Afghanistan von innen - Antonia Rados - E-Book

Afghanistan von innen E-Book

Antonia Rados

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Beschreibung

Die vielfach ausgezeichnete Auslandsreporterin Antonia Rados bereist seit über 40 Jahren Afghanistan. Sie war mittendrin: von der Zeit der sowjetischen Besatzung über den Bürgerkrieg zwischen Milizen und der ersten Herrschaft der Taliban bis zum "Krieg gegen den Terror" und dem westlichen Einsatz ab 2001. Auf dutzenden Reisen erkundete sie Hintergründe und Vorgänge, die im Westen oft verborgen bleiben, sprach mit Kriegsherren, Stammesführern und Präsidenten, übernachtete bei afghanischen Familien und erlebte Gastfreundschaft ebenso wie Angst vor Entführungen. Seit dem Sturm der Taliban und dem Rückzug des Westens fragen sich viele: Wie konnte es dazu kommen? Rados zeigt: Das Debakel begann viel früher. Ihr tiefer Einblick in das Land macht deutlich, warum Afghanistan zum Schlachtfeld der Weltpolitik wurde – und mehr mit uns zu tun hat als oft angenommen.

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Inhalt

Vorwort

Afghanistans Geschichte – Zeittafel

DIE VORGESCHICHTE

1. KapitelKabul, 1980

Ein Königreich wie ein Paradies

2. KapitelKabul, 1989

Die letzte Reise, die keine war

3. KapitelPeschawar, 1991

Wir stehen auf eurer Seite!

4. KapitelKabul, 1992

Tod den Gemäßigten

5. KapitelKabul, 2000

Der Talib mit dem Roman

DIE MISSION

6. KapitelParis / Tel Aviv / Peschawar, 2001

Flugzeuge

7. KapitelPeschawar / Kabul, 2001

Jetzt sind wir hier

8. KapitelKabul, 2004

Die Träumer

9. KapitelKabul, 2008

Zeichen an der Wand

DER WENDEPUNKT

10. KapitelHerat / Farah, 2009

Im Hinterland, wo niemand zusieht

11. KapitelKandahar, 2009

Die vielen Leben von Kandahar

12. KapitelKabul, 2011

Gier

DIE ZERSTÖRUNG

13. KapitelKabul / Masar-e Scharif, 2012

Wem gehört Afghanistan?

14. KapitelKundus, 2012

Ein Land als Übungsplatz

15. KapitelKabul, 2017

Dunkelheit und Licht

16. KapitelKabul / Wien, August 2021

Rette sich, wer kann

17. KapitelBerlin, März 2022

Im Osten geht die Sonne auf

Anmerkungen und Quellen

Vorwort

Meine persönliche Geschichte mit Afghanistan beginnt vor mehr als vier Jahrzehnten. Es ist Frühsommer 1980. Ich befinde mich in der beeindruckenden afghanischen Botschaft in Wien, wo zwei Konsularbeamte in dunklen Anzügen mir mit stoischen Gesichtern meinen Pass zurückreichen. Auf einer der Seiten des Dokuments glänzt zu meinem Erstaunen ein Eintrag für ein zweiwöchiges Visum für die Demokratische Republik Afghanistan, auf das ich so lange hingearbeitet habe. Ich bin etwas zermürbt, denn innerlich hatte ich bereits die Hoffnung aufgegeben, jemals nach Afghanistan zu reisen. Die afghanische Bürokratie arbeitet notorisch langsam, und es vergehen mehrere Wochen, in denen ich warte und ständig vertröstet werde. Nun halte ich endlich eines der wenigen Einreisevisa für Afghanistan in der Hand. Ich weiß noch nicht, worauf ich mich einlasse.

Mit Kriegen und Gewalt habe ich zu dem Zeitpunkt keinerlei Erfahrungen, es ist eine meiner allerersten Reisen in eine Konfliktzone. Obwohl mein damaliger Chef im österreichischen Fernsehen zu Recht besorgt ist, schiebe ich seine Bedenken, die ich innerlich selbst hege, beiseite und beginne meine Reisevorbereitungen. Ich will mir diese Berichterstattung nicht entgehen lassen, denn ich will mich endlich als Reporterin beweisen. Ich sehe die Reise als eine Art Feuerprobe, die ich bestehen musste. Junge Frauen wie ich bekommen damals nur sehr selten eine Chance, Reportagen im Ausland zu machen.

Ich fliege also nach Kabul, besuche Dörfer, werde mit schrottreifen Hubschraubern in die Stadt Dschalalabad geflogen. Ich staune über die Schönheit des Landes, kaufe auf dem Basar überteuerte Andenken, die ich nicht brauche, nur um an glaubwürdige Informationen heranzukommen.

Auslöser meiner ersten Reise im Sommer 1980 ist nicht allein meine unbändige journalistische Reiselust. Einige Monate davor macht eine Invasion der Sowjets in Afghanistan Schlagzeilen. Am 27. Dezember 1979 marschiert die Rote Armee in Afghanistan ein – überall kursiert das Schlagwort „Zeitenwende“. Eine neue, veränderte Welt ist gerade im Entstehen. Die alte Nachkriegsordnung im Nahen Osten ist brüchig geworden: Die Amerikaner können ihren wichtigsten Verbündeten, den Schah im Iran, nicht mehr an der Macht halten. Die Sowjets kämpfen seit Jahren gegen islamische Kämpfer in Afghanistan, weshalb sie in das Land einmarschieren. Trotz dieser Vorgeschichte wirkt die Invasion wie ein Schlag ins Gesicht und beschwört existenzielle Ängste herauf. Wie werden die Amerikaner regieren? Marschieren die Russen einfach weiter und besetzen die gesamte Region? Kommt es zum Einsatz von Atomwaffen?

Die sowjetische Invasion ist der Beginn meines Interesses an diesem wichtigen, faszinierenden und tragischen Land. Mit einer Reise ist es nicht getan. Die Sowjets richten sich scheinbar dauerhaft in Afghanistan ein, jeglicher Widerstand wird brutal niedergeschlagen. Die Jahre ziehen ins Land, und mich zieht es immer wieder zurück in die afghanischen Städte und Dörfer. Nach einem Jahrzehnt ziehen die Sowjets dann wieder in dieselbe Richtung ab, aus der sie eingefallen sind. Und mehr noch: Der Zermürbungskrieg hatte einen Anteil am Zerfall der Sowjetunion, der sich kurz darauf ereignet. Der Westen reagiert scheinbar triumphierend – die Arroganz von Siegern, die wie so oft in der Geschichte nicht von Dauer sein wird. Im Nachbarland Pakistan, das ich zwischendurch ebenfalls bereise, entsteht währenddessen der islamische Widerstand, von den USA großzügig finanziert. Kurzfristige Erfolge, die bereits das nächste Kapitel der afghanischen Tragödie eröffnen. Bald bricht die Zeit der radikalen Islamisten an, die aus diesem Widerstand hervorgehen. Aus den Mudschahedin geht wiederum die Gruppe der Taliban hervor – und ich bin live dabei.

All dies ist aber nur eine Art Vorspiel für eine weitere Zeitenwende, die uns direkt betrifft. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 startet der Einmarsch des Westens in Afghanistan – auch mit dem Versprechen einer globalen Demokratie, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat. Anfangs wird die Idee einer Demokratie von vielen Afghaninnen und Afghanen begrüßt, die sogar radikale Änderungen im Bereich der Frauenrechte in Betracht ziehen. Die Hoffnung auf ein besseres Leben ist in Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, eine mächtige Idee. Auch der neue neoliberale Kurs wird von der afghanischen Bevölkerung nicht abgelehnt. Geschäftsleute berieseln die afghanische Jugend mit TV-Programmen, die in ihrer verführerischen Leichtigkeit den amerikanischen in nichts nachstehen. Bankautomaten tauchen zum ersten Mal in einem Land auf, wo die große Mehrheit der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann.

