After Show - Nora Welling - E-Book

After Show E-Book

Nora Welling

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Beschreibung

Manchmal brauchst du Mut, um die Liebe in dein Leben zu lassen.

Unerlaubt attraktiv, unerhört arrogant und unglaublich reich — Timon Waltz, Juror bei der TV-Show "Unter Haien" — ist alles, was Make-up-Artistin Mila bei einem Mann auf die Palme bringt. Entsprechend katastrophal endet ihr erstes Aufeinandertreffen in der Maske der Sendung. Als Mila jedoch von dem Kredithai bedrängt wird, von dem sie sich Geld für ihr Studium geliehen hat, kommt ihr ausgerechnet Timon zu Hilfe und bietet ihr einen unerwarteten Ausweg. Je mehr Zeit Mila und Timon miteinander verbringen, desto gewaltiger knistert die Anziehung zwischen ihnen. Jetzt braucht Mila einen Plan, um nicht nur ihre Zukunft wieder in den Griff zu bekommen, sondern auch, um ihr Herz zu schützen ...

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Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungLiebe Lesefans!Kapitel 1MilaTimonKapitel 2MilaTimonKapitel 3MilaKapitel 4TimonKapitel 5MilaKapitel 6TimonMilaKapitel 7MilaTimonKapitel 8MilaTimonKapitel 9MilaTimonKapitel 10MilaKapitel 11MilaKapitel 12TimonKapitel 13MilaTimonKapitel 14MilaTimonKapitel 15MilaTimonKapitel 16TimonKapitel 17MilaTimonKapitel 18MilaKapitel 19TimonMilaKapitel 20MilaTimonKapitel 21MilaKapitel 22TimonKapitel 23MilaTimonEpilogMilaDanksagungTriggerwarnung

Über das Buch

Band 2 der Reihe »Unter-Haien-Reihe«

Manchmal brauchst du Mut, um die Liebe in dein Leben zu lassen

Unerlaubt attraktiv, unerhört arrogant und unglaublich reich — Timon Waltz, Juror bei der TV-Show »Unter Haien« — ist alles, was Make-up-Artistin Mila bei einem Mann auf die Palme bringt. Entsprechend katastrophal endet ihr erstes Aufeinandertreffen in der Maske der Sendung. Als Mila jedoch von dem Kredithai bedrängt wird, von dem sie sich Geld für ihr Studium geliehen hat, kommt ihr ausgerechnet Timon zu Hilfe und bietet ihr einen unerwarteten Ausweg. Je mehr Zeit Mila und Timon miteinander verbringen, desto gewaltiger knistert die Anziehung zwischen ihnen. Jetzt braucht Mila einen Plan, um nicht nur ihre Zukunft wieder in den Griff zu bekommen, sondern auch, um ihr Herz zu schützen …

Über die Autorin

Nora Welling lebt mit ihrem Ehemann, zwei Töchtern, Hund, Katzen, Meerschweinchen und zahlreichen Staubmäusen im Umland von München. Sie liebt romantische Geschichten und das Reisen. Nach dem Abitur in England studierte sie Kommunikation und arbeitete in der Pressestelle eines Filmrechtevermarkters. Als Teil eines Autoren-Duos standen mehrere ihrer Liebesromane auf den Bestsellerlisten.

NORA WELLING

AFTER SHOW

UNTER HAIEN

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Anna Volobueva / iStock; opolja / AdobeStock

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2119-6

luebbe.de

lesejury.de

 

Für Dich

 

Liebe Lesefans!

»After Show« behandelt Inhalte,

die potenziell triggern können.

Auf dieser Seite findet ihr einen Hinweis auf diese Themen.

Achtung! Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.

KAPITEL 1

Mila

Ich balancierte das Backblech auf den Unterarmen und drückte mit der Schulter die Tür auf.

Bei meinem ersten Gig in der Maske von Unter Haien hatte ich den Bühneneingang nicht gefunden und das Sakrileg begangen, das Hauptportal zu benutzen. Großer Fehler, sehr großer Fehler! Die Stößenseestudios im Westend von Berlin sahen nicht nur aus wie ein alter Herrensitz, auch die Regeln, wie sich das unwichtige Fußvolk hier zu benehmen hatte, hätten direkt aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen können. Das Kernstück der Anlage bildete eine zweistöckige weiße Villa mit rotbraunem Satteldach, allerlei Erkern und Balkonen. Grüne Fensterläden und ein hübscher Schornstein vervollständigten den Look, den auch die weit weniger romantisch anmutenden Flachbauten rechts und links des Hauptgebäudes nicht zerstören konnten. Sie verschwanden diskret im Geäst der alten Bäume auf dem Seegrundstück.

Noch wartete die Natur darauf, in die Vollen zu gehen. Aber schon in ein paar Wochen würde das gesamte Studiogelände in sattem Grün erblühen und die Entenmütter auf dem See ihre Jungen zu einem Bad ermuntern.

Ein Bewegungsmelder erfasste meine Gestalt. Das Licht im Gang sprang an. Im Gegensatz zu dem hochherrschaftlichen Äußeren der Villa waren die Korridore äußert unspektakulär. Blanke Wände, hier und dort verziert mit schlecht gerahmten Filmplakaten – Produktionen, schätzte ich, die wenigstens zum Teil in den Stößenseestudios entstanden waren – und fleckiger Linoleumboden.

Die Mitarbeiterküche befand sich im Tiefparterre des Haupthauses. Ich wollte nur einen Kaffee aufsetzen, meinen Geburtstagskuchen loswerden und dann zu dem Kick-off-Meeting verschwinden, das den Anfang eines jeden Drehtages markierte. Nach Feiern stand mir nicht der Sinn, und die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen kannte ich ohnehin nur vom Vorbeigehen. In dem Briefing für heute stand, dass wir um halb neun an unseren Posten sein sollten.

Die meisten Utensilien stellte uns die Produktion, doch in meiner riesigen Tote Bag befand sich ein Pinsel-Set, ohne das ich keinen Job annahm. Das gehörte zu den ersten Dingen, die ich über professionelles Make-up gelernt hatte. Was einem Koch die eigenen Messer, waren für einen Make-up-Artist die Pinsel und Applikatoren. Bei der Frage, an wem ich mein Werkzeug heute ausprobieren würde, kribbelte mir Aufregung in den Fingerspitzen.

Letztes Mal hatte ich nur ausgeholfen. Bevor sich die Produktion festlegen konnte, ob sie mich engagierte, hatte sie sich persönlich von meiner Arbeitsweise überzeugen wollen. Dass ich wieder hier stand, bedeutete, dass ich sie überzeugt hatte. Trotz fehlender Ausbildung als Maskenbildnerin oder Kosmetikerin. Natürlich war mir bewusst, dass der wahre Härtetest erst heute auf mich zukam. Nur wenn ich allein im Umgang mit den VIPs überzeugte, die ich stylte, würde ich weiter für Unter Haien arbeiten dürfen.

Ich war so in Gedanken vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, dass die Küche nicht verlassen war.

»Überraschung!«

»Happy Birthday!«

Aus zahlreichen Kehlen rieselten Glückwünsche auf mich herab. Ein Sektkorken knallte. Um ein Haar hätte ich den Kuchen fallen lassen. Wie vom Donner gerührt blieb ich stehen.

Da standen sie. Alle, die ich beim letzten Drehtag der Sendung kennengelernt hatte, und dazu einige mehr.

Lioba bildete das Zentrum der Gratulantentraube. Sie hatte einen riesigen Strauß Blumen im Arm, den sie mir nun wie eine Trophäe entgegenstreckte. Den anderen Arm hielt sie so ausgestreckt, dass es eindeutig eine Einladung für eine Umarmung war.

»Die sind … für mich?« Nur mit Mühe gelang es mir, die Worte über die Lippen zu zwingen. Plötzlich saß ein riesiger Frosch in meiner Kehle, und meine Hände zitterten so sehr, dass der Kuchen zum zweiten Mal innerhalb von Sekunden Gefahr lief abzustürzen. »Woher wusstest du? Was …«

»Klar sind die für dich.« Lioba lachte. »Und jetzt gib endlich den Kuchen her! Ich schätze, den willst du nicht alleine essen. Hach, deshalb liebe ich Geburtstage! Da gibt es fast immer was Gutes zu futtern.« Grinsend strich sie sich über ihre Babykugel, dann nahm sie mir das Backblech aus der Hand und drückte mir gleichzeitig den Blumenstrauß in den Arm.

