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Zurück ins Leben durch die Kraft der Liebe.
Luis und Nuria sind beste Freunde seit Kindertagen. Heute ist er einer der besten Kite-Surfer der Welt, sie eine gefragte Physiotherapeutin. So ist es auch Nuria, die sich um Luis kümmert, als ein tragischer Unfall seiner Karriere jäh ein Ende setzt und er desillusioniert auf die heimische Hacienda zurückkehrt. Nuria erkennt bald, dass er nicht mehr nur der verwöhnte Sunnyboy von früher ist. Und während Luis alles daransetzt, ihr bei der Suche nach der großen Liebe zu helfen, beginnt Nuria, ganz neue, unbekannte Gefühle für ihn zu spüren ...
Große Emotionen vor der traumhaften Kulisse Andalusiens - die EVERYTHING FOR YOU-Trilogie von Nora Welling:
Band 1: Alles, was ich für dich fühle
Band 2: Alles, was du für mich bist
Band 3: Alles, was du mir versprichst
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Luis und Nuria sind beste Freunde seit Kindertagen. Heute ist er einer der besten Kite-Surfer der Welt, sie eine gefragte Physiotherapeutin. So ist es auch Nuria, die sich um Luis kümmert, als ein tragischer Unfall seiner Karriere jäh ein Ende setzt und er desillusioniert auf die heimische Hacienda zurückkehrt. Nuria erkennt bald, dass er nicht mehr nur der verwöhnte Sunnyboy von früher ist. Und während Luis alles daransetzt, ihr bei der Suche nach der großen Liebe zu helfen, beginnt Nuria, ganz neue, unbekannte Gefühle für ihn zu spüren …
NORA WELLING
Alles,
was du
für michbist
Der Himmel ist da, wo die Freiheit ist. Wo Vögel fliegen und der Wind singt. Wo die Wolken ziehen und die Sonne uns wärmt. Wo Erde und Unendlichkeit ineinanderfließen. Die Leinen singen. Der Schirm bläht sich, plustert sich auf. Meine Muskeln brennen, die Augen tränen. So fühlt sich Leben an. Roh und schmerzhaft, schön und wild.
Das Board unter den Füßen zuckt und bockt. Die Wellen sind lebendig. Lebendiger vielleicht als Damiáns Pferde, die sich früher oder später immer seinem Willen beugen.
Die Wellen beugen sich niemandem. Ich kann sie nicht beherrschen. Ich kann sie nur nutzen. Mit ihnen tanzen und auf ihnen fliegen.
Ich will fliegen. Immer höher und höher. Wie Ikarus und Dädalus. Dem Himmel entgegen. Ohne Flügel, nur mit meinem Board und dem Kite.
Höher und höher, aber der Wind ist nicht richtig. Warnstufe Rot, haben die Veranstalter gesagt. Rot flackern auch die Fahnen am Strand. Sponsorenlogos, geprügelt von der Heftigkeit des Sturms.
Ich recke das Kinn, spanne die Muskeln an. Was kann der Sturm mir schon anhaben? Ich bin der Meister des Boards. Wind und Wellen sind meine Komplizen. Ich gewinne immer und überall. Medaillen und Pokale sind der Beweis. Der Himmel gehört mir.
Wind trägt Musik an mein Ohr. Zu laut. Zu nah. Das Rauschen der Wellen vermischt sich mit dem Rauschen des Pulses in meinen Ohren. Ich kann die Leinen nicht lösen. Die Welt unter mir ist zu klein. Zu weit weg, als hätte sie mir schon den Rücken gekehrt.
Wach auf, bete ich. Das ist ein Traum. Ein böser, böser Traum. Aber es ist auch Wirklichkeit. Eine Realität, die ich erlebe, Nacht für Nacht, weil sie nicht nur Traum ist, sondern auch Erinnerung.
Ich bekomme keine Luft, und ich weiß, wie es enden wird. Mit einem Sturz. Mit einem Fall. So ist das mit den Menschen, die fliegen wollen. Die so hoch steigen, dass die Sonne ihnen die Flügel verbrennt. Kein Meer wird nach mir benannt werden. Keine Mythen gesponnen. Ich bin nicht Dädalus oder Ikarus. Ich bin nur ein Junge aus der Nähe von Arcos, der den Wunsch hatte zu fliegen.
Ich falle und ich falle, und einen Moment lang wünsche ich mir, ich hätte mehr gemacht aus meinem Leben. Mehr gelebt. Anders gelebt. Mehr geliebt. Ich wäre öfter geschlendert statt immer nur gerannt. In der fürchterlichen Sekunde vor dem Aufprall, die sich anfühlt wie ein ganzes Erdzeitalter, wünsche ich, meine Füße wären mit dem Boden verwachsen gewesen, aus dem ich stamme. Ich wünsche mir, die Sehnsucht, fliegen zu können, wäre für immer eine Sehnsucht geblieben. Manche Wünsche sollten niemals Wirklichkeit werden.
Sie sagen, im Moment deines Todes siehst du dein Leben an dir vorbeiziehen. Die Mole kommt näher, der harte Asphalt. Vor meinem inneren Auge ist nur ein Wirbel aus bunten Bildern. Farben, Lichter, Gesichter, die zu schnell an mir vorbeiziehen. Frauen, Männer, Kinder, alle verschwommen. Leblose Masken, in einem Strudel aus Wellen und Gischt und Licht und dann … Nichts. Nur Schwärze. Und nichts. Das ist das Schlimmste.
Ich fahre aus dem Schlaf auf. Das tue ich immer an dieser Stelle des Traums. Ich habe mal gelesen, Menschen seien nicht in der Lage, von ihrem Tod zu träumen. Träume können nur Dinge verarbeiten, die in der Vorstellungskraft des Träumenden liegen. Wie es ist zu sterben, wirklich, unwiderruflich zu sterben, ist das letzte große Mysterium der Menschheit. Der letzte weiße Fleck auf der Landkarte des Lebens. In Zeitungsartikeln und Berichten haben mich irgendwelche Presseheinis als Abenteurer oder Pionier bezeichnet. Womöglich ist es kein Wunder, dass es mich drängt, auch diesen letzten unbekannten Ort zu erforschen. Im Laufschritt, natürlich. So wie ich alles immer im Laufschritt gemacht habe. Mein ganzes Leben lang.
Doch nicht einmal der Tod kann mir jetzt noch ein Trost sein. Ich kann mich nicht von einer Klippe stürzen, ich käme nicht dorthin.
Mein Herz rast, der Puls rauscht in meinen Ohren. Lauft!, schreie ich im Stillen meinen Beinen zu. Rennt! Springt!
Mondschein fällt durchs Fenster auf die weiße Bettdecke. Wie zwei Maulwurfshügel beulen meine Beine das Laken. Ich starre auf das Schattenspiel in den Deckenfalten. Jedes bisschen Willen, das ich aufbringen kann, lege ich in den Befehl an meine Beine, sich endlich zu bewegen.
Nichts passiert. Die Schatten bleiben exakt da, wo sie sind.
Ich lasse den Kopf zurück aufs Kissen fallen und schließe die Augen. Acht Monate ist der verdammte Unfall jetzt her. Acht Monate, in denen mir die Ärzte immer wieder versichert haben, dass es Hoffnung gibt. Nerven brauchen Zeit zum Heilen. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Diese Sportklinik gilt als eine der besten Rehaeinrichtungen Europas, und alles, was den angeblichen Halbgöttern in Weiß einfällt, ist, Geduld zu predigen und jeden Tag frische Blumen in mein Zimmer stellen zu lassen. Der ganze Raum riecht wie eine Blumenhandlung. Als ob der Anblick von Narzissen und Rosen irgendetwas ändern könnte.
Ich will weg von hier. Rennend, springend, laufend, liegend, egal. Hauptsache weg, und ich werde es möglich machen.
Ich stoße die Tür auf, und als Erstes fällt mir der Duft auf. Eine leichte Süße, die sich mit dem herben Geruch der Hacienda mischt. Normalerweise riecht es hier am Morgen nach Pferd, Staub und Erde. Ein wenig auch nach Waschmittel, weil Mamá stets die frühen Stunden nutzt, um Wäsche aufzuhängen. Sie sagt, nichts verleiht Baumwolle, Leinen und Jersey mehr Frische, als wenn Frühnebel vor dem Trocknen die Fasern durchtränkt. Wenn dann die Sonne aufgeht, versiegelt sie den Nebel im Stoff, und wann immer man die Nase in den Kragen eines Hemdes gräbt oder sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischt, riecht es nach dem Anbruch eines neuen Tages.