Doch die großen Reformen werden begleitet von größeren Tragödien. Ab 2003 verüben die neu formierten Taliban erste zielgerichtete Anschläge. Die Angriffe führen zu einem emotionalen Backlash beim Westen, dessen Vertreter sich als Bringer von Demokratie und Fortschritt sehen. Die Afghanen hingegen fühlen sich vom Westen ausgenutzt und betrogen. Unter dem Eindruck nicht erfüllter westlicher Versprechungen macht sich Nostalgie nach den Gotteskriegern breit. Zwischen all diesen Umbrüchen und sich immer wieder verändernden Lebenswelten ist Afghanistan ein Land der Tragödie – und zugleich der Barmherzigkeit, wie ich vor Ort immer wieder feststelle.

Der Krieg in Afghanistan wird von einer gezielten Mission zu einem echten Zermürbungskrieg. Erst nach zehn Jahren, 2011, wird Osama bin Laden in Pakistan von amerikanischen Spezialeinheiten getötet – womit eines der amerikanischen Kernziele des Krieges erfüllt ist. Doch der Konflikt ist damit nicht zu Ende, hinter den Kulissen übernehmen die Militärs die Afghanistan-Mission. Der damalige amerikanische Präsident Barack Obama erhöht auf Anraten seines Militärstabs die Zahl der US-Soldatinnen und -Soldaten in Afghanistan auf eine Truppenstärke von 100 000. Dazu kommen unzählige private Militärdienstleister vor Ort, die den Afghanistan-Krieg genauso wie die Rüstungsfirmen als lukrative Einnahmequellen entdeckt haben.

Ein bekanntes Muster in Kriegen wiederholt sich: Aus Idealen, so gerechtfertigt sie sein mögen, werden Tragödien. In Afghanistan ist ein neuer Wendepunkt erreicht, als westliche Politiker beginnen, offen Schuldige für den Mangel an Erfolgen zu suchen. Der Krieg hat in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur kein Ziel mehr, sondern auch keinen Sinn. Am Ende kommt es, wie es kommen musste – der Westen zieht verbittert ab, ohne seine Niederlage offen einzugestehen.

In scheinbar nahtlosem Übergang entsteht in Afghanistan eine neue Welt: Die Taliban übernehmen die Macht im Lande fast über Nacht. Sie sind islamische Kämpfer, aber auch Geschäftsleute. Sie beginnen sich nach neuen Partnern umzusehen und richten ihren Blick diesmal nicht nach Westen, sondern nach Osten: China heißt die neue Verheißung. Afghanistan ist wieder einmal ein Gradmesser für kommende Dynamiken. Manche Länder kommen nie zur Ruhe – aber sie sind auch Vorboten einer neuen Welt. Was ich den Leserinnen und Lesern mit diesem Buch vermitteln möchte, ist, wie sich Zeitenwenden auswirken.

In all diesen Jahren, während all meiner Recherchereisen und Besuchen in diesem Land, hörte ich nie auf, mich für Afghanistans unterschiedliche Gesichter zu interessieren. Afghanistan ist ein Kreuzungspunkt der Zivilisationen mit einer beeindruckenden Überlebenskraft. Auf seinem Boden haben sich Soldaten von Alexander dem Großen niedergelassen, aber auch buddhistische Mönche und arabische Krieger haben ihn als zweite Heimat auserkoren. Zwischendurch schaffen es afghanische Könige und Clanführer, den Frieden aufrechtzuerhalten, indem sie – wohl aus Mangel an Alternativen – einem der ältesten Überlebensprinzipien der Menschheit folgten, „leben und leben lassen“, wie der Anthropologe Thomas Barfield es in seinem Buch über Afghanistan so richtig ausdrückt.

Seit dem Einmarsch der Sowjets war Afghanistan 40 Jahre lang kein Ort der Nächstenliebe. Ich habe Generationen von Kämpfern kennengelernt. Erwachsene mit der Mentalität von Halbstarken – Menschen, die der Gedanke an Krieg, an Adrenalin, an Heldentum befeuert. Andere wollen sich ein stabiles Leben aufbauen, träumen bescheiden von bestellten Feldern und einfachen Behausungen. Wieder andere wollen durch Opportunismus aufsteigen und werden dabei von den verschiedensten Verbündeten enttäuscht. Pläne werden geschmiedet und wieder verworfen. Vermögen entstehen aus dem Nichts und verschwinden genauso schnell wieder dorthin. Internationale Söldnertruppen, jahrelang in Afghanistan eingesetzt, sind inzwischen in der Ukraine.

Kriegsparteien haben, im Gegensatz zu Opfern, ein kurzes Gedächtnis. Sie vergessen sogar ihre eigenen Versprechen. Afghanistan ist das beste Beispiel dafür, denn Gruppen wie die Taliban wechseln ihre Rolle von anfänglichen Verbündeten hin zu Gegnern und nun zu Machthabern, mit denen man sich an den Verhandlungstisch setzt. Gespräche laufen aber wie Konflikte nie nach einem vorher festgelegten Plan ab. Ich versuche zu beschreiben, wie vielschichtig es zugeht in einem Land, in dem seit Jahrzehnten Kriege alles bestimmen – in seiner Hauptstadt ebenso wie in seinen entlegenen Provinzen, in den Palästen und Hinterhöfen, den Mädchenschulen und Armeequartieren. Afghanistan ist Schauplatz von Brutalität – und von Barmherzigkeit.

Afghanistans Geschichte – Zeittafel

559–330 v. Chr.

Teile des heutigen Afghanistans gehören zum persischen Achämenidenreich.

330–328 v. Chr.

Eroberung durch Alexander dem Großen.

190–170 v. Chr.

Griechisch-baktrische Herrscher errichten ein Reich südlich des Hindukusch.

642 n. Chr.

Mit der arabischen Eroberung wird der Islam in der Region dominant. Er verdrängt Religionen wie Buddhismus oder Zoroastrismus.

9.–13. Jh.

Verschiedene Dynastien wie Ghaznawiden, Seljuken, Ghoriden und Chorezm beherrschen Regionen Afghanistans.

1221

Dschingis Khan und sein mongolisches Reiterheer verwüsten die Städte Herat, Balkh und Ghazni. Vielerorts wird die Bevölkerung ausgerottet.

1381

Mongolenherrscher Timur Lang beginnt seinen Perserfeldzug mit der Zerstörung von Herat, unter seinem Nachfolger wird die Stadt wiederaufgebaut und zur Hauptstadt des Timuridenreichs.

16.–18. Jh.

Afghanistan liegt zwischen dem Herrschaftsbereich der Moguln in Nordindien, der Safawiden in Persien und der Schaibaniden in Mittelasien.

1747

Paschtunenführer Ahmad Schah Durrani erobert Gebiete seiner Stammesgegner. Er wird zum ersten König gekürt. Mit seinem von Kandahar aus regierten Königtum gilt er als Gründungsvater des modernen Afghanistans.

1773

Nach dem Tod von Ahmad Schah übernimmt sein Sohn Timur Schah die Macht. Er verlegt die Hauptstadt nach Kabul; seine Herrschaft ist von Konflikten zwischen Stämmen geprägt. Nach seinem Tod zerfällt das Durrani-Reich in zahlreiche von Kriegen und Unruhen geprägte Fürstentümer.

1838–1842

Erster Anglo-Afghanischer Krieg: Die Briten wollen ihre eigene Vormachtstellung auf dem indischen Subkontinent sichern und der russischen Expansion Einhalt gebieten. Der Krieg endet mit einer blutigen Niederlage der Briten.

1878–1880

Zweiter Anglo-Afghanischer Krieg: Erneuter Vorstoß der Briten. Beim Abzug wird Abdul Rahman Khan als neuer Emir von Afghanistan eingesetzt.

1893

Die Briten ziehen durch das paschtunische Stammesgebiet die sogenannte Durand-Linie als Grenze. Sie wird zum Streitpunkt zwischen dem späteren Pakistan und Afghanistan.

1919

Dritter Anglo-Afghanischer Krieg, ausgelöst durch die Unabhängigkeitserklärung von König Amanullah.

1933

Mohammed Zahir Schah übernimmt den Thron und regiert das Land für 40 Jahre.

1973

Ausrufung der Republik nach einem Staatsstreich durch Mohammad Daud Khan.