Alles, was ich zu tun hatte, war, die Nase in die Blütenkelche zu halten und mich von dem betörenden Duft berauschen zu lassen. Das Bouquet war ein hauchzartes pastellfarbenes Gebilde aus Freesien, lavendelfarbenen Prärieenzianen und puderfarbenen Löwenmäulchen. Vor allem die Freesien dufteten herrlich – frisch und belebend mit einer leichten Pfeffernote, die die Nase kitzelte. Prompt musste ich niesen.

»Gesundheit.« Lioba grinste. Sie hatte den Blechkuchen an einen Kollegen weitergereicht, der gerade dabei war, ihn in gleichmäßige Stücke zu zerteilen. Über meine Schulter hinweg rief sie einer anderen Kollegin zu: »Hey, Chrissy, besorg mal eine Vase für die Blumen. Ich will Mila endlich drücken.«

Gesagt, getan.

Eine junge Frau drängte sich zu uns. Sie hielt eine Vase in der Hand. »Lass das mal mich machen. Willst du einen Schluck Sekt?« Und dann, ehe ich antworten konnte: »He, Alex, bring unserem Geburtstagskind mal ein Glas von dem Blubberzeug.«

Ich musste nur dastehen und den Trubel genießen, und schon fand ich mich mit einem Glas Sekt in der Hand umringt von neugierigen Gesichtern im Kreis der anderen.

»Also, wie gefällt es dir hier bei uns am Set? Das ist gerade mal dein zweiter Tag bei Unter Haien, oder?« Chrissy, die mich mit Sekt versorgt hatte, richtete als Erste eine Frage direkt an mich.

Ich nickte. »Ja. Ich bin Lioba echt dankbar, dass sie mir diese Möglichkeit verschafft hat. Natürlich hatte ich von der Sendung schon gehört. Ich meine, jeder kennt das Format. Aber ich wäre im Leben nicht darauf gekommen, mich hier zu bewerben.«

Unter Haien, die Sendung, die heute in den Stößenseestudios produziert wurde, gehörte zu einem weltweit erfolgreichen Sendeformat, in dem findige Firmengründer live vor der Kamera die Gelegenheit bekamen, ihre Geschäftsideen möglichen Investoren vorzustellen. Wer einen Deal mit einem der Haie, wie sich die Investoren in der Sendung nannten, absahnte, hatte es in aller Regel geschafft. Allein die Aufmerksamkeit durch die Sendung öffnete Türen für die Start-ups.

»Woher kennen du und Lioba euch eigentlich?« Die Frage kam von Alex.

Lioba hatte mir erzählt, dass er ein echter Star der Szene war. Immer wieder ließen ihn Promis extra einfliegen, um ihr Make-up von ihm machen zu lassen.

»Wir haben uns in London kennengelernt.«

»Ich hatte dort einen Make-up-Gig auf der Fashion Week ergattert«, erweiterte Lioba meine Erklärung, »Mila war die rechte Hand des Designers. Wir waren die einzigen Deutschen in dem ganzen Chaos. Das hat zusammengeschweißt, und irgendwie sind wir seither in Kontakt geblieben.« Sie warf mir einen liebevollen Blick zu, und ich erwiderte ihn mit einem Lächeln.

»Oh, dann bist du gar keine gelernte Visagistin?« Alex rümpfte die Nase, sein angewiderter Gesichtsausdruck wirkte durch sein eigenes Make-up so übertrieben, dass ich seine Arroganz beim besten Willen nicht ernst nehmen konnte.

»Nein.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe am Central Saint Martins Modedesign studiert. Aber man bekommt ja so einiges mit, und Lioba hat mich natürlich unter ihre Fittiche genommen, nachdem ich die Zusage bekommen hatte, hier probearbeiten zu dürfen.«

Normalerweise brauchte es nicht mehr als die beiläufige Erwähnung, an welchem College ich studiert hatte, um jedwede Zweifel über meine Qualifikation im Keim zu ersticken. Der Trick funktionierte auch diesmal. Ehrfurchtsvolle »Aaaahs« und »Ooohs« füllten die Kaffeeküche. Nur Lioba blieb cool. Sie kannte meinen Lebenslauf bereits.

»Es ist ja beileibe nicht so, als wärst du hier die einzige Quereinsteigerin.« Liobas Worte richteten sich zwar an mich, aber sie schaute dabei direkt in Alex’ Richtung.

Heute mochte er eine Riesennummer in seinem Metier sein, aber noch vor ein paar Jahren war er nicht mehr gewesen als ein kleiner, einsamer Junge, den alle für einen Freak hielten, weil er Schminke mochte. Von seinem Jugendzimmer aus hatte er einen YouTube-Kanal gestartet und war damit erfolgreich geworden. Eine konventionelle Ausbildung war das auch nicht gerade.

»Außerdem: Was machen wir denn hier schon groß? Die Maske bei Unter Haien ist nun wirklich keine große Kunst. Ein bisschen Puder hier, ein wenig Gloss da. Schön aufpassen, dass ja niemand glänzt und alle Kleidungsstücke fusselfrei sind. Das kann wirklich so gut wie jeder.« Chrissy zwinkerte mir zu. »Und du bekommst heute den Neuen: Timon Waltz. Die Männer sind immer weniger schwer zufriedenzustellen als die Frauen.«

Lioba seufzte. »Ohhhhh ja.« Als Einzige hatte sie kein Sektglas in der Hand. Der Grund für ihre Abstinenz war nicht zu übersehen. »Erinnere mich nicht. Stefanie ist dermaßen anspruchsvoll, die weiß alles besser! Ich habe sie heute noch nicht mal gesehen, und sie geht mir schon wieder auf die Nerven!«

»Also, ich hätte auch nichts dagegen, den Neuen zu übernehmen.« Theatralisch fächerte sich Alex mit einer Hand Luft zu. »Habt ihr euch mal Fotos von dem angeschaut? Der ist der-ma-ßen hot! Und was für einen Style der hat!«

Wir alle brachen in Gelächter aus.

»Sollte sich die Gelegenheit ergeben, frag ihn unbedingt nach seiner Nummer für mich. Natürlich nur, weil ich ihn mal auf meinen Kanal einladen möchte.« Vielsagend klimperte Alex mit seinen falschen Wimpern.

»Oh Süßer, ich fürchte, da hast du Pech.« Chrissy stupste Alex mit dem Ellenbogen in die Seite. »Liest du gar keine Society-Blogs? Der wird jede Woche mit einer anderen Frau auf irgendeiner Veranstaltung gesehen. Angeblich hat er der Liebe abgeschworen, seit ihm eine mal ganz fürchterlich das Herz gebrochen hat.«

»Wie romantisch!« Theatralisch presste sich Alex eine Hand aufs Herz. »Wenn auch natürlich sehr tragisch für mich.«

Ich ließ mich von dem leichtherzigen Geplänkel mitreißen. Der kurze Anflug Missstimmung war vergessen. Alle lobten meinen Kuchen, und das Gläschen Sekt, das ich mir gönnte, nahm mir die Aufregung vor dem Job. Ich blickte in die Runde und ein warmes Lächeln zuckte an meinen Mundwinkeln. Heute Morgen beim Aufstehen hatte ich tunlichst vermieden, daran zu denken, was für ein Tag war. Aber womöglich brachte das neue Lebensjahr doch etwas Gutes mit sich. Ich fand, ich hätte es verdient.

Timon

Mein Kumpel Ruben war verliebt. Ich konnte kaum glauben, was ich sah, aber die Symptome sprachen für sich. Der reflexartige Griff zum Handy, jedes Mal, wenn das Gerät einen Laut von sich gab. Das debile Grinsen, wenn die Nachricht offenbar von der erhofften Absenderin stammte. Selbst die Art, wie er mit dem Daumen über das Handydisplay streichelte, unterstützte meine Theorie.

