinent gelungen. Dachte er zumindest. Bis er im menschenleeren und kalten Süden des Kontinents Schiffbruch erleidet. Hungrig und mit nur wenig Gepäck machen sich Siegbald und seine Begleiter auf den Weg in zivilisiertere Regionen. Doch sie sind nicht allein: Eisdrachen beginnen Jagd auf sie zu machen. Bald können sie nur noch auf Siegbalds vollkommen abwegige Ideen hoffen - und vielleicht auf die Hilfe von Thor.

Wird es Siegbald gelingen, die Drachen zu vertreiben und es bis zurück in die Hauptstadt Aequipondiums zu schaffen?

Humorvolle Fantasy und zugleich ein spannendes Abenteuer. Mit blutrünstigen Drachen, todesmutigen Auswanderlemmingen und skurrilen Charakteren.

Dies ist Siegbalds zweites Abenteuer, aber alle Bücher der Serie können auch einzeln gelesen werden.

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Ima Ahorn

Aequipondium

Schiffbruch im Süden

 

 

Buch

1769. Siegbald Odin Sockenloch hat es geschafft. Als Preußischer Botschafter hat er im Südpazifik den sagenhaften Gegengewicht-Kontinent Aequipondium entdeckt, letzten Zufluchtsort magischer und seltsamer Kreaturen. Obwohl die Bewohner ihr Exil gern geheim gehalten hätten, ist es Siegbald gelungen, Aequipondium wieder zu verlassen. Zwar wird er die Ehre der Entdeckung seinem Konkurrenten, dem Franzosen Comte de La Pérouse, überlassen müssen, aber zumindest wird er seine Heimat wiedersehen. Seine Berichte über Hexen, Druiden und Drachen und ein paar aequipondische Kuriositäten werden wohl genügen, ihn zu Hause und beim König in Potsdam berühmt zu machen.

Doch wieder einmal kommt es anders. Statt auf der Seereise nach Europa befindet Siegbald sich auf dem aequipondischen Binnenmeer. Auf der Suche nach einer Verbindung zum Pazifik erleiden der Comte und er Schiffbruch, tief im menschenleeren und kalten Süden des Kontinents. Nun ist guter Rat teuer, denn in der eisigen Tundra herrschen andere Gesetze als im zivilisierten Norden. Wie sollen er und die französische Mannschaft des Comte es schaffen, aus dieser unwirtlichen Gegend zu entkommen?

 

Autorin

Ima Ahorn begeistert sich für Reisen, fremde Kulturen und das Leben in der Natur. Schon als Kind verschlang sie Abenteuerromane, Märchen und Geschichten über Entdecker. Bereits damals bedauerte sie, dass die Zeit der großen Entdeckungen inzwischen vorüber ist. Ihre Liebe zur Fantasy und fantasievollen Welten kam später dazu.

Heute schreibt Ima Historische Fantasy. Ihre Helden leben in einer Zeit, als es auf unserem Globus noch unerforschte Gebiete und unentdeckte Wunder gab. Als es möglich war, dass sich irgendwo noch Drachen und Zauberer verbergen.

Ihre Inspiration findet Ima auf Reisen, in Romanen und den Berichten früher Entdecker.

Besuche Ima auf https://ima-ahorn.net/

 

Ima Ahorn

Aequipondium

Schiffbruch im Süden

 

 

Copyright © 2020 Andrea Kling

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

ISBN: 9798684939495

 

Herausgegeben von:

Independently published

 

Andrea Kling,

Eisteichweg 12

2630 Ternitz,

Österreich

Email: [email protected]

 

Umschlaggestaltung:

Nika S. Daveron

 

Verwendete Bilder:

©canva.com

 

Druck: Amazon

 

 

 

Für meinen liebsten Reisegefährten,

der mir im passenden Moment

immer mal einen kleinen Schubs

in die richtige Richtung gibt.

 

Danke.

Inhalt

Über den Gegengewicht-Kontinent

Prolog

Teil 1 – Das Aequipondische Meer

Teil 2 – Die südliche Tundra

Teil 3 – Wieder auf See

Teil 4 – Die Welle

 

Über den Gegengewicht-Kontinent

D

ie Gelehrten Europas haben seit Jahren den Verdacht, dass es im südlichen Pazifik noch einen Kontinent geben muss. Es wäre doch höchst unwahrscheinlich, dass sich die ganze Landmasse des Globus auf der Nordhalbkugel konzentriert. Die Kartographen hingegen haben das Problem des Gegengewicht-Kontinents längst gelöst. Um die unästhetische leere Fläche im Süden zu füllen, haben sie sich allerlei Meeresgetier und Landmassen ausgedacht, die sie auf den Weltkarten eingezeichnet haben. Doch die Darstellungen beruhen eher auf einer Art geografischem Instinkt, als auf Wissen.

Immer wieder sind Entdecker verschiedener Nationen in die tückischen Südmeere vorgestoßen, doch die wenigen, die zurückkehrten, berichteten nur von gefährlichen Stürmen, tückischen Riffen und grausamen Meeresungeheuern. Auch heute, im Jahr 1770 ist noch keiner, der einen Fuß auf den Gegengewicht-Kontinent gesetzt hat, je zurückgekommen.

Doch die Wahrheit ist viel bizarrer als sich die Gelehrten in Europa vorstellen können. Der Kontinent, von seinen Bewohnern Aequipondium genannt, ist nicht nur Gegengewicht, sondern auch Exil. Es ist die letzte Zuflucht für magische und seltsame Kreaturen, die im vorindustriellen Europa längst kein zu Hause mehr haben. Hier, auf der anderen Seite des Globus, haben sie eine neue, geheime Heimat gefunden. Und sie wollen, dass ihr Versteck von der Welt unentdeckt bleibt.

 

Prolog

D

er Schattenelefant schlich so leise und unauffällig durch den Garten, wie es einem über zwei Tonnen schweren und zweieinhalb Meter hohen Tier eben möglich ist. Wenn er gekonnt hätte, wäre er auf Zehenspitzen über den Hof getippelt. Als sich hinter den Fenstern des Hauses etwas bewegte, versteckte er sich eilig hinter einem Johannisbeerbusch. Gut, der Busch war kaum einen Meter hoch und kein wirkliches Versteck für ein so großes Tier, aber besser als gar nichts. Nur noch wenige Schritte, dann hätte er das Beet mit den Riesenzwiebeln erreicht. Eigentlich mochte er keine Zwiebeln, aber er hatte Hunger.

Als der Schattenelefant das Zwiebelbeet fast erreicht hatte, hörte er Schritte. Sofort nahm er die in seinem Rassengedächtnis verankerte Schutzhaltung ein: Er stellte sich auf ein Hinterbein, reckte den Rüssel in die Höhe und streckte die Vorderbeine nach links und rechts, um das Gleichgewicht zu wahren. In dieser Haltung hätte er jedem europäischen Zirkuselefanten Konkurrenz gemacht. Er hielt ganz still. Nur so konnte er die Illusion, eine Elefantenstatue zu sein, aufrechthalten.

Tatsächlich ging die Frau an ihm vorüber, ohne auch nur einmal den Kopf zu wenden. Offenbar war seine geniale Tarnung erfolgreich. Als die Frau durch die Hintertür des Hauses verschwunden war, atmete der Schattenelefant erleichtert aus. Ganz langsam ließ er seine Vorderbeine auf den Boden sinken. Als er noch ein Elefantenjunges war, war es ihm öfters passiert, dass er aus dieser Haltung einfach umgekippt war, doch inzwischen war er alt und erfahren. Und hungrig. Rasch legte er die letzten Schritte zum Riesenzwiebelbeet zurück und begann zu fressen.

Theolinde seufzte, als sie die Tür hinter sich schloss. Schon der Dritte diesen Monat.

„Im Garten ist schon wieder ein Schattenelefant“, sagte sie, als sie die Küche betrat.

„Ich habe ihn gesehen, Fräulein Taubenfuß“, antwortete der Butler. „Übrigens: Willkommen zu Hause. Ich habe Tee gemacht.“

„Danke.“ Theolinde ließ sich auf einen Küchenstuhl nieder und seufzte. „Der letzte hat das Kohlrabibeet leer gefressen. Ich frage mich, was sie hertreibt. Wir hatten doch sonst nie Probleme mit ihnen.“

„Nein, Fräulein Taubenfuß.“

Theolinde blickte auf und ein schwaches Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht. „Ich habe dir doch gesagt, dass du mich Theolinde nennen sollst. Außerdem bist du Gast in diesem Haus. Du brauchst mich nicht zu bedienen.“

„Nein, Fräulein Taubenfuß.“

Theolinde gab auf. „Kannst du Maximilian nachher bitten, ins Dorf zu gehen und ein paar Äpfel für den Elefanten aufzutreiben? Vielleicht können wir dann zumindest noch ein paar der Zwiebeln retten.“

„Selbstverständlich.“ Johannes zögerte einen Augenblick. Dann holte er eine zerkratzte Flasche hervor und stellte sie vor Theolinde auf den Tisch. „Das ist für Euch abgegeben worden. Anscheinend handelt es sich um einen Brief.“

Theolinde drehte die Flasche, bis sie die Adresse lesen konnte. „An Fräulein Theolinde Taubenfuß“ stand auf der Flaschenpost. Das war alles. Natürlich kannten fast alle Bewohner Aequipondiums die großgewachsene Hexe. Trotzdem war es optimistisch, eine Flaschenpost nicht genauer zu beschriften. Als Theolinde nach dem Korken griff, räusperte sich Johannes.