1978

Mohammad Daud Khan wird durch linksgerichtete Offiziere mit Unterstützung der prosowjetischen Demokratischen Volkspartei Afghanistan (DVPA) ermordet. Sein Nachfolger wird der Kommunist Nur Muhammad Taraki.

Im Süden Afghanistans errichten die USA zur selben Zeit Flughäfen und Schulen.

1979

Ermordung Tarakis. Dessen Stellvertreter Hafisullah Amin übernimmt die Macht. Er knüpft Kontakte mit Pakistan und den USA.

Invasion von sowjetischen Truppen im Dezember. Babrak Karmal wird neuer Präsident. Islamische Widerstandskämpfer (Mudschahedin), unterstützt von den USA, beginnen von Pakistan aus einen blutigen Krieg gegen die Rote Armee.

1989

Am 15.Februar verlassen die letzten sowjetischen Soldaten das Land. Vorausgegangen war ein Abkommen des Reformpräsidenten Michael Gorbatschow mit der afghanischen Führung unter dem neuen Präsidenten Mohammed Nadschibullāh, Ex-Chef der afghanischen Geheimpolizei.

1990

Die Kämpfe zwischen Regierung und Mudschahedin gehen weiter.

1992

Das Regime Nadschibullāh bricht zusammen, nachdem Moskau die Waffenlieferungen einstellt. Ein Bürgerkrieg zwischen Mudschahedin-Gruppierungen folgt.

1994

Erstes Auftreten der fundamentalistischen Taliban in Südostafghanistan.

1996

Einnahme von Kabul durch die Taliban.

1998

Luftangriffe der USA auf ein Ausbildungslager von Al-Qaida in Ostafghanistan als Reaktion auf die Anschläge auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi. Al-Qaida-Gründer Osama bin Laden lebt in Afghanistan.

2001

Nach den Terroranschlägen vom 11.September fordern die USA die Auslieferung bin Ladens.

Am 7. Oktober beginnt die von den USA geführte Intervention Operation Enduring Freedom in Afghanistan. CIA und US-Sondereinheiten unterstützen die afghanische Nordallianz. Sie übernimmt weite Teile des Landes und bringt die Taliban zu Fall. Auf der Petersberg-Konferenz in Bonn wird der Grundstein für eine Neuordnung des Landes gelegt werden.

2002

Hamed Karzai wird zum Chef der Übergangsregierung ernannt. Im März beginnt in der Ostprovinz Paktia mit der Operation Anaconda, bei der amerikanische und afghanische Einheiten 800 Al-Qaida- und Taliban-Kämpfern entgegenstehen, eine neue Kriegsphase.

2005

Die Präsidentschaftswahlen verlaufen offiziell unter demokratischen Prinzipien. Im Hintergrund wird Wahlbetrug beklagt. Hamid Karzai bleibt Präsident.

2006

Deutschland, das seit Dezember 2001 wie andere NATO-Länder Teil der Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe (ISAF) ist, übernimmt die Verantwortung für die Operationen im Norden Afghanistans. Darüber hinaus unterstützt Deutschland den Aufbau von Polizei und Armee.

2009

Angesicht gestiegener Anschläge erhöht US-Präsident Barack Obama die US-Truppenstärke in Afghanistan auf beinahe 100 000 Mann. Ab 2011 sollen US- Soldaten laut Biden aber abgezogen werden.

2009

Am 4. September kommt es auf deutsche Forderung hin zu einem US-Luftangriff bei Kundus. Einem NATO-Bericht zufolge mit bis zu 142 Toten, ein bedeutender Teil von Ihnen Zivilisten. Der deutsche Verteidigungsminister Franz-Josef Jung lässt erst dementieren, dass Unbeteiligte zu Schaden gekommen sind, später muss er zurücktreten. Die Kundus-Affäre führt zu einem Untersuchungsausschuss im Bundestag.

Deutschland entschädigt später die Familien von 91 Toten und 11 Schwerverletzten mit je 5000 US-Dollar in Form von humanitärer Hilfe.

2011

Am 2.Mai töten US-Spezialeinheiten den Al-Qaida-Führer Osama bin Laden in einem Privathaus in der Stadt Abbottabad in Pakistan.

2012

Nachdem ein US-Soldat 16 Zivilisten getötet hat, fordert der afghanische Präsident Hamid Karzai die US-amerikanischen Truppen auf, sich in ihre Militärbasen zurückzuziehen.

2014

Ashraf Ghani wird neuer Präsident. Seine „Regierung der nationalen Einheit“ ist zerstritten.

ISAF, die dreizehnjährige Kampfmission der NATO in Afghanistan, endet. Von den USA geführte NATO-Truppen bleiben im Land, um afghanische Einheiten zu trainieren.

2015

Ab 1. Jänner setzt die NATO ihre Unterstützung für die afghanische Regierung mit deutlich verringerter Stärke fort.

2018

Nach dem Erstarken der Taliban, die bereits mehrere Provinzen unter Kontrolle haben, erhöhen die NATO-Staaten vorübergehend ihre Truppenstärke.

2020

In der Hauptstadt von Katar, Doha, verhandeln die USA und Taliban-Führer über den Abzug der Amerikaner. Die afghanische Regierung und die NATO-Verbündeten der USA werden in die Verhandlungen nicht einbezogen. Das Abkommen schafft die Voraussetzung für den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan.

2021

Im Mai beginnen die USA und ihre NATO-Verbündeten den Rückzug, während die Taliban schnell vorrücken.

Am 15. August übernehmen die Taliban Kabul. Am Flughafen von Kabul, wo Tausende Menschen auf einen Platz auf einem Evakuierungsflug hoffen, führen Chaos und Panik neben dramatischen Szenen auch zu Toten und Verletzten. Am 26. August gibt es zwei Selbstmordattentate des IS-Ablegers ISIS-K vor dem Flughafen. Am 30. August hebt die letzte US-Militärmaschine vom Flughafen Kabul ab. Sechs Wochen nach der Machtübernahme der Taliban wird die Islamische Republik in das Islamische Emirat Afghanistan umbenannt.

Die verbliebenen deutschen Soldaten in der Stadt Masar-e Scharif ziehen in den Tagen davor endgültig aus Afghanistan ab.

2022

Ein Dekret der Taliban Anfang Mai schreibt Frauen das Tragen einer Ganzkörper- und Gesichtsbedeckung in der Öffentlichkeit vor.

Sowjetischer Beamter vor dem Geschäft eines Obstverkäufers in Kabul.

DIE VORGESCHICHTE

1. Kapitel

Kabul, 1980

Der Kalte Krieg beherrscht die Welt. Die USA und die Sowjetunion sind in Stellvertreterkriege auf dem gesamten Globus verwickelt – auch in Afghanistan. In Kabul ist eine kommunistische Partei an der Macht, während die US-Amerikaner deren Gegner unterstützen. Sie beliefern Aufständische mit Waffen, die sich jenseits der afghanischen Grenze in Pakistan niedergelassen haben. 1979 gerät alles in Bewegung. Im Februar des Jahres wird der engste Verbündete der USA in der Region, der Schah des Iran, abgesetzt. Der antiwestliche Revolutionsführer Ayatollah Khomeini errichtet eine Islamische Republik. Nur wenige Monate später, im Dezember 1979, schickt Moskau 80 000 Truppen nach Afghanistan, um seinen Einfluss zu sichern und eine verlässliche prosowjetische Regierung zu installieren.

Ein Königreich wie ein Paradies

„Je weniger die Afghanen von uns sehen, desto weniger lehnen sie uns ab.“1

(Sir Roberts, britischer Kommandant)

Das sanfte Morgenlicht legt sich über Täler und Schluchten. Jede Bergspitze, bis zu siebentausend Meter hoch, ragt in den Himmel wie eine Wand. Der Hindukusch ist eine Naturgewalt. Unerbittlich durchzieht er Afghanistan von Ost bis West, schneidet das Land in zwei Teile. Doch auf beiden Seiten des Bergmassivs erinnert die Szenerie an eine Mondlandschaft. Leben hier Menschen? Gibt es irgendwo Felder oder gar Städte?