Noch bevor ich die Süße in der Luft einordnen kann, fegt ein Windstoß über den Weg, der von dem Verwalterhäuschen, in dem sich meine Wohnung befindet, zum Haupthaus führt. In ihm tanzen winzige, zarte Blüten. Hunderte, so scheint es. Vielleicht auch Tausende. Schneeweiß mit einem Schimmer Rosé in der Mitte. Eines der Blätter berührt mich an der Wange, zart wie der Kuss eines Schmetterlings. Nun weiß ich, was das ist, und bleibe stehen. Mandelblüten. Das süße Aroma inhalierend strecke ich die Arme aus und drehe mich um mich selbst. Ich tanze mit dem Farbenspiel des Frühlings, wirble mit dem Blütenschnee um die Wette. Ich liebe Mandelblüten. Sie sind meine Lieblingsblumen. Jedes Jahr im Februar oder März erzählen sie von einem neuen Anfang. Nichts zeigt deutlicher, dass wieder ein Jahr vergangen ist. Blühende Mandelbäume verwöhnen uns mit ihrem Duft und berauschen uns mit ihren Farben. Mandeln spielen eine wichtige Rolle in meiner Heimat. Es gibt süße und bittere. Aus den süßen werden Öle gemacht, Liköre und Marzipan. Die bitteren verwandeln sich mit Geschick und Wissen in Seifen, Cremes und Lotionen. Auch die Kosmetika, die ich für die Praxis herstelle, basieren auf Bittermandelkernen. Mehr noch als die steigenden Temperaturen, die länger werdenden Tage oder die dicken Bäuche der Mutterstuten auf dem Gut, die uns vor Augen führen, dass bald eine neue Generation staksiger Fohlen über die Weiden der Hacienda springen wird, erinnern die Mandelblüten in all ihrer Vergänglichkeit daran, dass das Leben immer weitergeht. Selten konnten wir Vorzeichen für eine rosige Zukunft mehr gebrauchen als in diesem Frühling.
Beschwingter als noch vor einer Minute setze ich meinen Weg zum Haupthaus fort. Ein Jahr ist zu Ende gegangen, das nächste hat begonnen. Es waren aufregende Monate, die hinter uns liegen. Mit vielen Hochs und Tiefs. Damián hat von seinem Sohn erfahren und ihn gleich wieder verloren. Ich habe in Linda, Damiáns großer Liebe, eine neue Freundin gefunden, und Ramón und Sofía haben sich getrennt. Bei diesem Gedanken verspüre ich einen Stich im Herzen. Augenblicklich fühle ich mich schlecht. Wenn zwei Menschen, die sich mehr als ein Jahrzehnt lang geliebt haben, einander verlieren, dann sollte das ein Grund für Mitgefühl sein, nicht für erwartungsvolle Hoffnung. Aber Ramón ist Ramón, und Sofía mit ihrem glänzenden Haar und den sinnlichen Kurven habe ich nie gemocht. Ich schiebe die Erinnerung beiseite und besinne mich zurück auf das Hochgefühl, das mir der Tanz der Mandelblüten beschert hat.
Wir haben nicht viele Mandelbäume im Garten. Umso mehr gleicht es einem Wunder, wenn der Wind die Blüten geradewegs zu mir weht, um mich den Tag mit einem Tanz über rosa Watteflaum beginnen zu lassen.
Mamá ist in der Küche.
»Hola.« Ich begrüße sie mit einem Kuss auf die Wange. »Brauchst du Hilfe?«
Die Pfleger und Bereiter frühstücken im Westflügel des Hauses. Diese Küche hier ist den Mitgliedern der Familie vorbehalten – sowie Mamá und mir. Aber das kommt daher, dass bei uns die Grenzen verschwimmen. Papá würde sich eher häuten lassen, als mit den Álvarez-Brüdern zu frühstücken. Er mag und respektiert Damián und Ramón, so ist das nicht. Er hat schon für den alten Padrón gearbeitet, und seine Söhne kennt er, seit sie in den Windeln lagen. Aber Grenzen sind wichtig für Papá. Nur wer seinen Platz in der Welt kennt, kann mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, sagt er mir immer. Und dann sieht er mich mit dieser Mischung aus Tadel und Mitleid an, und ich weiß genau, worauf er anspielt. Dass ich glücklicher wäre, wenn ich schon viel früher begriffen hätte, dass es ein »Die« und ein »Wir« gibt. Dass wir zwar zur Hacienda gehören, aber nicht zur Familie, und dass es mir guttun würde, mich öfter daran zu erinnern. Dann hätte ich auch nicht für die Ausbildung zur Reittherapeutin nach Israel und Frankreich gehen müssen.
Vielleicht hat er recht, vielleicht aber auch nicht. Ich glaube nicht, dass ich anders fühlen würde, wenn ich Ramón immer nur aus der Ferne beobachtet hätte, statt ihn auch berühren zu können. In freundschaftlicher Umarmung, in Trost und Freude und Spiel. Aber niemals mehr.
»Du bist spät dran.« Mamá wirft einen Blick auf die Uhr über der Arbeitsplatte. »Wenn du wirklich hättest helfen wollen, hättest du früher aufstehen müssen.« Sie droht mir mit dem Finger, aber lächelt dabei. »Wann kommt dein erster Patient?«
»Um Viertel nach neun.« Mir bleibt eine halbe Stunde Zeit. Genug für eine Tasse guten Kaffee und eine Schale Müsli. Ich setze mich auf meinen Stammplatz am Frühstückstisch, greife nach dem Müsliglas, fülle mir die Cerealien in die Schale und schütte Milch darauf. Mamá frühstückt zwar mit den Álvarez, aber sie setzt sich dafür nie an den Tisch. Das ist ihr Zugeständnis an Papás Regeln.
Aus einer der bereitgestellten Alukannen gieße ich mir Kaffee in einen Becher, dann fülle ich mit warmer Milch aus der anderen Kanne auf. »Haben Linda und Damián schon gefrühstückt?«
»Vor einer Stunde.« Nach Ramón frage ich nicht, und Mamá erwähnt ihn von sich aus nicht. Wir haben das alles tausendmal durch. Wenn ich nach Ramón fragen würde, würde sich mein Herz zusammenziehen und Hoffnung und Erwartung in meinem Bauch zu einem steinharten Knoten werden. Ich würde die Luft anhalten und gleichzeitig hoffen und fürchten, dass er noch nicht gefrühstückt hat und jeden Moment über die Schwelle in die Küche tritt, damit ich ein paar kostbare Augenblicke mit ihm teilen kann. Mamá würde mir den inneren Zwiespalt am Gesicht ansehen und selbst ganz traurig werden. Sie würde sich fragen, wo sie als Mutter versagt hat, dass ich geworden bin, wie ich bin. Vierundzwanzig Jahre alt, mit einem Körper, der so eckig und flach ist wie der von einem Kind, und mit einer unheilbaren Vernarrtheit geschlagen, die mich aus den Armen meiner Familie in die Ferne getrieben hat und mich davon abhält, jemals richtig zu leben. Mamá ist ebenso klein wie ich. Von ihr habe ich meine schwarzen Haare, das herzförmige Gesicht und die dunklen Augen geerbt. Aber alles, was an Mamá rund, weich und liebevoll ist, ist bei mir drahtig und kantig. Der größte Unterschied zwischen uns beiden ist jedoch, dass es Mamá leichtfällt, ihr Herz zu verschenken. Sie liebt jeden Menschen und jedes Tier ganz einfach und ohne Bedingung. Ihr Herz ist so groß, dass jeder darin einen Platz findet, und wenn jemand Neues zu unserer Gemeinschaft stößt, schwillt es einfach an, sodass auch der Neuankömmling sich sofort wohl in ihrer Nähe fühlt. Mamá war achtzehn Jahre alt, als sie Papá geheiratet hat und auf die Hacienda de los Caballos Blancos gekommen ist. Sie sind seit fast vierzig Jahren verheiratet, und wenn ihre Ehe auch nicht so leidenschaftlich ist wie die in lateinamerikanischen Seifenopern, so habe ich doch nie an ihrer Verbundenheit gezweifelt. So ein Leben haben meine Eltern sich auch für mich gewünscht, und zu wissen, dass ich sie in dieser Hinsicht enttäuscht habe, tut mir im Herzen weh.
»Die Mandelbäume hinterm Haus verlieren langsam ihre Blüten«, sage ich, um mich von den Gedanken an Ramón abzulenken.
