Alles, was ich für dich fühle - Nora Welling - E-Book
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Alles, was ich für dich fühle E-Book

Nora Welling

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Beschreibung

Wenn allein die Liebe dich retten kann ...

Damián Álvarez feiert als Pferdeflüsterer international große Erfolge und hat viele Groupies. Dass er auch einen erwachsenen Sohn hat, erfährt er erst wenige Tage, bevor dieser sich das Leben nimmt. Geschockt zieht er sich auf das Familienanwesen in Andalusien zurück. Als Linda Grünfelder, die Therapeutin seines Sohnes, ihn überraschend aufsucht, gibt er zunächst ihr die Schuld. Doch etwas zieht ihn immer wieder zu ihr hin. Wird ausgerechnet sie es sein, die seine Schale knackt?

Große Emotionen vor der traumhaften Kulisse Andalusiens - die EVERYTHING FOR YOU-Trilogie von Nora Welling:

Band 1: Alles, was ich für dich fühle
Band 2: Alles, was du für mich bist
Band 3: Alles, was du mir versprichst

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Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

CoverInhaltGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitelKapitel 1LindaDamiánLindaKapitel 2LindaDamiánKapitel 3DamiánLindaKapitel 4LindaDamiánKapitel 5LindaDamiánKapitel 6LindaDamiánLindaKapitel 7LindaDamiánKapitel 8DamiánLindaDamiánKapitel 9LindaDamiánKapitel 10LindaDamiánKapitel 11LindaDamiánKapitel 12LindaDamiánLindaKapitel 13LindaDamiánKapitel 14LindaDamiánLindaKapitel 15DamiánLindaKapitel 16LindaEpilogLindaDanksagungÜber die AutorinWeitere Titel der AutorinImpressum

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Über das Buch

Damián Álvarez feiert als Pferdeflüsterer international große Erfolge und hat viele Groupies. Dass er auch einen erwachsenen Sohn hat, erfährt er erst wenige Tage, bevor dieser sich das Leben nimmt. Geschockt zieht er sich auf das Familienanwesen in Andalusien zurück. Als Linda Grünfelder, die Therapeutin seines Sohnes, ihn überraschend aufsucht, gibt er zunächst ihr die Schuld. Doch etwas zieht ihn immer wieder zu ihr hin. Wird ausgerechnet sie es sein, die seine Schale knackt?

NORA WELLING

Alles,

was ich

für dichfühle

 

Kapitel 1

Linda

Ich grabe die Füße in den Sand und halte mein Gesicht in den leichten Wind. Hmm, das tut gut. Eine Welle schwappt heran und leckt an meinen Zehen. Unwillkürlich muss ich lachen. Es kitzelt, wie die winzigen Sandkörnchen über meine Haut tanzen. Das Wasser ist angenehm frisch, selbst jetzt im Hochsommer. Ganz anders als der Wind, der warm wie ein Atemhauch über meine Haut flüstert. Beinahe könnte ich mir einreden, ich sei hier, um Urlaub zu machen. Das Wetter passt auf jeden Fall. Und dieser Ort? Er ist einfach zauberhaft.

Um besser sehen zu können, kneife ich die Augen zusammen. Keine einzige Wolke fleckt den Himmel. Nur ganz weit draußen, wo das kräftige Kobalt des Horizonts ins dunkle Azur des Meeres übergeht, jagen ein paar bunte Kite-Schirme durch die Luft. Die Surfer selbst sind zu weit weg, um sie erkennen zu können. Ich bin den Schildern von der Hauptstraße Richtung Strand gefolgt, in der Hoffnung, hier einen Kiosk zu finden. Aber nichts. Von windschiefen weißen Holzpollern gesäumt, führt der staubige Schotterweg direkt zu diesem einsamen, breiten Sandstrand. Kaum zu glauben, dass es solche Orte in Europa noch gibt. Unberührt von den hässlichen Seiten des Massentourismus. Keine Hotelbunker oder Wasserparks zerstören die Idylle. Das einzige Gebäude weit und breit ist ein einstöckiges Haus auf der anderen Seite des Wegs. Casa de huéspedes steht in verblichener Farbe über dem Eingang und Pensión. Na, wenn ich dort nicht eine Flasche Wasser bekomme, dann nirgends. Ich verfluche mich dafür, nicht schon am Flughafen für Wegproviant gesorgt zu haben. Aber ich wollte so schnell wie möglich ans Ziel kommen. Wer konnte denn damit rechnen, dass ich für eine Strecke, für die der Routenplaner eine Fahrtzeit von knapp einer Stunde berechnet, nun schon gut und gerne die doppelte Zeit benötige? Auf der Karte sah es so einfach aus. Doch ich muss immer wieder die falsche Abzweigung genommen haben, denn dies ist nicht das erste Mal, dass mein Weg in einer Sackgasse endet. Dass die Adresse, die ich habe, nur aus einer Postleitzahl besteht, macht es nicht einfacher, mein Ziel zu finden.

Jetzt knurrt mein Magen, und ich bin ganz benommen von der Hitze im Mietwagen. Ich wollte Geld sparen und habe mich deshalb für die günstigste Kategorie beim günstigsten Anbieter entschieden, einen kleinen Seat. Auch das bereue ich mittlerweile. Nicht nur eine Klimaanlage, auch ein funktionierendes Navi wären echt hilfreich. Normalerweise ist auf Google Maps immer Verlass, doch ausgerechnet heute hat es mich schon mehrmals in die Irre geführt. Vielleicht liegt es an der schwachen Akkuleistung des Handys. Bis das Programm mich auf dem Bildschirm findet, bin ich an der richtigen Abzweigung schon vorbei.

Schweren Herzens kehre ich dem Strand den Rücken zu und mache mich auf den Weg zur Pension. Die Fenster im Erdgeschoss sind vergittert, die Rollläden dahinter heruntergelassen. Alles wirkt sehr abweisend und auch ein bisschen schmuddelig. So, als ob der Inhaber trotz Hauptsaison nicht wirklich damit rechnete, heute noch das Geschäft seines Lebens zu machen. Vor der geschlossenen Eingangstür steht ein Metallgestell mit jeder Menge aufblasbaren Strandspielzeugs darauf. Ein Krokodil, mehrere Luftmatratzen, ein Flamingo, dem die Puste ausgegangen ist und der deshalb traurig den Kopf hängen lässt.

»Hallo?« Ich bin verzweifelt genug, um an der Tür zu rütteln. »Ist da wer? Ich habe mich verfahren.« Natürlich bekomme ich keine Antwort.

Auf einem vergilbten Schild neben der Tür sind handschriftlich die Geschäftszeiten notiert. Der Laden öffnet erst wieder um siebzehn Uhr. Ich zücke mein Handy, um nachzusehen, wie spät es ist. Das sind noch viereinhalb Stunden! Und ich habe noch kein Zimmer für die Nacht. Es wird immer deutlicher, wie schlecht ich diesen Trip geplant habe. Wie es aussieht, muss ich mein Ziel ohne Wasser und ohne Hilfe bei der Wegbeschreibung finden. Wenn wenigstens mein Kopf nicht so wehtun würde. Ich will das Handy eben wieder wegstecken, als ein Anruf eingeht.

»Jenny« steht auf dem Display, und ich atme auf. Seit ich heute Morgen in aller Frühe aufgebrochen bin, hat meine Mutter schon sieben Mal versucht, mich zu erreichen. lch habe alle Anrufe weggedrückt, aber natürlich kann ich das nicht ewig durchziehen. Mit Jenny hingegen komme ich klar. Hoffe ich zumindest. Immerhin ist sie so etwas wie meine beste Freundin.