„Möchten Sie einen Tee?“, fragt die Stewardess der Afghan Airlines überfreundlich. Ich nicke ihr zu, und sie schreitet energisch Richtung Cockpit, um einen altmodischen Wasserkocher in Gang zu setzen. Ihr Enthusiasmus hängt mit dem Mangel an Passagieren zusammen. Mein Kameramann, mein Tonmann und ich sind die Einzigen an Bord. Der hintere Teil der Maschine ist abgeschlossen und wurde zu einem Frachtraum umfunktioniert.

Die Hauptsache ist aber, dass wir unsere Reise nach Afghanistan angetreten haben – denn das war keine Selbstverständlichkeit. Zuerst sollte der Flug von Delhi nach Kabul am Morgen nach unserer Ankunft in der indischen Hauptstadt starten. Dann wurde er doch verschoben. Nach vielen Nachfragen erfuhr ich endlich, dass momentan ohnehin nur ein Flug pro Woche nach Kabul starten würde. Wir mussten uns in Geduld üben und hoffen, dass sich die Dinge fügen würden.

Nun sitze ich also im Flugzeug und blicke aus dem Fenster. Die Sonne wird heller, aber ich kann immer noch keine menschliche Ansiedlung entdecken. Von oben kann ich die öden Landstriche kaum voneinander unterscheiden. Einer europäischen Reisenden wie mir kann das nicht missfallen. Vollkommene Leere. Beruhigende Hochplateaus, so weit das Auge reicht. Keine Zivilisation in Sicht. Ich bin fasziniert.

Nur weiter westlich und südlich unserer Flugroute liegt fruchtbares Ackerland – der Obstgarten von Afghanistan. Er wird umrahmt von zwei mächtigen Flüssen, dem Helmand und dem Arghandab. Zwischen ihnen befinden sich alte, gut ausgebaute Bewässerungssysteme. Doch diese Fläche umfasst lediglich 10 Prozent des Landes, der Rest ist kaum landwirtschaftlich nutzbar. In Afghanistan, stellt der Anthropologe Barfield fest, sei Landwirtschaft eine Sache des puren Überlebens, „eine fast unvorstellbare tägliche Mühsal, wo man bei Sonnenaufgang aufsteht, weil es da Licht gibt, und gleich bei Sonnenuntergang schlafen geht, weil es kein Licht mehr gibt. So ein körperlich anstrengendes Leben lässt Menschen älter aussehen, als sie sind – vorausgesetzt, sie leben überhaupt lange genug, um alt auszusehen.“2

Diese Schwierigkeiten des täglichen Überlebens werden in einem lang gestreckten Tal, genannt Korengal, noch auf ganz andere Weise deutlich. Wer als Fremder diesen Landstrich betritt, ist schon deshalb verloren, weil die Bewohnerinnen und Bewohner über Jahrhunderte ihre eigene Sprache behielten, die selbst für die restlichen Afghanen, geschweige denn den Rest der Welt, unverständlich ist.3

Trotzdem gibt es im Korengal-Tal, wie auch in allen anderen Grenzgebieten Afghanistans – sei es zu Pakistan, zum Iran oder im Norden zum heutigen Usbekistan und Tadschikistan –, einen regen Handel unter den Menschen. Von Außenstehenden wird dieser Austausch Schmuggel genannt. Weiter südlich ist ein großer Teil des Landes Drogenanbaugebiet. Die Geisel von Afghanistan.

Die harte, unwirtliche und menschenfeindliche Landschaft macht den Alltag für viele Afghanen beschwerlich, doch gleichzeitig bietet sie auch Verstecke und Unterschlüpfe bei kriegerischen Auseinandersetzungen, wie alle Eindringlinge merken, die hier einfallen. Die Liste der Invasoren ist lang.

An prominenter Stelle stehen die Briten. Das Weltreich war im 19. Jahrhundert die Herrin über den südlich von Afghanistan gelegenen Indischen Subkontinent. Drei Kriege, die als Strafexpeditionen charakterisiert werden können, führte das Imperium erfolglos gegen die Afghanen. Auf die Niederlage der Kolonialmacht folgte 1919 die staatliche Unabhängigkeit Afghanistans. Die Briten maßten sich allerdings vorher an, den Afghanen im Süden eine Grenze aufzuzwingen. Bis heute wird dieser Eingriff von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Viele Afghanen ignorieren die sogenannte Durand-Linie, der fast 2500 Kilometer lange Grenzverlauf zwischen Afghanistan und dem heutigen Pakistan. Familien ziehen über die Grenze, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Neben den Briten fielen im 19. Jahrhundert immer wieder die Russen aus dem Norden ein, um sich den Zugang zum Indischen Ozean zu sichern. Auch Deutsche tauchten am Hindukusch auf, wollen das Land zur Zeit des Ersten Weltkriegs gar auf die Seite der Mittelmächte ziehen. Und natürlich versuchten die USA und die spätere Sowjetunion immer wieder ihren jeweiligen Einfluss in Afghanistan auszubauen und geltend zu machen.

Die Stewardess in ihrer adretten türkisfarbenen Uniform, eine Kappe auf der perfekt sitzenden Frisur, die Augen trotz der frühen Stunde und mangelnder Fluggäste aufwendig geschminkt, steht wieder neben mir. In der Hand eine Tasse mit brühend heißem grünem Tee, dem afghanischen Nationalgetränk. Während ich mich bedankte, liegt mir die Frage auf der Zunge, wie sie wohl zum sowjetischen Einmarsch steht. Doch die Art wie sie sich gibt, die Modernität, die sie ausstrahlt, veranlasst mich dazu, die Frage mit dem Tee hinunterzuschlucken. Die Frau ist vermutlich eine Anhängerin des kommunistischen Kabuler Regimes. Vielleicht begrüßt sie die Besetzung des Landes im Dezember des Vorjahres sogar, als die sowjetischen Streitkräfte unter dem Vorwand eines angeblichen afghanischen Hilferufs einmarschierten. Für viele Frauen in einer ähnlichen Position wäre das tatsächlich ein Grund zum Jubeln gewesen. Sie steigen unter der neu eingesetzten progressiven Regierung in Positionen auf, von denen ihre Großmütter nicht einmal hätten träumen können. „Befreiung aus der Vergangenheit“ ist die Losung, unter der diese Umwälzungen stattfinden. Alles muss sich ändern. Alles soll besser werden. Obwohl selbst in der kommunistischen Partei darüber gestritten wird, was dies eigentlich bedeutet. Radikale und gemäßigte Flügel der Partei ringen in Afghanistan um die Vorherrschaft. Überall entbrennen blutige Scharmützel. Zehntausende Truppen der Roten Armee sind nun in Afghanistan, angeblich um diesen Bruderzwist im Zaum zu halten.

Die Okkupation ist für mich der Anlass zu meiner ersten Reise nach Afghanistan. Kabul ist zu diesem Zeitpunkt ein begehrtes journalistisches Ziel und ich gestehe, die Tatsache, dass mein Team und ich als Einzige im Flugzeug sitzen, macht mir berechtigte Hoffnung auf eine exklusive Reportage. Man wird ja wohl träumen dürfen …

Die Illusion endet, sobald sich die Maschine ein letztes schmales, lang gestrecktes Tal hinunterschlängelt und auf der Flugpiste von Kabul aufsetzt. In der Ankunftshalle werden wir von zwei Apparatschiks erwartet. Die mürrischen Beamten sind die personifizierte Gleichgültigkeit. Beide tragen Uniformen mit leicht sichtbaren Pistolen am Gürtel. Sie scheinen sogar denselben Friseur zu besuchen. Diese Männer sind unsere Aufpasser. Willkommen in Kabul.

Nicht nur unsere neuen Begleiter bereiten mir Kopfschmerzen – auch die Höhenlage der afghanischen Hauptstadt, fast 2000 Meter über dem Meeresspiegel, trägt dazu bei. Inzwischen brennen auch die Sonnenstrahlen unerbittlich herunter. Irgendwo bellen einige Hunde, als hätten sie gerade ihren schlimmsten Feind entdeckt.