Mamá hebt die Schultern und gießt sich selbst einen Kaffee ein. Mit der Hüfte an die Tischplatte gelehnt streicht sie mir den Pony aus dem Gesicht. »Als Kind wolltest du immer mit den Mandelblüten tanzen. Du hast dich gedreht und gedreht, bis dir ganz schwindlig wurde und du lachend auf den Boden geplumpst bist. Ich bin ein Glücksbärchi, hast du dann gesagt. Ich schwebe auf einer rosa Wolke.«
Hat Mamá mich vorhin durchs Fenster beobachtet? Das habe ich nun von der peinlichen Aktion. »Ich wollte ein Glücksbärchi sein, weil ich dann allen Kindern auf der Welt ihre Wünsche erfüllen könnte.«
»Und genau das bist du geworden.« Sie stupst mir mit der Zeigefingerspitze auf die Nase. »Ein Glücksbärchi für deine Patienten.«
Von einem Glücksbärchi bin ich ungefähr so weit entfernt wie eine Kreuzspinne von einem Pummeleinhorn. Erstens kann ich keine Wünsche wahr werden lassen – auch wenn Mamá das gerne anders sieht. Alles, was ich vermag, ist, meine Patienten auf ihrer Reise zu begleiten. Und zweitens ist nichts an mir weich und flauschig und niedlich.
Aber ich komme nicht mehr dazu, Mamá zu widersprechen. In der Tür steht nämlich plötzlich der Mann, auf den ich insgeheim gewartet, dessen Anwesenheit ich aber genauso gefürchtet habe.
»Neuigkeiten«, verkündet er und reibt sich dabei die Hände. »Fantastische Neuigkeiten! Luís kommt nach Hause!«
»Was?« Mein Löffel fällt in die Müslischale, Milch schwappt über den Rand und breitet sich auf der Platte aus.
Mamá stößt sich so schnell vom Tisch ab, dass ich fürchte, die ganze Schale kippt gleich um. Ich rette sie mit einem gezielten Griff beider Hände. Das gibt mir wenigstens noch ein paar Sekunden Schonfrist, ehe ich Ramón ins Gesicht schauen muss.
»Es stimmt wirklich!« Ich muss Ramón gar nicht ansehen, um zu wissen, dass er lächelt. Ich höre es an seiner Stimme. »Die Pflegeleitung aus der Rehaklinik hat angerufen. Luís hat heute in aller Frühe seine Entlassungspapiere unterschrieben. Er will endlich nach Hause kommen.«
Mamá stürzt auf Ramón zu. Sie muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um sein Gesicht mit den Händen zu umschließen und ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken. »Mi querido! Das sind wundervolle Nachrichten. Wann ist er hier?«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Ramón sich lächelnd aus Mamás Umarmung befreit und einen Schritt zurückmacht.
»Keine Ahnung, in ein paar Tagen? Ich habe nicht mit ihm selbst gesprochen. Er geht nicht ans Telefon.« Der letzte Satz kommt ihm als Seufzen über die Lippen. Dass Luís sich konsequent gegen unsere Bemühungen wehrt, mit ihm in Kontakt zu bleiben, ist einer der vielen Gründe, weshalb das vergangene Jahr so hart war. Alle auf der Hacienda verstehen, dass er Zeit braucht. Sein Unfall war eine Tragödie. Dass er Ramón von seinem Krankenbett verbannt hat, kaum dass er aus dem Koma erwacht war, hat niemanden überrascht. Aber wir alle waren davon ausgegangen, dass er sofort nach Hause kommen wird, sobald die Ärzte es für möglich halten.
Wir hätten uns nicht mehr täuschen können. Je weiter seine Regeneration voranschritt, desto seltener hat er sich bei seiner Familie gemeldet. Acht Monate sind seit dem Unfall vergangen, und sie konnte sich glücklich schätzen, wenn er alle zwei Wochen eine knappe Textnachricht an einen seiner Brüder geschickt hat. Das macht pro Monat je eine Nachricht für Ramón und für Damián. Und jetzt, von einem Tag auf den anderen, zieht es ihn zurück in den Schoß der Familie? Mein Hochgefühl von heute Morgen kommt mir in den Sinn. Die Ahnung, dass die Mandelblüten von einem Neubeginn künden. Nun, dass sich einiges hier ändern muss, wenn der verlorene Sohn auf die Hacienda zurückkehrt, ist jedenfalls klar.
Mich räuspernd wage ich einen ersten Blick in Ramóns Richtung. Er sieht genauso gut aus wie immer. Größer als die anderen Álvarez-Männer, mit breiteren Schultern und kräftigen Oberarmen. Nach der Trennung von Sofía hat er sich einen kurzen Vollbart wachsen lassen. Ich mag das. Es lässt ihn ein wenig verwegen und männlicher wirken. Aber seien wir mal ehrlich, Ramón Álvarez García könnte sich die Haare pink färben und einen Dalí-Moustache tragen, und ich fände ihn immer noch attraktiver als alle anderen Männer auf diesem Planeten. Was das angeht, bin ich ein hoffnungsloser Fall.
»Ich will ja hier nicht der Spielverderber sein.« Wie immer, wenn ich nervös bin, spiele ich mit der Zunge an meinem Lippenring herum. »Aber euch ist schon klar, dass Luís hier nicht einfach so reinspazieren kann?«
Mamá setzt zu einem Tadel an. Wahrscheinlich bin ich ihr mal wieder viel zu flapsig, aber ich stoppe sie mit einer Geste. »Ich meine das nicht böse. Es geht nicht darum, dass Luís momentan nirgendwo hingehen kann, aber habt ihr euch mal umgesehen? Er kann immer noch nicht laufen, richtig? Das heißt, er wird die meiste Zeit auf einen Rollstuhl angewiesen sein. Und dieses Haus ist alles andere als barrierefrei.«
»Ich hatte gehofft, er könnte mittlerweile auf Krücken gehen«, gibt Ramón zu.
»Und selbst wenn. Hast du eine Ahnung, wie anstrengend das Laufen mit Krücken ist? Ich hab ein Paar in der Praxis. Du kannst ja mal versuchen, es mit denen nur vom Westflügel bis hierher in die Küche zu schaffen. Geschweige denn bis hoch ins Dachgeschoss in Luís’ Wohnung.«
Ramón senkt bedröppelt das Gesicht. Zu seiner Verteidigung sei gesagt, dass er Tierarzt ist. Seine Patienten kommen nicht oft in die Verlegenheit, Treppen steigen zu müssen.
Mamá springt Ramón zu Hilfe. »Die Ärzte sagten, er wird wieder laufen können. Was weißt du denn? Vielleicht will er nach Hause kommen, um uns damit zu überraschen, wie gut es ihm wieder geht. Ist doch möglich, oder?«
»Möglich, ja.« Der Punkt geht an Mamá. Luís’ Textnachrichten sind stets so vage, dass keiner von uns weiß, wie es ihm wirklich geht. Seit er die Ärzte unwirsch daran erinnert hat, dass die Schweigepflicht auch für Krüppel gilt, die nach einem Unfall ein bisschen gaga im Kopf sind – seine Worte –, helfen selbst Lindas Connections nicht mehr, um an verlässliche Informationen über seinen Gesundheitszustand zu kommen.
»Aber höchst unwahrscheinlich«, spricht Ramón die Wahrheit aus, die ich zwischen meinen knirschenden Zähnen zu zermalmen versucht hatte. Dass Ramón intelligent, unsentimental und fokussiert ist, mag ich an ihm mindestens genauso gerne wie den Dreitagebart und die Lachfältchen um die Augen. Er lässt sich auf den Stuhl schräg gegenüber fallen und lächelt mir aufmunternd zu. Seine Hand greift nach meiner, und in dem kurzen Augenblick, als wir uns berühren, steht die Welt für mich still, und alles ist perfekt. Perfekter als der Tanz der Mandelblüten. Perfekter als ein Montagmorgen ohne Weckerklingeln oder ein kühler Wind an einem heißen Tag. Mehr brauche ich gar nicht. Seine Hand auf meiner, das ist alles, was ich mir wünsche. Es ist lächerlich und falsch und so sinnlos, als würde man versuchen, einen Stein auf einer Wolke abzulegen. Der Stein, das bin ich. Und ob ich will oder nicht, wenn Ramón mir so nah ist, dann falle ich. Ich falle und falle, und erst als er sich heiter räuspert, stoße ich mit Wucht auf den Boden, und der Fall ist vorbei.
»Erde an Nuria.« In seiner Stimme schwingt Belustigung. »Wo bist du denn schon wieder mit deinen Gedanken? Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe?«
»Nicht ganz«, gebe ich zu, entziehe ihm meine Hand und verschränke die Finger beider Hände unter der Tischplatte. Das ist sicherer.
»Ich sagte, wie froh wir sein können, dich zu haben. Sprich dich mit Damián ab. Was müssen wir am dringendsten für Luís anpassen, und was kann warten, bis er hier ist und wir definitiv wissen, was er braucht und was nicht.« Er steht auf. »Ich versuche in der Zwischenzeit herauszufinden, wann genau er überhaupt ankommt. Und wie.« Er lacht ein bisschen. »Wäre ja mal ganz was Neues, wenn ausgerechnet Luís es uns leicht machen würde. Aber du schaffst das schon, Nuria. Du bist die Beste!« Er beugt sich zu mir herunter, haucht mir einen Kuss auf die Schläfe und ist ebenso schnell aus der Küche verschwunden, wie er aufgetaucht ist.