Grinsend schüttelte ich den Kopf. Früher oder später erwischte es offenbar jeden. Ich wünschte mir nur, dass die Liebe mit Ruben gütiger umging, als sie es mit mir getan hatte.

»… bedanke ich mich noch einmal ganz, ganz herzlich bei Timon, dass er so kurzfristig eingesprungen ist, um den leeren Jurorenstuhl einzunehmen.« Cordula, die Productionerin, die das Kick-off-Meeting des heutigen Drehtags leitete, schenkte mir ein bonbonsüßes Lächeln. Jedes Mal, wenn sie sich nach vorne lehnte, um etwas zu sagen, presste sie mit den Oberarmen ihre Brüste zusammen, bis die Dinger ihr beinah aus dem Ausschnitt der Bluse hüpften.

Klar, ich genoss den Anblick, er verlieh dem morbiden Thema, wie man senderintern mit dem Suizid meines Vorgängers umgehen sollte, eine Prise Erträglichkeit. Meinetwegen musste sie sich also nicht zurückhalten. Ich fragte mich nur, was die Sendeleitung sagen würde, wenn sie wüsste, dass die Productionerin plante, mit einem der Juroren ins Bett zu gehen. Denn eines war klar: Wäre ich heute Abend nicht anderweitig verabredet gewesen, wäre das Angebot, das sie mir gerade machte, durchaus willkommen.

Ich setzte mein gewinnendstes Lächeln auf und strahlte sie an. »Gerne. Ich freue mich auf die neue Herausforderung. Es ist mir eine große Ehre, mit euch allen zusammenarbeiten zu dürfen.« Der letzte Satz galt meinen Mit-Juroren.

Außer Ruben Stephanski, der seit gut zehn Jahren so etwas wie mein bester Freund war, kannten die meisten der Anwesenden mich höchstwahrscheinlich eher durch Artikel in der Boulevard-Presse. Von meiner Tätigkeit als Mäzen und Geschäftsmann wussten die wenigsten. Dabei war nicht einmal ich es, der sich immer wieder durch irgendwelche idiotischen Aktionen ins Licht der Öffentlichkeit rückte, sondern mein alter Herr, der dafür sorgte, dass niemals jemand vergaß, aus welcher Familie ich stammte. Die Paparazzi und Tintenterroristen der Regenbogenpresse witterten in jedem meiner Schritte einen Skandal und warteten sehnsüchtig darauf, wann ich es meinem Vater gleichtun und selbst für Aufregung sorgen würde. Sie würden vergeblich warten. Ich hatte meine Lektion als Jugendlicher gelernt, und im Gegensatz zu meinem Vater hatte ich den Absprung nicht verpasst und war tatsächlich irgendwann erwachsen geworden.

»Dann wünsche ich uns allen einen erfolgreichen Drehtag. Wenn ihr Fragen habt oder etwas braucht, stehe ich euch jederzeit zur Verfügung. Meine Nummer findet ihr auf dem Briefing-Papier, das in euren Garderoben liegt. Außerdem habe ich jedem eine WhatsApp geschrieben. Zögert nicht, mich zu kontaktieren, falls etwas ist. Packen wir es an.« Cordula erhob sich und beendete damit das Meeting.

Wir Juroren taten es ihr gleich.

Neben mir und Ruben entschieden zwei weitere Investoren über die Zukunft der Firmengründer, die heute ihre Geschäftsideen vor laufender Kamera präsentieren würden. Da war zum einen Stefanie Wiedmann. Sie war die Erbin eines Mode-Imperiums und Geschäftsführerin eines Millionen-Konzerns. Konsequenterweise investierte sie hauptsächlich in Firmen, die im weitesten Sinne mit Mode oder Lifestyle zu tun hatten. Die beste Markenbotschafterin für ihre Produkte war sie selbst. Mit ihrem strahlenden Teint, den glänzenden Haaren und den tadellos sitzenden Business-Kostümen sah sie stets aus wie aus dem Ei gepellt. Ralf Imogen, der vierte und letzte Hai, war ein Geschäftsmann der alten Schule. Er besaß einen riesigen Handelskonzern, Kontakte zu beinah jedem Vertriebsdienstleister und zu allen großen Handelsketten. Seine Anzüge saßen nie, die Haare trug er, als hätte er seit Jahren keinen Friseur mehr gesehen, aber wer sich von seinem Äußeren dazu verleiten ließ, ihn zu unterschätzen, beging einen großen Fehler. Er war der Investor, den sich die meisten Gründer als Mentor wünschten, wenn sie in die Sendung kamen, und auch derjenige, der am häufigsten hoffnungsvollen Nachwuchs unter seine Fittiche nahm. Wohin ich im Gefüge der Show passen würde, musste sich erst herausstellen. Das war ein Grund für die Aufregung, die mir durch die Adern sprudelte. Der andere war, dass ich Kameras bisher immer gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser. Mich freiwillig vor ihre Linse zu stellen war neues Terrain, und ich verabscheute es, nicht zu wissen, was genau auf mich zukam. Ablenkung war das, was ich brauchte.

Sobald die anderen Juroren etwas Abstand zu Ruben und mir hatten, lehnte ich mich zu ihm herüber. »Also, raus mit der Sprache, wie heißt sie?«

Zuerst stellte er sich dumm und gab vor, nicht zu wissen, von wem ich redete. Aber so leicht kam er mir nicht von der Angel.

»Ich spreche von der Dame, deren Textnachrichten dich grinsen lassen wie einen verliebten Schuljungen.«

»Ich grinse nie.« Ruben setzte ein extra strenges Gesicht auf.

Mich brachte es jedes Mal zum Lachen, wenn er den bösen CEO raushängen ließ. Nicht, dass er es sich nicht leisten konnte. Mit nicht einmal dreißig Jahren zu den bestverdienenden Menschen auf dem Planeten zu gehören kam nicht von irgendwoher. Im Vergleich zu Rubens Vermögen wirkte meine Trust-Fund-Summe von zweihundertzehn Millionen wie Taschengeld. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr legte er eine Karriere hin, von der andere nicht einmal zu träumen wagten. Trotzdem wünschte ich mir mitunter für ihn, dass er das Leben nicht ganz so ernst nehmen würde. Womöglich war seine geheimnisvolle Geliebte dafür genau der richtige Weg.

»Natürlich nicht.« Ich zwinkerte ihm zu.

Wir hatten mittlerweile den Flur erreicht, in dem sich die Garderoben befanden. Zum Glück hatte ich Ruben einfach nur hinterhertrotten müssen. Selbstverständlich hatte ich eine Führung durch das Studiogelände bekommen, aber im Inneren glich das alte Herrenhaus einem Labyrinth. Gänge verbreiteten sich zu Loungen. Es gab Büros für die Sendeleitung, dunkle Kammern, deren Wände vom Boden bis zur Decke mit Monitoren versehen waren, Zimmer für den Schnitt, für die Regie und die Kameraleute. Der Bereich für die Juroren war strengstens von den Räumlichkeiten getrennt, in denen sich die Firmengründer auf ihren Auftritt vorbereiteten.

Während wir den ganzen Tag über mit Sterne-Catering versorgt wurden und diverse Hostessen bereitstanden, um uns jeden Wunsch von den Augen abzulesen, gab es bei den Gründern Erbsensuppe aus der Dose und durchgesiffte Sandwiches. Zumindest hatte ich mir das sagen lassen.

Plötzlich blieb Ruben stehen. Zuerst wusste ich nicht, was los war, dann entdeckte ich meinen Namen auf dem Schild neben der nächstgelegenen Tür. Mein Herz machte einen Satz. Verdammt, das hier wurde jetzt echt real.

Ein paar Minuten lang gelang es mir noch, Zeit zu schinden, dann war der Moment der Wahrheit gekommen. Ich legte die Hand auf die Klinke der Tür zu meiner Garderobe. Gott, wie das schon klang, meine Garderobe.

Im Inneren des Zimmers verabschiedete sich eine Frauenstimme hektisch von einem Gesprächspartner. »Nein!«, flüsterte sie. »Mehr geht nicht! Es ist unmöglich, Ty. Ich muss jetzt Schluss machen.«

Ich stieß die Tür weiter auf, trat ein. Gerade in dem Augenblick, als ich den ersten Fuß über die Schwelle setzte, warf die junge Frau ihr Handy zurück auf die Ablage.