Der Rest ist himmlische Stille. Im ersten Moment scheint alles paradiesisch, sehe ich von den beiden Aufpassern einmal ab. Der Eindruck, in einem Shangri-La nicht am Himalaya, sondern am Hindukusch gelandet zu sein, verstärkt sich für mich bei jedem Schritt. Sobald wir den Flughafen in einem geräumigen Combi verlassen, sehe ich gepflegte Parkanlagen mit schier endlosen Reihen von Rosensträuchern, die in dieser Höhe gut gedeihen. Früher waren diese Parks die Lustgärten der Könige, doch heute gibt es auch viele Flächen für die Bevölkerung, um dort am Wochenende zu picknicken, Drachen steigen zu lassen und sich die Zeit mit Spielen zu vertreiben. Blitzsaubere Gehsteige ergänzen die Idylle.

Kabul ist bei meinem ersten Besuch nicht nur ein geputztes Himmelreich, sondern hat noch vieles andere vorzuweisen: eine Universität, eine Kunstakademie, ein Nationalmuseum und einen unfertigen Königspalast am südlichen Rand. Nun rollt der Combi am zentralen Paschtunistan-Platz vorbei, wo das düster anmutende Kabul Hotel mit seinem holzgetäfelten Restaurant im ersten Stock liegt. Gleich gegenüber entdecke ich ein Kino. Auf dem Plakat über dem Eingang wird ein schmalziger indischer Streifen angepriesen, aber da ich bei dieser Visite einen Kinobesuch versäume, bin ich neugierig, wie wohl der Innenraum aussieht. Mit einem lakonischen „Sehr schön“, beantwortet einer der Aufpasser wie auf Befehl meine Frage. Wir fahren durch eine Welt des Friedens und der Stille.

Während ich meine Eindrücke von damals aufschreibe, fällt mir auf, wie positiv, um nicht zu sagen verklärt, ich das damalige Afghanistan wahrnahm. Damit war ich nicht allein – vor mir zeigten sich schon andere von diesem Land beeindruckt. So etwa der amerikanische Filmemacher Glenn Foster, für den Afghanistan über 50 Jahre hinweg eine zweite Heimat war. Nach Foster litt keiner unter Hunger, trotz der „Massen an Menschen“ im Land, und „die Dorfbewohner waren sehr gastfreundlich.“4

Die Asmayi Road in Kabul mit Blick auf die mächtige Gebirgskette des Hindukusch.

Bei vielen jungen Europäerinnen und Europäern besitzt Afghanistan bis zu diesem Zeitpunkt auch den Ruf eines Freiluft-Haschisch-Ladens. Man reist hin, um sich zu vergnügen. Hippies auf dem Wege nach Indien und Abenteurer bevölkern die billigen Gästehäuser von Kabul. Die Afghanen verstehen es, die Träume der Aussteiger in bares Geld zu verwandeln. Neben dem Verkauf von Drogen machen sie noch auf viele andere Arten gute Geschäfte mit den Touristen. In einer zentralen Straße, in der früher Geflügel verkauft wurde, daher Chicken Street genannt, bieten biblisch anmutende Gestalten bodenlange zentralasiatische Kaftane zum Verkauf an. Diese bunten Hemden oder Kleider für Frauen sind bei den Hippies äußerst beliebt. In den Vitrinen ihrer Läden liegen Ballen von Teppichen, zu denen sich in den Wintermonaten noch Pelzkappen und Mäntel aus Fuchsfellen mischen, die von Jägern aus Nordafghanistan in die Hauptstadt gebracht wurden.

Das Büro eines Busunternehmens in Kabul, das europäische Hippies und Abenteuersuchende durch Afghanistan brachte. 1978

Verhandeln ist in den Straßen Kabuls kein Kunststück. Jeder afghanische Händler wechselt sofort zu Englisch, wenn er nur den geringsten Kontakt zu Fremden hat, und kann die potenziellen Kunden oft dazu bringen, etwas zu kaufen, was sie eigentlich nicht brauchen. Dazwischen bekommen die Touristen literweise Tee eingeflößt. Händler scheuen keine Kosten. Sie haben keine Eile. In der Chicken Street steht die Zeit still. „Tatsächlich hat [Kabul] immer noch den Charakter eines Bergdorfes oder eines Außenpostens von Pelzhändlern“,5 beschreibt der damalige Afghanistanreisende Peter Levi die Stadt. Er ist ein besonderer Hippie gewesen, denn eigentlich führte er als Priester eine Gemeinde an. Es hatte ihn, genau wie viele Lehrerinnen oder angehende Mechaniker, in das legendäre Himmelreich verschlagen.

Studentinnen an der Medizinischen Fakultät der Universität Kabul. 1962

Studentinnen bei einer Kundgebung der kommunistischen Demokratischen Volkspartei Afghanistans in Kabul. 1978

Zu all diesen Eindrücken reihen sich die Aufnahmen von blutjungen Afghaninnen in westlichen Miniröcken ein, die durch den Park spazieren. Aber diese Fotos habe ich erst Jahrzehnte später im Internet entdeckt. Als ich in Kabul ankam, entdeckte ich keine Miniröcke, dafür aber etwas altbackene Kostüme wie die der Stewardess.

Die Aufpasser, einer auf dem Vordersitz, einer neben uns im hinteren Teil des Autos, weisen auf der Fahrt zum Hotel energisch meinen Kameramann zurecht, der uns entgegenfahrende Militärkonvois filmen will. Der allererste Dreh scheitert somit. Die Idylle ist abrupt beendet.

Die Besatzungsfahrzeuge kriechen schwerfällig an uns vorbei, auf einer Anhöhe taucht das Hotel Intercontinental wie ein mächtiger Koloss vor uns auf. An der Schwelle zu dem fünfstöckigen Betonbau steht bereits ein livrierter Portier. Wir sind in einem Haus von Welt gelandet. Das Hotel, in den 1960er-Jahren mit Hilfe amerikanischer Investoren gebaut, wurde vom damaligen König in einer feierlichen Zeremonie eröffnet. Auf dem Gelände befinden sich sogar Tennisplätze und ein Swimmingpool, damals einmalig in Afghanistan. Vom livrierten Diener, der sich als charmanter Afghane mit universalem Wissen herausstellt, erfahre ich, dass der Pool aufgrund von Chlormangel leider geleert werden musste. Die Tennisplätze wären genauso wenig benutzbar. Fotografien von Tennis spielenden Damen in kurzen weißen Röcken hängen aber weiterhin im Lift, mit der Schrift Enjoy our hotel darüber. Alles erinnert eher an Miami als an Kabul. Nur der Portier trägt mit seiner pseudo-afghanischen Uniform plus fantasievollem Turban dazu bei, die Atmosphäre Afghanistans nicht völlig auszusperren.

Das internationale Flair kommt nicht von ungefähr, denn das Intercontinental war vor nicht allzu langer Zeit ein Treffpunkt von zahlreichen westlichen Geschäftsleuten, darunter so einigen Amerikaner. Sie trieben in Südafghanistan seit Lagem eine Reihe von Projekten voran. Zuerst waren es die Afghanen, die schon in den 1930er-Jahren ihre Fühler nach Amerika ausstreckten, um ihrer Abhängigkeit von den Sowjets ein Gegengewicht zu setzen. Als verführerische Eintrittskarte nach Afghanistan wurde einer US-Firma ein bis dahin einmaliger Vertrag angeboten, der Schürfrechte für Öl- und Mineralstoffe mit langer Laufzeit zusicherte. Diese sich anbahnende geschäftliche Liaison fand ein jähes Ende, denn die Firma zeigte keinerlei Interesse an Afghanistan.6 Später bauten die USA doch noch im Süden Afghanistans einen Flughafen und Staudämme. Das war kein Akt der Selbstlosigkeit, sondern eine Reaktion auf sowjetische Waffenlieferungen nach Afghanistan. Dies markierte den Startpunkt für ein Wettrennen um Afghanistan. Beide Großmächte hatten einen Fuß im Land. Beide täuschten vor, lediglich einem kleinen entlegenen Königreich helfen zu wollen.

Das Hotel Intercontinental kurz nach seiner Eröffnung 1969.