„Die Handschrift scheint von Herrn Sockenloch zu stammen“, stellte er fest. Dann legte er seine Küchenschürze ab und ging zur Tür. „Ich gehe jetzt besser und suche Maximilian.“

Sinnierend blickte Theolinde auf die noch ungeöffnete Flaschenpost.

Siegbald Odin Sockenloch war ein Entdecker. Wenn auch wahrscheinlich kein besonders guter. Außerdem war er ein Freund. Er war aus Europa nach Aequipondium gekommen, wie bereits mehrere Männer vor ihm. Aber da der König verboten hatte, dass jemand den Kontinent verlässt, war Theolinde davon ausgegangen, dass sich Siegbald irgendwo ein neues Zuhause suchen würde. Seit über hundert Jahren war dies das traditionelle Schicksal von Entdeckern und bisher hatten sich alle damit abgefunden. Als Siegbald dann eines Tages überraschend in See gestochen war, fühlte sich Theolinde verletzt. Nicht einmal verabschiedet hatte er sich. Er hatte einfach die Drachendame Luna, eine von Theolindes besten Freundinnen, überredet, sein Schiff ins Wasser zu tragen und war davongesegelt.

Natürlich hatte Theolinde gewusst, dass er zurückkommen würde. Der bekannte Aequipondium-Forscher Dr. William Fry hatte ihr verraten, dass die Bucht, von der Siegbald losgesegelt war, Teil eines Binnenmeers war. Trotzdem war sie nicht sicher, ob sie ihm schon verzeihen wollte.

Schließlich gab sie sich einen Ruck. Wie sie Siegbald kannte, bedeutete die Flaschenpost, dass er in Schwierigkeiten steckte. Sie wusste, auch wenn sie noch wütend auf ihn war, würde sie ihm helfen. Schließlich half sie jedem, der sie nicht mit Gewalt davon abhalten konnte.

Der Brief in der tangverschmierten Flasche war auf einen Tag datiert, der beinahe zwei Monate in der Vergangenheit lag.

Liebe Theolinde,

es tut mir leid, dass ich mich nicht von Dir verabschiedet habe. Aber da der König strikt verboten hat, dass irgendjemand den Kontinent verlässt, wollte ich Dich nicht als Mitwisserin in Schwierigkeiten bringen. Lediglich Luna wusste davon, da sie es war, die dem Comte und mir die Abreise ermöglichte. Ich hoffe Du verzeihst, dass sie Dich nicht eingeweiht hat, doch sie tat es auf meinen ausdrücklichen Wunsch.

Ich möchte auch nicht, dass Du mich für undankbar hältst. Für alles, was Du in den letzten Monaten für mich getan hast, kann ich Dir nie genug danken. Nicht nur hast Du mich aufgenommen, als ich fälschlich verurteilt auf der Flucht vor den Leuten des Königs war, Du hast mir auch gezeigt, dass mehr in mir steckt. Mehr als meine Freunde, ja sogar mehr, als ich selbst geglaubt hätte. Nie werde ich den Spaß vergessen, den Gunnar und ich beim Schaukampf mit Drachendame Luna hatten. Und nie, dass Du es warst, die gemeinsam mit Augusta meine Unschuld bewiesen hat. Ich habe Dir viel zu verdanken und Deine [Hier war das Papier unleserlich und zerkratzt. Möglicherweise hieß das Wort ‚Freundschaft‘, aber es schien vorher ein anderes Wort dort gestanden zu haben.] bedeutet mir unendlich viel.

Du weißt, dass ich als Entdecker nach Aequipondium kam. Wie viele vor mir, wollte ich hier mein Glück machen und in meiner Heimat Preußen Ruhm und Ehre verdienen, indem ich den letzten unbekannten Kontinent entdecke. Trotz allem, was wir zusammen erlebt haben, bleibt die Rückkehr nach Hause mein sehnlichster Wunsch. Ich hoffe, Du kannst das verstehen.

Nun, da ich Dir die Gründe meiner Abreise erklärt habe, muss ich Dir ein Geständnis machen:

Theolindes Wangen hatten beim Lesen des Briefes angefangen zu glühen. Ein Geständnis… Eilig las sie weiter.

Ich bin noch immer in Aequipondium, wenn auch nicht ganz freiwillig. Wir, das heißt Comte de La Pérouse, seine Mannschaft und ich, haben weit im Süden des großen Wassers, das sich westlich des Käsegebirges befindet, Schiffbruch erlitten. Da es uns nicht möglich ist, unser Schiff zu reparieren, werden wir versuchen, zu Fuß zurück in die zivilisierteren Gegenden Aequipondiums zu gelangen. Die Landschaft so weit im Süden ist kahl und kalt und ich möchte Dir nicht verheimlichen, dass es kein leichter Weg werden wird. Mit dem Wenigen, was wir vom Schiff retten konnten, drohen uns Hunger und Kälte.

Sollte es Dir irgendwie möglich sein, so schicke uns bitte Hilfe. Wiewohl ich es Dir nicht übelnehmen werde, wenn Du uns nicht helfen möchtest. Wir werden versuchen, uns nahe der Küste zu halten und so Gott will, werden wir uns bald wiedersehen. Sollten wir es nicht schaffen, so möchte ich, dass Du weißt, wie glücklich ich mich schätze, Dich kennengelernt zu haben.

In Liebe Mit aufrichtiger Hochachtung

Dein Freund

Siegbald Odin Sockenloch

Theolinde legte den Brief auf den Tisch und ballte die Fäuste. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein? Erst verschwand er ohne ein Wort und jetzt das. „...wenn Du uns nicht helfen möchtest…“ Als würde sie auch nur im Traum daran denken, ihn da unten in der Eiswüste des Südens allein verhungern zu lassen. Das täte sie nicht einmal ihrem ärgsten Feind an. Wütend schlug sie mit der Faust auf den Tisch, sodass das Teegeschirr einen klirrenden Luftsprung machte.

„Alles in Ordnung, Fräulein Taubenfuß?“ fragte Johannes, der inzwischen zurückgekehrt war, besorgt.

Einen Moment lang starrte sie verärgert auf die Flaschenpost. Dann stand sie ruckartig auf.

„Nein, Johannes. Nichts ist in Ordnung. – Sei bitte so gut und finde Augusta für mich. Vielleicht ist sie beim Otter. Ich fange inzwischen schon an zu packen.“

 

 

Teil 1 –Das Aequipondische Meer

S

iegbald nutzte die Gelegenheit, als der Comte de La Pérouse und sein Erster Offizier an Deck waren, um sich in der engen Heckkajüte, die er mit den beiden teilte, ein wenig auszustrecken. Da die Decke niedrig war, stand er nach vorn gebeugt, die Beine weit auseinander, um den Seegang auszugleichen. Er hätte in dieser Stellung bequem den Boden berühren können. Plötzlich krängte das Schiff so stark, dass er mit dem Kopf voran in Richtung Bordwand stolperte. Nur mit Mühe gelang es ihm, den Sturz zu verhindern und sich nicht an der Kajütenwand einen blutigen Schädel zu holen. Stattdessen schlug er mit dem Knie schmerzhaft gegen eine der Seekisten des Kapitäns, verrenkte sich die Schulter und bohrte sich einen Splitter in die linke Hand. Siegbald brüllte vor Schmerz. Wohl zum hundertsten Mal seit Beginn der Reise verfluchte er das Schiff.

Um sich von den Schmerzen abzulenken, holte er sein Tagebuch hervor, setzte sich vor seine Seekiste und begann zu schreiben.

An Bord der Le Rafiot, 2. Tag der Heimreise nach Europa

 

Mit frischem Südostwind machen wir immer noch gute Fahrt. Alle Segel unseres kleinen Zweimasters sind gesetzt.

Das kleine Schiff, das die französische Mannschaft von Kapitän de La Pérouse in Aequipondium gebaut hat, erweist sich als seetüchtig und stabil, wenn auch ein wenig eng. Die 56 Seemänner und Besatzung müssen schichtweise schlafen, mit der Hälfte der Männer an Deck, in den Wanten oder an den Pumpen, während die anderen in ihren Hängematten liegen. Lediglich der Comte, sein Erster und ich haben ein wenig Privatsphäre in der kleinen Kajüte, die wir uns zu dritt teilen.

Ich beklage mich nicht, denn wie sonst hätte ich jemals diesen seltsamen Kontinent wieder verlassen können?

Wehmütig dachte Siegbald an die große Doppelkabine, die er und sein Diener Johannes auf der Entdeckungsreise zum geheimnisvollen Gegengewichtkontinent bewohnt hatten. Dann fuhr er fort zu schreiben.

In den Stauräumen unseres Schiffes befinden sich Nahrung und Wasser für etwa fünf Wochen auf See. Mehr ließ sich unter den gegebenen Umständen nicht unauffällig beschaffen. Trotz dieser knappen Vorräte ist der Comte optimistisch. Bei gutem Wind können wir in etwa drei Wochen die Küste Neuseelands erreichen, sagen seine Berechnungen. Auch bei weniger günstigen Winden hofft er, wir werden auf einer der kleineren Inseln Frischwasser und Essen finden können.

Die Männer und auch ich sind guter Dinge, froh, Aequipondium endlich entfliehen zu können.

Siegbald legte die Feder weg und wartete, bis die Tinte getrocknet war. Er fragte sich, ob er noch ein paar mehr seemännische Begriffe über Position, Kurs oder Wassertiefe hätte einstreuen sollen. So etwas klang immer eindrucksvoll. Vielleicht könnte er später den Comte bitten, ihm dabei zu helfen. Dann verstaute er sein Tagebuch wieder in der Kiste. Als er sich aufrichtete, stieß er sich den Kopf schmerzhaft am Deckenbalken.