»Hi«, melde ich mich. »Wie geht es dir?«

»Das wollte eigentlich ich dich fragen. Bist du gut gelandet?«

»Ja, danke.« Ich drücke das Gerät fester ans Ohr. Der Wind weht mir die Haare ins Gesicht und macht es schwer zu hören, was Jenny sagt. »Der Flieger war bis auf den letzten Sitz ausgebucht. Ich hatte echt Glück, so kurzfristig einen Platz bekommen zu haben.« Das Mobiltelefon gibt einen warnenden Signalton von sich. Sieht aus, als hätte ich nicht mehr lange, bis es sich ausschaltet. Blöder Akku.

»Du weißt schon, dass ich immer noch der Meinung bin, es wäre besser gewesen, du hättest keinen Flug bekommen. Dieser ganze Trip ist der absolute Wahnsinn.«

Ja, diese Meinung teilt Jenny mit ungefähr jedem anderen Menschen, den ich kenne. Deshalb antworte ich auch nicht.

Das hindert sie nicht daran weiterzusprechen. Während ihres Monologs gehe ich zurück zu meinem Mietwagen. Wenn ich alle Türen öffne, wird das Wageninnere zumindest richtig durchlüftet.

»Ich habe mich übrigens mal auf der Fanseite von deinem Damián umgeschaut.«

»Er ist nicht mein Damián.« Kaum mache ich die Autotüren auf, schlägt mir Hitze entgegen. Ich habe so gar keine Lust, mich zurück in diesen Backofen zu begeben. Also setze ich mich auf die niedrige Natursteinmauer, die den Strand von den Parkplätzen trennt. Die Steine sind heiß und uneben. Aber es ist nicht unangenehm, auch nicht, als ich mich auf den Rücken lege. Wohltuend dringt die Hitze in meine verspannten Muskeln. In der gleißenden Sonne schließe ich die Augen und höre zu, was Jenny noch alles zu sagen hat.

Auf meinen Einwurf geht sie gar nicht ein. Stattdessen spricht sie ohne Punkt und Komma weiter. »Im Netz, auf Facebook, Insta und Twitter, überall steht nur, dass er aus persönlichen Gründen die Tour vorzeitig beendet hat, um sich im Kreise seiner Familie zu erholen und Kraft zu schöpfen. Keine Details über den Grund der Krise. Kein offizielles Statement dazu, wie es weitergehen soll.«

»Solltest du während deiner Arbeitszeit nicht arbeiten, statt im Internet zu surfen?«

»Linda, ehrlich, ich mache mir Sorgen um dich. Hört sich das alles für dich danach an, als ob dieser Damián Álvarez García dich überhaupt sehen will?«

»Es war Jannis’ Wunsch.«

»Ja, ja.« Ich höre förmlich, wie Jenny abwinkt. »Patientenwunsch schön und gut. Aber deinen Patienten interessiert es nicht mehr, ob du seinen Wunsch erfüllst oder nicht. Der ist tot.«

Ich schlucke beklommen. Ja, Jannis ist tot, und ich habe das nicht verhindert. Auch wenn alle mir versichern, dass ich keinen Fehler gemacht habe, und manche Tragödien einfach passieren, fühlt es sich für mich anders an. Ich erkenne das Gefühl von Reue und Verzweiflung, das das Versagen begleitet, denn schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ich einen Menschen, der sich auf mich verlassen hat, nicht beschützen konnte. Weil ich so ausgedörrt bin, kratzt es mir beim Schlucken in der Kehle. »Wenn ich dich nicht echt gerne mögen würde, würde ich dich feuern lassen. Es ist wahnsinnig respektlos, was du da sagst.«

Jenny ist die Helferin in der psychiatrischen Praxisklinik, in der ich als Fachärztin arbeite. Dort haben wir uns kennengelernt. Im Laufe der Jahre ist sie zu meiner engsten Vertrauten geworden. Viel Zeit, um Freundschaften zu pflegen, bleibt nicht, wenn einen der Job achtzig Stunden die Woche beansprucht.

Meine Zurechtweisung beeindruckt sie nicht.

»Du kannst mich gar nicht feuern lassen, weil du nämlich nicht mehr bei uns arbeitest. Du hast gekündigt, schon vergessen?«

»Stimmt«, gebe ich zähneknirschend zu. Noch immer kann ich nicht glauben, dass ich das wirklich gemacht habe. Die Sache ist nur, wenn ich auch nur einen einzigen Tag so weitergemacht hätte wie bisher, wäre ich die Nächste gewesen, die auf einer Brücke steht, mit einem einzigen Ausweg vor Augen. Auszubrechen war eine Frage von Leben und Tod, auch wenn das sehr theatralisch klingt. Ich bin Psychiaterin, ich weiß, wovon ich rede. »Aber ehrlich, du musst dir keine Sorgen machen. Was soll mir schon passieren, wenn ich Señor Álvarez aufsuche?«

Jenny lacht, aber es klingt nicht freudig, sondern fassungslos. »Was passieren soll? Hast du dir mal Fotos von dem Kerl angeschaut?«

»Frau Römer hat Jannis und mir Fotos und Videos von ihm gezeigt, ja. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?«

»Mann, Linda, dafür, dass du eine echt kluge Frau bist, stellst du dich gerade ziemlich dumm. Damián Álvarez García ist ein Star und sieht auch genauso aus. Der kann nicht nur reiten, der kann jede Frau, die er haben will, um den Finger wickeln. Ich wette, der hat Bodyguards oder weiß der Geier was, um sich allzu aufdringliche Groupies vom Hals zu halten.«

»Jenny!« Mein entsetzter Ausruf überrascht mich selbst. Mit leiserer Stimme spreche ich weiter. »Der Mann hat mehr oder weniger im gleichen Atemzug erfahren, dass er einen Sohn hat und dass dieser gestorben ist.«

»Das macht ihn aber nicht zu einem anderen Menschen. Echt, Linda, nicht einmal du kannst behaupten, sein Anblick würde dich kaltlassen. Und dann diese tollen Pferde! Der sieht original aus wie der Typ aus der Freixenet-Werbung.«

Ich krame in meinem Gedächtnis, ob ich mir ein Bild von Damián Álvarez García vor Augen rufen kann. Jenny hat nicht unrecht. Mit den kinnlangen schwarzen Locken und den unergründlichen dunklen Augen erinnert Damián in der Tat an den Kerl, der im Fernsehen im Auftrag des spanischen Schaumweins zu rassiger Gitarrenmusik eine pittoreske Altstadtgasse entlangrennt. Wobei, vielleicht sind es auch nur die Pferde, die diese Assoziation hervorrufen. Wie auch immer.

»Aber darum geht es nicht. Was ich sagen will, wenn du da aus dem Nichts auftauchst, muss der doch glauben, du seist ein Fan. Bevor du auch nur ein Wort sagen kannst, lässt der dich vom Hof jagen.«

Natürlich habe ich daran auch schon gedacht. Es hat mich überrascht, dass die Adresse der Hacienda, auf der er lebt und trainiert, überhaupt im Internet steht.