Mit ausgestreckter Hand eilte sie auf mich zu. »Herr Waltz, da sind Sie ja! Freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Mila Lüttke. Ich bin heute für Sie zuständig.«

Ihr Lächeln schien übertrieben, die Augen zu groß in dem Gesicht. Das künstliche Licht in der Garderobe saugte jedes Leben aus ihrem blassen Teint, und ihre Unterlippe bebte leicht. Sie wirkte zerbrechlich, fast durchsichtig, mit den schwarzen Haaren und der milchweißen Haut, auf der sich zahlreiche Sommersprossen abzeichneten. Etwas regte sich in mir, zuckte von hinter meiner Brust in südlichere Körperregionen.

»Schön, dich kennenzulernen, Mila. Ist es okay, wenn wir Du sagen? Ich bin Timon.«

»Natürlich ist Du okay.« Ihre Hand legte sich in meine.

Ich spürte die Kälte ihrer Fingerspitzen und das leichte Zittern der Finger. Worum auch immer es in dem Telefonat gegangen war, es hatte sie bis ins Mark erschüttert. Na wunderbar. Eine Make-up-Artistin, die vor Angst bebte, sollte mir mit spitzen Pinseln und Farbe im Gesicht herumfummeln. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Sie rückte mir den einzelnen Stuhl vor dem Spiegel zurecht. »Bitte schön.« Mit einer Geste forderte sie mich auf, Platz zu nehmen. »Alles, was du für die nächste Stunde oder so machen musst, ist, dich von mir verwöhnen zu lassen. Ich hoffe, das hört sich nicht zu grauenvoll an?«

Im Spiegel sah ich ihr Lächeln und erwiderte es ein wenig gezwungen. Irgendwie würden wir es schon miteinander aushalten.

KAPITEL 2

Mila

Ty! Schon wieder. Das war das fünfte Mal innerhalb von drei Tagen, dass er mich angerufen hatte. Was glaubte er denn? Dass ich das Geld aus dem Ärmel schütteln konnte? Dass ich in einem Schuhkarton unter meinem Bett einen Haufen Banknoten versteckte und er mich nur lang genug unter Druck setzen musste, damit ich sie ihm aushändigte? Warum begriff er nicht, dass ich die Kohle schlicht nicht hatte?! Himmel, wenn ich so viel Geld besäße, wäre ich nur zu froh, es ihm zu geben. Ich mochte eine Idiotin gewesen sein, als ich es mir vor sechs Jahren von ihm geliehen hatte. Inzwischen war ich schlauer geworden. Ich wusste sehr wohl, dass jeden Tag, den ich die Rückzahlung aufschob, die Zinsen kletterten und mein Schuldenberg wuchs.

Im Spiegel suchte Timon Waltz meinen Blick mit seinem. Liebe Güte, wie er mich ansah! Er hatte so etwas Durchdringendes.

Alex’ Behauptung, Timon Waltz sei attraktiv, traf es nicht einmal annähernd. Von der Scheitelspitze bis zur Schuhsohle glich der Mann einem Gesamtkunstwerk. Da waren zum Beispiel seine Arme. Als wir einander die Hände geschüttelt hatten, war die Ärmelkrempe des Hemdes weit genug nach oben gerutscht, um nicht nur seine Handgelenke, sondern auch ein gutes Stück des Unterarms zu entblößen. Spontan war mir die Luft ausgegangen. Keine Ahnung, warum, aber ich hatte ein Faible für sexy Männerarme, und der Unterarm von Timon Waltz konnte gut und gerne als Klasse für sich durchgehen. Nicht zu schmal, nicht zu muskulös. Leicht behaart, mit langen, schlanken Sehnen unter der Haut. Wie es sich für einen Juror bei Unter Haien gehörte, trug Timon Waltz einen Anzug. Bei ihm wirkte er aber nicht wie eine Uniform. Timon Waltz machte das klassischste aller Herrenoutfits zu seiner modischen Spielwiese. Eine enge, knöchellange Wollhose mit dunkelviolett-navyfarbenem Paisleymuster kombinierte er mit einem wollweißen Leinenhemd mit Stehkragen sowie einer schmalen grauen Filzkrawatte und Weste im selben Material wie der Schlips. Der Fedora-Filzhut war, soweit ich wusste, sein Markenzeichen, passte aber auch perfekt zu dem Ensemble. Als Designerin konnte ich gar nicht anders, als Timons Stilsicherheit zu bewundern. Mir brannte es auf der Zunge zu fragen, ob er jemanden hatte, der seine Styles für ihn zusammenstellte, oder ob das alles auf seinem Mist gewachsen war. Wenn ja, war das wirklich erstaunlich. Nur wenige Männer trauten sich, derart offensiv mit Mode zu experimentieren.

Fasziniert sah ich ihm dabei zu, wie er auf dem Stuhl Platz nahm.

Seine Lippen waren … perfekt proportioniert. Die untere ein klein wenig voller als die obere und gerade ausgeprägt genug, damit sich darunter ein sexy Grübchen formte. Die Oberlippe besaß zwar einen sichtbaren Venusbogen, dieser war aber nicht so extrem, dass der Mund eine Herzform bekam. Insgesamt glich sein Gesicht einer Studie in Form und Farbe. Er hätte Model für eine Zeichenübung zum Goldenen Schnitt stehen können. Die lange, klassische Nase, das leicht hervorstehende Kinn mit dem Grübchen in der Mitte, die Wangenknochen, die einen perfekten Winkel von der Oberkante der Ohren in Richtung seiner Mundwinkel zogen, dazu der minimal gebräunte Teint.

Ich riss mich zusammen und versuchte auch, die Benommenheit abzuschütteln, die Tys Anruf mir beschert hatte. Dieser Job bedeutete mir viel. Ich wollte ihn ganz bestimmt nicht versauen, nur, weil meine Hormone entschieden, es sei so viel einfacher, einen sexy Kerl anzuglotzen, oder mich von der Misere ablenken zu lassen, zu der mein Leben geworden war.

»Darf ich mir dein Hautbild genauer anschauen und gucken, was sich unter dem Hut befindet?«

»Klar doch.« Er zwinkerte.

Er zwinkerte wie nur Typen zwinkerten, die ganz genau wussten, wie attraktiv sie waren, während er sich genüsslich in seinem Sessel zurücklehnte.

»Für die nächste Stunde oder so gehöre ich ganz dir.«

Ich setzte seinen Hut ab. Wie nicht anders zu erwarten, kam unter dem Hut ein Haarschnitt zum Vorschein, der mehr Geld gekostet haben dürfte, als manche Familien in der Woche zum Leben zur Verfügung hatten. Obwohl die dicken sattbraunen Strähnen ein wenig plattgedrückt waren, konnte man die präzise Ausarbeitung des Schnitts erkennen.

Ich fuhr mit den Händen in die Haare, brachte sie ein wenig zurück in Form. »Da werden wir einmal mit Föhn und Bürste durchgehen müssen. Ist es okay, wenn ich ein bisschen Haar-Fiber benutze? Damit bekommen wir selbst in so dickem Haar wie deinem einen guten Halt hin.«

»Sicher. Du bist die Expertin. Mach, was du für richtig hältst.«

Ich begann damit, seine Haut zu reinigen. Vorsichtig träufelte ich etwas von der Cleansing Emulsion auf ein Wattepad. Um sorgfältig arbeiten zu können, drehte ich Timons Sessel so, dass wir uns direkt ansahen. Eine Hand legte ich ihm locker auf die Schulter. Mein Gesicht kam seinem gefährlich nah, während ich mit dem Wattepad über seine Wangen und die Nase strich.

Zischend sog er die Luft ein. Die Muskeln unter meinem Griff versteiften sich. »Hände weg von mir! Sofort!« Noch ehe ich eine Chance hatte zu begreifen, was geschah, entwand Timon sich meinem Griff und stieß den Sessel mit den Füßen so heftig zurück, dass er beinah durch die halbe Garderobe rollte.