Der Kuss war flüchtig und keusch und so brüderlich, wie es nur geht. Und ich hasse Ramón dafür, dass er es fertigbringt, mich auf diese Weise zu küssen, während ich gleichzeitig dahinschmelze, weil er mir sagt, wie sehr er mich schätzt. Kurz gesagt: Ich bin am Arsch.
Schon erstaunlich, was sich in über einem Jahrzehnt in einem Zimmer anhäufen kann. Damián war siebenundzwanzig Jahre alt, als der alte Padrón den Schlaganfall hatte und sein Erstgeborener die Leitung der Hacienda übernahm. Das ist jetzt knapp zwölf Jahre her, und seither ist aus dem Raum, den Damián als sein Büro bezeichnet, nur höchst sporadisch der Müll hinausgetragen worden.
Seit fünf Stunden ackern wir wie Maultiere. Wir schleppen, misten aus und sortieren. Alle helfen mit, sogar die Pfleger und Bereiter. Anders wäre diese Mammutaufgabe nicht innerhalb eines einzigen Tages zu bewältigen. Papá hat mit dem Traktor den Anhänger bis ans Haus geschafft, und jetzt heißt es wegwerfen. Sperrmüll in den Container, Altpapier auf den Anhänger. Am Abend wird es ein nettes kleines Lagerfeuer geben. Die alten Möbel werden gleich mitentsorgt. Nur den Schreibtisch will Damián behalten, wenn er das Büro vom Süd- in den Westflügel des Haupthauses verlegt. Wir haben lange hin und her überlegt, wie wir alles am besten umorganisieren, damit Luís möglichst mobil sein kann. Barrierefreiheit war bei der Erbauung von Herrenhäusern im fünfzehnten Jahrhundert nicht gerade ein Thema. Nur der Südflügel des Haupthauses ist halbwegs rollstuhltauglich. Señor Álvarez lebt dort mit seiner Krankenpflegerin im ersten Stock, und damit der alte Padrón am Leben auf dem Gut teilhaben kann, wurden die Schwellen in diesem Flügel bereits vor Jahren abgesenkt.
Linda steht auf einer umgestürzten Futterkiste am Rand des Geschehens, hält sich ein Klemmbrett vor den Bauch und lässt alle Anwesenden nach ihrer Pfeife tanzen.
»Die Lampe?« Ich hebe das uralte Teil, das bis gerade auf einem wackligen Couchtisch neben einem uralten Cordsofa stand, in ihre Richtung. Die Muskeln in meinen Armen brennen, und ich muss schreien, um die Hintergrundmusik zu übertönen. Gerade läuft Song 2 von Blur. Mit den lauten Gitarrenriffs und den vor Adrenalin strotzenden Lyrics mag das Lied zwar das richtige sein, um dem Staub einer ganzen Generation zu Leibe zu rücken, eine normale Unterhaltung fördert die Musik jedoch nicht unbedingt.
Mit zusammengekniffenen Augen mustert Linda das armselige Teil in meiner Hand.
»Sperrmüll«, dirigiert sie.
»Okay.« Mit der Lampe unterm Arm mache ich mich auf den Weg zum Container. Linda streicht irgendwas von ihrer Liste. Hinter mir schnaufen Ramón und Damián, die dabei sind, einen wuchtigen Schrank aus dem Haus zu bugsieren.
»Den auch zum Container!«, ruft Linda ihnen zu. »Das müsste das letzte große Möbelstück sein, richtig?«
»Yup.« Das kommt von Ramón.
»Prima! Dann können wir am Nachmittag alles durchputzen und morgen streichen. Die neuen Möbel werden Montag geliefert. Aber jetzt macht, bevor euch die Arme abfallen. Den Rest besprechen wir nachher.«
»Aye, aye, Ma’am.« Selbst wenn Damián seine Partnerin neckt, sickert seine Liebe für sie durch die Worte. Linda kichert und wirft ihm einen Luftkuss zu.
Ich schmeiße die Lampe in den Container und wische mir den Schweiß aus dem Nacken, während ich Ramón und Damián dabei beobachte, wie sie das Schrankmonster hochhieven und über die Kante in den Container kippen. Der Krach, mit dem das alte Möbelstück zerbirst, ist episch. Aus dem Hengststall ertönt ein aufgebrachtes Wiehern. Ein zweiter Hengst antwortet. Selbst die Pferde haben mittlerweile genug von unserer Ausräumaktion.
Im Schatten der Hausmauer lassen Damián und Ramón sich auf den Boden fallen.
»Gnade!«, winselt Ramón, während ich mich zu ihnen geselle. »Ich kann nicht mehr. Mir tut alles weh.«
»Wie? Ihr macht schlapp?« Mit ausgestreckten Armen lasse ich mich auf den Rücken fallen. Ich will es nicht zugeben, aber auch ich bin vollkommen fertig. »Das ist höchstens eine Pause. Die richtige Arbeit beginnt, wenn wir aus der staubigen Gruft ein Zimmer zum Gesundwerden machen.« Ich blinzle ein paarmal. Der Blick in den Himmel ist gigantisch. Keine Wolke weit und breit. Nur helles, perfektes Blau und Unendlichkeit. Nicht einmal ein Vogel kreuzt die Perfektion. In genau diesem Unendlichkeitsblau sollten wir die Zimmerdecke von Luís’ neuem Reich streichen. Bei diesem Anblick wird der Körper ganz leicht, fast schwerelos. Als würde es genügen, die Arme ein wenig zu bewegen, und man könnte abheben und alle Probleme der Welt hinter sich lassen. Ich glaube, das könnte Luís gefallen.
Damiáns Stimme holt mich zurück ins Hier und Jetzt. »Sei nicht so frech, Zwerg.« Er reißt einen Grashalm ab und kitzelt mich damit an der Nase. »Mag sein, dass du noch voller Energie bist. Aber trag du mal stundenlang Schränke und Sofas in der Gegend rum, dann sprechen wir uns wieder.«
Mich übertrieben räkelnd, stöhne ich. »Danke, aber danke nein. Ich bin nicht so der Typ fürs Grobe. Sofakissen und Lampenschirme sind mehr mein Ding. Ihr wisst schon.«
»Ich sag ja: Zwerg.« Aus den Augenwinkeln sehe ich Damiáns Zwinkern. Er meint es nicht böse, trotzdem ärgere ich mich.
Ich setze mich auf, mein Blick in den Himmel ist zerstört. Schließlich komme ich auf die Beine, sodass ich die beiden Männer überrage, und richte meinen Zeigefinger auf Damián. »Du, Señor, solltest aufpassen, was du sagst. Ich habe gute Verbindungen in die Küche. Die besten, um genau zu sein. Und ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Mamá heute womöglich ihre berühmte Limonade gemacht hat. Von der gebe ich nur Männern ab, die nett zu mir sind und mich nicht Zwerg nennen.«
»Limonade?« Er schlägt sich beide Hände an die Brust. »Du fährst hier ja wirklich schwere Geschütze auf. Lass es mich noch mal versuchen. Wie wäre es mit ›Oh, Liebste, kannst du mir verzeihen?‹« Er rollt sich auf die Seite, umgreift meine Waden und tut, als ob er meine Füße küssen wollte.
Ein energischer Schritt zurück entzieht mich seinem Griff. Noch im Weggehen höre ich die Brüder lachen.
»Nicht böse sein!«, ruft Damián mir nach.
»Du weißt, wir lieben dich!«, fügt Ramón hinzu.
Zwerg! Das Wort brennt sich wie Säure durch meine Gedanken. Um meine Wut irgendwo loszuwerden, ziehe ich an einem Blatt des Blauregens, der den Durchgang ins Atrium der Hacienda überwuchert. Natürlich gibt das blöde Ding zuerst nicht nach. Der Zweig beugt sich nach unten. Als das Blatt sich schließlich doch löst, schnellt der Zweig mir von unten voll gegen die Nase.
»Au! Verdammt!«
Fast gleichzeitig stehe ich in einem Regen aus Glyzinienblüten. Deshalb heißt das blöde Ding also Blauregen. Ich halte mir die schmerzende Nase. Zum Glück sind Damián und Ramón weit genug weg, sodass ich mir ihr Gelächter nicht weiter anhören muss.