Jenny spricht unbeirrt weiter. »Angeblich ist er einer der talentiertesten Pferdeflüsterer unserer Tage. Der hat massenweise Groupies. Tussis, die überall, wo er auftaucht, Schilder hochhalten, auf denen steht, dass sie ein Kind von ihm wollen und so.«

Ich stoße einen langen Seufzer aus. »Ich weiß. Aber, ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass er darum zu beneiden ist.« Immerhin war die Mutter meines Patienten – ehemaligen Patienten, korrigiere ich mich selbst mit einem Stich im Herzen – eine dieser Bewunderinnen. Auf einem der ersten Lehrgänge, die Damián Álvarez García gegeben hat, sind Martina Römer und er sich begegnet. Damals war Damián gerade Mal achtzehn Jahre alt, und wahrscheinlich ist ihm die Bewunderung von Martina, die fünfundzwanzig war, einfach zu Kopf gestiegen, sodass er keine vernünftigen Entscheidungen mehr treffen konnte. Sie stand als Reiseverkehrskauffrau mitten im Leben. Hatte einen sicheren Job, eine Wohnung, ein gefestigtes soziales Umfeld. Ein Baby, wenn auch ungeplant, bedeutete für sie keine Katastrophe. Sie hatte sich vom ersten Tag an auf Jannis gefreut. Das zumindest hat sie mir in den gemeinsamen Sitzungen versichert. Da Damián in ihren wenigen gemeinsamen Nächten keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass er nicht vorhabe, sich so früh zu binden, hatte sie ihm nie von der Schwangerschaft erzählt. Aus ihrer damaligen Perspektive gab es schlicht keinen Grund dafür.

»Ich sage ja auch nicht, dass er darum zu beneiden ist«, gibt Jenny zu. »Aber in den vergangenen zwanzig Jahren wird er doch sicher dazugelernt haben. Hast du dir überlegt, was du machst, wenn er dir einfach nicht …« Sie hält inne, und ich höre ein leises Klacken, so als wäre am anderen Ende der Leitung eine Tür geöffnet worden. Was sie als Nächstes sagt, gilt eindeutig nicht mir. »Ja, Herr Knebel. Natürlich. Ich kümmere mich sofort darum.« Manfred Knebel ist der Inhaber der Praxis, in der ich bis vor Kurzem gearbeitet habe. Und so begnadet er im Umgang mit den Patienten ist, als Chef kann er einem das Leben wirklich schwer machen. Cholerisch und fordernd und so launenhaft, dass man nie genau weiß, woran man bei ihm ist. Deshalb wundert es mich nicht, als Jenny kurz darauf im Flüsterton zu mir sagt: »Hör zu, ich muss aufhören. Melde dich, ja? Und versprich mir, keine Dummheiten zu machen.«

»Versprochen.«

Ich beende das Telefonat, schalte das Gerät aus, um den verbliebenen Akku zu sparen, und schiebe es in meine Hosentasche. Um den Weg zu finden, war es bisher ohnehin keine große Hilfe. Meine Augen halte ich geschlossen. Nur noch einen Moment, sage ich mir. Der Abflug um kurz nach sechs in der Frühe war echt grenzwertig. Ich musste zwei Stunden früher am Flughafen sein und hatte die Nacht so gut wie gar nicht geschlafen. Ebenso wenig wie die Nächte davor. Das Gefühl, Mitschuld am Suizid eines Neunzehnjährigen zu tragen, ist kein angenehmes Ruhekissen. Mein Job, und das, was ich bisher beruflich erreicht habe, war die eine Sache, auf die ich immer stolz sein konnte. Wie soll ich weitermachen, wie soll ich weiterhin leben, lachen, arbeiten und schlafen, wenn ich plötzlich daran zweifeln muss, ob ich mir nicht all die Jahre etwas vorgemacht habe? Wenn ich in Wahrheit eine ebenso schlechte Psychiaterin bin, wie ich eine schlechte Tochter und Schwester bin? Hierherzukommen und Jannis’ letzten Wunsch zu erfüllen, ist die eine Aufgabe, die ich noch erledigen kann. Ein letzter Akt der Ärztin, die ich mal war. Was danach kommt? Ich habe keine Ahnung. Da ist nur ein riesiges schwarzes Loch.

Je länger sich die negativen Gedanken in meinem Kopf drehen, desto lauter werden sie. Ich zwinge den Kreisel zum Stoppen, konzentriere mich auf meine Atmung. Ich bin hier, um einen Brief zu übergeben. Das ist das Einzige, was im Moment zählt. Ein Schritt nach dem anderen.

Sobald mein Kopf aufhört, so schrecklich zu dröhnen, fällt es mir sicher auch leichter, die Wegbeschreibung von Google Maps richtig zu interpretieren. So schwer kann es doch nicht sein, diese verdammte Hacienda zu finden.

Hacienda de los Caballos Blancos. Ich bin froh über das Erasmus-Jahr, das ich in Madrid verbracht habe. Wenn ich auch schon länger nicht mehr Spanisch gesprochen habe, beherrsche ich es immer noch recht flüssig.

Als Kind habe ich Schafe gezählt, wenn ich nicht einschlafen konnte. Jetzt springen in meinen Gedanken weiße Pferde über ein Gatter, und ich drifte davon.

Damián

In die Mitte des Tischs stellt Montserrat eine große Platte mit jamón, queso y chorizo. Das Olivenöl-Brot, das zu der traditionellen Vorspeise gereicht wird, steht schon bereit. Normalerweise ist das ein Mittagessen nach meinem Geschmack. Das Olivenöl für das Brot stammt von unseren eigenen Bäumen, und Montserrat verfeinert den Teig mit frischem Rosmarin, grobem Meersalz aus der Gegend und gerösteten Pinienkernen für den Biss. Selbst ohne Beilagen ist das Olivenöl-Brot eine Delikatesse. Jamón, queso und chorizo machen es zu einem Festtagsgericht. Der luftgetrocknete Serranoschinken schmeckt mild-aromatisch und bildet einen wunderbaren Kontrast zu dem kräftigen Geschmack des Manchego-Käses und der feurig-scharfen Paprika-Chorizo.

Wann immer ich auf Tour bin, freue ich mich auf das Essen zu Hause. Die einfache Hausmannskost, die bei uns gereicht wird, zubereitet nach Rezepten, die Montserrat von ihrer Mutter übernommen hat, die sie wiederum von ihrer Mutter bekommen hat und so weiter und so fort. Mittlerweile ist es an unserer Haushälterin, ihr Wissen an ihre Tochter weiterzugeben. Nuria kann fast genauso gut kochen wie ihre Mutter, nur tut sie es selten. Sie hat genug mit dem Aufbau ihrer Praxis für Physio- und Reittherapie zu tun, über die sie gerade mit meiner Schwägerin Sofía spricht. Ich höre nicht zu, was die beiden zu bereden haben. Mir brummt der Kopf.

Es ist zu heiß. Mein letzter Tour-Stopp war Zürich. Das Wetter dort war ebenfalls sommerlich. Ein paar der Crewmitglieder ließen es sich in ihrer Freizeit bei schönstem Sonnenschein am Zürichsee gut gehen. Ich wollte mich ihnen gerade anschließen, als mich das Telefonat erreicht hat. Nicht irgendein Telefonat. Das Telefonat.

Ich blinzle, um mich zu orientieren. Ich bin nicht mehr auf Tour. Nicht unterwegs in Deutschland oder Belgien oder der Schweiz. Ich bin hier, in unserer Küche. Zürich ist weit weg. Wie immer um diese Tageszeit sind die Läden vor allen Fenstern im Haus geschlossen. Deshalb herrscht Zwielicht im Raum. Über der Arbeitsfläche hängt ein Klebestreifen, an dem einige Fliegen leidlich ihr Ende gefunden haben. Die rot-weiß karierte Wachsdecke auf dem Esstisch hat schon bessere Zeiten gesehen. Es ist derselbe Tisch, an dem ich schon zu Mittag gegessen habe, als ich ein Kind war. Wenn mich jemand fragen würde, wie ich von Zürich hierhergekommen bin, könnte ich ihm nicht antworten, selbst wenn mein Leben davon abhängen würde. Die Zeit, die seit dem Anruf vergangen ist, kommt mir vor wie ein einziger Nebel.

»Hast du keinen Appetit?« Erst jetzt bemerke ich, dass alle verstummt sind. Vier Augenpaare mustern mich fragend, nur Papá isst unbeirrt weiter, doch der bekommt selbst an seinen besten Tagen ohnehin kaum noch etwas mit. Montserrat findet als Einzige den Mut, mich anzusprechen.