»Timon, was ist passiert? Ich verstehe nicht …«

Er sprang auf, streckte den Zeigefinger aus, richtete ihn mitten auf meine Brust. Genau dieselbe Geste machten die Kids im Innenhof meines Wohnblocks, wenn sie vorgaben, einander zu erschießen. Und tot bist du. Ich hatte keine Ahnung, was ich verbrochen hatte, aber genau so fühlte es sich an. Das vor mir war ein Klient, der so wütend war, dass ich beinah den Rauch ausmachen konnte, der ihm aus Nasenlöchern und Ohren strömte.

»Das wird ein Nachspiel haben«, blaffte er.

»Aber … ich hatte doch gefragt, ob ich … Wenn die Emulsion brennt, kann ich eine andere …«

Er unterbrach mich mit einer herrischen Geste. »Vergiss es!«

»Aber …« Ich kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu bringen.

In dem winzigen Augenblick, ehe Timon auf dem Absatz kehrtmachte und aus der Garderobe stürmte, meinte ich etwas wie Ekel auf seiner Miene zu erkennen. Der Knall, mit dem er die Tür hinter sich zuwarf, hallte in meinen Ohren.

Das war’s, schoss es mir durch den Kopf. Aus und vorbei. Die Produktion würde mich unter keinen Umständen weiterhin als freie Make-up-Artistin beschäftigen, wenn es direkt am zweiten Drehtag eine Beschwerde über mich gab. Ein toller Geburtstag war das. Und ich hatte noch vor einer halben Stunde geglaubt, das neue Lebensjahr könnte nur besser werden als das alte.

Timon

Bei jedem Schritt quietschten die Sohlen meiner Schuhe auf dem Linoleum. Der Laut zerrte an meinen Nerven, gesellte sich zu dem weißen Rauschen, das sich hinter meiner Stirn eingenistet hatte.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich lief. Weg. Weg aus einem Raum, der plötzlich viel zu klein gewirkt hatte. Oh ja, Mila Lüttke hatte mich drangekriegt. Mit ihren großen lichtblauen Augen und dem Blick, der zu gleichen Teilen verletzlich und trotzig wirkte. Mit der zarten Haut und den feinen Gesichtszügen, die den Eindruck von Zartheit und Verwundbarkeit erweckten. In Wahrheit war sie wahrscheinlich so blass, weil das, was sie ihrem Körper antat, kein Organismus unbeschadet wegstecken konnte.

Der Gang mit den Garderoben mündete in einer Treppe, die ins Foyer führte. Im Gegensatz zu den eher funktionalen Räumen im Untergeschoss präsentierte sich die Eingangshalle als Traum in poliertem Edelstahl und bunt beleuchteten Glasflächen. Hinter einem bulligen Empfangstresen residierte eine hübsche Blondine. An der Wand dahinter begrüßte die Laufschrift auf einem Monitor alle Gäste zur zweiten Staffel von Unter Haien.

Noch ehe ich den Empfang erreicht hatte, ließ ich meine Wut von der Leine. »Ich möchte sofort jemand Neuen in der Maske!«

»Herr Waltz!« Blondie zuckte sichtlich zusammen. Sie sah von ein paar Papieren auf. In einer Geste, die unbewusst wirkte, presste sie sich die linke Hand an die Brust. Direkt neben ihrem Zeigefinger stand auf einem Schild der Name Janine Kübbing und darunter, kleiner, Guest Relations Manager. »Haben Sie mich erschreckt! Was kann ich für Sie tun?«

»Muss ich mich wirklich wiederholen?«

»Nein … Das heißt …«

»Lassen Sie es mich noch einmal ganz langsam und zum Mitschreiben sagen: Entweder Sie finden sofort Ersatz für meine bisherige Make-up-Artistin, oder Sie haben in wenigen Sekunden einen Juror weniger für die Aufzeichnung der Sendung.«

Janine schluckte schwer. »Verstehe«, sagte sie. Meinem Blick standzuhalten brachte sie nicht fertig. Sie nahm den Telefonhörer auf. »Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, ja?« Den Hörer ein Stückchen vom Gesicht entfernt, hielt sie kurz inne. »Können Sie mir sagen, was vorgefallen ist?«

Mein Mund öffnete sich. Eine patzige Antwort, dass ich es kaum nötig hatte, meine Wünsche vor ihr zu rechtfertigen, brannte mir auf der Zunge.

Janine kam mir zuvor. »Um sicherzugehen, dass etwas Ähnliches nicht noch einmal passiert. Es geht mir hier ausschließlich um Sie, Herr Waltz. Jeder im Studio weiß, wie kostbar die Zeit der Haie ist. Wir möchten alles dafür tun, dass dieser Drehtag für Sie so angenehm wie möglich wird.«

Ich spürte, wie das Rauschen von Blut in meinen Ohren nachließ. Niemand konnte etwas für Mila Lüttkes Verhalten, außer Mila Lüttke selbst.

Zwei tiefe Atemzüge, dann vertraute ich meiner Stimme wieder. »Mila Lüttke hat getrunken. Sie ist mit einer Alkoholfahne in der Maske erschienen. Eine solche Arbeitsmoral billige ich nicht.«

Flatternd senkten sich Janines Lider. Sie atmete einmal aus, dann öffnete sie die Augen wieder, und jedes bisschen Emotion war aus ihrem Blick verschwunden. »Das tut mir sehr leid, Herr Waltz«, versicherte sie mir. »Ich verstehe Ihren Ärger. Darf ich vorschlagen, dass Sie in der Juroren-Lounge warten, bis sich die Angelegenheit geregelt hat? Ich lasse Ihnen gerne eine Erfrischung bringen. Was darf es sein?«

»Einen geeisten Earl Grey, bitte. Mit einem Schuss Maracujasaft und einem Zweig Pfefferminze.«

»Natürlich.« Mein Sonderwunsch schien sie nicht zu irritieren. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«

Ich schüttelte knapp den Kopf. Wenn Janine ihre Aufgabe vernünftig erledigte und zeitnah für Ersatz in meiner Garderobe sorgte, hatten wir kein Problem miteinander. Ich war schließlich kein Unmensch.

KAPITEL 3

Mila

Um es positiv zu sehen: Ich hatte immer noch einen Job. Cordula, die Productionerin der Sendung, hatte mich in einer Hauruck-Aktion mit Lioba ausgetauscht, sodass Lioba Timon Waltz betreute und ich Stefanie Wiedmann. Ohne Liobas Schwangerschaft hätten wir alle ganz schön in der Scheiße gesessen, schließlich war ich nicht die Einzige gewesen, die zum Anstoßen ein Gläschen Sekt getrunken hatte. Cordula hatte gekocht vor Wut. Aber auf einen Schlag ihr gesamtes Make-up-Team zu ersetzen war selbst für die Produktionsmagierin, die sonst alles möglich machte, zu viel. So waren wir mit einem blauen Auge davongekommen. Ich auch. Zwar klingelten mir von ihrer Strafpredigt noch immer die Ohren, doch gemessen an den Konsequenzen, mit denen ich gerechnet hatte, war ihr Anpfiff das geringere Übel.

Dennoch spürte ich auf dem Heimweg jede Sekunde des langen Tages in meinen Knochen. Die gut eineinhalbstündige Odyssee mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gab mir ausreichend Gelegenheit, mich mit den Ereignissen der vergangenen vierzehn Stunden zu geißeln. Zuerst einen knappen Kilometer zu Fuß vom Studiogelände zur Bushaltestelle, dann mit dem Bus, später mit der S-Bahn und zuletzt mit der Tram bis nach Marzahn, wo ich seit der Rückkehr aus London wieder in der Wohnung lebte, in der ich aufgewachsen war. Ich konnte nicht glauben, wie schnell die ganze Sache den Bach heruntergegangen war. In der ersten Viertelstunde unserer Bekanntschaft war mir Timon Waltz sogar einigermaßen sympathisch gewesen! Klar, arrogant und großspurig und auf eine Weise selbstgefällig, wie sie sich nur Menschen leisten konnten, die sich immer auf der Gewinnerseite des Lebens befanden, aber nicht … böse. Doch dieses Theater, das er dann abgezogen hatte? Unmöglich!