Ganz so rosig, wie er sie in seinem heutigen Eintrag beschrieben hatte, fand Siegbald die Situation nicht. Aber als der heroische Entdecker Siegbald Odin Sockenloch, Sonderbotschafter des preußischen Königs Friedrich des Großen, konnte er in seinem Journal unmöglich jammern.

Das Schiff hasst mich, lautete seine ehrliche Überzeugung. Ständig musste er auf der Hut sein, um nicht zu stolpern oder sich den Kopf zu stoßen, während seine Kajütengenossen ungeschoren davonkamen. Der Erste Offizier war klein und ein erfahrener Seemann, weshalb die Enge der Kajüte ihn kaum störte. Doch wie der Comte die fast unvermeidlichen Beulen und Stürze vermied, war ihm ein Rätsel. Immer, wenn das Schiff eine für Siegbald überraschende Bewegung machte, hatte der Comte den Kopf bereits unter den Deckenbalken eingezogen oder mit einem kleinen Schritt das Gewicht verlagert, um die Bewegung auszugleichen. Siegbald hingegen hatte sich inzwischen so oft den Kopf gestoßen, dass er ernsthaft überlegte, sich sein Kopfkissen auf den Kopf zu binden, wenn er unter Deck war.

Tatsächlich war der Platz, den er sich mit den beiden anderen teilte, viel zu klein. Als breitschultriger Mann von fast zwei Metern Körperhöhe konnte er sich nur mit Mühe überhaupt in seine Hängematte zwängen. Hatte er dies geschafft, so fühlte er jede Bewegung des kleinen Schiffes: sein Gewicht zog ihn soweit abwärts, dass sein Gesäß den Boden berührte.

Auch seine Zimmergenossen machten ihn alles andere als glücklich. Der Kapitän, der als einziger eine richtige Schlafkoje besaß, benötigte so viel Platz, dass die Hängematten von Siegbald und dem Ersten Offizier ständig aneinanderstießen und Siegbald kaum schlafen konnte. Außerdem benötigte er mehr als die Hälfte der Kajüte für sein Gepäck und um seine Seekarten auszubreiten. Der Erste Offizier, Pierre … Siegbald überlegte. Er hatte den vollen Namen des Franzosen vergessen. Pierre Le Scieur, dachte er gehässig, Pierre die Säge, denn der schnarchte, dass die Planken zitterten. Pierre war ein kleiner, nervöser Mann, der ständig herumzappelte und in jeder Situation das Schlimmste zu erwarteten schien. Bereits während des ersten Tages, den Siegbald grün vor Seekrankheit und über die Reling hängend verbracht hatte, war ihm der Pessimismus des Franzosen auf die Nerven gegangen.

Wahrscheinlich hätte es Pierre nie zum Ersten Offizier gebracht, hatte der Comte Siegbald anvertraut. Doch alle fähigeren Männer waren im Verlauf der Reise Krankheiten oder anderen Widrigkeiten zum Opfer gefallen. Von den Seeleuten, mit denen La Pérouse aus Frankreich aufgebrochen war, war Pierre derjenige, der sowohl von Seemannschaft, also den technischen Details der Schiffsführung, als auch von Navigation noch am meisten verstand. So war es eine logische Entscheidung, ihn zum Stellvertreter des Kapitäns zu ernennen.

Trotz allem war Siegbald nicht unzufrieden. Die Aussicht, in einigen Monaten wieder in der Heimat zu sein, war jetzt, zwei Tage nach ihrer spektakulären Flucht, noch genug, ihn auch schlimmere Unannehmlichkeiten ertragen zu lassen. Er bedauerte, dass er wohl nicht als Entdecker Aequipondiums in die Geschichtsbücher eingehen würde. Diese Ehre würde Jean François Comte de La Pérouse zufallen. Immerhin war es sein Schiff, auf dem Siegbald reiste. Doch zumindest hatte Siegbald sein Reisetagebuch und seine Aquarelle. Auch eine kleine Sammlung Aequipondischer Kuriositäten hatte er mitnehmen können, sodass er nicht mit leeren Händen heimkehrte.

Damit der französische Entdecker ihn überhaupt mitnahm, hatte Siegbald die Drachendame Luna überredet, das kleine Schiff der Franzosen über die steilen Klippen ins Wasser zu heben. Nur so war ihnen die Flucht vom Gegengewicht-Kontinent letztendlich gelungen, denn Aequipondium war fast überall von hohen Klippen und gefährlichen Riffen umgeben. Angeblich gab es auch Seeungeheuer, die den Kontinent beschützten, doch davon hatten sie bisher nichts gesehen.

„Land in Sicht.“

Der Ruf aus der Takelage des kleinen Schiffes ließ Siegbald aus seinen Träumereien hochfahren. Prompt schlug er seinen blondgelockten Hinterkopf ein weiteres Mal an den tiefhängenden Deckenbalken an. Bei einer Raumhöhe von wenig mehr als eineinhalb Metern musste Siegbald sich ständig in gebückter Haltung bewegen. Gestern hatte er einmal so heftig seinen Kopf angeschlagen, dass er nicht nur minutenlang tanzende Sterne sah, sondern Blut aus einer Platzwunde am Hinterkopf tropfte. Langsam fragte sich Siegbald, ob er das Ende der Reise überhaupt erleben würde.

Sobald der Schmerz ein wenig nachließ, warf sich Siegbald seinen grünen Rock über und kletterte vorsichtig an Deck. Ob sie eine unbekannte Insel entdeckt hatten?

Gespannt schaute er in die Richtung, in die der Ausguck im Mast deutete, musste aber feststellen, dass er nichts als endlosen Horizont erkennen konnte. Ein Blick auf den Comte zeigte, dass der Kapitän nicht den Horizont, sondern seinen Ersten Offizier beobachtete, der gerade mit einem Fernglas um den Hals zum Ausguck hinaufstieg. Siegbald hätte es natürlich wissen sollen, schließlich war er erst vor einem halben Jahr gemeinsam mit dem Geographen Hundeshagen auf dem Weg zum Gegengewicht-Kontinent an zahlreichen Inseln vorbeigekommen. Auch damals hatte der Ausguck immer schon lange vor den an Deck wartenden Passagieren die Inseln gesichtet. Als Monsieur Pierre genug gesehen hatte, kam er wieder heruntergeklettert.

„Eine große Landmasse“, berichtete er dem Comte. „Soweit bis jetzt erkennbar ist, erstreckt sie sich mindestens von drei Strich steuerbord bis vier Strich backbord. Der Strand ist noch nicht über Kimm.“

Der Kapitän nickte knapp.

„Dann schauen wir uns diese Insel einmal näher an. Lassen Sie das Lot ausbringen, Monsieur Morel. Nicht, dass wir am Ende noch auf ein Riff laufen.“

„Oui, monsieur le capitaine.“ Der Erste Offizier nickte.

Siegbald suchte sich einen bequemen Platz an Deck und beobachtete den Horizont. Ob sie auf Eingeborene treffen würden? Waren die Inselbewohner wohl freundlich gesinnt? Vielleicht gab es sogar schon europäische Missionare. Eine halbe Stunde später war die Insel auch von Deck bereits gut zu sehen. Ein paar hohe Felsen und ein dichter Dschungel waren zu erkennen. Aber mehrere dunkle Punkte und weiße Schaumkronen im Wasser deuteten darauf hin, dass es vor der Küste gefährliche Klippen gab.

Der Kapitän ließ die Le Rafiot nordwärts dem Verlauf der Küste folgen. Aber als schließlich die Sonne unterging, hatten sie immer noch keine Bucht entdeckt, in der sie an Land gehen konnten. Stattdessen wurde erkennbar, dass die Insel recht groß sein musste, denn immer neue Landspitzen tauchten im Norden auf. Siegbald nahm sich vor, den Kapitän um die Ehre der Benennung der neuen Insel zu bitten. Immerhin würde der Comte schon als Entdecker Aequipondiums in die Geschichte eingehen. Da konnte er Siegbald zumindest diese Insel überlassen.

Um des Nachts nichts zu verpassen, ließ Kapitän de La Pérouse das Schiff schließlich in einer kleinen Bucht ankern. Als es bereits dunkel war, stand Siegbald an Deck und beobachtete die Küste. Er überlegte gerade, ob er seine Insel Südbrandenburg oder Preußen des Südens nennen sollte, als er im Küstendschungel ein gelbliches Licht aufscheinen sah. Ein lautes Brüllen ertönte, wurde aber fast sofort vom Rauschen der Wellen übertönt. Das Licht verschwand. Siegbald fröstelte. Plötzlich war er froh, dass sie nicht an Land gehen konnten. Immerhin trennte sie so das Wasser von den gefährlichen Monstern am Ufer. Zumindest hoffte er das.

Auch am nächsten Tag folgten sie dem Verlauf der Inselküste nordwärts. Noch immer war kein Platz zum Landen gefunden. Auch Eingeborene schien es nicht zu geben. Siegbald, der die auf anderen Inseln übliche Begrüßung durch Kanus erwartet hatte, war enttäuscht. Eine Insel, die er für seinen König in Besitz nahm, sollte wenigstens von ein paar Untertanen bewohnt sein. Seine Enttäuschung legte sich etwas, nachdem er mit Kapitän de La Pérouse gesprochen hatte. Der Franzose weigerte sich nämlich schlichtweg, Siegbald die Insel zu überlassen. Sollte doch der Comte seinem König eine unzugängliche Insel ohne Bewohner schenken, dachte er trotzig.

In seinem Reisetagebuch wurde die Entdeckung der Insel natürlich vollkommen anders dargestellt. Von üppigem Dschungel und einer faszinierenden Tierwelt war hier die Rede, wenn diesem paradiesischen Eiland auch die Bewohner fehlen mochten.