»Todo bien.« Ich greife nach einer Scheibe Schinken und stecke sie mir in den Mund, um nicht weiterlügen zu müssen. Alles in Ordnung? Dass ich nicht lache. Der Schinken schmeckt wie Pappe. Je länger ich kaue, desto kleiner wird mein Appetit. Sehnsuchtsvoll äuge ich zu der Flasche Oloroso auf dem Kabinett. Eigentlich ist dieser Sherry viel zu schade, um sich damit zu betrinken, aber hey, in der Not und so weiter.

»Mi querido«, nimmt Montserrat noch einmal Anlauf. »Willst du uns nicht sagen, was passiert ist? Wir machen uns solche Sorgen.« Sie legt ihre Hand auf meinen Unterarm. Wenn sie meint, mich ihren Lieben zu nennen würde mich dazu verleiten, einen Seelenstriptease hinzulegen, täuscht sie sich.

Ich ziehe meinen Arm weg und stehe hastig auf. Der Stuhl schwankt und kracht mit der Lehne gegen die Wand.

»Damián!« Selbst meinem sonst so geduldigen Engel von einem Bruder scheint die Ruhe auszugehen, denn er spricht meinen Namen mit so viel Missmut aus, wie ich es selten bei ihm erlebt habe. »Muss das sein?«

Ich antworte nicht. Stattdessen gehe ich zur Anrichte, schnappe mir die Flasche mit dem Oloroso und verschwinde.

»Du kannst uns nicht ewig im Dunkeln lassen!«, ruft Ramón mir nach.

Ich hebe eine Hand und zeige ihm über die Schulter hinweg den Mittelfinger. Als ob irgendwer hier etwas zu meiner Situation sagen könnte. Sie haben doch alle keine Ahnung.

Ich hatte einen Sohn, verdammt. Für nicht einmal eine Woche hatte ich einen Sohn. Und jetzt habe ich ihn nicht mehr.

Meine Finger umfassen den Flaschenhals fester. Das ist der einzige Trost, den ich brauche. Das und sonst nichts.

Meine Beine haben allerdings offenbar einen anderen Plan als mein Kopf, denn ohne dass es mir bewusst ist, bin ich plötzlich auf dem Weg ins Freie.

Ein paar Minuten später finde ich mich statt in meinem Zimmer im Stall der Tour-Pferde wieder.

Ébano muss das Geräusch meiner Schritte erkannt haben, denn er steckt den elegant geschwungenen Kopf neugierig aus der Box. Ein paar Sägespäne vom Einstreu haben sich in seiner Mähne verfangen, doch nicht einmal das kann seiner majestätischen Erscheinung Abbruch tun. Wo auch immer wir auftreten, ist Ébano der Star der Show. Er ist ein siebenjähriger Glanzrappe, wahnsinnig intelligent, aber auch stur, als wäre er ein Maulesel und nicht ein PRE. Ein Hengst der Pura Raza Española, der Reinen Spanischen Rasse, wie die Andalusierpferde laut Rassestandard heißen. Vielleicht ist es auch gerade seine Dickköpfigkeit, die mich von Anfang an zu ihm hingezogen hat. Ein Rückgrat aus Stahl, das sich aus freien Stücken für mich beugt, hat schon immer eine unbändige Faszination auf mich ausgeübt.

»Hola, amigo«, begrüße ich meinen Freund. Mit der flachen Hand reibe ich ihm die Stirn. Ébano gibt ein leises Schnauben von sich und drängt sich meiner Hand entgegen. Sein Atem riecht nach Hafer und Heu. In der anderen Hand halte ich noch immer die Sherryflasche, und auf einmal komme ich mir schäbig vor, dass ich überhaupt daran gedacht habe, mich mitten am Tag zu betrinken.

»Was soll ich nur tun?« Ich lege meine Stirn gegen die des Pferdes. Ich weiß, dass ich von Ébano keine Antwort bekommen werde, trotzdem rede ich weiter. Vielleicht auch gerade deshalb. Er wird mir nicht mit gut gemeinten Ratschlägen in den Ohren liegen und versuchen, mir einzureden, was ich zu tun oder zu fühlen habe. Ich liebe meine Familie, wirklich. Montserrat, Ramón und seine Frau Sofía. Sogar meinen jüngsten Bruder Luis liebe ich, diesen verdammten kleinen Scheißer, der meint, Kitesurfen sei ein Beruf. Aber so sehr ich sie alle liebe, ich bin nicht bereit für ihren Trost. Noch nicht. Vielleicht nie. Aus diesem Grund halte ich mich lieber an meinen Pferdefreund.

»Hm, sag mir, wie ich damit umgehen soll, zu wissen, dass ich einen Sohn hatte, ihn aber nie kennengelernt habe. Ich meine, du kennst dich doch mit diesen Dingen aus.« Unsere gemeinsamen Erfolge haben Ébano zu einem gefragten Deckhengst gemacht. Auch aus diesem Grund habe ich ihn nie kastrieren lassen. Außerdem wäre es solch ein Jammer, wenn er sein Feuer verliert. Nein, nein. Ébano und ich sind echte Kumpel, und ein Kumpel lässt dem anderen nicht die Eier abschneiden. »Wenn dir eine Stute gefällt, machst du ihr ein Baby in den Bauch und adiós, das war’s. Hinterher verschwendest du keinen Gedanken daran, ob das süße Fohlen gesund ist. Oder ob es vielleicht von einer Brücke springt, weil du sagst, du kannst dich nicht mit ihm treffen.«

Okay, ich gebe zu, der Vergleich hinkt, aber schließlich ist Ébano ein Pferd, und als solches verlangt er keine verbalen Höchstleistungen von mir. Was er hingegen verlangt, ist meine Aufmerksamkeit.

Nachdrücklich schlägt er mit dem Huf gegen die Boxenwand. Alle anderen Pferde in der Gasse dösen vor sich hin. Auch sie müssen sich noch von den Strapazen der Reise erholen und leiden unter der mittäglichen Hitze. Vor siebzehn Uhr passiert hier gar nichts mehr. Die ganze Hacienda hält Siesta. Jedes atmende Wesen außer mir hat sich an ein kühles Plätzchen zurückgezogen.

Ich lache ein wenig. »Okay, verstanden. Du willst auch nicht mein seelischer Mülleimer sein. Verständlich. Ich stehe sonst auch nicht so auf diese Emo-Nummer.«

Aus einem Kasten an der Stallwand nehme ich Striegel und Kardätsche. Dafür muss ich die Sherryflasche abstellen, aber das ist ganz gut so. Ich schlüpfe zu Ébano in die Box und beginne ihn in festen Zügen abzustriegeln. Der Staub, den ich ihm aus dem Fell bürste, tanzt in winzigen Partikeln im Sonnenlicht, das durch das schmale, hohe Fenster in die Stallgasse fällt. Ébano entspannt sich unter meiner Zuwendung. Seine Ohren klappen müde zur Seite, die Lider sinken auf Halbmast. Wie Balsam legt sich seine Zufriedenheit auf meine angespannten Nerven. Das ist es, was ich an der Arbeit mit den Pferden so liebe. Sie geben, ohne zu fordern. Man muss sich ihr Vertrauen erobern, doch wenn sie es einem erst einmal schenken, dann vorbehaltlos und ohne jeden Hintergedanken.

Nachdem ich mit dem Bürsten fertig bin, macht Ébano seinem Namen alle Ehre. Sein Fell glänzt wie poliertes Ebenholz.