In meinem Viertel angekommen, kam mir alles trist und sinnlos vor. Wozu die ganze Mühe, wenn es am Ende immer einen Timon Waltz gab? Irgendeinen Typen, der glaubte, ihm gehöre die Welt und alle anderen sollten froh sein, wenn sie in seinem Orbit kreisen und nach seiner Pfeife tanzen durften. Die Modebranche war voll von überprivilegierten, überattraktiven, überreichen Typen wie ihm. Kanntest du einen, kanntest du alle, und ich hatte noch keinen seiner Art getroffen, der hinter der strahlend glänzenden Macher-Fassade nicht eine ganze Mülldeponie an Dreck versteckte.

Im Grunde sollte ich froh sein, die Gelegenheit bekommen zu haben, mit Stefanie zu arbeiten. Die war zwar anspruchsvoll und eine Perfektionistin, aber zumindest wirkte sie ehrlich. Als sie meine Fähigkeit gelobt hatte, auf Anhieb den richtigen Farbton der Grundierung für ihren Teint gefunden zu haben, hatte ich für einen kleinen Moment sogar so etwas wie Stolz empfunden.

Jetzt war auch dieser Tag beinah zu Ende. Als ich an der Haltestelle aus dem Bus ausstieg, hatte sich die Nacht über die Straßen gesenkt. Ich schlang die Arme eng um mich und beschleunigte meine Schritte. Dem Gefühl, aus zig unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, entkam ich jedoch nicht. Vielleicht lag es an den Autos rechts und links der Straße, die irgendwie alle Schrott waren, oder an dem blauen Flackern, das aus beinah jedem Fenster der riesigen Wohnblöcke leuchtete.

In elf Geschossen erhoben sich die Wohnbunker zu beiden Seiten der Straße. Tagsüber brachten die Fassadenfarben Leben in die Gegend. Nachträglich angebrachte Wärmedämmungen in Rosa und Blau, Vanillegelb und Mintgrün sagten der Plattentristesse den Kampf an. Dazu begrünte Seitenstreifen. Wenn man nicht zu genau hinsah, fielen nicht einmal die Hundehaufen auf. Es gab Menschen, die gern im Kiez lebten. In Marzahn kannte man sich. Man teilte Sorgen und Ängste und die Wut auf ein System, von dem viele glaubten, es hätte sie vergessen. Und dann gab es Menschen wie mich. Die den Kiez grundsätzlich lieber im Rücken hatten, auf dem Weg hinaus in eine andere, weitere Welt.

Wie immer erwartete mich der Gestank nach Pisse und saurem Schweiß, kaum dass ich den Hausflur meines Wohnblocks betrat. Wenn die Kinder tagsüber beim Spielen auf den Wiesen zwischen den Platten pinkeln mussten, hatten sie die Wahl, entweder ins Gebüsch zu gehen, oder in den erstbesten Hausflur zu machen. Welcher Knirps schaffte es schon mit voller Blase vier, fünf, womöglich zehn Stockwerke hoch? Vor allem, wenn mal wieder der Aufzug streikte oder die Eltern nicht aufs Klopfen und Klingeln reagierten. Ich hatte es als Kind nicht anders gemacht, trotzdem verursachte der Gestank mir Übelkeit.

Das mit dem kaputten Aufzug war kein theoretisches Problem, sondern ein ganz reelles. Seit drei Tagen steckte das scheiß Ding in unserem Haus zwischen zwei Stockwerken fest und außer, dass der Hausmeister an jede Tür ein »Außer Betrieb«-Schild geklebt hatte, hatte sich bisher nichts getan.

Seufzend machte ich mich an den Aufstieg in die zehnte Etage. Aus der Wohnung unserer Nachbarn brüllte ein Fernseher russische Wortfetzen in den Flur. Die Beleuchtung flackerte und tauchte ein Bataillon ausgetretener Sneaker in Diskolicht. Der Pissegestank hatte nachgelassen, dafür roch es hier nach Kohl, Schweißfüßen und geplatzten Träumen.

Ich sperrte die Tür auf. »Ich bin zu Hause!«

Eine Antwort bekam ich nicht. Mama saß mit ihrem momentanen Lebensgefährten Mario vor der Glotze. Zwischen ihnen auf dem Sofa lag eine aufgerissene Partypackung Knabberzeug. Brösel von Salzbrezeln, Mini-Crackern und Sesamstangen hatten eine feine Staubschicht auf ihrem Pullover hinterlassen. Auf dem Sofatisch türmten sich zwei Pizzakartons mit mehreren leeren Bierflaschen zu einem interessanten Bauwerk.

Rambo kam mir winselnd entgegengesprungen. Wenigstens einer, der mich begrüßte. Ich ging in die Hocke, um dem kleinen French-Bulldog-Rüden Hallo zu sagen. Das arme Tier grunzte bei jedem Atemzug, Freude war bei seiner platten Nase nicht vorgesehen. Beim besten Willen würde ich niemals begreifen, wie Mama nicht nur auf die Idee gekommen war, sich einen angeblichen Rassehund anzuschaffen, sondern auch noch einen, bei dem gesundheitliche Probleme vorprogrammiert waren. Hatte sie keine Ahnung, was ein Tierarzt kostete? Aber Rambo war eingezogen, während ich in London studiert hatte, also hatte ich keine Möglichkeit gehabt, meiner Mutter Vernunft einzureden.

Enthusiastisch schleckte das Hündchen mir die Finger ab. Dabei winselte und quietschte er, und mir kam ein Verdacht.

»War jemand von euch mit ihm draußen?«

Noch immer starrten Mama und Mario stur in die Glotze, zumindest bedachte mich meine Mutter nun mit einer wegwerfenden Geste.

»Wie denn?« Eine Spur Aggression schwang in ihrer Stimme. »Der Aufzug ist immer noch kaputt. Ich kann ihn ja kaum zig Mal am Tag die ganzen Treppen hoch und runter schleppen.«

Warum nicht, wollte ich sie fragen, was hast du denn sonst zu tun? Aber ich verkniff es mir. Solange ich darauf angewiesen war, dass meine Mutter mich bei sich wohnen ließ, mussten wir Frieden halten.

»Hat er dann den ganzen Tag nicht gemacht?«

»Im Bad«, warf Mario ein. »Das haben wir ihm ganz schnell beigebracht, dass er nicht einfach, wie er will, hier hinscheißen und pissen kann.«

»Ihr habt einer französischen Bulldogge beigebracht, ein WC zu benutzen?«

Mama kicherte. »Du und dein trockener Humor.«

In der Glotze ging eine Sendung zu Ende, die Vorschau für die Abendnachrichten füllte den Bildschirm. Mama griff nach dem Knipser und wechselte das Programm.

»Ich schau mir das mal an«, sagte ich zu niemandem im Speziellen und schob Rambo, so sanft es ging, von mir.

»Ach, übrigens …« Auf halben Weg zum Bad hielt mich Marios Stimme auf.

»Ja?« Über die Schulter hinweg sah ich ihn an.

»Ty war heute wieder hier. Er hat dich gesucht. Hat einen ziemlichen Krawall gemacht, weil er meinte, das seien keine Peanuts, die du ihm schuldest.«

Fuck, Fuck, Fuck. Genau das hatte ich befürchtet! Trotzdem erwischten mich Marios Worte eiskalt. Die feinen Haare im Nacken stellten sich auf, von einer Sekunde auf die andere verlor ich das Gefühl in den Lippen.

»Geht es da immer noch um das Geld, das du dir geliehen hast, um in London zu studieren?« Im Gegensatz zu Mario, der fast ein bisschen schadenfroh klang, dass der berühmt-berüchtigte Kredithai aus unserem Block mich neuerdings auf dem Kieker hatte, klang meine Mutter einfach nur verwirrt. »Das ist doch schon Jahre her. Zwischenzeitlich hast du immer wieder stolz Fotos geschickt, von deinen Jobs in London. Wo ist denn das ganze Geld hin?«

»Mama …«

Ich hatte es ihr so oft erklärt. Jetzt war ich müde und ausgelaugt und, um ehrlich zu sein, auch ein bisschen gekränkt, dass mich in meinem eigenen Zuhause statt einem »Happy Birthday« einmal mehr nur Chaos, Unverständnis und Dreck begrüßten. Ich besaß wirklich nicht die Nerven, einen erneuten Versuch zu starten, Doreen Lüttke, die seit Jahrzehnten nie mehr als zwanzig Kilometer aus der Platte herausgekommen war, zu erklären, was der Unterschied zwischen einem glamourösen Job und einem unbezahlten Praktikum war.

