Aftershocks - Nadia Owusu - E-Book

Aftershocks E-Book

Nadia Owusu

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Beschreibung

Tansania, Äthiopien, Italien, Uganda, England. Durch die ständig wechselnden Arbeitsorte ihres Vaters, eines ghanaischen Beamten der Vereinten Nationen, wächst Nadia auf verschiedenen Kontinenten auf. Jeder neue Ort bedeutet für sie: eine neue Sprache, ein neues Zuhause und neue Fragen nach ihrer Identität. Als Nadia zwei Jahre alt ist, kehrt ihre Mutter der Familie den Rücken, ihr Vater stirbt, als sie 13 ist. Von da an leben Nadia und ihre Schwester bei ihrer Stiefmutter, zu der sie ein schwieriges Verhältnis haben. Auf sich allein gestellt, von den Spuren familiärer Traumata und einem unbeständigen Leben gezeichnet, zieht Nadia als junge Frau nach New York. Sie fühlt sich heimatlos, elternlos und verängstigt, als sie schließlich damit beginnt, die Bruchstücke ihrer Identität zusammenzufügen. Nadia Owusu erzählt in ihren bewegenden Erinnerungen von ihrer Kindheit, den jungen Erwachsenenjahren und ihrer Familiengeschichte, in die die Folgen von Krieg, Genozid und Kolonialismus tief eingeschrieben sind. Damit sind ihre bewegenden und unglaublich aktuellen Memoiren ein nuanciertes Porträt der Globalisierung aus der Innenperspektive in einer zerrissenen Welt.

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Über dieses Buch

Nadia Owusu hat auf verschiedenen Kontinenten und in vielen Ländern gelebt. Sie erzählt in ihren bewegenden Erinnerungen von ihrer Kindheit, den jungen Er wachsenenjahren und ihrer Familiengeschichte, in die die Folgen von Krieg, Genozid und Kolonialismus tief eingeschrieben sind.

Aftershocks ist eine persönliche Geschichte hinter den Nachrichten über Einwanderung und Spaltung, die die aktuelle Politik beherrschen. Damit sind die bewegenden und unglaublich aktuellen Memoiren ein nuanciertes Porträt der Globalisierung in einer zerrissenen Welt.

Über die Autorin

Nadia Owusu, geboren 1981, ist eine ghanaisch-armenisch-amerikanische Schriftstellerin und Stadtplanerin, die in Brooklyn lebt. Ihr Buch Aftershocks wurde unter anderem von Barack Obama, dem Time Magazine, der Vogue und dem Guardian zu einem der besten Bücher des Jahres 2021 gewählt. Außerdem erschienen Texte von ihr in der New York Times, dem Guardian und dem Wall Street Journal.

Über die Übersetzerin

Lisa Kögeböhn, geboren 1984 in Norddeutschland, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und Strasbourg. Seit 2010 übersetzt sie Romane und Sachbücher aus dem Englischen, darunter Autor*innen wie Kevin Kwan, Megan Nolan und Coco Mellors. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzer fonds und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Vorwort der Übersetzerin/Inhaltswarnung

Ein politisch sensibler Umgang mit Sprache verfolgt das Ziel, so diskriminierungsfrei wie möglich zu formulieren. Beim Übersetzen wird genau das oft zur Gratwanderung, zur größtmöglichen Annäherung. Denn als Übersetzerin bin ich nicht nur den deutschen Lesenden, sondern zugleich auch und in erster Linie der Autorin und dem Originaltext verpflichtet, den ich wiedergeben muss, ohne ihn umzuschreiben, ohne Form über Inhalt, ohne sprachliche über historische Korrektheit zu stellen. Nadia Owusu lotet in Aftershocks die große Frage nach ihrer Identität aus, eine Frage, die für sie untrennbar mit Trauma, Trauer und psychischen Ausnahmezuständen verbunden ist. Sie hat sich dafür entschieden, dieses Trauma roh und ungeschönt in Worte zu gießen. Aus diesem Grund habe ich mich an einigen Stellen dafür entschieden, rassistische Beschimpfungen in der deutschen Übersetzung mit der gleichen Härte wiederzugeben wie im Original. Nach Rücksprache mit der diskriminierungskritischen Lektorin möchte ich diese jedoch zumindest teilweise durch Sternchen verdecken. An dieser Stelle sei also eine inhaltliche Warnung ausgesprochen.