Ich trete einen halben Schritt zurück und bewundere mein Werk. Die Chancen stehen gut, dass sich mein Maulesel von einem Hengst sofort im Einstreu wälzt, kaum dass ich ihm den Rücken zukehre, aber im Moment ist er eine Augenweide. An seinem ganzen Körper ist kein einziges weißes Haar. In leichten Locken fällt die Mähne über den kräftigen Hals. Sein Körper ist kompakt, aber der Kopf von einer solchen Eleganz, dass selbst ich jedes Mal wieder erstaunt bin, wie schön dieser Hengst ist. Ich trete aus der Box, um Striegel und Kardätsche wegzulegen, und Ébano folgt mir wie ein zweiter Schatten. Als ich mich bücke, um den Putzkasten zu schließen, stupst er mich mit der Nase am Hinterteil.

Ich lache und mache einen stolpernden Schritt vorwärts. Kaum stehe ich still, stupst Ébano mich noch einmal. Wieder und wieder, immer einen Schritt näher in Richtung Ausgang. Niemand kann behaupten, dass mein Pferdchen nicht wüsste, was es will.

»Hey, was ist mit Siesta? Solltest du dich nicht ausruhen?« Der nächste Stupser fällt kräftiger aus als alle zuvor.

»Okay, okay, verstanden.« Ich greife nach einer der langen Longiergerten, die immer am Ausgang bereitstehen. Auf Zaumzeug oder Halfter verzichte ich. Ich weiß, ich kann mich auf Ébano verlassen. Dass er ausgerechnet in der größten Mittagshitze rauswill, ist vielleicht nicht die beste Idee, aber gut, ich schätze, er hat recht. Besser, als mich mitten am Tag zu betrinken, ist eine kurze Trainingseinheit allemal.

Im Freien angekommen, greife ich mit der Rechten ein Mähnenbüschel direkt über seinem Widerrist und schwinge mich auf seinen Rücken. Nicht zum ersten Mal rettet mir Ébano hier den Arsch. Und da wundern sich die Leute, warum es mir so viel leichter fällt, meinen Pferden zu vertrauen als den meisten meiner Mitmenschen.

Linda

Wiebkes lachendes Gesicht strahlt heller als die Sonne.

»Fang mich auf! Fang mich auf!« Ein leichter Wind weht ihr ein paar Strähnen ihrer blonden Haare in den Mundwinkel. Sie sind so hell wie gesponnenes Mondlicht. Darum habe ich sie immer beneidet. Ich dagegen bin ihrer Meinung nach ein blonder Köter. Was sie meint, ist straßenköterblond. Ihr Grinsen entblößt zwei Zahnlücken. Beide Eckzähne oben fehlen, und wenn sie spricht, lispelt sie.

Ich strecke die Arme nach ihr aus. Ich bin so stolz auf sie. Meine kleine, wilde Schwester. Kein Klettergerüst ist zu hoch für sie, kein Baum zu gefährlich.

»Spring! Ich fang dich auf!«, rufe ich ihr zu, und mit der Gewissheit der Träumenden weiß ich noch im selben Augenblick, dass es ein Fehler ist. Wolken ziehen auf und verdunkeln den Himmel. Aus Sonnenschein und Frühlingsluft wird das unheilvolle leise Grollen eines bevorstehenden Sturms. Auf einmal ist es so düster, dass ich Wiebke nicht mehr richtig erkennen kann. Und auch das Klettergerüst verändert sich. Es wächst und wächst, schiebt sich in den Himmel, bis ich Wiebke kaum noch sehen kann, so weit oben steht sie. Hilflosigkeit macht mir das Atmen schwer. Es ist jetzt auch kein Klettergerüst mehr, sondern eine Brücke, auf der sie sich befindet. Ich stehe im eisigen Wasser eines Flusses. Die Kälte leckt an meinen Knöcheln, und ich will Wiebke zurufen, dass sie bleiben soll, wo sie ist. Sie darf sich keinesfalls bewegen, sonst geschieht ein Unglück, aber meine Stimme gehorcht mir nicht. Die Worte zerbröseln auf meiner Zunge zu Sand.

»Fang mich! Fang mich!« Wiebkes Stimme klingt jetzt verzerrt und gar nicht mehr nach meiner Schwester. Es ist die Stimme eines jungen Mannes, der mich anfleht, ihn aufzufangen. Seine Bitte rüttelt an mir, packt mich, ich weiß, dass ich ihm nicht helfen kann, doch ich will, ich will so gerne, und dann springt er und …

Ich reiße die Augen auf. Mein Herz pocht, mein Mund ist trocken von den Sandbröselworten.

»Señorita? Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Blaue Augen mustern mich fragend. Nur ein Traum, sage ich mir. Nur ein Traum. Trotzdem dauert es, ehe ich zur Besinnung komme. Ich schwitze wie verrückt, und noch immer fällt es mir schwer zu atmen.

»Ja, ähm, danke, alles in Ordnung.« Noch während ich spreche, wird mir bewusst, dass ich auf Deutsch geantwortet habe. Ich setze mich auf, räuspere mich, dann versuche ich es noch einmal auf Spanisch.

Diesmal lächelt mein Gegenüber. Der Typ, der zu den blauen Augen gehört, muss einer der Kiter sein, die ich vorhin beobachtet habe. Er trägt einen Neoprenanzug, den er bis zur Hüfte runtergezogen hat, seine Haare sind nass, und auf seinem braun gebrannten Oberkörper glitzern Wassertropfen. »Sorry, dass mein Hund dich einfach besabbert hat. Normalerweise bleibt sie ganz brav an ihrem Platz.« Er deutet zu einem Haufen Handtücher und Decken, vielleicht hundert Meter den Strand hinunter. Zum Schutz vor Wind und Sonne ist dort ein großes Segeltuch aufgespannt.

Erst jetzt bemerke ich den Hund, der den Kiter begleitet. Eine Promenadenmischung, mittelgroß, mit mittellangem mittelgrauem Fell. Der Fluss, den ich im Schlaf an meinen Knöcheln gespürt habe, war also Hundesabber. Wie appetitlich. Na ja, besser als der Fluss Styx aus meinem Traum, der mythologische Strom, der die Welt der Lebenden vom Reich der Toten trennt. Außerdem behauptet Jenny, Hundesabber halte die Welt zusammen.

Ich winke ab. »Kein Problem. Ich muss jetzt aber los.« Ich seufze. »Vielleicht komme ich diesmal auch endlich an mein Ziel. Du weißt nicht zufällig den Weg von hier zur Hacienda de los Caballos Blancos?« Ein Blick zur Pension verrät mir, dass ich nicht so lange geschlafen habe wie befürchtet. Die Tür dort ist immer noch verrammelt.

»Klar weiß ich das. Da wohnen die Brüder von einem meiner besten Freunde. Das ist nicht weit von hier, keine zwanzig Minuten mit dem Auto.«

»Ah, o… okay.« Ich kann mein Glück kaum fassen. Sollte ich wirklich so kurz vor meinem Ziel sein? »Moment, ich hole mir schnell was zu schreiben aus dem Auto, ja? Nicht dass ich mich schon wieder verfahre.« So schnell es mein immer noch etwas labiler Kreislauf zulässt, eile ich zum Seat und krame Stift und Papier aus meiner Handtasche hervor. Kurz darauf skizziert mein Retter mit wenigen Strichen den Weg von hier zur Hacienda auf das Blatt.

»Meinst du, ich kann da einfach so auftauchen?« Wenn ich schon jemanden an der Hand habe, der sich auszukennen scheint, kann ich ihn auch gleich noch ein wenig ausquetschen.