Zur Abwechslung machte sich Mario einmal nützlich. Er legte eine seiner riesigen Pranken auf den Oberschenkel meiner Mutter und ergriff erneut das Wort. »Siehst du, Dorchen, ich sag’s ja immer wieder. Lohnt sich gar nicht, sich den Buckel krumm zu schuften. Kiek dir nur mal dein Mädchen an. Geht erst aufs Gymnasium und dann bis nach London und weiß der Geier wo sonst überallhin. Und was macht se am Ende, hm? Sitzt genauso inner Platte wie unsereins und hat Schulden beim übelsten Burschen weit und breit. Dat haste davon, wenn de denkst, du bist wat Besseres und kannst nach den Sternen greifen. Ick sag dir, wie dat is. Alle, die ick kenne, die nach den Sternen gegriffen haben, sind auf die Schnauze gefallen.«

Weil ich nicht hören wollte, was Mama dazu zu sagen hatte, drehte ich mich um und machte das, was ich angekündigt hatte. Ich beseitigte die Hundescheiße im Badezimmer und wischte die Pisseflecken von den Fliesen. Danach gönnte ich mir eine Dusche.

Mein Bett stand an die Wand gerückt im Flur zwischen dem Wohnzimmer und der Küche. Darunter warteten die Kleidungsstücke, die ich gegen ein paar Euro für Leute aus der Nachbarschaft flickte. Mit Änderungsschneiderei ließ sich nun wirklich keine goldene Nase verdienen, genauso wenig wie mit dem Make-up-Gig bei Unter Haien oder bei dem Aushilfsjob als Klofrau an einer großen Autohof-Tankstelle. Trotzdem setzte ich mich nach der Dusche auch heute wieder für ein paar Stunden an die Arbeit, denn wenn die Nähmaschine surrte, fühlte ich mich … frei. Die kleine Lampe neben dem Nähfußhebel leuchtete mir in die Welt, in der ich leben wollte. Ich liebte alles am Nähen. Die Präzision, aus der Kunst entstehen konnte. Das Gefühl, etwas zu schaffen. Die geradezu meditative Eintönigkeit, wenn ich den Stoff Stück für Stück nach vorne schob, und den Tanz der Nadel. Doch nichts ging über das Wunder, wenn am Ende meiner Arbeit ein fertiges Kleidungsstück stand, ein stoffgewordener Traum zum Anfassen und Bewundern. Manchmal wünschte ich mir, ich hätte im Hort der Grundschule niemals an diesem Schnuppernähkurs für Kinder teilgenommen, hätte niemals Blut geleckt. Aber die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Lange Jahre war Mode meine Rettung gewesen, dann mein Weg ins Verderben. Wohin sie mich als Nächstes führte, konnte nur die Zukunft zeigen.

KAPITEL 4

Timon

Die Alte Münze in Berlin hieß so, weil dort wirklich bis vor ein paar Jahren Münzen geprägt worden waren. Ob Reichsmark, DDR-Mark, D-Mark und zuletzt sogar Euro, die Chancen, dass das Geld, das heute gespendet werden sollte, wenigstens zum Teil hier entstanden war, standen gut. Oder hätten zumindest gut gestanden, wenn man sich heutzutage noch mit Münzen zufriedengegeben hätte. Sober Kick – die Wohltätigkeitsorganisation, die am heutigen Abend zur jährlichen Spendengala eingeladen hatte, bevorzugte Schecks oder Direktüberweisungen. Auf diese Weise ließen sich viel einfacher weitere Nullen anfügen, um den Betrag zu erhöhen.

Auf der Bühne hielt eine junge Frau eine sentimentale Ansprache und berichtete von ihrem Weg aus der Sucht und den mannigfaltigen Wegen, wie Sober Kick ihr dabei geholfen hatte. Lebensgeschichten wie ihre hatte ich Hunderte gehört, seit ich mich aktiv als Förderer für die gute Sache einsetzte. Trotzdem rissen sie jedes Mal wieder einen Krater in meine Seele. Ich tupfte mir mit der Stoffserviette den Mund ab, lehnte mich in dem Stuhl zurück und konzentrierte mich wie meine sieben Tischgenossen an dem großen runden Banketttisch auf ihre Geschichte.

»Mein Name ist Irina Ivanova, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und komme aus der Republik Moldau. In meiner Familie wurde schon immer getrunken, das gehörte einfach dazu. Mit vierzehn Jahren habe ich meine Heimat verlassen. Der Bekannte eines Freundes meines Bruders hat gesagt, er kenne da jemanden in Deutschland mit guten Kontakten zur Modebranche. Die großen Firmen hier würden immer nach neuen Models suchen, und die Mädchen aus dem ehemaligen Ostblock lieben sie besonders. Wegen unserer Wangenknochen und so.« Irina biss sich auf die Unterlippe, sah kurz zu Boden, schöpfte Mut, um weiterzusprechen.

Was folgte, war eine viel zu verbreitete Geschichte über große Hoffnungen, zerplatzte Träume, einen Loverboy, Prostitution und Alkohol.

Irina war hübsch, wie sie dort oben auf der Bühne stand und ihr Inneres nach außen kehrte. Ich konnte verstehen, dass sie sich hatte verführen lassen. Mit nichts ließ sich besser Geschäfte machen als mit den Träumen von Menschen. Man musste ihnen nur einreden, sie könnten es schaffen, und es würden sich immer genug Unglückliche finden, die bereit waren, für dieses Mehr ihre Seele zu verkaufen. Für Irina war der Alkohol zum Reisebegleiter in eine Traumwelt geworden, nachdem diese sich als Albtraum entpuppt hatte. Mit genug Promille im Blut sahen die Freier nicht ganz so widerlich aus, wirkte das Leben in dem winzigen Zimmer, das sie sich mit vier Kolleginnen teilte, nicht mehr ganz so trostlos.