Der König ist das erste Opfer dieses Ringens um Afghanistan. Er wird 1973 von prosowjetischen Kräften aus dem Land vertrieben und verbringt seinen Lebensabend im Exil. Die Amerikaner wollen ebenfalls ihren Einfluss geltend machen. Sie haben die gesamte Region im Auge, besonders den ölreichen Iran. Im Osten beherrscht aber China alles. Im Norden die Sowjetunion. Nachdem der amerikanische Einfluss im Iran schwindet, als der radikale Ayatollah Khomeini die Macht übernimmt, intensivieren die Amerikaner ihre Bemühungen in Afghanistan. Dort gibt es Unzufriedene, die gegen die herrschende kommunistische Partei aktiv werden wollen. Diese werden von den Amerikanern unterstützt, was wiederum den Argwohn Moskaus erhöht. Die sowjetische Intervention ist eine Folge dieser Dynamik.

Afghanistan hat bei alldem wenig mitzureden. Es ist ein Spielball der Großmächte. Erst begehrt und umworben. Danach verhasst und vergessen. Wir befinden uns gerade in der ersten Phase. Die Sowjets wollen das Land nach ihren Vorstellungen modernisieren. Die Amerikaner dagegen wollen verhindern, dass der Einfluss aus Moskau zu groß wird.

Trotz des internationalen Interesses an Afghanistan sind mein Team und ich die einzigen Gäste, die im weitläufigen Speisesaal frühstücken. Dabei werden wir von einer ganzen Armee stoischen Personals beobachtet. Vor dem Fenster begleitet ein einsamer Wachsoldat das morgendliche Spektakel. Er dreht geduldig seine Runde um das Hotelgebäude. Ein Hubschrauber taucht plötzlich vor dem Fenster auf. Er zieht eine Runde, bevor er über dem Hotel verschwindet. Der Soldat draußen sieht dem Helikopter nach, als wäre er ein harmloses Spielzeug.

Ich hätte zu gerne vom Personal erfahren, wer die letzten Gäste vor uns waren, wer hier den Tennisschläger schwang. Jetzt scheint das Hotel verwaist. Aber jeder tut so, als wären ein leeres Hotel und ein Hubschrauber am Morgenhimmel völlig normal. Von unseren Aufpassern ganz zu schweigen. Jedes Mal, wenn sie uns abholen, frage ich nach einem Interview mit durchschnittlichen Afghanen. Doch sie bringen uns stattdessen zu offiziellen Schönfärbern, die einhellig die Errungenschaften des Kommunismus loben.

Dabei kann ich deutlich beobachten, dass der Krieg im Umkreis von Kabul in vollem Gange ist. So etwa im unruhigen Logar-Tal im Osten. Dort wollen bewaffnete Widerstandsgruppen verhindern, dass die Sowjets eine wichtige Mine mit Kupfervorkommen namens Mes Aynak ausbeuten. Sie greifen die Lastwagen, die das Kupfer wegbringen sollen, auf der Überlandstraße an. Als Reaktion darauf rücken Hubschrauber – wie der vor unserem Hotelfenster – aus, um die Aufständischen im Morgengrauen zu bombardieren. Auch im Süden von Afghanistan brechen zunehmend Kämpfe aus. Eine der Städte dort heißt Dschalalabad. Ich habe meine Aufpasser längst um eine Reise dorthin gebeten. Sie reagierten mit ausgesuchter Regungslosigkeit.

So geht das Spiel immer weiter. Während wir tagsüber zu offiziellen Terminen unterwegs sind, wird das Hotel, ausgenommen der geschlossene Pool, jeden Tag geflissentlich von einem Putzkommando gereinigt. Die hoteleigene Grünanlage ist in den guten Händen eines Gärtners. Die Zimmer sind sauber. Die Bettwäsche wird gewechselt. Und zur Freude meines Teams stehen in der Bar gegenüber der Rezeption noch einige Flaschen mit teurem Alkohol aus aller Welt in Regalen. Die Sorgfalt, mit der diese scheinbare Normalität aufrechterhalten wird, ist merkwürdig, wo doch jeder ahnen muss, dass es früher oder später damit vorbei sein wird. Vor allem unsere Aufpasser lassen sich nicht von ihrer Aufgabe abhalten, ja nicht einmal zu einem Glas verführen. Immerhin schaffen wir es, ihre Aufmerksamkeit so weit abzulenken, um zwischendurch den nahe gelegenen Flughafen vom Balkon unseres Zimmers im 3. Stock heimlich zu filmen. Wir beobachten zahlreiche Kampfflugzeuge und -helikopter, die von dort in die Luft steigen oder landen. Wir reden nicht miteinander, um nicht doch noch aufzufliegen. Dann kehren wir zurück in die Lobby und tun so, als hätten wir etwas Dringendes zu tun gehabt. Die Aufpasser täuschen weiterhin stur vor, dass wir hier in Kabul Sommerurlaub machen. Zwischendurch führen uns die beiden ins Restaurant im Hotel Kabul aus, wo sie sich die Bäuche auf unsere Kosten vollschlagen.

Doch nicht immer läuft der Alltag nach der Vorstellung unserer Bewacher ab. Der Portier macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er organisiert mir einen Taxifahrer, damit ich mich zwischendurch selbstständig in der Stadt bewegen kann. Mehrmals täusche ich unabdingbare persönliche Wege, zum Beispiel in eine Apotheke, vor. Mein eigentliches Ziel ist aber der Kabuler Basar. Hier pulsiert das Leben in der Stadt. Der Fluss, der den Handelsplatz spaltet. Händler, die Teppiche und Blechgeschirr verkaufen. Der Geldmarkt, wo jede Währung der Welt – gegen einen gehörigen Aufpreis – getauscht werden kann. Die dortigen Budenbesitzer wissen genau, wie Wirtschaft hier funktioniert – und sind sicher keine Anhänger der Planwirtschaft. Dollar nehmen sie. Rubel vielleicht. Schecks aus Europa. Goldmünzen aus Indien. Aber große Reformen wie die Einführung eines Banksystems werden strikt abgelehnt. Selbst Supermärkte haben in Afghanistan mit dem Widerstand der sogenannten Bazaaris zu rechnen, denn die nehmen ihnen das Geschäft weg.

Auf die Idee, mich bei den Händlern umzuhören, hat mich ursprünglich ein Lehrer der deutschen Schule in Kabul gebracht. Diese ist nach dem sowjetischen Einmarsch sofort geschlossen worden, doch anders als andere Ausländer zog mein Bekannter nicht weg. Er will sehen, wie das sowjetische Experiment ausgeht. Dabei zeigt er sich mehr als skeptisch. Er prophezeit, dass es den Sowjets wie allen anderen Invasoren in Afghanistan ergehen würde. Früher oder später würden sie vertrieben werden. Es gäbe nur eine winzige Minderheit der Bevölkerung, die von Moskau profitieren würde.

Und trotzdem, bei meinen heimlichen Basar-Spaziergängen ergibt sich ein gemischteres Bild. Es gibt keinerlei Spur von Niedergeschlagenheit.

Als Ausländerin in den engen Gassen zwischen den Läden zu lange zu verweilen ist nicht ratsam. Es gab bereits Fälle, in denen russische Frauen hinterrücks erstochen worden waren. Die Ermittlungen der Polizei blieben erfolglos, denn niemand wollte den Behörden in irgendeiner Form helfen. Während ich den Basar erkunde, betone ich bei jedem einzelnen Händler, dass ich keine Schurawi, keine Russin sei. Danach bin ich willkommen. Und man serviert mir Tee.