Lindas Lachen hingegen dringt deutlich an mein Ohr. Sie ist mir zuvorgekommen und hat eine große Karaffe Limonade aus der Küche geholt. In der klaren Flüssigkeit schwimmen jede Menge Eiswürfel und Zitronenscheiben. Dazu würzt Mamá das Getränk mit Rosmarin, Gurkenscheiben und frischer Minze. Noch sind wir weit entfernt von der Hitze eines andalusischen Sommers, aber die Temperatur genügt, um winzige Kondenströpfchen an die Außenseite der Karaffe zu zaubern.
»Mach du dich nur auch über mich lustig«, grummle ich und setze mich zu Linda an den Gusseisentisch, auf dem auch ein Tablett mit Gläsern und einigen Servietten steht. Ich befeuchte eine der Servietten mit der Kondensflüssigkeit an der Karaffe und halte mir das feuchte Tuch unter die schmerzende Nase. »Freut mich, dass ich zu euer Belustigung beitragen kann. Aber das bin ich, richtig? Zwerg Nuria, immer für einen Lacher gut.«
Linda lässt sich von meinem Grummeln nicht die Laune verderben. »Wir lachen mit dir, nicht über dich«, lässt sie mich wissen. »Wir lieben dich von ganzem Herzen, Nuria, das musst du doch wissen. Du glaubst gar nicht, wie dankbar Damián ist, dass du vorgeschlagen hast, das alte Büro auszumisten. Das wurde mehr als Zeit, und seine Freude schlägt in Übermut um. Hättest du vor einem halben Jahr geglaubt, dass er überhaupt jemals so lachen würde?«
Die Wahrheit lautet: ja und nein. Früher, ganz früher, als Luís und ich die Nesthäkchen der Hacienda waren und die beiden älteren Brüder unsere Gegenspieler, war Damiáns Foppen an der Tagesordnung. Wenn ich an meine Kindheit denke, erinnere ich mich an Fangenspielen im Garten, aufgeschlagene Knie, Zöpfeziehen und Luís’ und mein Geheimversteck im Olivenhain. Doch die Zeiten ändern sich. Damián ist ernster geworden. Luís hat sich der World-Tour angeschlossen, und Ramón hat Sofía kennengelernt und wurde zum Vorzeige-Ehemann. Und auch wenn ein Teil von mir sich nach der Zeit zurücksehnt, in der die ganze Welt ein einziges Abenteuer war, wünscht sich ein mindestens gleich großer Teil, dass die Veränderungen in meinem Leben noch viel bedeutender wären. Meine Freunde von früher durften sich weiterentwickeln, wachsen, groß werden. Nur ich bleibe immer dieselbe. Nuria, das Nesthäkchen. Nuria, der Zwerg.
Das alles scheint mir zu kompliziert, um es Linda zu erklären, also belasse ich es bei einem vagen »Keine Ahnung«.
Linda stellt ihr eigenes Glas beiseite und mustert mich. »Jetzt mal Spaß beiseite«, sagt sie schließlich. »Du weißt wirklich, dass sie dich schätzen, oder? Ramón und Damián.«
»Sie lieben mich, aber sie nehmen mich nicht ernst! Für alle hier bin ich immer nur die Kleine. Das Kind. Sie sind stolz auf mich, wie man auf ein Baby stolz ist, das gerade die ersten Schritte gemacht hat. Es ist so unfair!« Wenn ich möchte, dass mich mein Umfeld ernst nimmt, wäre es wahrscheinlich hilfreich, nicht mit den Händen so heftig auf die Tischplatte zu schlagen, dass die Gläser klirren. Aber ich habe etwas zu sagen, und ich will, dass es ankommt! »Weißt du, ganz objektiv betrachtet bin ich eine echte Powerfrau.« An den Fingern zähle ich ab, woran ich das festmache. »Ich habe eine erstklassige Ausbildung. Ich habe bewiesen, dass ich in verschiedenen Kulturen und Ländern zurechtkomme. Ich spreche drei Sprachen, bin mit vierundzwanzig Jahren selbstständige Geschäftsfrau, und mein Unternehmen schreibt eineinhalb Jahre nach der Gründung schwarze Zahlen. Ich helfe Menschen. Jeden Tag. Und was sehen die, deren Meinung mir am wichtigsten ist?« Geschlagen werfe ich die Hände in die Höhe. »Nuria, den lustigen Zwerg. Nuria, die selbst bei dem Versuch, ein Blatt vom Blauregen zu zupfen, einen Clown aus sich macht. Was muss ich noch tun, damit mich hier jemand als die sieht, die ich bin? Ich bin eine Frau, zum Teufel noch mal. Ja, ich habe farbige Strähnen in den Haaren und Metall in Mund und Nase, das macht mich aber nicht zum Comedy Act der Hacienda!« Mir geht die Luft aus, und ich beiße mir auf die Unterlippe. Meine Worte hallen im Innenhof wider, dehnen sich aus und nehmen zu viel Platz ein. Ich wünschte, ich hätte all das für mich behalten. Solange ich für mich behalte, wie sehr ich mich jeden Tag bemühe, endlich bleibenden Eindruck zu hinterlassen, so lange müssen die anderen nicht wissen, wie viel Unsicherheit sich in Wahrheit hinter meiner stets gut gelaunten, selbstbewussten Fassade verbirgt.
Eine ganze Zeit lang schaut mich Linda aufmerksam an. Erst als sie sicher sein kann, dass ich mit meiner Tirade wirklich fertig bin, ergreift sie das Wort. »Du könntest es zum Beispiel damit versuchen, gar nichts Besonderes zu machen. Hör auf, dich zu bemühen. Sei du selbst und tu, wozu du Lust hast.«
Ich schnaube. »Ganz sicher. Als ob ich das noch nicht probiert hätte.«
Sie schiebt ein Glas in meine Richtung. »Jetzt nimm einen Schluck Limonade, das beruhigt.«
Ich leere das Glas in einem Zug. Die Kälte der Eiswürfel steigt mir in den Kopf, und für einen kurzen Augenblick löscht sie dort alle Gedanken aus. Das tut wirklich gut. Etwas an Lindas Rat bringt eine Saite in mir zum Schwingen. Sei du selbst. Das Problem ist: Es gibt zig Versionen von mir. Gerade habe ich sie aufgezählt. Tochter, Schwesterersatz, Physiotherapeutin, Unternehmerin, Kind, Freundin. Wie soll ich entscheiden, wer die echte Nuria ist? Und wenn ich sie gefunden habe, wer verspricht mir, dass die anderen diese Version von mir mögen?
Als ich das leere Limonadenglas zurück auf den Tisch stelle, spricht Linda weiter. »Weißt du, es ist nämlich so. Wenn du jemandem etwas vorspielen musst, damit er dich ernst nimmt, ist er sowieso nicht der Richtige. Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster und vermute, es liegt auch an Ramón, dass du so frustriert bist. Weil er mitmacht, wenn Damián dich aufzieht. Stimmt’s?«
Ich sauge mein Lippenpiercing in den Mund und nicke. Linda in die Augen zu sehen, bringe ich nicht fertig. Das alles ist viel zu beschämend.
Ich will ernst genommen werden? Dass ich nicht lache. Welche vernünftige Erwachsene hält seit über zehn Jahren an einer Fantasie fest und gibt das auch noch zu?
Doch Linda ist nicht der Typ, der sich über andere lustig macht. Ihre Stimme ist sachlich, als sie fortfährt, vollkommen neutral. »Wenn Ramón dich seit Jahren nicht auf eine Weise sieht, wie du es dir wünschst, wird er nicht damit anfangen, weil du dich für ihn verstellst.«
Ich setze zu einem Protest an, aber sie lässt mich nicht zum Zug kommen und spricht weiter. »Keine Angst, das hier wird keine Andere-Mütter-haben-auch-schöne-Söhne-Rede. Du brauchst mich gar nicht so anzuschauen.«
»Wie schaue ich dich denn an?«
»Als könntest du dir nur mit Mühe ein Augenverdrehen verkneifen, weil du das alles schon zig Mal gehört hast. Aber tu mir den Gefallen und gib mir eine Minute, okay?«
»Okay.«
»Wie Ramón dich sieht, wie irgendwer dich sieht, liegt nicht in deiner Hand. Und – ganz freiheraus – es geht dich im Grunde auch nichts an. Du möchtest nicht, dass er in dir immer nur das Nesthäkchen sieht? Akzeptiert.« Sie nickt und holt Luft. »Aber hast du dich schon einmal gefragt, wie er sich dabei fühlen mag, dich immer wieder zu enttäuschen? Meinst du, er würde sich das für sich aussuchen? Oder für dich? Denn dass er dich mag, als Quasi-Schwester und Freundin, daran besteht ja wohl kein Zweifel.«
In dieser Frau wohnt so viel Wärme, so viel Mitgefühl, dass ich am liebsten auf der Stelle mein Gesicht in den Händen vergraben und wie ein Schlosshund losheulen würde. Alle, wirklich alle auf der Hacienda wissen von meiner Vernarrtheit in Ramón. Doch niemand wagt es, offen mit mir darüber zu sprechen. Ich versuche, es von der guten Seite zu sehen, und gehe davon aus, dass sie mich schonen oder nicht in Verlegenheit bringen wollen. Das Ding ist nur, indem sie mich schonen, unterstellen sie mir Schwäche. Wieder einmal nehmen sie mich nicht ernst. Linda schont mich nicht. Sie nimmt mich ernst, und was sie sagt, tut weh. Hör auf, dich für ihn zu verbiegen. Wenn du das für ihn tun musst, ist er nicht der Richtige für dich. Hör auf, um seine Liebe zu kämpfen, denn wie bei jedem anderen Kampf kann es auch bei diesem nur Verlierer geben. Lass ihn gehen und sei du selbst, und dann, hoffentlich, kommt das Glück von ganz allein.