»Wenn ein sechzigjähriger Freier für Sex mit einer gerade erst achtzehn Jahre alt gewordenen Frau ein paar Zehner abdrückt, dann ist das bezahlter Missbrauch.« Irina ballte die Hand auf dem Rednerpult zur Faust, ihre Stimme bebte vor unterdrückten Tränen. »So was lässt sich nur ertragen, wenn der Geist abgeschaltet ist und der Körper nur eine leere Hülle. Ohne Alkohol hätte ich das nie geschafft. Daran ändert sich auch nichts, wenn man das Geld, das man auf diese Weise verdient, an die Familie schickt oder an einen Mann, der einen angeblich liebt. Liebe muss nicht bedeuten, sich selbst zu verraten, aber das habe ich nicht verstanden. In meiner Heimat …«, mit der anderen Hand machte sie eine unbestimmte Geste irgendwohin in die Weite, »… wird uns gelehrt, vor allem uns Mädchen, dass es die höchste Form von Liebe ist, sich aufzuopfern. Die eigenen Bedürfnisse hinter die der Familie zu stellen. Eine Frau ist dann besonders liebenswert, wenn sie alles für die Familie tut, und ich wollte doch gut sein. Ich wollte es wert sein, geliebt zu werden, und je fürchterlicher es sich anfühlte zu tun, was ich tun musste, um zu überleben, desto mehr empfand ich eine Art trotzigen Stolz, weil ich es ertrug. Zuerst brauchte ich ein Glas Vodka dafür, später eine halbe Flasche. Aber was machte das schon? Ein Schlückchen hier und da, das war doch nichts Ungewöhnliches. Das machte schließlich jeder. Je mehr ich trank, desto mehr ließ die Wirkung nach. Es gab eine Zeit, da habe ich mir morgens die Zahnpasta mit Hochprozentigem aus dem Mund gespült.« Die Tränen strömten nun so eifrig, dass sie nicht weitersprechen konnte. »Na ja, ausgespült ist nicht das richtige Wort. Natürlich habe ich den Schnaps geschluckt. So wie ich alles andere geschluckt habe. Meinen Ekel. Die Angst. Das erschreckende Gefühl von Ausweglosigkeit.« Es dauerte ein paar Sekunden, bis Irina sich wieder genug im Griff hatte, um fortzufahren. »Wahrscheinlich hätte ich immer so weitergemacht. Aber dann ist etwas Wundervolles geschehen. Mein Glück im Unglück.« Ihr Blick schweifte zu der riesigen Projektionsfläche gegenüber der Bühne, wo neben dem Logo von Sober Kick jede Menge Fotos von Mitarbeitenden und Freiwilligen der Organisation zu sehen waren. »Alenka kam zu uns und hat mit uns gesprochen. Ganz normal. Sie hat uns nicht von oben herab behandelt, sondern mit banalen Sachen ausgeholfen. Sie hat Kondome verteilt und neue Kleider gebracht. Sie hat uns Infobroschüren zu PrEP gegeben und erklärt, wo wir die Medikamente bekommen, ohne dafür bezahlen zu müssen.« Sie lachte ein wenig, schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht einmal, dass es das gibt. Eine Prophylaxe, die zuverlässig vor einer HIV-Infektion schützt … Nachdem ich zum ersten Mal in das Beratungszentrum von Sober Kick gegangen war, bin ich immer öfter wiedergekommen. Dank Alenka habe ich verstanden, dass es nicht gut ist, sich aufzugeben. Dass es wichtig ist, auf mich zu achten, weil ich gesund sein muss und stark und glücklich, um andere glücklich zu machen. Alenka hat mir die Augen dafür geöffnet. Sie hat mir sehr behutsam klargemacht, dass ich süchtig bin und dass Sucht eine Krankheit ist, die genauso tödlich verlaufen kann wie das HI-Virus, vor dem ich solche Angst hatte, weil Freier sich immer wieder geweigert hatten, Schutz zu benutzen. Sober Kick hat mir durch den Entzug geholfen, sie haben Kontakte zu Beratungsstellen, Sozialämtern und Kliniken hergestellt. Doch das Wichtigste war: Sie haben mir einen sicheren Ort gegeben, Menschen, mit denen ich reden konnte und die mich ernst nahmen und wertschätzten, genau so, wie ich war.«

Drei von den sieben Leuten, die gemeinsam mit mir um den runden Achtertisch platziert waren, tupften sich unauffällig die Augen trocken. Gut, dass das Dinner vor Irinas Ansprache serviert worden war. Ich schätzte, niemand hier im Saal hatte mehr Appetit.

Irina lehnte sich auf dem Rednerpult nach vorne, weit genug, damit ihre Lippen um ein Haar das Mikrofon berührten. Die rechte Hand streckte sie nach oben, den Daumen in die Höhe gereckt. »Einen einzigen Menschen – mehr braucht es manchmal nicht. Einen Menschen, der hinsieht, wenn andere wegschauen. Einen Menschen, der Hoffnung sät, wo es zuvor nur Hoffnungslosigkeit gab. Einen Menschen mit dem Willen zu helfen, auch wenn die allermeisten Hilfsangebote ins Leere laufen. Von den sieben Frauen, die Alenka unter ihre Fittiche genommen hat, bin ich die Einzige, die heute trocken und gesund ist und einer festen Arbeit nachgeht.« Kurz senkte Irina den Blick, eine Geste der Trauer um all die, die nicht gerettet werden konnten. Dann hob sie den Kopf, und in ihren Augen glomm Stolz und Entschlossenheit. »Ich habe es geschafft. Eine von sieben. Das mag nicht nach viel klingen, für mich bedeutet es alles. Alenka und Sober Kick haben mich gerettet. Auf jede Weise, wie man einen Menschen retten kann.« Eine kurze Pause, dann »Danke für Ihre Unterstützung.«

Applaus brandete auf, füllte die riesige Banketthalle. Durch meinen Geist huschte das Bild von Mila Lüttke. War ich zu harsch zu ihr gewesen? Hätte sie nicht auch eher eine ausgestreckte Hand gebraucht statt einer Predigt von ihrem Vorgesetzten? Alkohol am Arbeitsplatz war ein No-Go, aber … Meine Gedanken verliefen sich im Nichts. Aber was, Waltz? Aber du würdest gerne jede einzelne verlorene Seele retten? Aber sie hat dir gefallen und die Wut, die du empfunden hast, hatte eigentlich mehr dir gegolten als ihr? Das war doch lächerlich. Kein Wunder, dass Ruben mich immer wieder damit aufzog, einen Helferkomplex zu haben.

Das Spektakel auf der Bühne ging weiter. Die Geschäftsführerin von Sober Kick, Anna Hillebrand, überreichte Irina einen Blumenstrauß und flüsterte ihr abseits vom Mikro ein paar Worte ins Ohr, die Irina mit einem Strahlen und einem Nicken quittierte, ehe sie die Bühne verließ. Anschließend richtete Anna selbst ein paar Worte an die versammelten Gäste. Gestützt von einer Präsentation fasste sie die Organisation in Zahlen und Balkendiagrammen zusammen und erinnerte alle Förderer, wie sie ihre Spenden am besten loswerden konnten.

Als auch dieser Teil des offiziellen Programms erledigt war, erhoben sich die meisten Anwesenden von den Plätzen. So auch ich. Die Gäste waren ausdrücklich dazu ermutigt worden, nach dem Essen die Sitzordnung aufzuheben und sich umzusehen. In Nebenräumen gab es Stände, die die aktuellen Projekte der Organisation präsentierten. Man konnte an einer stillen Auktion teilnehmen. Die Preise, hauptsächlich gestiftete Kunstgegenstände, stammten zu einem beachtlichen Teil von Künstlern, die mithilfe von Sober Kick den Weg aus der Alkoholsucht gefunden hatten. Dabei war es den Organisatoren hervorragend gelungen aufzuzeigen, dass Sucht kein Gesicht hatte. Es gab sie in allen sozialen Schichten, bei allen Geschlechtern und in allen Ethnien.

Nachdem ich mich mit dem Setting vertraut gemacht hatte, zog es mich an die Bar. In meinem Kopf höhnte der Sarkasmus über die Ironie, dass auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung zur Unterstützung einer Organisation, die Alkoholkranke auf dem Weg in die Abstinenz begleitete, nicht nur Wein zum Abendessen gereicht wurde, sondern an der Bar jeder erdenkliche Luxusdrink serviert wurde. Ich selbst hatte seit meinem neunzehnten Lebensjahr einen weiten Bogen um alles gemacht, was mehr Volumenprozent besaß als eine Apfelsaftschorle, also bestellte ich mir Tonic Water mit frischen Gurkenscheiben, Limetten und Rosmarin. Ich wartete noch auf meinen Drink, als eine Hand auf meiner Schulter mich herumfahren ließ.

»Hey du!«

Helene sah wie immer großartig aus. Sie trug ein langes, trägerloses rotes Abendkleid, das ihre phänomenale Sanduhrfigur betonte und ab dem Knie in mehreren Volants auslief. Ihr honigbraunes Haar hatte sie in verführerischen Wellen gestylt und trug es offen über einer Schulter.

Sobald sie sicher sein konnte, dass ich sie wahrgenommen hatte, zog sie ihre Hand zurück. »Hätte ich es mir doch denken können, dass du heute auch hier bist.«

Ich lehnte mich nach vorne, um ihr zur Begrüßung rechts und links einen Kuss auf die Wange zu hauchen. »Du siehst wie immer bezaubernd aus. Ist Markus hier?«

Kopfschüttelnd machte sie eine abwehrende Handbewegung. »Er ist gerade für Ärzte ohne Grenzen in Dschibuti.« Sie zuckte mit den Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Natürlich ist die Ausbildung von Ärzten und Politikern vor Ort, damit die Regierung dort ein funktionierendes Ernährungsprogramm aufbauen kann, zehnmal wichtiger als ein paar schnöde Spenden. Also muss ich hier alleine durch.«

Der Barkeeper reichte mir meinen Drink.

»Was darf es für dich sein?«, fragte ich Helene.