»Ach, bestimmt.« Kiter-Boy zuckt mit den Schultern. »Damián und Ramón sind echt okay. Als Kinder waren wir ständig oben auf der Hacienda. Ich meine, ich hab’s ja nicht so mit Pferden, aber die Mädels waren ganz verrückt danach, mal ausreiten zu dürfen. Und Damián hat sich für jede Zeit genommen.« Er zwinkert mir zu. »Wenn du weißt, was ich meine.«

Der Promenadenmischung scheint es langweilig zu werden. Ohne auf sein Herrchen zu achten, trottet der Hund zurück in Richtung des Handtuchlagers.

Der Kiter lacht. »Sieht aus, als müsste ich los. Bestell Damián und Ramón Grüße von mir, ja? Sie sollen sich mal melden. Und sie sollen Luis ausrichten, dass ich die Regatta verfolge. Echt krass, was er dieses Jahr wieder reißt! Ich drücke die Daumen für den World Cup!«

Ich blinzle ein paarmal. »Okay, und, ähm, von wem soll ich das ausrichten?«

»Santiago. Sie kennen mich. Luis und ich haben es seinen großen Brüdern oft nicht leicht gemacht.« Er lacht leise. Es ist offensichtlich, dass er in Erinnerungen schwelgt.

»Okay, Santiago. Danke für alles. Wünsch mir Glück, dass ich diesmal den Weg auch wirklich finde.« Ich nicke ihm zum Abschied zu. Kaum zu glauben, wie er von Damián Álvarez García spricht. Als wäre er einfach nur ein Kerl von nebenan, nicht ein internationaler Star. Und wie es scheint, hat sich die Tragödie, die Damián veranlasst hat, seine Tour abzubrechen, noch nicht in der Gegend herumgesprochen. Oder ist Jannis’ Tod für Damián gar keine große Sache? Möglich ist es. Schließlich hat der Pferdeflüsterer den jungen Mann nie kennengelernt.

»Bis dann.« Santiago tippt sich mit den Spitzen von Zeige- und Mittelfinger an die Stirn, dann wendet er sich ab und joggt seinem Hund hinterher.

Ich gebe mir einen Ruck. Nun gut. Anlauf número dos.

Tatsächlich ist es mit Santiagos Skizze viel einfacher, den Weg zu finden. Eine ganze Weile geht es parallel zum Strand die Straße entlang, vorbei an einstöckigen Häusern und niedrigen Gartenmauern. Ich passiere ein verblichenes Schild, das zu einem Campingplatz weist. An allen Häusern sind die Fensterläden geschlossen. Was mich erstaunt, ist das viele Grün. Palmen, Geranien und riesige Rhododendren säumen die Straße. Der Blütenstamm einer imposanten Kaktuspflanze ragt wie ein Baum in den Himmel.

Ich finde die Apotheke, die Santiago eingezeichnet hat, und biege dort ab, hinauf in die Hügel. Beschattet von dichtem Pinienwald, führt ein Schotterweg immer höher und höher. Nicht ein einziges Auto kommt mir entgegen, auch keine Wanderer oder Spaziergänger.

Je höher ich komme, desto lichter wird der Wald, bis er endet und weiten Grasflächen Platz macht. Und dann, kaum dass der Seat die Kuppe des Hügels erreicht, sehe ich sie vor mir. Die Hacienda.

Das Landgut erinnert an ein altes Kloster. Vier Flügel, die ein perfektes Viereck bilden. Zinnen, wie bei einer Burg, krönen die Mauern, denen auch die winzigen Fenster nichts von ihrer Trutzigkeit nehmen. Die weißen Wände strahlen in der Sonne so grell, dass ich die Sonnenblende hinunterklappen muss. Während ich mich dem großen hölzernen Portal nähere, erkenne ich immer mehr Details. Da ist die wundervolle tiefrote Bougainvillea, deren Blütenblätter vor dem Weiß der getünchten Mauern geradezu leuchten. Ein paar Zitronenbäumchen in ausladenden Terrakottakübeln neben dem Portal tragen Früchte. Rechts und links des gemauerten Torwerks zieren verspielte Laternen die Mauern, und etwas abseits im Garten glitzert es Blau zwischen den Schatten spendenden Aleppokiefern. Ein Pool, nehme ich an. Einen Sprung ins kühle Nass könnte ich jetzt gut gebrauchen. Trotz des Fahrtwindes, der durchs offene Fenster ins Wageninnere strömt, klebt meine Haut von Schweiß. Um das Haupthaus herum verteilt befinden sich einige weitere Gebäude, unter anderem Pferdeställe, nehme ich an. Das kleine Häuschen mit den roten ausgeblichenen Dachschindeln scheint eine Kapelle zu sein.

Ich wische mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Das mache ich immer, wenn ich nervös bin, und selten in meinem Leben war ich so nervös wie jetzt.

Nun, wenn ich hier geradewegs in die Hölle fahre, dann sieht die Hölle wenigstens schön aus. Andalusien wie aus dem Bilderbuch. Fehlt nur noch, dass im nächsten Moment ein vaquero in traditioneller Tracht erscheint. Ich habe Bilder gesehen von den andalusischen Cowboys mit ihren flachen Filzhüten, den Hosen mit hohem Bund, den farbenfrohen Westen und reich verzierten Lederschürzen. Doch was das angeht, enttäuscht mich meine Fantasie. Als ich den Wagen vor dem Portal parke, ist nicht nur kein Reiter zu sehen, der ganze Hof scheint im Tiefschlaf zu liegen. Nicht einmal Zikaden zirpen. Kein Rascheln in den Bäumen, kein Vogeltschilpen oder Pferdewiehern. Alles wirkt wie ausgestorben. Selbst die Luft steht. Angeblich ist das hier ein aktiver Reitstall. Wo sind bloß alle?

Kapitel 2

Linda

Das Holzportal ist so dick, dass es mein Klopfen fast komplett verschluckt. Meine Faust entlockt der Tür nur ein dumpfes Pockpock, Pockpock.

Ich lausche. Aus dem Inneren des Hauses erklingt kein Laut. Entweder habe ich mich wieder verfahren, oder irgendwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Überall stoße ich auf verschlossene Türen, am Strand genauso wie hier. Fast könnte man glauben, eine unsichtbare Macht hätte etwas dagegen, dass ich Damián aufsuche.

Ich bin kurz davor aufzugeben, als die Tür sich doch langsam öffnet. Zuerst erkenne ich nur einen Schatten. Eine Frau, glaube ich. Sie ist kleiner als ich, ganz in Schwarz gekleidet und trägt eine Schürze. Ihre dichten, ebenfalls schwarzen Haare hat sie in einem Knoten am Hinterkopf festgesteckt. Die leuchtend silbernen Strähnen im Haar sind es, die als Erstes meinen Blick einfangen.

Sie mustert mich skeptisch, einmal von oben bis unten. Ich kann mir vorstellen, wie ich aussehe. Die Haare strähnig am Kopf klebend, tiefe Ringe unter den Augen von Nächten ohne Schlaf, die Kleidung zerknittert von der Reise. Für den Flug hatte ich mich für eine flattrige bunte Stoffhose und dazu ein einfaches Spaghetti-Top entschieden. Bequemlichkeit war mir wichtiger als gutes Aussehen. Jetzt wünschte ich, ich hätte etwas Gediegeneres an.

»Hola?«, sagt sie in einem fragenden Ton.

Ich nehme die Sonnenbrille ab und lächle die Unbekannte an. »Hallo. Mein Name ist Linda Grünfelder. Ich bin auf der Suche nach Señor Álvarez García. Können Sie mir sagen, ob ich hier richtig bin?«

»Señor Álvarez García?« Sie reibt sich die Hände an ihrer Schürze ab. Ich höre Misstrauen in ihrer Stimme, aber auch Neugier. Das ist schon mal gar nicht so schlecht. »Davon haben wir zwei hier.«

»Ja, ähm, natürlich. Ich meine Damián Álvarez García. Ich habe …« Mein Blick wandert zu dem Mietwagen, wo im Koffer Jannis’ Brief darauf wartet, von Damián gelesen zu werden. »Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.«

»Soso.«

Vielleicht doch nicht so gut. Denn bei dem ominösen »Soso« bleibt es, mehr sagt sie nicht.