Auf meinen Erkundungstouren schnappe ich so einige Informationen von den Händlern auf, die nicht im staatlichen Fernsehen gesendet werden. Die Kundinnen und Kunden blieben aus. Die Reichen hätten das Land längst verlassen. Die Armen würden ihre wenigen Afghani lieber sparen als ausgeben. Obwohl ich kein Kopftuch umgebunden habe, ernte ich keine schiefen Blicke auf dem Basar. Stundenlang sitze ich bei den Männern in den Buden. Der Basar ist eine Schule des Lebens. Lastenträger ziehen mit übergroßen Ballen Stoffen draußen vorbei. Sie beachten mich nicht einmal. Die Menschen hier sind anderes gewöhnt. Insofern spüre ich keinerlei Feindseligkeit mir gegenüber. Immerhin bin ich eine der rar gewordenen Kundinnen. Und tatsächlich kann ich den Angeboten der Händler, den Tüchern und Souvenirs, die Helfer in einem fort heranschleppen, schlecht widerstehen. Dabei fühle ich mich zunächst wie in einer anderen Welt, komme ich doch aus einer Kultur, die das Feilschen verlernt hat. Doch das Ritual ist leicht erkennbar. Zuerst muss der Händler seinen potenziellen Kundinnen und Kunden Tee servieren, auch wenn diese nichts kaufen. Teppichhändler legen dabei eine unglaubliche Überzeugungskraft und Ausdauer an den Tag. Ich kaufe meinen ersten eigenen Teppich, obwohl ich ahne, dass ich gnadenlos über Wert zahle. Doch zwischen den heißen Tees werden mir deshalb auch Insiderinformationen serviert – beispielsweise sei ein Großteil von Afghanistans kommunistischer Partei dem Alkohol verfallen. Eingeschlossen der emanzipierten Frau des Präsidenten. Einige Tage später interviewe ich sie. Sie sitzt in einem bräunlichen Kostüm vor mir, das mich an das Outfit der Stewardess erinnert. Sie redet von Fortschritten – und präsentiert mir damit das Kontrastprogramm zu den Bazaaris, die ihre eigenen Frauen und Töchter vor mir verbergen und zu Gott beten, dass sie wieder gehorsam bleiben.

Freitags versammelt sich Jung und Alt zum gemeinsamen Gebet bei den Moscheen am Fluss, und kein sowjetischer Soldat wagt sich in die Nähe. Selbst meine Aufpasser würden gut beraten sein, sich dort nicht sehen zu lassen. Sie sind nicht die Einzigen, die bewaffnet sind. Die übliche Gebetsformel übertönt jedes andere Geräusch, vom Autolärm bis zum Bellen der Hunde. Das Echo des Gebets hallt von den Hügeln wider, die Kabul umgeben: Allahu akbar! Gott ist groß!

Den gläubigen Bazaaris macht die aktuelle Situation in Afghanistan trotzdem große Sorgen. Der Kabuler Basar befindet sich auf den asiatischen Nord-Süd Verbindungen, von Zentralasien im Norden bis zum indischen Subkontinent im Süden. Früher lagen dort die besten Weideplätze für die usbekischen Pferdehändler, die ihre Tiere oft aus dem Norden auf indische Umschlagplätze brachten, um sie dort gewinnträchtig weiterzuverkaufen. Es sind die Nachfahren dieser Händler, die gegen die sowjetischen Invasoren aufbegehren, aber sich andererseits auch in Zurückhaltung üben. Die Bazaaris sind Überlebenskünstler. Sie wollen nicht, dass fremde Mächte über ihre Angelegenheiten bestimmen. Sterben wollen sie genauso wenig. Also leben sie nach dem Prinzip des bitarafi. Übersetzt heißt dies „auf keiner Seite stehen“, denn „was würden die […] Afghanen schon erreichen, wenn sie sich auf eine Seite stellen würden?“ schreibt der Anthropologe Louis Dupree.7 In seiner Darstellung der Geschichte stand Afghanistan weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Großmächte. Der britische Historiker Peter Frankopan schreibt, Afghanen wären gegenüber allen Fremden gleichermaßen misstrauisch und gegenüber allen Supermächten vorsichtig. Junge Afghanen, die im Ausland studieren, würden nach ihrer Rückkehr von den jeweiligen Aufenthalten in Moskau oder Washington daheim ihre Aufzeichnungen vergleichen. Dabei gelangten die meisten von ihnen zu ein und derselben Erkenntnis: beide Seiten würden lediglich ihre eigenen Interessen verfolgen. Vertrauen in die Großmächte könnte es daher nicht geben. Unabhängigkeit sei der einzige Weg, den es einzuschlagen gäbe.8

Übertragen auf die Kriegswirklichkeit, bedeutet das, wie ich langsam herauskriege, dass Menschen in Afghanistan ihre Söhne ohne schlechtes Gewissen in den Widerstand schicken. Wohlhabende Handelsfamilien unterstützen Familien, deren Söhne im Kampf gefallen waren. In Afghanistan gibt es oft interne Streitereien zwischen den Menschen, aber in Krisenzeiten greift man einander unter die Arme – wer weiß schon, was der nächste Morgen bringt. In dieser Logik war es damals vertretbar, einen Sohn in den Widerstand zu schicken und den anderen als Polizist ausbilden zu lassen. So war man für alle Eventualitäten abgesichert. Für Außenstehende ist dies schwer nachvollziehbar, aber die Afghanen konnten sich den Luxus einer offenen Rebellion gegen eine Supermacht nicht leisten. Das Land ist riesig. Unkontrollierbar. Die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner vergleichsweise niedrig, 1980 betrug sie nur um die 13,5 Millionen.9 Fremdbestimmung wird von den Afghanen mit Überlebenskunst gepaart. Die ungewöhnliche Art der Afghanen, sich mit niemandem anzulegen, jedenfalls nicht vordergründig, ist in seiner Geschichte mitbegründet.

Afghanistan bestand als eigenständiges Königreich seit dem Jahre 1747. Sein erster König, Ahmad Schah Durrani, hatte sich gegen andere Stammesführer im Süden durchgesetzt und sie unter seiner Herrschaft vereint. Er und seine Nachfolger mussten eine Politik des ständigen Verhandelns verfolgen. Sich zu sehr in die Belange der eigenen Bevölkerung einzumischen brachte Ärger und entfachte Rebellionen. Die Bevölkerung regelte vieles unter sich. Im Gegenzug tolerierte sie die jeweiligen Herrscher und beanspruchte keinen Machtwechsel. Diese gegenseitige Gleichgültigkeit sicherte den Frieden. Kleinkriege zwischen den Stämmen in den entlegenen Regionen waren an der Tagesordnung, kein Herrscher versuchte hier energisch zu intervenieren. Irgendwann hörte jeder Kleinkrieg auf. Die Durchsetzungskraft der Könige blieb dementsprechend gering.

Wer Afghanistan von außen kontrollieren wollte, hatte es auf den ersten Blick daher leicht. Man musste nur besser organisiert sein. Wie die Sowjets, die sich bei ihrer Intervention auf eine lokale kommunistische Partei als Basis stützten, Figuren wie meine Aufpasser. Ein Fehler der Sowjets wurde schnell offensichtlich: Sie hatten es eilig, ließen ihren Reformbestrebungen nicht ausreichend Zeit. Sie legten Frauenrechte in der Verfassung Afghanistans fest. In der Folge wollten sie Kampagnen zur Alphabetisierung bis in die entlegenen Dörfer tragen, was den Zorn der konservativen Bewohnerinnen und Bewohner hervorrief. Sie hatten sich schlichtweg übernommen.

Die Afghanen dachten hingegen in langen Zeiträumen. So lang wie die Schatten des Hindukusch, wenn die Sonne sich langsam am Horizont senkt. Eile ist ein Fremdwort. Man saß eine Ewigkeit zusammen, Teegläser vor sich, Höflichkeitsformeln auf der Zunge, bis ein Problem gelöst ist. Oder eben nicht. Die einfallende Rote Armee verbitterte jene, die die Freundschaft mit den Sowjets, auch wenn sie selbst keine Kommunisten sind, aufgrund ihrer Vorteile nicht ablehnen. So schickten viele Afghanen ihre Kinder zum Studium nach Moskau und merkten erst später, in welche Falle sie sich mit der sowjetischen Abhängigkeit begeben hatten.