Ich wünschte, es wäre so einfach getan wie gesagt.
Was macht ein Krüppel, der auf Reisen gehen will? Er öffnet Google und schaut nach, wie’s geht.
Was auch ein bescheuerter Witz sein könnte, ist bitterer Ernst. Ehrlich. Da mache ich einen Riesenlärm in der Klinik, weil ich bitte jetzt sofort und auf der Stelle nach Hause entlassen werden möchte. Und kaum habe ich alle Formulare unterschrieben, fällt mir auf, dass ich absolut keine Ahnung habe, wie ich mein Vorhaben umsetzen soll. Natürlich, in dieser megateuren Luxuseinrichtung am Ufer des Genfer Sees, die mein Sponsor für die Reha hat springen lassen, haben sie mir beigebracht, wie ein sicherer Bett-Rollstuhl-Transfer auszusehen hat. Oder ein Rollstuhl-Stuhl-Transfer. Selbst einen Boden-Rollstuhl-Transfer bekomme ich mittlerweile ganz passabel hin. Darum geht es nicht. In der Theorie ist mir durchaus klar, wie ich von hier nach dort komme – auch als Krüppel. Ich muss von der Klinik zum Flughafen, vom Flughafen ins Flugzeug und von dort dann in ein Taxi, das mich zur Hacienda kutschiert.
So weit, so gut. Aber wer sagt mir, dass der Rollstuhl in das Taxi passt? Oder dass am Flughafen irgendwer bereitsteht, der mein Gepäck für mich schleppt? Wenn ich die Hände am Rollstuhl habe, kann ich nicht gleichzeitig einen Koffer und einen Rucksack tragen.
Natürlich könnte ich Damián anrufen und ihn bitten, dass er das alles für mich organisiert. Schon vor Monaten hat Ramón von der neuen Flamme unseres Bruders gefaselt, die angeblich eine eins a Organisatorin sei. Linda, so heißt sie, könne mit Sicherheit jeden noch so ausgefallenen Wunsch, den ich im Zusammenhang mit meiner Genesung habe, in Erfüllung gehen lassen. Als Ramón das gesagt hat, hätte ich ihm am liebsten den Telefonhörer ins Maul gestopft. Doch dazu war er zu weit weg. Also musste ich mich mit der zweitbesten Alternative begnügen und habe aufgelegt. Was hat Ramón für eine Ahnung von meinen Wünschen?
In meinem ganzen Leben hatte ich immer nur einen Traum, und der ist mir genommen worden. Da kann Damiáns Flamme eine noch so heiße Braut sein, die Nerven in meinem Rücken gesund zaubern kann sie nicht. An einem anderen Wunder habe ich kein Interesse. Und weil Ramón und Damián das nicht kapiert haben, bitte ich sie ganz sicher nicht um Hilfe. Wenn ich ihnen die Gelegenheit gebe, mir zu helfen, werden sie sich besser fühlen, und das Problem ist: Ich will nicht, dass sie sich besser fühlen, ich will mich selbst besser fühlen. Das macht mich womöglich zu einem egoistischen Arschloch, aber es ist nun mal die Wahrheit. Dass ich ein besonders netter Mensch sei, habe ich schließlich nie behauptet.
Dummerweise löst das nicht das Problem meiner Reisevorbereitungen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und im Browser des Laptops eine Suchmaschine zu öffnen. Mein erster Impuls ist, Reisen mit Behinderung in das Suchfeld einzugeben, aber ich stoppe mich, indem ich die Hände so fest zu Fäusten balle, dass die Gelenke knacken. Ich bin nicht behindert. Punkt. Die ganze Scheißwelt ist es, die mich behindert. Mit ihren Bordsteinen und Treppen und zu steilen Rampen. Mit ihrer verdammten scheiß Schwerkraft. Die Schwerkraft ist sowieso das Allerschlimmste. Die ist an allem schuld. Ohne die Schwerkraft wäre ich nie von dem Death Loop auf die Erde geknallt. Ohne die Schwerkraft hätte ich meine Arme ausstrecken können und wäre losgeflogen. Genau so, wie ich es mir als Kind gewünscht habe.
Aber gut. Träume sind Schäume, und hier geht es nicht ums Fliegen, sondern ums Reisen. Ich hole tief Luft und tippe Reisen mit Rollstuhl.
Keine Sekunde nach dem Drücken der Return-Taste spuckt Google sage und schreibe 6470000 Resultate aus. Coole Sache, sollte man meinen, wenn nicht schon der erste genauere Blick auf die Ergebnisse offenbaren würde, dass sich scheinbar alle Verfasser dieser sechseinhalb Millionen Einträge in einem einig sind: Als Rollstuhlfahrer ohne Hilfe zu reisen ist keine gute Idee.
Zahlreiche Reiseveranstalter nutzen das aus und bieten spezielle Services für Menschen mit Handicap an. Betroffene haben auf Blogs Listen zusammengestellt, was man beachten sollte. Holen Sie sich Hilfe, steht da. Organisieren Sie Ihren Trip nur über einen spezialisierten Veranstalter. Sprechen Sie sich mit Freunden und Familienmitgliedern ab. Nehmen Sie sich Zeit für die Planung. Überstürzen Sie nichts. Schonen Sie Ihre Kräfte, und schätzen Sie Ihre Fähigkeiten richtig ein.
Je mehr ich lese, desto wütender werde ich. Meine Laune ist schon dann nicht gerade rosig, wenn ich einen guten Moment habe, und das hier ist ein scheiß Moment. Kapieren die es nicht? Ich will mir keine Hilfe holen! Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich von zu Hause ausgezogen bin. Seither habe ich alles allein gemacht! Ich habe die verdammte Welt allein erobert, und jetzt soll ich mir für so etwas Profanes wie einen Trip vom Genfer See nach Andalusien die Hilfe von Experten holen? Ich pfeife auf Experten!
Mit genug Wucht, dass ich kurz Angst um das Gerät habe, klappe ich den Laptop zu und pfeffere ihn auf den Nachttisch. Nicht einmal auf Google ist mehr Verlass!
Die nächsten drei Stunden verbringe ich damit, in meiner Wut zu schmoren. Ich schreie die Verwaltungsmitarbeiterin an, die in mein Zimmer kommt und wissen will, ab wann das Bett denn nun frei sein wird. Als das nicht hilft, mache ich dasselbe mit der Psychologin, die in mein Zimmer schwirrt, um mir zu versichern, dass ich jedes Recht auf meine Wut habe und natürlich so lange bleiben kann, wie ich brauche, um mir darüber klar zu werden, wie es weitergehen soll.
Als auch dieser Zornausbruch keine Lösung bringt und die Gesamtsituation am Abend immer noch genauso beschissen aussieht wie am Morgen, beginne ich mich ernsthaft mit der Frage zu beschäftigen, wer mir helfen könnte.
Bei einem meiner Brüder zu Kreuze zu kriechen ist immer noch keine Option. Wenn ich bei einer Reise schon Betreuung brauche, als wäre ich ein allein reisendes Kind, wäre mir jemand, der mich nicht kennt, am liebsten.
Ich mache einen neuen Anlauf mit Google und gehe eine Liste mit Spezialreiseveranstaltern durch. Bei den ersten paar Telefonnummern rufe ich an. Schon bald wird klar, dass ich auch dort nicht weiterkomme. Reisen mit Behinderung und Spontaneität schließen sich offensichtlich mehr oder weniger aus.
Was jetzt? Lustlos scrolle ich durch mein Handyadressbuch. Da wären mein Manager Aaron, mein Trainer, Teamkollegen, irgendwelche Frauen, die ich nur unter den Namen Babe1, Babe2 und so weiter eingespeichert habe.