»Ist er nicht da?« Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen. Ich lasse meinen Blick schweifen. »Ich habe mich schon gefragt, ob ich hier richtig bin. Alles wirkt so ruhig.«

»Sie kommen zu einer ungewöhnlichen Zeit. Es ist Siesta.«

»Ach ja.« Ein nervöses Kichern entschlüpft mir. »Wissen Sie, ich komme aus Deutschland. Siesta, natürlich. Daran habe ich nicht gedacht.« Das erklärt auch, warum die Orte, durch die ich gekommen bin, wirkten wir Geisterdörfer. »Soll ich vielleicht später noch einmal wiederkommen? Wann, meinen Sie, wäre eine gute Zeit?«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie meinen Akzent auch zuvor schon einordnen konnte, aber als ich sage, woher ich komme, meine ich ein Aufblitzen in ihren Augen zu sehen.

»Ich weiß nicht, wo Damián ist«, erwidert sie. »Wenn ich Sie wäre, würde ich es in die Richtung probieren.« Mit dem Zeigefinger deutet sie auf einen Pfad, der vom Haus wegführt. »Gehen Sie an den Ställen vorbei und dann weiter zum Wald. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie es nicht bereuen werden, wenn Sie ihn finden.«

Oooookay? Und was soll mir das schon wieder sagen? Ich beschließe, dieser Frage nicht weiter auf den Grund zu gehen, bedanke mich bei der Frau und mache mich auf den Weg.

Ich habe es bis hierher geschafft, jetzt kann ich auch die letzten Schritte hinter mich bringen. Zumindest Jennys Befürchtung, gar nicht bis zu Damián vorzudringen, weil mich vorher der Sicherheitsdienst vom Hof wirft, scheint unbegründet.

Mein Mut sinkt, als ich immer weiter einen Fuß vor den anderen setze und von Damián weit und breit nichts zu sehen ist. Langsam beginne ich zu zweifeln, ob meine Spanischkenntnisse ausgereicht haben, um ihre Wegbeschreibung zu verstehen. So ist das mit Unsicherheiten. Ein Leck im Damm meines Selbstvertrauens genügt, und die Flut aus Zweifeln hat freie Bahn. Dinge, die ich mir bisher fraglos zugetraut habe, werden zu Stolpersteinen.

Die Luft ist schwer vom Geruch nach Sand und trockenen Piniennadeln, durchsetzt mit einer Würze, die ich nicht einordnen kann. Wilder Wacholder vielleicht oder Rosmarin.

Ich schnaufe und halte mir die Seite. Wäre ich mal besser ins Fitnessstudio gegangen, statt meine Freizeit vor allem in der Praxis zu verbringen. Meine fehlende Kondition ist geradezu peinlich. Vielleicht haben alle recht, und mein ganzes Vorhaben ist die reinste Schnapsidee. Auf einer rationalen Ebene ist mir durchaus bewusst, was mit mir geschieht. Mein Traum eben war ein deutlicher Hinweis. Jannis’ Tod hat alte Wunden aufgerissen, und ehe sich über denen nicht zumindest wieder eine Kruste gebildet hat, bin ich emotional angreifbar und verletzlich.

Auf einmal nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, und alle Zweifel lösen sich in Luft auf. Da ist ein weißes Blitzen im grün gefilterten Zwielicht des Pinienwaldes. Ich wende mich zur Seite, und tatsächlich. Wie durch einen natürlichen Tunnel führt der Weg unter zwei ausladenden Kiefern hindurch zu einem kreisrunden Sandplatz. Das weiße Blitzen, das ich gesehen habe, ist das Hemd eines Mannes.

Ich folge dem Weg weiter, fasziniert. Am Rand des Sandplatzes bleibe ich stehen. Atemlos vor Verwunderung.

Sie tanzen. Anders kann ich nicht beschreiben, was der Mann und das Pferd auf dem Platz machen. Kein Zügel, keine Longe, nichts verbindet Mensch und Tier. Zu dem weißen Baumwollhemd trägt der Trainer ausgewaschene Jeans und staubige Sneaker. Als einziges Hilfsmittel hält er eine lange Gerte in der Hand, die er jedoch kaum bewegt. Dennoch folgt der majestätische Hengst jedem Schritt seines Herrn. Das Fell des Pferdes glänzt wie fließende Seide, darunter spielen die Muskeln. Mal tänzelt es vorwärts, mal rückwärts. Mal springt es von einem Bein aufs andere und wiegt den Kopf dazu, als würde es tatsächlich tanzen. Die Ohren des Hengstes folgen jeder Regung des Mannes. Es ist, als würde der Pferdeführer zu seinem Tier sprechen, in einer Sprache, die nur sie beide verstehen. Immer wieder sucht der Hengst die Nähe seines Herrn, umkreist ihn, richtet sich nach ihm aus, senkt den Kopf vor seinem Meister. Da herrscht kein Zwang. Nur der Wunsch eines königlichen Tieres zu gefallen, weil sein Mensch ihn gelehrt hat, dass sein Vertrauen nicht missbraucht wird.

Noch nie habe ich etwas gesehen, was mich so tief berührt hat wie das stille Einverständnis zwischen diesen beiden. Ganz versunken bin ich in den Anblick dieses Schauspiels. Der Hengst muss etwas besonders gut gemacht haben, denn der Mann lacht leise und tätschelt ihm lobend den Hals.

Als er den Kopf dreht, bemerkt er mich. Das Lächeln verschwindet, seine Miene verfinstert sich. »Das ist Privatgrund«, herrscht er mich an. »Was wollen Sie hier?«

»Ich …« Ich schlucke. Vor mir, nur ein paar Meter entfernt, steht Damián Álvarez García, und er ist verdammt wütend. Solange er mit seinem Pferd gearbeitet hat, konnte ich nur vermuten, wer er ist, zu gefesselt war ich von dem Spiel zwischen Mensch und Tier. Jetzt sieht er mir direkt ins Gesicht, und ich erkenne Damián ohne jeden Zweifel. Er sieht anders aus als auf den wahrscheinlich retuschierten Fotos, die ich im Internet gesehen habe. Sein Kinn ist ein wenig zu breit und grob, um als klassisch-markant durchzugehen, in seinen Augenwinkeln verrät ein Netz aus Fältchen, dass er seine Zwanziger schon eine Weile hinter sich gelassen hat, und ich hätte ihn größer geschätzt. Ich selbst bin knapp eins siebzig, und er überragt mich nicht einmal um einen halben Kopf. Das alles macht ihn aber nicht weniger attraktiv. Ganz im Gegenteil. Es macht ihn menschlich. Mein Magen krampft sich vor Aufregung zusammen. Zum Teufel noch mal, Linda, du wolltest ihn unbedingt persönlich sprechen, um ihm Jannis’ Brief zu übergeben. Jetzt bist du hier, also fang endlich an, den Grund deines Kommens zu erklären.

»Señor Álvarez. Ich bin so froh, Sie gefunden zu haben. Mein Name ist Dr. Linda Grünfelder. Ich war die behandelnde Ärztin von Jannis Röm–«

»Verschwinden Sie!«

»Aber ich habe –«

»Verschwinden Sie, habe ich gesagt! Oder muss ich erst die Polizei holen?« Er tastet mit der Hand zur Gesäßtasche seiner Jeans, wahrscheinlich um ein Mobiltelefon zu zücken.