Kapitän Jean François Comte de La Pérouse war ebenfalls ein Entdecker und er nahm seinen Auftrag sehr ernst. Andererseits war er nicht nur ein Kollege, sondern auch ein Freund Siegbalds. Um sich dafür zu entschuldigen, dass er ihm die Insel nicht einfach überlassen konnte, lud er Siegbald zu einem Schlummertrunk mit einer der wenigen Flaschen Cidre ein, die sie mit sich führten.

Nachdem sie einige Zeit über die Lage in Europa und die jüngsten naturphilosophischen Entdeckungen geplaudert hatten, stellte der Comte eine Frage, die ihn schon seit längerem bewegte.

„Ich weiß, du bist freiwillig und mit einiger Ausrüstung und deinem Diener am Strand Kaitangata One gelandet. Sicher hattest du einen Plan, wie du wieder nach Hause kommst?“

„Natürlich.“ Siegbald grinste schelmisch. „Ich weiß, der König glaubte, dass kein Schiff in Aequipondium landen könne. Aber meines, oder vielmehr das meines Königs, schaffte es. Und wenn ich nicht von dieser unseligen Geschichte mit dem Huhn aufgehalten worden wäre, hätte es mich sicher auch wieder abgeholt.“

Der Comte nickte nachdenklich. „Wenn das stimmt, so bringt euer Schiff, nicht meines, die erste Kunde von Aequipondium nach Europa.“

Siegbald verschluckte sich fast an seinem Apfelwein, als der Franzose das sagte. Natürlich stimmte es. Sein Schiff hatte sich sicher schon vor Monaten wieder auf den Rückweg gemacht. Er runzelte die Stirn. Der Gedanke, dass der Geograph Alfons Ludwig Hundeshagen das Recht der Entdeckung beanspruchen könnte, gefiel ihm gar nicht. Andererseits, wenn ihn jetzt alle für tot hielten, wäre seine plötzliche Rückkehr unter die Lebenden umso triumphaler. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er sich vorstellte, wie er an Hundeshagen vorbei zum König schritt. Natürlich hätte er sich zuerst am Hof des französischen Königs nach der neuesten Mode eingekleidet. Seine Kuriositäten würden von einer Reihe von Dienern getragen und Friedrich dem Großen zu Füßen gelegt. Ja, es würde wunderbar werden. Er nahm einen Schluck Cidre, ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht.

Im Gesicht des Kapitäns war kein Neid zu erkennen. Als er Siegbalds Lächeln sah, prostete er seinem Gast zu und blickte dann wieder nachdenklich über das Meer. Überhaupt wirkte der Comte in letzter Zeit recht melancholisch.

Siegbald wollte schon nachfragen, doch bevor er etwas sagen konnte, erkundigte sich der Comte freundlich: „Wie heißt überhaupt dein Schiff? Und wie ist es gebaut?“

„Die Annette ist ein Dreimaster“, sagte Siegbald stolz. Er hatte keine Ahnung von Schiffen und überlegte, wie er das Schiff am besten beschreiben konnte.

Der Comte sah ihn bei der Erwähnung des Namens überrascht an. „Die Annette aus Swinemünde? Eine Fleute?“

Siegbald strahlte. „Du kennst sie?“

„Nein, aber ich habe jemanden getroffen, der auf ihr gefahren ist.“ Er zögerte. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für dich. Die Annette ist gesunken.“

Siegbald runzelte die Stirn. „Vor einer Minute wusstest du noch nicht einmal, dass es sie gibt und jetzt soll sie gesunken sein? – Du bist nur neidisch, dass wir Preußen schneller waren! Typisch Froschfresser.“ Siegbald zog einen Flunsch und schaute den Franzosen vorwurfsvoll an.

Der Comte schüttelte den Kopf und warf Siegbald einen traurigen Blick zu. „Leider nein. Ich bin ziemlich sicher, dass dein Schiff verunglückt ist.“

„Aber wie kommst du darauf?“

„Vor ein paar Monaten hat man einen Mann zu mir gebracht. Einen Seemann. Er war völlig heruntergekommen und faselte wild vor sich hin. Der König dachte wohl, es wäre noch einer meiner Männer. Aber ich kannte ihn nicht. Was ich herausfand war, dass der Mann ein Schiffbrüchiger war, von einem Schiff namens Annette aus Swinemünde.“

„Schon möglich. Aber woher weißt du, dass das Schiff gesunken ist? Er könnte doch auch einfach über Bord gegangen sein oder er hat gelogen und stammt von einem ganz anderen Schiff.“

„Möglich“, gab der Kapitän zu. „Aber eher unwahrscheinlich. – Der Mann murmelte dauern von Seeungeheuern. Ein riesiger Wal habe das Schiff gerammt und dann sei ein Krake gekommen und habe es nach unten gezogen. Nur er hatte genug Geistesgegenwart, um rechtzeitig ins Wasser zu springen. Er habe sich an einer Planke festgehalten. Irgendwann wurde er dann an die Küste gespült.“

„Und das glaubst du? Ein Wal und ein Riesenkrake?“

Der Franzose wiegte nachdenklich den Kopf. „Zugegeben, eine wilde Geschichte. Andererseits erwähnte er auch das Huhn, vor dem er an Land geflohen sei. Und er wurde auf der Isla del Ogro aufgegriffen. – Warum hätte er beim Schiff lügen sollen und beim Huhn die Wahrheit sagen? Er musste doch wissen, dass seine Geschichte phantastisch klingt.“

Siegbald zog die Augenbrauen zusammen. Er wollte es einfach nicht glauben. Sicher war Hundeshagen schon fast zu Hause.

„Ich hätte dich gefragt, ob du ihn kennst“, fügte der Comte hinzu. „Aber als der Fremde Herrn Heinzel erblickte, bekam er Panik und lief davon. Ich fürchte, er ist vom Zahnstein gestürzt und hat sich das Genick gebrochen.“

„Wie praktisch für dich“, kommentierte Siegbald trocken.

Der Franzose betrachtete ihn traurig. „Sagt dir der Name Joaquim etwas? Das war sein Name, glaube ich.“

Siegbald schüttelte heftig den Kopf. Aber natürlich konnte er sich an Joaquim erinnern. Der hatte ihn schließlich schon bei seiner Landung auf der Isla del Ogro gewarnt, dass das Land verflucht sei. Aber Siegbald wollte es einfach nicht wahrhaben. Sicher war alles ein Irrtum. Hundeshagen war auf dem Weg nach Hause und wenn Siegbald nach Potsdam kam, würde er gebührend empfangen werden. Rasch stürzte er den Rest seines Cidre hinter und stand auf.

„Vorsicht!“ rief der Comte. Aber es war zu spät. Siegbalds Kopf knallte mit einem Plonk gegen die Decke.

„Ich geh schlafen“, murmelte Siegbald undeutlich und hielt sich den schmerzenden Kopf.

Mühsam entledigte er sich seines Rockes und seiner Hosen und ließ sich in die Hängematte sinken. Der Kapitän blieb noch ein paar Minuten sitzen. Dann trank auch er aus, erhob sich und verließ leise die Kajüte um an Deck zu gehen.

Um sich zu unterhalten, während das Schiff der fremden Küste in den nächsten Tagen erst nordwärts, dann nordöstlich und schließlich ostwärts folgte, fertigte sich Siegbald aus einer Leine, einem Haken und einigen glänzenden Metallstücken eine Angel. Zwei ganze Vormittage stand er angelnd an der Heckreling, ohne dass ein Fisch anbiss. Die Mannschaft ignorierte den tollpatschigen Entdecker weitgehend. Besser, er stand still an der Reling, als wenn er ihnen ständig unter die Füße geriet.

Während die Leine hinter dem Schiff im Wasser hing, beobachtete Siegbald missmutig die Küste. Steilküste und dichte Mangrovensümpfe wechselten einander ab. Nirgendwo schien es eine Stelle zu geben, an der ein Boot landen konnte. Es gab aber auch keinerlei Anzeichen, dass die Küste bewohnt war. Das Licht, das er in der ersten Nacht gesehen hatte, musste eine Täuschung gewesen sein, denn die darauffolgenden Nächte zeigten die Küste nur als unheimliche schwarze Masse am nördlichen Horizont. Vermutlich konnte er froh sein, wenn ihn keiner für den Entdecker dieser Einöde hielt.

Am zweiten Vormittag zuckte die Leine plötzlich und kurz darauf musste sich Siegbald mächtig anstrengen, damit sie ihm nicht mit Haken und Köder aus der Hand gerissen wurde. Minutenlang kämpfte er verzweifelt mit seinem Fang, während neben ihm ein breitschultriger Seemann stand, und in Ruhe an seiner Pfeife zog. Mit einem Ruck kam das Leinenende schließlich samt seiner Beute aus dem Wasser geschossen.

Der Seemann lehnte sich gerade rechtzeitig zur Seite, um nicht getroffen werden. „Pass doch auf, Mann“, brummte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.

Der glitschige Fang stieg hoch über die Heckreling und klatschte schließlich zwischen Pierre Morel und dem Steuermann aufs Deck. Siegbald war enttäuscht. Zwar hatte ein beachtlicher Fisch nach seinem Köder geschnappt, doch offenbar hatte bereits während Siegbald die Leine einholte, ein Tier begonnen, seinen Fisch aufzufressen. Was er schließlich aus dem Wasser zog, war nicht viel mehr als ein Fischkopf und ein zerfetztes Gerippe.

„Krokodile“, stellte der Mann neben ihm fest. „Könnten natürlich auch Haie gewesen sein. Aber ich meine, es war ein Krokodil. Tja, das ist Pech. Ich bin übrigens Henneken, der Schiffskoch.“ Der Mann streckte eine schwielige Hand aus.