Dann bleibt mein Blick an einem Namen hängen, und in meiner Brust spüre ich etwas, das ich schon lange nicht mehr empfunden habe. Das Gefühl ist mir so fremd geworden, dass ich es nicht einmal benennen kann, doch das ist nicht schlimm. Alles, was sich nicht anfühlt wie Wut oder Ohnmacht, ist mir dieser Tage eine willkommene Abwechslung. Ehe ich es mir anders überlegen kann, tippe ich mit dem Daumen auf den kleinen grünen Telefonhörer auf dem Display. Die Verbindung baut sich auf. Nach dem vierten Klingeln meldet sich eine Frauenstimme.
»Hola?«
»Ähm, ich …« Plötzlich komme ich mir ziemlich bescheuert vor. Es muss Jahre her sein, seit ich zum letzten Mal diese Nummer gewählt habe. Das alles ist eine totale Schnapsidee.
»Luís, bist du das?« Ihre Stimme überschlägt sich fast.
»Ja, ich … Nuria?«
»Wer denn sonst?« Sie lacht in den Hörer, und jeder Zweifel, ob das ihre Stimme am anderen Ende der Leitung ist, zerstiebt.
»Warte, ich sag den anderen …«
»Nein!«, unterbreche ich sie. Und dann, weil ich zu laut und zu heftig gesprochen habe, schiebe ich schnell ein »Bitte« hinterher. »Sag niemandem, dass ich dran bin. Kann ich mit dir sprechen? Nur mit dir?«
»Okay?« Sie spricht das Wort wie eine Frage, aber ich vertraue ihr. »Gib mir ein paar Minuten.« Dann, lauter und nicht direkt in den Hörer, sagt sie: »Für das Gespräch brauche ich Ruhe. Ein Patient. Wartet mit dem Essen nicht auf mich, ja? Ich kann mir später was aus der Küche holen.«
Im Hintergrund vernehme ich Stimmen, dann Schritte und schließlich das Klappen einer Tür. Die Gesprächspause nutzend sehe ich auf dem Display nach, wie spät es ist. Kurz nach einundzwanzig Uhr. Um diese Zeit sitzt die ganze Hacienda gemeinsam beim Abendessen. Ich hätte mir keinen schlechteren Zeitpunkt für den Anruf aussuchen können.
Noch einmal klappt eine Tür, dann räuspert Nuria sich und spricht direkt in den Hörer. »So, jetzt bin ich in Sicherheit. Willst du mir erst mal sagen, was die ganze Heimlichtuerei soll? Dir ist schon klar, dass alle da draußen mindestens zwei Gliedmaßen opfern würden, um mit dir zu sprechen? Die Klinik hat angerufen und gesagt, dass du nach Hause kommen willst. Wir überschlagen uns hier alle, um dir einen königlichen Empfang zu bereiten. Nur von dir hört man nichts.«
»Ihre Gliedmaßen sollen sie lieber behalten. Ist scheiße ohne. Glaub mir, davon kann ich ein Lied singen.«
Nuria lässt sich von meinem Gemaule nicht beeindrucken. »Also, jetzt sag schon: Was ist los? Was soll das Theater, Luís? Wo steckst du eigentlich im Moment?«
Dass Nuria nicht um den heißen Brei herumredet, habe ich schon immer an ihr gemocht. Zehn von zehn Menschen, die ich seit meinem Unfall getroffen habe, hätten nach meinem Kommentar über verlorene Gliedmaßen den Schwanz eingezogen und sich für ihr fehlendes Taktgefühl entschuldigt. Nicht so Nuria. Für sie war Takt schon immer etwas, wonach man tanzen sollte, sonst nichts. Nur deshalb gelingt es mir, auf den Grund meines Anrufs zu kommen, ohne mir dabei die Zunge abzubeißen.
»Ich kann nicht einfach aus der Klinik marschieren und nach Hause kommen. Ich hab versucht, alles alleine zu organisieren, aber das ist gar nicht so leicht.« Ich hole tief Luft. Der nächste Satz wird der schwierigste werden. »Kannst du mir helfen? Anrufe machen, recherchieren, wo ich bei den beiden Flughäfen Hilfe beantragen kann, jemanden organisieren, der mich und den Rollstuhl abholt und nach Hause bringt. Du weißt schon, dieses ganze Krüppel-Zeug eben.«
»Klar«, antwortet sie, als wäre nichts weiter dabei. Als würde sie es jeden Tag erleben, dass der beste Freund aus Kindertagen sich nach Jahren der Funkstille bei ihr meldet, um Hilfe zu erbetteln.
»Einfach so?«
Sie lacht leise. »Wie kompliziert möchtest du es denn haben? Ich arbeite jeden Tag mit Menschen, die in irgendeiner Weise körperlich eingeschränkt sind. Hast du das vergessen?«
Habe ich, aber selbst ich bin nicht blöd genug, das offen zuzugeben. Stattdessen gebe ich ein Grunzen von mir, das alles Mögliche heißen kann.
»Du hast es vergessen!«
Ich höre ihr Kopfschütteln förmlich. Wenn sie ihr Hilfsangebot jetzt zurücknimmt, hab ich das einzig mir selbst zuzuschreiben. Doch stattdessen kichert sie, als hätte ich einen irre guten Witz gemacht. Luís Álvarez García, der Spaßvogel. Dinge gibt’s, die gibt es gar nicht.
»Ich fass es nicht. Und so was nennt sich bester Freund! Aber ausnahmsweise will ich dir verzeihen. Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?« Ich sollte auflegen. Seit ich so was wie ein medizinisches Wunder bin, weiß ich, wie diese Dinge laufen. Wenn du am Arsch bist, traut sich niemand, dir offen ins Gesicht zu sagen, dass du am Arsch bist. Stattdessen kleiden sie die Wahrheit in Watte und tun, als ob du ein Held wärst, nur weil du zum ersten Mal seit Wochen in eine Flasche gepinkelt hast, statt die Arbeit von einem Katheter erledigen zu lassen. Sie feuern dich an, als wärst du einer dieser Irren, die mit Langlaufskiern durch irgendeine verschneite Landschaft hetzen. Immer im Kreis, ohne je ein echtes Ziel zu erreichen. Sie sagen so Sachen wie: noch einmal für mich. Oder: Komm schon, Luís, du schaffst das.
Ich kann gar nicht sagen, wie wenig Bock ich auf dieses Geschwätz habe. Mein Leben früher war leicht. Ein Tanz auf Wellen und Wind. Jetzt ist alles nur grau und ätzend, und niemand, wirklich niemand, kann mir so wichtig sein, als dass ich das vergessen würde, und schon gar nicht für sie oder ihn.
»Du bist so ein Idiot, Álvarez! Was denkst du denn, was das für eine Bedingung sein soll? Erzähl mir was von dir. Erzähl mir, wie es dir geht, was du so treibst. Habt ihr Schnee, da oben in Sibirien? Immerhin habe ich deinetwegen das Familienessen sausen lassen. Ich finde, das Mindeste, was du deiner besten Freundin für alle Zeiten dafür schuldig bist, ist ein bisschen Small Talk.«
Beste Freunde für alle Zeiten. Es stimmt, so haben Nuria und ich uns früher genannt. Wenn man Kind ist, ist für alle Zeiten ein endlicher Begriff. Damals schien die Ewigkeit genauso greifbar wie das nächste Wochenende oder der Beginn der Fohlensaison. Doch dann kam das Leben dazwischen. Mit all seinen Neuanfängen und Finish Lines, und wir haben begriffen, dass für immer und alle Zeit viel zu lange ist, um sich das versprechen zu können. Trotzdem regt sich bei Nurias Worten etwas in mir. Womöglich ist unsere Freundschaft gar nicht gestorben, erstickt durch Zeit und Entfernung. Womöglich macht nämlich genau das eine echte Freundschaft aus. Dass man sich entfernen kann, ohne einander zu verlieren. Dass man immer wieder anknüpfen kann, als wäre nichts geschehen. Auch dann, wenn in Wahrheit alles geschehen ist und nichts mehr ist, wie es einmal war oder wie es sein sollte.