Ich stolpere einen Schritt rückwärts. »Hören Sie«, versuche ich es noch einmal, »ich bin den ganzen Weg gekommen, um –«

»Es ist mir scheißegal, woher sie kommen oder warum Sie hier auftauchen.« Seine Stimme vibriert vor unterdrücktem Zorn. Auch der Hengst muss seine Anspannung spüren, denn er beginnt zu tänzeln.

Beruhigend legt Damián dem Pferd eine Hand auf den Hals und flüstert ihm ein paar Worte zu. Für die Dauer eines Wimpernschlags sehe ich den anderen Damián. Den Mann hinter der Wut und abweisenden Kälte. Dann wendet er sich wieder mir zu, und der Moment ist vorbei. Er sieht mich an, als wäre ich eine Kakerlake, die er allzu gerne zertrampeln würde. »Gehen Sie!«, verlangt er noch einmal, und diesmal klingt es noch mehr wie eine Drohung als eine Aufforderung.

»O… okay«, stottere ich. Ich taumle einen weiteren Schritt rückwärts. Noch einen. Dann drehe ich mich um und renne davon.

Ich komme mir dumm vor. So schrecklich dumm. In keinem der Szenarien, die ich mir ausgemalt habe, habe ich damit gerechnet, dass Damián einen solchen Effekt auf mich haben könnte. Ja, er ist wütend. Und ja, er ist unfreundlich, aber ich habe ihn auch im Umgang mit seinem Pferd gesehen, und ich weiß einfach, dass sich unter all der Wut und Unfreundlichkeit ein Meer ungeweinter Tränen befindet. Ein Meer aus Tränen, das sich aus meinem Versagen speist.

Weil ich renne, bin ich nur wenig später wieder an meinem Wagen. Mir schmerzen die Seiten, mein Herz hämmert. Ich habe noch immer nichts getrunken, verdammt, und ich bin so schrecklich erschöpft. Wenn ich nicht bald Flüssigkeit bekomme, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis mich eine Migräne erfasst. Ich lass mich auf den Fahrersitz fallen, lege beide Hände auf das Lenkrad und stütze die Stirn auf die Fingerknöchel.

Einatmen. Ausatmen. Immer wieder und wieder. Darauf achten, nicht zu hyperventilieren. Im Rhythmus meines Atems kreisen vier Worte durch meinen Kopf. Es. Tut. Mir. Leid.

Ich nehme mir vor, im Stillen bis hundert zu zählen, dann muss ich mich zusammenreißen. Ich brauche etwas zu trinken und eine Unterkunft für die Nacht, gefolgt von einem Plan. Ich habe nicht meinen Job gekündigt und mich auf den Weg nach Spanien gemacht, um mich vom erstbesten Rückschlag aufhalten zu lassen. Damián verdient es zu erfahren, wer sein Sohn war. Und ich verdiene den Trost, den es mir geben wird, zu wissen, dass ich das Richtige getan habe. Ich muss diesen Brief übergeben und die Sache zu Ende bringen. Wenigstens das muss mir gelingen.

Langsam beginne ich zu zählen.

Ich bin bei zweiundneunzig angekommen und immer noch dabei, mich zu sammeln, als es an der Seitenscheibe klopft. Zuerst meine ich, dass es mein Herz ist, das ich pochen höre, aber dann klopft es noch einmal, und ich hebe langsam und ein wenig desorientiert den Kopf vom Lenkrad. Neben dem Auto steht ein Mann. Er muss sich bücken, um ins Fenster blicken zu können. Seine Haare sind heller als die von Damián und viel kürzer, seine Lippen ein wenig voller und die Nase schmaler, trotzdem meine ich eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen.

Ich seufze. »Schon gut, schon gut«, sage ich und hebe beide Hände in einer Geste, als wollte ich mich ergeben. »Ich fahre ja schon.« Offenbar hat Damián doch noch einen Aufpasser geschickt, um mich vom Hof zu jagen. Ich starte den Motor, aber der Typ macht keine Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen.

»Nein, Señorita, bitte, warten Sie.« Er lässt sein Handgelenk kreisen, so als wolle er mir bedeuten, das Fenster herunterzukurbeln.

Ich folge seiner Aufforderung.

Er atmet sichtbar aus. »Danke.« Noch einmal atmet er durch. »Ich bin Ramón. Ramón Álvarez García, Damiáns Bruder. Montserrat hat gesagt, Sie sind extra aus Deutschland gekommen, weil Sie etwas mit meinem Bruder zu besprechen haben?«

Ich nicke.

»Hören Sie, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, aber … kann es sein, dass Sie uns sagen können, was mit Damián passiert ist? Warum er die Tour abgebrochen hat? Wir machen uns große Sorgen um ihn.«

»Ich würde wirklich lieber mit Ihrem Bruder selbst sprechen.«

»Lassen Sie mich raten. Damián war nicht begeistert von dieser Idee?«

»So könnte man es sagen.« Ich lache bitter.

»Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Er kann ein ziemlicher Sturkopf sein.«

»Ja, das dachte ich mir.« Ich seufze. »Ramón, bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Ich bin Ärztin und muss mich an die Schweigepflicht halten. Aber können Sie Damián ausrichten, dass ich mich wirklich über ein paar Minuten seiner Zeit für ein Gespräch freuen würde? Ich glaube, es könnte gut für ihn sein.«

»Ich kann es versuchen.« In seinem Tonfall schwingt Zweifel mit. »Wo erreiche ich Sie, wenn sich die Lage hier verändert?«

Ein Laut blubbert aus meiner Kehle, halb unterdrücktes Lachen, halb verzweifeltes Stöhnen. Ich schlage mir eine Hand vor die Stirn und schüttle den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Ich bin nahe dran, die Fassung zu verlieren. Auf Ramón muss ich wirken wie eine Irre. »Ich hab noch kein Zimmer. Ich hab noch nicht mal was zu trinken, und überall, wo ich war, war Siesta, und ich konnte mir nicht mal eine verdammte Flasche Wasser besorgen, geschweige denn eine Unterkunft, und alle haben gesagt, ich solle sowieso nicht hierherkommen, aber ich musste es einfach tun. Ich musste …« Ich stocke. Ich habe nicht das Recht, mehr zu sagen, denn was ich zu sagen hätte, geht nur Damián und mich etwas an. Wenn er noch nicht einmal seinem Bruder von Jannis erzählt hat, hat das sicherlich einen Grund.

»Wissen Sie was?« Ramón scheint zu merken, wie es um mich steht. Er lächelt gutmütig. »Ich habe eine Idee. Als Erstes kommen Sie mal mit mir ins Haus. Ich kann ein paar Telefonate für Sie tätigen wegen einer Unterkunft, und bis wir eine gefunden haben, gibt Montserrat Ihnen was zu trinken und zu essen. Vielleicht wollen Sie sich auch ein bisschen frisch machen. Wir haben übrigens einen Pool. Sie sehen wirklich mitgenommen aus.«

Tatsächlich bin ich zu erschöpft, um mir auch nur im Entferntesten Gedanken darüber zu machen, dass mir mein Aussehen wahrscheinlich peinlich sein sollte.

»Danke«, sage ich und schalte den Motor aus. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« Ich kurble das Fenster wieder hoch, dann steige ich aus, und das erste Mal an diesem Tag habe ich das Gefühl, dass mein Abenteuer hier vielleicht, vielleicht doch noch ein gutes Ende findet.

Damián

Ébano und ich finden nicht mehr zurück in einen gemeinsamen Rhythmus. Pferde sind hochsensible Tiere. Sie reagieren auf die kleinsten Veränderungen in unserer Körpersprache, und all meinen Bemühungen zum Trotz kann ich nicht verbergen, wie sehr mich das Erscheinen dieser Ärztin aufgewühlt hat.