Siegbald schüttelte dem Mann die Hand und brummte eine Antwort. Dann wandte er sich wieder seinem Fang zu. Das Gesicht des Ersten Offizier zeigte unverhohlenen Ekel, als er das Fischgerippe von einem Schiffsjungen zum Heck bringen ließ. Frustriert befreite Siegbald seinen Angelhaken und den blinkenden Köder aus dem Fischkopf. Dann wurden die Reste über Bord geworfen.

Kurz darauf war ein großer, dunkler Schatten knapp unterhalb der Wasseroberfläche auszumachen, der nach dem Fischkadaver schnappte.

„Was ist das?“ fragte Siegbald den Koch, der immer noch gemütlich neben ihm lehnte.

Nachdenklich stierte Henneken ins Wasser. Schließlich war eine Bewegung, fast wie ein Flügelschlagen unter ihnen auszumachen.

„Könnte ein Rochen sein“, meinte er schließlich. „Hab aber noch nie so einen großen gesehen. Der ist ja mindestens drei Meter breit.“

Einen Augenblick später war der Schatten verschwunden. Der enttäuschte Siegbald wollte schon nach einer neuen Unterhaltungsmöglichkeit Ausschau halten, da gab es ein mächtiges Platschen und der rochenartige Fisch sprang hinter ihnen aus dem Wasser. Höher und höher stieg das Tier. Und statt schließlich mit einem gewaltigen Klatscher wieder ins Wasser zu fallen, faltete es plötzlich ein Paar gewaltiger Flügel aus. Mit annähernd sechs Metern Spannweite hielt es leicht mit dem Schiff mit. Kurz darauf begann der Fisch sogar, das Schiff langsam zu umkreisen, wobei er einen langen, pfeilförmigen Schwanz hinter sich herzog. Mit offenem Mund staunend folgten nun viele Augenpaare dem Flug des tiefblauen Tieres.

„Was ist das?“ fragte Siegbald, das Tier nicht aus den Augen lassend. „Ein fliegender Fisch?“

Henneken schüttelte ratlos den Kopf. „Sowat hab ick in zwanzich Jahrn uff See noch nich jesehen“, antwortete Henneken, vor Überraschung in seinen heimatlichen Dialekt verfallend.

Siegbald schwieg nachdenklich. „Noch nie? Bist du sicher?“

„Nee, sowat hab ich sicher noch nich jesehn.“

Zwei Runden folgte Siegbald dem Tier mit seinen Blicken, während es in seinem Kopf arbeitete. Ein Tier, das noch nie jemand gesehen hat. Das wäre eine Entdeckung. Seine Entdeckung. Und diesmal konnte sie ihm der Comte nicht wegschnappen. Er ließ die Angel fallen und hastete in die Kajüte. Eilig kramte er sein Gewehr hervor und begann es zu laden, während der Comte, der gerade über Logbuch und Karten saß, ihn unwillig brummend ignorierte.

Der Sockenloch’sche Flugrochen, so würde er das Wesen nennen. Vergiss den König. Diesmal war er selbst dran. Was wäre das auf Latein? Batoidea volatica Sockenlochii? Vielleicht sollte er jemanden fragen, dessen Latein besser war. Außerdem musste er überlegen, ob er das Tier nicht eher als den Siegbald Sockenloch‘schen Flugrochen bezeichnen sollte. Schließlich sollte ihn keinesfalls jemand mit seinem Bruder Sven Oliver Sockenloch verwechseln. Nicht, dass der genug Neugier oder Sinn für Abenteuer für solch eine Entdeckung gehabt hätte. Dauernd dachte er nur an Miederwaren, woran ja im Grund nichts auszusetzen war. Aber als Erbe der Miederwarenmanufaktur seines Vaters dachte sein Bruder meist an extragroße, besonders stabile Mieder für ältere Damen. Konzentration!, schalt sich Siegbald und eilte an Deck. Haarscharf vermied er, seinen Kopf am Türstock anzuschlagen.

Wieder oben drängte Siegbald sich durch die glotzenden Matrosen nach hinten. „Es ist meins“, rief er. Er zielte und drückte in dem Moment ab, als das Tier das Heck des Schiffes überflog. Ein Krachen ertönte, gefolgt von einem fast menschlichen Aufschrei des Tieres. Dann schlug es mit einer Wucht auf dem Achterdeck ein, die den Bug fast senkrecht emporschnellen ließ. Der zappelnde Todeskampf des Tieres brachte das kleine Schiff beinahe zum Kentern. Siegbald fiel auf das Deck und rutschte auf einer Masse glitschiger Fischschuppen nach Backbord. Selbst die erfahrenen Matrosen konnten sich kaum auf den Füßen halten.

„Schafft das Vieh da weg“, brüllte der Steuermann verzweifelt. Er war vom langen Schwanz des Ungetüms beinahe über Bord gefegt worden war und hatte nun Mühe, das Schiff am Kentern zu hindern. Wind, Wellen und das Verhalten des Schiffes kannte er genau. Doch die langen Flügel, die zwar endlich still lagen, aber nun beiderseits über die Bordwände hingen, wirkten wie bremsende Seitenruder. Eilig kam der Kapitän an Deck gerannt. Mit einem Blick erfasste der Comte die Situation und wies ein Dutzend Männer an, das glitschige Ungetüm über die Bordwand zu hieven.

„Was ist passiert?“ fragte der Comte betont ruhig, als das Schiff wieder unter Kontrolle war und auf den letzten Kurs zurückkehrte.

Mit hochrotem Gesicht, das Gewehr noch in der Hand kam Siegbald auf den Kapitän zu gestapft. „Warum habt Ihr das getan?“ verlangte er zu wissen. „Dieses Tier war eine wertvolle wissenschaftliche Entdeckung. Meine Entdeckung. Ihr hättet wenigstens warten können, bis ich es vermessen und dokumentiert habe.“

Zornig blickte er dem Comte ins Gesicht, der jedoch angesichts der Anschuldigungen keine Miene verzog.

„Ihr sabotiert absichtlich meine Forschung“, behauptete Siegbald aufgebracht.

„Ihr seid dafür verantwortlich?“ fragte der Kapitän und deutete auf mehrere gerissene Taue und das mit schleimigen, bläulichen Schuppen verschmutzte Deck.

„Ähm, ja“, antwortete Siegbald jedoch angesichts der offensichtlichen Schäden schon ein bisschen weniger laut.

„Auf ein Wort“, forderte der Kapitän ihn auf. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er sich um und stieg hinab in seine Kajüte.

Einen Moment lang spielte Siegbald mit dem Gedanken, einfach an Deck zu bleiben. Doch die neugierigen und schadenfrohen Blicke der Mannschaft bewegten ihn bald, dem Kapitän zu folgen, statt gänzlich vor den Franzosen das Gesicht zu verlieren und wie ein bockiges Kind mit den Füßen aufzustampfen.

„Ist dir bewusst, dass du mit dieser leichtsinnigen Aktion das ganze Schiff hättest versenken können?“ fragte der Comte leise und höflich, nachdem Siegbald die Kajütentür hinter sich geschlossen hatte.

„Das ist wohl etwas übertrieben. Findest du nicht?“

Aufmerksam beobachtete der Comte ihn, aber Siegbald schien die Gefahr wirklich nicht erkannt zu haben.

„Siegbald“, begann der Comte im leisen geduldigen Tonfall, mit dem man einem Kind eine unschöne Wahrheit beibringen würde. „Ich weiß, du bist kein Seemann, daher möchte ich dich nicht mit schiffbaulichen Details langweilen. Aber Le Rafiot wurde nicht in einer französischen Werft erbaut. Ja nicht einmal mit dem Besten, was Aequipondium zu bieten hat. Unser Schiff ist genau das, was der Name sagt, ein alter Kahn. Aus zum Teil schlechten Holz und mit so dünnen Bordwänden, dass ich hoffe, dass wir beim ersten Sturm nicht untergehen.“

Siegbald, der bisher geglaubt hatte, der Comte wolle ihn nur mit allen Mitteln von eigenem Ruhm abhalten, wurde rot. Sie hatten sich vor ihrer Flucht geeinigt, dass dem Comte und damit Frankreich der Ruhm der Entdeckung Aequipondiums zufallen würde. Dass Siegbald zum Ausgleich wenigstens die Entdeckung diverser kurioser Tiere und Pflanzen vermelden dürfe, hatte er dabei für selbstverständlich gehalten. Und jetzt war ihm nicht einmal das möglich. Das Schlimmste war, dass der Kapitän recht hatte. Er hatte nicht nachgedacht.

„Jean François, ich…“, stammelte er.

Der Franzose winkte ab. „Es ist ja nichts weiter passiert, dieses Mal. Ich möchte nur, dass du künftig bei deinen ‚Entdeckungen‘ etwas vorsichtiger bist.“ Bei diesem Wort schien das alte spöttische Funkeln aus den braunen Augen des Franzosen.

Angesichts der ruhigen Kompetenz des Comte wallte in Siegbald das alte Gefühl der Unzulänglichkeit auf. Eine plötzliche Windböe ließ das Schiff zur Seite kippen und Siegbald stolperte durch die Kajüte. Der Kapitän, sich mit einer Hand leicht an dem Deckenbalken festhaltend, streckte den Arm aus um Siegbalds Sturz zu verhindern. Er wartete einen Moment bis Siegbald sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, dann eilte er an Deck.

Siegbald stöhnte und ließ sich schwer in seine Hängematte fallen. Prompt riss eine der Befestigungen und er landete hart auf dem Deck. Ohne sich darum zu kümmern, vergrub Siegbald das Gesicht in den Armen und gab sich für die nächste halbe Stunde ausgiebigem Selbstmitleid hin.