Im Stillen schimpfe ich mich einen sentimentalen Idioten, doch die Erinnerung an früher hat das Eis gebrochen, und ich beginne zu erzählen. Ich berichte von der Rehaklinik mit den glänzenden Marmorfliesen und den grauenhaften Blumenarrangements, die überall herumstehen. Ich schimpfe über die Scheinheiligkeit des Ganzen. Egal, wie sehr alle sich bemühen, es hier aussehen zu lassen wie in einem Luxushotel, die Klinik ist und bleibt eine Klinik. Ich maule, dass ich mittlerweile aussehe wie diese tanzende Zigarettenschachtel, die es früher im Fernsehen gab, mit spindeldürren Beinen und einem Oberkörper, als würde ich eine zweite Karriere als Bodybuilder in Betracht ziehen. Ich erzähle von Uschi, meiner Physiotherapeutin, und Loris, dem Rollstuhltrainer, dessen Haut so dunkel ist, dass man ihn bei Nacht kaum erkennen würde, der aber mit einem so ausgeprägten schweizerischen Akzent spricht, dass am Telefon niemals jemand auf die Idee käme, eine Person of Color in der Leitung zu haben. In der Klinik hat das schon für so manche amüsante Verwechslung gesorgt, und Nuria lacht lauthals, als ich ein paar Anekdoten zum Besten gebe.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es fast Mitternacht. Wir haben über zwei Stunden telefoniert, und ich merke, wie allmählich die Müdigkeit an mir zerrt. Es ist ziemlich anstrengend, ein Krüppel zu sein, und dass sie mich mit Medikamenten vollpumpen, hilft nicht gerade. Ich versuche, ein Gähnen zu unterdrücken, aber es hilft nichts. Nuria bekommt es mit.
»Es ist spät«, bemerkt sie.
»Hm.« Ich will nicht aufhören, mit ihr zu sprechen. Sobald dieses Telefonat vorbei ist, wird auch die Leichtigkeit unseres Gesprächs verfliegen und mit ihr die Vertrautheit zweier Menschen, die sich seit frühester Kindheit kennen. Sobald dieses Telefonat vorbei ist, bin ich wieder nur der gefallene Held und sie ein Mädchen, das ich mal kannte.
»Ich melde mich wieder, wenn ich Ansprechpartner für dich habe. Versprichst du mir, dass du ans Handy gehst?«
»Nuria?«
»Ja?«
»Ich gehe ans Handy. Versprochen. Aber …« Ich stocke. Ihr weiches Atmen fliegt durch die Leitung und ermutigt mich, weiterzusprechen. »Erzähl Damián und Ramón nichts von unserem Gespräch, ja? Bitte. Ich will nicht …« Mir gehen endgültig die Worte aus. Selbst vor Nuria bringe ich es nicht fertig, meine Hilflosigkeit laut einzugestehen.
»Du willst vor deinen Brüdern nicht schwach aussehen. Das ist okay.«
Darauf weiß ich nichts zu sagen.
»Es ist in Ordnung, Luís. Ich mach alles, wie du es willst. Dafür sind Freunde da. Beste Freunde für alle Zeiten und so.«
»Beste Freunde für alle Zeiten«, bestätige ich, und dann beenden wir das Telefonat. Trotz meiner Müdigkeit dauert es lange, bis ich einschlafen kann. Die ganze Zeit über höre ich Nurias Lachen in meinem Ohr und die Art, wie sie beste Freunde für alle Zeiten gesagt hat.
Womöglich ist es wirklich eine gute Idee, nach Hause zu fahren.
Sonne fällt durch einen Spalt in den Fensterläden und taucht meinen Unterschenkel in warmes Gold. Ich muss mir im Schlaf das Laken von den Beinen gestrampelt haben. Jetzt umarmt mich der Stoff nur noch in der Mitte meines Körpers. Wie unsichtbare Arme umfängt er meine Taille, streichelt meine Brust. Ohne die Augen zu öffnen, räkle ich mich und gönne mir den Augenblick luxuriöser Selbstvergessenheit. Selten genug gewinne ich das Rennen gegen den Wecker und bin vor dem Klingeln wach. Die Tage auf der Hacienda beginnen zeitig. Oft so früh, dass noch nicht einmal die Sonne über die Hügelkuppen gestiegen ist, um den Nebel aus den Senken zu vertreiben. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich zum letzten Mal einfach so im warmen Licht gelegen habe. Ohne Hetze, ohne Grübeleien im Kopf, die …
Ich stocke mitten in meinen Gedanken. Es gibt einen Grund, warum ich länger schlafen kann als sonst. Heute ist der Tag!
Ich springe aus dem Bett, plötzlich hellwach. Alles ist geplant. Tomeo, der Freund unserer Pferdepflegerin Pilar, wird mich um kurz nach zehn hier abholen. Zwar landet Luís’ Flieger erst um siebzehn Uhr dreißig, aber ich möchte vor Ort in Sevilla sichergehen, dass alles organisiert ist und Luís zügig auschecken kann, sobald er angekommen ist. Den Álvarez-Brüdern und auch Mamá habe ich erzählt, dass Tomeo mich zu meiner Patientin Alba fährt, die mich zur Unterstützung bei einem Ausflug braucht. Niemand hat die Geschichte angezweifelt. Tomeo ist ein bekanntes Gesicht auf der Hacienda. Seit Alba zweimal die Woche zur Reittherapie kommt, ist er ihr Fahrer. Ihm gehört ein Taxiunternehmen, das sich auf Krankenfahrten spezialisiert hat. Damit war er genau der richtige Ansprechpartner für mich.
Ein bisschen plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich weder Damián noch Ramón in Luís’ Reisevorbereitungen eingeweiht habe. Aber versprochen ist versprochen, und bis zuletzt hat sich Luís nicht davon abbringen lassen, dass seine Ankunft eine Überraschung werden soll. Die Vorstellung, wie alle Spalier stehen und ihn dabei beobachten, wie er sich abmüht, halbwegs elegant vom Transporter in den Rollstuhl zu kommen, war ihm ein Graus.
Die gute Nachricht ist: Auch ohne den Druck eines konkreten Ankunftstermins ist das neue Zimmer für Luís fertig geworden. Mittlerweile argwöhne ich, dass die Aussicht auf seine Rückkehr nur ein Vorwand war, um das alte Büro endlich zu entrümpeln. Damián und Linda haben geschuftet wie Ackerpferde, um mit mir aus dem verliesartigen Raum ein einladendes Zimmer zu machen.
Um im Haupthaus zu frühstücken, bin ich zu aufgeregt. Also begnüge ich mich mit einer Tasse Kaffee in meiner eigenen Küche und stopfe mir ein paar Packungen Gebäck in den Rucksack. Polvorón heißt die köstliche Süßigkeit aus Schweineschmalz, Mehl, Zucker, Milch und Mandeln, die niemand so gut backt wie Mamá. Die Kekse zergehen auf der Zunge und essen sich so leicht wie Luft. Danach bleiben eine samtige Süße und der Geschmack von Mandeln am Gaumen zurück und verzaubern für Stunden selbst den grauesten Tag. Genau das richtige Willkommensgeschenk für einen grantigen Ex-Profisportler, der nach einer anstrengenden Reise mit Sicherheit etwas Aufmunterung braucht.
Als ich aus dem Haus trete, taucht auch schon Tomeos Transporter auf der Zufahrt zum Haupthaus auf. Vom Wegrand aus winke ich ihm zu. Nachdem er angehalten hat, macht Tomeo Anstalten auszusteigen, aber ich komme ihm zuvor.
Ich hüpfe zur Beifahrertür, öffne sie und klettere auf die Bank neben dem Fahrer. »Hola! Cool, dass du gekommen bist und mir hilfst.«
»Mache ich doch gerne. Trotzdem interessiert mich, was die ganze Geheimniskrämerei soll. Pilar hat ziemlich dumm geguckt, als ich ihr gesagt habe, ich sei heute Morgen zwar auf der Hacienda, aber wir könnten uns nicht sehen. Wenn sie jetzt denkt, ich habe eine andere, schiebe ich das dir in die Schuhe. Das ist dir doch klar, oder?«
»Perdón.«
Sein Zwinkern zeigt, dass er nicht wirklich Angst um sein Liebesglück mit Damiáns Pferdepflegerin hat. In drei Zügen wendet er den Van, dann geht es abwärts. Bis zu dem gusseisernen Tor, das die Grenze der Ländereien der Hacienda de los Caballos Blancos markiert, ist die Zufahrtsstraße ordentlich gepflastert und relativ staubfrei. Über dem Turm der winzigen Kapelle, die zur Hacienda gehört, klettert die Sonne ihrem höchsten Punkt entgegen, der Himmel ist von einem tiefen Blau, das nicht von einer einzigen Wolke gestört wird. An den Mauern des Haupthauses und der meisten Nebengebäude hat Mamá Hängetöpfe und Blumenampeln angebracht, in denen nun Geranien blühen. Außer Rand und Band überwuchern sie die alten Gemäuer mit leuchtend pinkfarbenen Blüten und üppigem Grün. Alle Farben, das Grün der Bäume, das Gelb des Sandes auf dem Reitplatz, das Weiß der Mauern und das Rot der Dächer, wirken wie direkt von der Palette eines Künstlers aufgetragen. Die Blätter der Lorbeerhecke glänzen wächsern, wie lackiert. Seufzend lehne ich mich im Sitz zurück. Wo, wenn nicht an diesem Ort voller Leben, kann Luís wieder gesund werden?
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