Zu den Enttäuschten gehörte der angesehene Stammesführer Said Ahmed Gailani. Ihm wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Wir haben unsere Offiziere zu Euch zur Ausbildung geschickt. Damit sie dort auf den Militärakademien studieren. Das bedeutete, wir haben eurer Regierung vertraut, aber ihr habt uns verraten!“10 Von Verrat sprach nicht nur Gailani, sondern dies war ab dem Zeitpunkt der sowjetischen Invasion ein Massenphänomen unter Afghanen. Vertrag ist Betrug. Eine ernste Angelegenheit. Fortschritt ist seither bei vielen mit einem schalen Beigeschmack behaftet. Unabhängigkeit, selbst, wenn sie Armut brachte, ist zu kostbar – daher hat Gailani nicht allein die Sowjets beschuldigt. Er kündigt an, die Afghanen würden genauso die US.Amerikaner bekämpfen, wenn es notwendig wäre. Seine Warnung geht im Chaos der folgenden Jahre unter. Amerika ist noch fern.

Zurück im Hotel, bricht für mich und mein Team ein weiterer Tag in Kabul an. Beim Frühstück wird heute French Toast serviert, der in einer fetten Butterschicht ertrinkt. Der gute Tee und Kaffee stimmen uns wieder versöhnlicher. Draußen hat der Gärtner bereits mit dem Unkrautjäten begonnen. Rosafarbenes Licht verwandelt die Lehmhütten auf den umliegenden Hügeln in scheinbar begehrenswerte Heime. Die Idylle wirkt überzeugend – wären da nicht die Statistiken, die von einer Stadt erzählen, in der die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner keinen Strom- oder Wasseranschluss besitzt. An den Außenbezirken bilden sich inzwischen zunehmen Flüchtlingslager. Wann immer irgendwo bombardiert wird, strömen die Dorfbewohner mit ihren letzten Habseligkeiten in die Stadt. Hier erhoffen sie sich Sicherheit. Keine nächtlichen Angriffe aus der Luft mehr. Niemand trauerte dem Verlorenen nach, solange die Familienmitglieder gerettet werden konnten.

Überpünktlich taucht der Combi der staatlichen Tourismusanstalt auf dem Parkplatz vor der Tür auf. Diesmal aber strahlen unsere beiden Aufpasser beim Aussteigen. Gute Nachrichten stehen ihnen in die Gesichter geschrieben. Man wird uns aus Kabul hinausbringen, um uns die echten Erfolge bei der Landreform, Neuverteilung von Grund und Boden zu präsentieren. Dazu die Fortschritte bei der Alphabetisierung. Mich beschleicht sofort Skepsis. Wird man uns in ein Musterdorf schleppen, um uns die Erfolge darzulegen? Werden wir eine inszenierte Jirga, eine Versammlung der Dorfältesten erleben, bei der wir stundenlang mit Lobeshymnen auf die Fortschritte überhäuft werden?

Die Jirga ist eine typisch afghanische Angelegenheit. Eine Art traditionelle Selbstverwaltung, ein Überbleibsel aus der Königszeit. In den meisten Dörfer entscheiden Jirgas fast alle Belange. Man erzählt sich über die Jirgas, sie wären, wenn sie nicht vor der ausländischen Presse auftreten müssen, gegen das sowjetisch kontrollierte Regime. Zum Beispiel sind in ihren Augen die Kampagnen zur Alphabetisierung nicht nur abzulehnen, weil sie Mädchen und Jungen in gemeinsamen Klassen zusammenbringen, sondern weil sie im ländlichen Afghanistan mit sämtlichen etablierten sozialen Normen brechen. Das Regime hat nicht genug Personal, um jede Dorfgemeinschaft darüber aufzuklären, welche Vorteile die Alphabetisierung mit sich bringen kann. Mehr Wissen bedeutet ein besseres Leben. Da die Sterblichkeitsrate in Afghanistan hoch ist, könnten Witwen mit Schulausbildung sich und ihre Kinder leichter durchbringen.

Doch je weniger die Dorfbewohner aufgeklärt werden, desto sturer bestehen sie auf ihren alten Lebensformen. Auf Religion und Traditionen, die alles regeln. Die fünf Gebete teilen ihren Tagesablauf ein. Aufstehen, Mittagessen, Pause am Nachmittag, Abend und dann der verdiente Schlaf. Freitags, am Ruhetag, treffen sich die Männer, in ihren schönsten Kaftans und gestärkten Turbanen, den Bart frisch gestutzt, in den Moscheen, um die Predigten ihrer Mullahs zu lauschen. Sie erzählen von der Schönheit und der Grausamkeit des Lebens, der Barmherzigkeit Allahs und der Notwendigkeit des Heiligen Krieges gegen Ungläubige wie den Kommunisten. Diese klaren Geschichten verstehen die Männer besser als die Lehren eines Karl Marx. Ihr Leben ist hart. Änderungen am Horizont werden immer von der Furcht begleitet, es könnte nicht besser, sondern nur noch schlechter werden. Die Mullahs tragen ihren Teil dazu bei, indem sie diese Befürchtungen von der Minbar, der Kanzel in den Moscheen, aus schüren und so die eigene Machtposition über die Gemeinde festigen. Die dörfliche Ordnung ist aber komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint. Frauen arbeiten sehr wohl – etwa auf den Äckern. Sie tragen dabei keine umständliche Burka, sondern bunte Tücher auf den Kopf. Das Dorf ist in den Augen aller ein sicheres Biotop – bis die schnurrbärtigen Männer in den Anzügen auftauchen: „Die kommunistische Partei vergaß, die weitreichenden Folgen vieler ihrer Maßnahmen zu bedenken. Fragen, die für sie rein wirtschaftlich waren, hatten soziale Folgen, und viele ihrer sozialen Reformen betrafen so grundlegende Werte wie Familienehre. […] Als die Partei erklärte, ihre Regierung beruhe auf einer nichtreligiösen Grundlage, untergrub sie damit ihre Legitimität in den Augen der ländlichen Bevölkerung. Nicht war in Afghanistan jemals völlig säkular: ein Schaf nach islamischen Regeln schlachten, betend einen Vertrag abschließen oder Almosen geben als Dank für Glück - alles hatte einen gewissen religiösen Unterton.“11

Die Regierung hat also nur begrenzte Handlungsmacht in Afghanistan. Sie kann nicht einmal ihre Landreform durchsetzen, also die Verteilung von Grundstücken an arme Bauern. Die Landbevölkerung sperrte sich gegen diese Umverteilung und sah sie als Diebstahl am Besitz anderer.

Unter diesen düsteren Vorzeichen bringen uns die Aufpasser in ein nahegelegenes Dorf. Bald holpert unser Wagen auf dem steinigen Weg dahin. Die Aufpasser lassen den Fahrer mehrmals anhalten, weil sie offenbar die Adresse nicht kennen. Uns trottet ein Bauer mit einer Schubkarre entgegen, der so tut, als hätte er keine Ahnung, wohin wir wollen. Der Combi arbeitet sich weiter kilometerweise durch die ländliche Gegend. Bei jedem Loch droht der Wagen stecken zu bleiben. Der Fahrer fährt vorsichtig weiter als hätte er Angst, wir würden nach der nächsten Kurve gestoppt werden. Das Land ringsum ist trocken wie eine Steinwüste. Im harten afghanischen Winter müssen diese Pfade völlig unwegsam sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie hier ein Militärfahrzeug vorankommen soll. Zwischendurch bilde ich mir ein, das Brummen von Flugzeugen am Himmel zu vernehmen. Werden wir nun gleich bombardiert? Nein. Das Brummen verliert sich hinter einer endlosen Hügelkette. Jedes Geräusch nimmt in der Einöde, die wir durchqueren, einen besonderen Klang an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir unser Ziel. Doch bei unserer Ankunft wirkt das Dorf wie ausgestorben. Unsere Aufpasser erkunden vorsichtig die Hauptstraße des Dorfes, die auf beiden Seiten von Lehmhütten gesäumt sind. In einer ist angeblich die Schule, aber in dem kleinen Raum finden wir nicht einmal eine Tafel und nur einige wenige Stühle. Weit und breit ist keine Menschenseele in Sicht. Einen Augenblick sieht es danach aus, als wären wir in eine Falle getappt. Leise berate ich mich mit meinem Team – wir sollten nicht abseits der Wege herumlaufen, denn Minen gehören zur sowjetischen Kriegsführung.

Wir wissen allerdings nicht, welche Seite das Dorf kontrolliert – das Kriegsglück kann sich über Nacht gewendet haben. Die Gotteskrieger, Mudschahedin