Der nächste Tag ihrer Reise brachte Regen, einen ausdauernden, undurchsichtigen, alles durchdringenden Regen. Die Küste war kaum zu erkennen. Wie sollten sie unter diesen Umständen nach einem Landeplatz oder einer Passage Ausschau halten? Außerdem war das Meer auch hier immer wieder mit gefährlichen Riffen gespickt. Der Comte und sein Erster Offizier mussten ihr ganzes Können aufbieten, um das Schiff sicher auf Kurs zu halten.

Siegbald, der allein in der Kajüte geblieben war, nutzte die Zeit, um sein Tagebuch weiterzuführen. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, den Eintrag mit herbeifantasierten Seeungeheuern und Südseeprinzessinnen zu füllen. So hatte er auf seiner ersten Fahrt die langweiligeren Passagen überstanden. Doch angesichts des aufs Deck trommelnden Regens verging ihm die Lust dazu und er beschränkte sich auf die Realität.

An Bord der Le Rafiot, 5. Tag der Heimreise nach Europa

 

Regen und Kurs Südsüdost führen uns heute immer weiter in die Nähe des Ausgangspunktes unserer Flucht aus Aequipondium. Im Gegenwind kreuzend kommen wir nur langsam voran. Noch immer haben wir keine Durchfahrt ins offene Meer gefunden. Der Kapitän plant nun, es weiter südlich zu versuchen.

Auch wenn der Comte an Deck einen ruhigen, selbstbewussten Optimismus zeigt, ist hier unten in seiner Kajüte deutlich zu sehen, dass er sich Sorgen macht. Fünf Tage unseres spärlichen Proviants haben wir bereits verschwendet, ohne dem Ziel näher zu kommen. Auch der unbekannte Flugrochen sorgt den Kapitän. Warum hat kein erfahrener Seemann ein solches Tier jemals gesehen? Wäre es möglich, dass es diese Wesen nur hier gibt, weil keine Verbindung zum Ozean existiert?

Auch scheint es in diesem Meer keinerlei Gezeiten zu geben. Bleibt zu hoffen, dass dies ähnlich wie bei der Ostsee einem recht schmalen Zugang zum Ozean geschuldet ist.

Nachdenklich starrte Siegbald ins Nichts. Was würden sie tun, wenn es tatsächlich keinen Heimweg gäbe? Auch von den Seeungeheuern, die angeblich das Meer rund um Aequipondium bevölkerten, hatten sie noch nichts gesehen. Ein Schaudern der bösen Vorahnung durchlief Siegbald. Er klappte sein Tagebuch zu, zog seinen Rock über und ging an Deck.

Minuten später war er wieder unten. Sein wollener Rock war vom Regen durchweicht und er wünschte sich, er hätte daran gedacht, seinen gewachsten Reiseumhang mitzunehmen. Gegen Mittag änderte der Kapitän den Kurs in Richtung Südwest. Mit dem Wind von schräg achtern flog das kleine Schiff nur so über die See. Am Nachmittag ließ auch der Regen nach. Die ganze Mannschaft seufzte vor Erleichterung.

Siegbald ging nach oben, um ein wenig die frische Luft zu genießen. Auch Henneken, der Koch, lungerte wieder an Deck rum. Aus Neugier und um sich die Zeit zu vertreiben, verwickelte der Entdecker den Koch in ein Gespräch.

„Wie kommst du eigentlich auf die Le Rafiot“, wollte Siegbald wissen. „Du bist doch gar kein Franzose.“

Henneken grinste. „Nee. Ich bin auf einem holländischen Handelsschiff bis Batavia gefahren. Dort hat mich mein Kapitän, der Geizkragen, krank zurückgelassen. Als ich wieder gesund war, hab ich auf einer englischen Fregatte angeheuert. Aber der Kapitän war ein Schinder, also bin ich in Sydney abgehauen. La Pérouse hab ich getroffen, weil der einen Koch gesucht hat. Seiner ist wohl gestorben. Skorbut, Syphilis, was weiß ich. Für mich war es ein Glücksfall, denn ich will wieder heim. Werd mir ein Mädchen suchen und nur noch ein bisschen über die Nordsee schippern.“

„Passiert sowas öfter? Ich meine, dass Leute aus verschiedenen Ländern auf den Schiffen ihrer Feinde anheuern? England und Frankreich sind ja wohl nicht unbedingt die besten Freunde.“

Henneken zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Soweit von zu Hause… Wen kümmert’s? Außerdem sterben auf den Reisen immer ein paar Leute und die Schiffe müssen ja trotzdem bemannt werden. La Pérouse zum Beispiel, als der in Frankreich losgefahren ist, hatte der wohl über zweihundert Mann – und schau uns jetzt an!“

Siegbald blickte nachdenklich über die Männer, die hier und dort mit Segeln und Leinen hantierten. Zweihundert Mann. Le Rafiot bot nicht mehr als einem Viertel dieser Anzahl Platz.

„Gibt es noch mehr wie dich? Ich meine Leute, die ursprünglich nicht mit dem Comte gereist sind?“

Henneken grinste. „So wie Euch, meint Ihr?“

Siegbald wurde rot, doch Henneken blickte sich bereits nachdenklich an Deck um.

„Der da. Sven Olafsson“, sagte er und deutete auf einen Seemann, der gerade am Bug stand und irgendetwas seemännisches mit einem Seil anstellte. „Der Kapitän hat ihn irgendwo bei Guam aus dem Meer gefischt, heißt es. Olafsson behauptet, er stammt von einem schwedischen Walfänger und ist bei der Jagd aus dem Boot geschleudert worden. Morel meint, dass er wohl eher sinnlos betrunken an Deck rumgestolpert ist, als es passierte. Sonst hätten ihn schließlich seine eigenen Kameraden gerettet.“ Henneken zuckte mit den Schultern. „Er ist jedenfalls ein tüchtiger Seemann und zu trinken bekommen wir inzwischen ja alle nicht mehr viel. – Es gibt noch ein paar andere, aber die meisten sind tatsächlich Franzosen.“

Kurz darauf musste Henneken wieder zu seinen Töpfen. Siegbald blieb noch ein paar Minuten länger. Doch da der Horizont nur wenig Abwechslung bot, ging auch er bald wieder in seine Kajüte.

Zwei Tage später lief die Le Rafiot immer noch südwärts, die Küste nun rechter Hand. Trotz des doppelt besetzten Ausgucks hatten sie noch keine Durchfahrt gefunden. Die Landschaft veränderte sich langsam. Statt eines Dschungels war eine Reihe spitzer Berge sichtbar, von denen einige dunkle Rauchwolken ausstießen. Des Nachts erhellte ein rotes Leuchten den Horizont.

Siegbald stand an der Steuerbordreling und verfolgte, wie ein besonders hoher Berg anfing feurige Klumpen in die Luft zu spucken. Vulkane, so hatte ihm die Hexe Theolinde einst erzählt, waren die Brutplätze der Feuerdrachen. Ob es auch hier welche gab? Einen kurzen Moment schien der feuerspeiende Berg eine große, flügelschlagende Gestalt zu beleuchten. Doch ehe Siegbald sich sicher sein konnte, war die Erscheinung wieder im Dunkel verschwunden.

Er fragte sich, was Theolinde wohl gerade tat. Ob sie sehr wütend auf ihn war? Immerhin hatte er ihre Freundschaft mit den Drachen missbraucht, um die eigene Flucht zu ermöglichen. Seufzend wandte er sich vom glühenden Horizont ab und ging wieder nach unten. Hoffentlich hatte Pierre Morel bald Wache. Dann könnte er endlich ein wenig schlafen, statt dem endlosen Schnarchen des Franzosen zu lauschen.

Der nächste Morgen zeigte die See im Osten ganz trüb und gelblich braun. Einige Stunden blieb das Wasser so, während es in den anderen Richtungen weiter klar und tiefblau blieb.

„Im Osten muss es einen großen Strom geben“, vermutete der Kapitän. „Sein schlammiges Wasser wird weit ins Meer hinaus getragen und sorgt für diese Verfärbung.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass der Entdecker Dr. Fry diesen Strom je erwähnt hat“, stellte Siegbald fest. Dr. William Fry war ein Forscher, der sein Exil in Aequipondium nutzte, um den riesigen Kontinent zu kartieren und dokumentieren. Siegbald erinnerte sich noch daran, wie der ältliche Entdecker während seiner ersten Audienz beim König einen langen Vortrag gehalten hatte. Es ging um die Tiere der südlichen Ebenen: Fleischfressende Einhörner, Bummelbienen und diverse Chameleoniden.

„Vielleicht ist er nie so weit gekommen?“ vermutete der Comte.

Gegen Mittag zeigte sich das Wasser ringsum wieder graublau, wie der wolkenverhangene Himmel.

„Immer noch nichts“, meldete der Ausguck, der beim Wachwechsel heruntergestiegen kam. Siegbald stand am Heck und diskutierte mit Pierre Morel über Seeungeheuer und Legenden.

„Ich hatte mich schon darauf gefreut, einige Seeungeheuer wissenschaftlich zu beschreiben“, sagte Siegbald. Etwas enttäuscht setzte er hinzu: „Wahrscheinlich gibt es die meisten davon überhaupt nicht. Ich meine Meerjungfrauen, Monsterfische und riesige Seeschlangen. Ich bin sicher, wenn es die gäbe, hätte die Wissenschaftliche Akademie längst ein ausgestopftes Exemplar ausgestellt. Außerdem sind wir seit Tagen gefahrlos vor der Aequipondischen Küste unterwegs, obwohl es in den Meeren hier nur so vor Monstern wimmeln soll.“

Morel wiegte zweifelnd den Kopf. „Ich bin da nicht so sicher. Es gibt viele seltsame Kreaturen in den Ozeanen. Denk nur an deinen fliegenden Rochen. Und kennst du den Narwal? Der hat ein Horn, länger als ein Schwert. Und eine Seeschlange mag ich mir gar nicht erst vorstellen. Wer weiß schon, was in der Tiefe lauert.“ Morel schauderte.

Kurz darauf erscholl von oben der Ruf des Ausgucks und unterbrach ihr Gespräch.

„Zwei Strich backbord voraus, ein Wal. Etwa eine halbe Meile entfernt.“

Sofort eilten alle, die gerade keine anderen Pflichten hatten, nach backbord. Wenn es hier wirklich Wale gab, dann musste das Meer auch einen Zugang zum Pazifischen Ozean haben. Gespannt richteten sich alle Augen aufs Wasser. Ein großer dunkler Schatten erschien.

„Ein Finnwal“, brüllte irgendwer, als ein langes, spitzes Maul die Wasseroberfläche durchbrach. Doch schon im nächsten Augenblick war allen klar, dass es sich keinesfalls um einen Finnwal handeln konnte. Das Tier hob einen langen, spitzen Kopf mit einem gewaltigen Maul erst fünf dann sogar zehn Meter über die Wasseroberfläche. Gleichzeitig wurde viele Meter hinter dem Tier ein Stück seines schuppigen Rückens sichtbar, das sich in einem Bogen ebenfalls mehrere Meter aus dem Wasser hob.

„Jörmungandr, die Midgardschlange“, stöhnte Sven Olafsson ehrfurchtsvoll.

Gemeinsam mit den anderen Besatzungsmitgliedern beobachtete er, wie die riesige, graugrüne Seeschlange ihren Kopf in Richtung des Schiffes wendete und ihre riesigen, goldgelben Augen auf sie richtete. Sie riss das Maul auf und entblößte ein Paar gewaltiger Fangzähne.

Pierre Morel gab ein angstvolles Wimmern von sich, während einige der Seemänner bereits auf der Suche nach Enterhaken, Messern oder anderen Waffen eilig über das Deck hasteten. Einen Moment lang schien das Monster die Le Rafiot aus seinen geschlitzten Pupillen zu beobachten. Dann schloss es das Maul und tauchte, nur eine kleine Welle und ein paar Schaumkronen hinterlassend.

„Wo ist sie?“ und „Siehst du sie noch?“ riefen der Kapitän und sein Erster Offizier gleichzeitig Richtung Ausguck. Die Männer starrten auf die Meeresoberfläche rings um das Schiff. Ein paar Minuten lang schien jede Welle, jeder Schatten die Rückkehr des Monsters zu verheißen. Doch das Tier blieb verschwunden.

„Keine Spur. Sie ist weg“, meldete sich schließlich der Ausguck.

Der Erste Offizier schickte jeden wieder an seine Arbeit, doch trotzdem hielten die meisten noch immer die Blicke angstvoll auf das Wasser gerichtet.

„Da, backbord querab“, rief plötzlich irgendwer, als ein schlängelnder Schatten dicht unter der Wasseroberfläche sichtbar wurde. Diesmal tauchte das Ungeheuer nicht auf, sondern schien mit Wendungen und Drehungen irgendetwas unter ihnen zu verfolgen. Nur kurz hob sich ein Stück des langen Schwanzes der Seeschlange empor. Mit dem lauten Klatschen eines ins Wasser stürzenden Baumstammes verschwand es wieder in der See. Die Wasserfontäne, die es dabei erzeugte, traf das Schiff. Jeder, der sich zufällig in der Nähe der betreffenden Reling aufgehalten hatte, wurde nass.

Weitere bange Minuten vergingen, während derer der Erste die Männer nach Kräften bewaffnete und Siegbald und der Kapitän ihre Gewehre aus der Kajüte holten.

„Ich hoffe bei Gott, wir müssen nicht schießen. Wer weiß, ob unsere Kugeln das Vieh nicht nur noch wütender machen“, vertraute der Comte Siegbald an, als sie unten waren. An Deck setzte er jedoch sofort wieder eine Miene zuversichtlicher Kompetenz auf.

Keiner der Seeleute gab mehr vor, die ihm zugeteilten Aufgaben zu erfüllen. Stattdessen beobachteten sie mit bangen Gesichtern das Meer. Lediglich der Steuermann stand weiter an seinem Posten und versuchte die aufkommende Panik zu ignorieren.

„Da“, rief der Ausguck und ein Aufschrei vom Steuerbordbug ließ alle die Richtung erahnen, noch ehe der Ausguck die Peilung verkünden konnte.

Die riesige Schlange durchbrach die Wasseroberfläche und diesmal hielt sie eine Beute in ihrem gewaltigen Maul. Der tiefblaue Flugrochen zuckte noch kurz, doch sein Schicksal war bereits besiegelt. Seine langen, fledermausartigen Flügel hingen regungslos links und rechts aus dem Maul der Schlange, während sein langer pfeilförmiger Schwanz zuckend wie eine groteske, blaue Zunge aus der Spitze ihres Maules ragte. Einen Moment rang die Schlange mit ihrer unförmigen Beute. Dann sahen die fassungslosen Männer, wie der Rochen im Schlund der Seeschlange verschwand und langsam nach unten rutschte. Der immer noch zuckende blaue Schwanz war das letzte, was von der Beute zu sehen war. Im letzten Augenblick wischte er einmal über die Lippen des Seeungeheuers, als würde sich die Seeschlange nach diesem Happen das gewaltige Maul schlecken.

Als die Beute verschlungen war, richtete die Schlange ihre goldgelben Augen wieder auf das Schiff. Paralysiert, wie das sprichwörtliche Kaninchen, starrten die Männer das Monster an. Doch der Wind und der unerschütterliche Steuermann ließen das kleine Schiff langsam weitertreiben. Die Seeschlange drehte langsam ihren Kopf, um das Schiff weiter im Fokus ihrer geschlitzten Pupillen zu halten, doch ihr Blick wirkte nur noch ein wenig neugierig. Wie der eines Mannes, der nach einem ausgiebigen Mahl beim Kaffee die anderen Restaurantbesucher mustert. Schließlich hatte die Schlange genug gesehen und tauchte. Die geschmeidige Bewegung hinterließ nur ein leichtes Kräuseln auf der Meeresoberfläche. Ein Aufatmen lief wie eine Welle über das kleine Schiff.

Der restliche Nachmittag verging mit Routineaufgaben, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich war. Obwohl die Männer weiter das Meer mit Argusaugen absuchten, tauchte die Seeschlange nicht wieder auf und mit der Zeit beruhigten sich alle ein wenig.

In der Kajüte des Kapitäns fand währenddessen eine hitzige Diskussion statt.

„Wir müssen sofort an Land und uns in Sicherheit bringen“, verlangte Pierre Morel, der Erste Offizier, aufgebracht. „Wenn dieses Monster wiederkommt, sind wir alle tot.“

„Wenn wir uns von jeder kleinen Gefahr aufhalten ließen, hätten wir gleich in Frankreich bleiben können“, erwiderte der Comte ruhig. „Solange es die Hoffnung gibt, nach Hause zu kommen, wird dieses Schiff auf See bleiben und nach einem Ausgang aus diesem vermaledeiten Monsterteich suchen.“

Hilfesuchend blickte Morel zu Siegbald, der bleich auf seiner Seekiste hockte und immer noch krampfhaft sein Gewehr festhielt. So hatte er sich seine wissenschaftliche Betrachtung der Seeungeheuer nicht vorgestellt.

„Und was passiert, wenn wir an Land sind?“ fragte Siegbald. Die Seeschlange hatte ihm Angst gemacht, aber was sollte es bringen, an Land zu gehen?

Morel machte eine ungeduldige Geste mit den Händen. „Auf jeden Fall sind wir erst einmal sicher.“

„Und dann?“

Das Gesicht des kleinen Franzosen sagte deutlich, dass ihm dies im Moment völlig egal war.

„Er hat recht, Pierre“, sagte der Kapitän. „Was wir vom Land gesehen haben, war eine zerklüftete Vulkanlandschaft. Schon seit Tagen suchen wir einen Platz zum Landen. Und selbst wenn wir irgendwo anlanden, wie sollen wir dort überleben? Keiner weiß, was es dort gibt. Vielleicht gibt es sogar noch schlimmere Monster, als diese Seeschlange.“

„Feuerdrachen“, schlug Siegbald vor.

„Bitte?“

„Theolinde Taubenfuß sagte, in den Vulkanen brüten Feuerdrachen“, erklärte er. „Und ich glaube, gestern habe ich einen gesehen.“

„Wirklich? – Aber da hast du es, Pierre. Im Übrigen habe ich euch nur hier heruntergerufen, um eure Meinung zu hören. Sollen wir weiter nach einer Durchfahrt suchen, oder aufgeben und versuchen nach Zahnstein zurückzukehren? Der König wäre sicher wütend auf uns. Ich denke aber nicht, dass er uns dauerhaft einsperren würde. Zu gegebener Zeit könnten wir an einer anderen Küste einen neuen Fluchtversuch wagen.“

„Ich bin dafür, an Land zu gehen“, wiederholte der Erste Offizier stur.

Erstaunlicherweise führte die Angst des kleinen Franzosen vor den Seemonstern bei Siegbald genau zum Gegenteil.

„Ich bin dafür, weiterzufahren“, sagte er fest. „Noch einmal kann ich Luna sicher nicht überreden, ein Schiff für uns in das Wasser zu heben. Außerdem glaube ich, dass die Seeschlange psychochromatisch ist.“

„Sie ist was?“ Verwirrt blickten die beiden Franzosen ihn an.

„Psychochromatisch. Das heißt, sie kommt nur, wenn man an sie glaubt. Möglicherweise, wenn man über sie spricht. So wie Morel und ich, ganz kurz bevor sie erschien.“

Der Comte schaute Siegbald an, als hätte der den Verstand verloren.

„Ich weiß, es klingt seltsam. Aber der Druide Neidhart hat es mir erklärt.“

Siegbald wedelte mit den Armen in die Richtung, die er für Osten hielt. Neidhart war der Oberdruide. Auch wenn er oft im Königsschloss in Oberzahnstein anzutreffen war, hatte er Siegbald begleitet, nachdem dieser wegen Mordes am Küchenhuhn Alma Wiesenglück zu einer qualvollen Strafe in den Morearea-Bergen verurteilt worden war. Der Comte wusste nicht viel über diese Reise, außer, dass Siegbald geflohen war. Aber er wusste, dass Siegbald den Druiden recht gut kannte.

„Also Neidhart sagt, Seeschlangen erscheinen nur, wenn man an sie glaubt? Aber wer glaubt an Seeschlangen?“

„Naja. Er hat nicht genau von Seeschlangen gesprochen. Eher ganz allgemein von Gefahren. Und Morel und ich haben gerade von Seeschlangen gesprochen, als das Monster auftauchte.“

Pierre runzelte die Stirn. „Das stimmt. Aber das war doch sicher nur Zufall.“

Siegbald zuckte mit den Schultern. „Vor ein paar Tagen habe ich an Feuerdrachen gedacht, und prompt einen gesehen. – Aber, wenn es euch lieber ist, können wir auch ein Experiment machen.“

„Du willst die Seeschlange herbeirufen?“ fragte Pierre fassungslos.

Siegbald zuckte erneut mit den Schultern. „War nur ein Vorschlag.“

„Siegbald hat sicher recht“, befand der Kapitän. „Es ist besser, wenn wir den ganzen Vorfall vergessen und ignorieren. Wenn uns das nicht dabei hilft, das erneute Auftauchen des Monsters zu verhindern, wird es uns zumindest helfen, uns auf unsere Aufgaben zu konzentrieren.“

Pierre Morel blieb angesichts dieses Vorschlags der Mund offen. „… aber…“

„Ich schätze deine Meinung, Pierre, aber die Entscheidungen an Bord trifft immer noch der Kapitän.“

Der Comte lächelte freundlich, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Doch Morels verschlossenes Gesicht zeigte, dass er mit der Entscheidung des Comte nicht einverstanden war.

„Wir sollten uns wenigstens näher an der Küste halten“, schlug er schließlich vor. „Im flachen Wasser sind wir vielleicht vor der Seeschlange sicherer.“

„Aber die Gefahr ist größer, stattdessen auf Grund zu laufen“, wandte der Comte ein. Als er den flehentlichen Blick seines Ersten Offiziers sah, gab er schließlich nach. „In Ordnung. Wir fahren näher zur Küste. Aber achte drauf, dass wir häufig das Lot ausbringen. Sobald wir weniger als fünf Faden Wassertiefe haben, laufen wir wieder von der Küste weg.“

„Aber fünf Faden sind doch für die Seeschlange kein Problem“, protestierte Morel.

„Vielleicht nicht“, gab der Comte zu. „Aber wir werden nahe genug an der Küste sein, um uns rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.“

Morels Gesicht zeigte deutlich, dass er noch immer nicht glücklich mit der Entscheidung seines Kapitäns war. Doch er salutierte artig und ging dann an Deck, um die entsprechenden Anweisungen zu geben.

„Vermutlich hätte es eine Meuterei gegeben, wenn ich nicht wenigstens dieses Zugeständnis gemacht hätte“, murmelte der Comte, als müsse er sich dafür rechtfertigen, auf seinen Untergebenen gehört zu haben. „Zumindest für den Naturphilosophen wird Aequipondium nie langweilig“, sagte er dann und grinste schief zu Siegbald herüber.

Der nickte und erwiderte das Lächeln, wenn es auch bei ihm etwas verkrampft aussah.

Die Männer nahmen die Anweisung, die Seeschlange zu vergessen, erstaunlich gelassen hin. Sie waren praktisch veranlagt, aber auch ein wenig abergläubisch. Wenn man ihnen sagte, Gerede über das Monster würde es herbeilocken, so akzeptierten sie dies. Lediglich Morel schien es schwerzufallen, das Untier zu vergessen.

Die Nächte so weit im Süden wurden langsam empfindlich kühl. Auch tagsüber war Siegbald inzwischen froh um seinen wollenen Rock. Das Schiff kroch währenddessen im Schatten einer Gebirgskette langsam südwärts. Die unregelmäßige Küste und dadurch häufige Kurswechsel hatten ihr Fortkommen zu einem Schneckentempo verlangsamt. Es war offensichtlich, dass ihre Vorräte nicht bis Neuseeland reichen würden, auch wenn sie bald einen Ausgang aus diesem Binnenmeer fänden.

Morel wurde von Albträumen über die Seeschlange gequält, obwohl sie seit Tagen keine Spur mehr von ihr gesehen hatten. Um sich zumindest für eine kurze Zeit in Sicherheit zu fühlen, drängte er den Kapitän, an Land gehen zu dürfen. Sie müssten dringend mehr Trinkwasser bunkern und vielleicht konnten sie ein paar Tiere jagen, um ihre Fleischvorräte aufzustocken, argumentierte er. Doch der Kapitän weigerte sich, das kleine Schiff an der felsigen Küste in Gefahr zu bringen.

„Wir gehen erst an Land, wenn wir die Ausfahrt gefunden haben oder unsere Vorräte erschöpft sind“, legte er fest, als sein nervöser Erster Offizier zum dritten Mal vorschlug, an Land einen Bach zu suchen.

Siegbald verbrachte seine Zeit mit dem Versuch, ein Aquarellbild von der Seeschlange anzufertigen, wie sie gerade den blauen Flugrochen verschlang. Sorgen machte er sich deswegen nicht. Es ging ihm schließlich nur darum, eine fantasievolle Illustration für sein Reisetagebuch zu schaffen.

Morel, der ohnehin an kaum etwas Anderes als an das Seeungeheuer denken konnte, wandte den Blick ab, als er einmal zufällig einen Blick auf Siegbalds farbenfrohes Bild geworfen hatte. Raschen Schrittes ging er ans andere Ende des Decks und kam nicht wieder, bis Siegbald den Bogen Papier und die Farben wieder in seiner Seekiste verstaut hatte. Es war durchaus nicht so, dass Siegbald keine Angst vor der Seeschlange spürte. Doch waren für ihn die Unwägbarkeiten einer Seereise ohnehin so groß, dass er sicher war, nur mit großem Glück lebend und gesund zurück nach Hause zu kommen. An diesem Fatalismus konnte das Seeungeheuer auch nicht mehr viel ändern.

Die Tage an Bord waren inzwischen so eintönig geworden, dass Siegbald es bald aufgab, Tag für Tag gespannt Kurs und Position zu verfolgen. Das Angeln hatte er seit dem Vorfall mit dem Flugrochen aufgegeben, und auch seinem Reisetagebuch widmete er sich nur unregelmäßig. Es gab nichts Neues zu berichten und er wagte es nicht mehr, Seeungeheuer zu erfinden und sich weitere Abenteuer auszudenken. Sollten sie sich als zutreffend erweisen, würde ihm der Kapitän zweifellos den Kopf abreißen. Zumindest zog er sich beim faulen Herumlungern in seiner Hängematte keine weiteren Verletzungen zu.

An Deck ging Siegbald nur noch, wenn der schwache Sonnenschein des tiefen Südens für ein wenig Wärme sorgte. Selbst dann versteckte er sich am liebsten in einem windstillen Eckchen. Seit der Kapitän die täglichen Rationen auf zwei Drittel gekürzt hatte, brachten nicht einmal mehr die täglichen Mahlzeiten ein wenig Abwechslung und Genugtuung. Sie hatten bereits mehr als die Hälfte ihrer Lebensmittel verzehrt und der Comte wollte so lange wie möglich vermeiden, an dieser rauen Küste anlanden zu müssen.

Eineinhalb Tage (oder drei Mahlzeiten) nach Ankündigung der Rationierung passierte es dann. Es musste bereits nach Mitternacht sein, denn Siegbald, den das Schnarchen Morels seit Stunden wachgehalten hatte, war endlich eingeschlafen. Das konnte nur bedeuten, dass der Erste jetzt Deckwache hatte. Ein seltsames Knirschen lief durch das Schiff. Eine große Welle hob es sanft und hoch empor, dann krachte der Rumpf des kleinen Schiffes plötzlich und hart auf ein unsichtbares Riff. Fast augenblicklich hörte man Schreie und Befehle von Deck. Die Männer im Mannschaftslogis stürzten aus ihren Hängematten und eilten nach oben, zu den Pumpen und zu den Booten, je nachdem wo die hastig gebrüllten Befehle sie hinschickten.

Siegbald versuchte mühsam, aus dem Tiefschlaf in die Realität zurückzufinden, als ihn der Kapitän, der bereits vollständig angezogen war, wachrüttelte. La Pérouse befahl ihm, sich so schnell wie möglich zum hinteren der beiden kleinen Beiboote der Le Rafiot zu begeben. Siegbald tastete nach Beinkleidern, Rock und Halstuch. Er war noch nicht ganz fertig, da zogen und schoben ihn hilfreiche Hände bereits an seinen Platz im Boot.

---ENDE DER LESEPROBE---