Lisa Kögeböhn

Für wahnsinnige und wütende Schwarze Frauen auf der ganzen Welt und für meinen Vater, Osei Owusu

Ich bin die Geschichte meiner Ablehnung.

June Jordan

»Name?«

»Fela.«

»Nur Fela?«

»Ja, nur Fela.«

»Adresse?«

»Mein Haus.«

»Wo?«

»Na hier, in Surulere, Mann!«

Fela Kuti und ein Beamter bei seiner Festnahme

Inhalt

Anmerkung der Autorin

Erstes Beben

Neuansiedlungsmeldeformular

Vorbeben

Unliebsames Wiedersehen

Sehnsucht

Der blaue Schaukelstuhl

Der blaue Schaukelstuhl

Tag null

Topografie

Nabel

Foto

Koloniale Mentalität

Bluttrauma

Der blaue Schaukelstuhl

Tag eins

Tag zwei

Verwerfungen

Die Hitze in Daressalam

Auf der anderen Seite der Mauer

Afrikanische Mädchen

Hauptbeben

Kleine Reibereien

Wächterinnen

Die Totenklage

Heimweh

Verwerfungen

Sprachliche Schwachstellen

Stimmen aus der Verwerfungszone

Queen

Der blaue Schaukelstuhl

Tag drei

Tag vier

Nachbeben

Waise

Panik

Babyfieber

Hauptbeben

Werkzeuge

Amerikanischer Terror

Eine schwere Bürde

Der blaue Schaukelstuhl

Tag fünf

Tag sechs

Tag sieben

Terraforming

Gott ist tot, lang lebe Gott

Mütterlicher Rat

Zwischenräume

Trankopfer

Zuhause

Danksagung

Anmerkung der Autorin

Eine Anmerkung zu Wahrheit und Zeit

Beim Schreiben strebe ich nach Wahrheit, aber mein Gedächtnis wird gelegentlich von meiner Fantasie übermannt. Meine Mitmenschen haben die gleichen Vorkommnisse anders in der Erinnerung. Ich kann nur meine Version erzählen. Das heißt nicht, dass ich den anderen nicht glaube.

Namen wurden verändert. Zeit verläuft für mich nicht linear. Beim Schreiben kam es mir eher auf den Sinn als auf die Ordnung an. Ich habe einige Grenzen zwischen Menschen und Orten verwischt.

Erstes Beben

Rom, Italien, 7 Jahre

Das Haar meiner Mutter ist lang, glatt und schwarz. Es weht ihr im Wind hinterher. Sie geht wieder. Sie ist ein Phantomschiff im Mondschein, das aufs pechschwarze Wasser hinaustreibt, hin zu dem Ort, an dem Himmel und Meer aufeinandertreffen, wo sich die Erde krümmt, um dort zu verschwinden, und dieser Moment ist so flüchtig, so ätherisch, dass ich mich beim Anblick ihres wehenden Haars bereits frage, ob sie überhaupt je da gewesen ist. Ich stehe in der Tür, doch sie dreht sich nicht zu mir um. Ich bin sieben Jahre alt, eingepackt in einen rosa Pullover und einen Daunenmantel, die Pudelmütze tief in die Stirn gezogen. Meine weißen Söckchen sind feucht und schmuddelig vom Regen, der in meine schwarzen Stoffschuhe dringt, die ich bei Wind und Wetter trage. Ich will sie rufen, doch ich habe Angst, dass sie sich nicht nach mir umdreht. Oder schlimmer, sich umdreht, aber trotzdem nicht für mich entscheidet. Sie steigt auf der Beifahrer*innenseite des blauen Fiats ein, den ihr Mann sich von einem Bekannten ausgeliehen hat. Sie sind nur einen Tag in Rom, auf der Durchreise nach Massachusetts. Sie haben Urlaub in Venedig gemacht.

Am Morgen, bevor meine Mutter ohne Vorwarnung oder Verlautbarung auftauchte, wachte ich vom Rauschen des Regens auf. Draußen war es dunkel, so dunkel, dass ich erst dachte, es sei noch mitten in der Nacht, bis ich Pancakes roch. Samstagmorgens macht mein Vater immer Pancakes.

Während ich frühstückte, die Nase tief in einer abgegriffenen Ausgabe von Little Women, war mein Vater sichtlich nervös. Er wippte mit dem Fuß, sah auf die Uhr, schob seine Brille hoch. Ich fragte mich, was ihm Sorgen bereitete, und hoffte, es würde nicht dazu führen, dass er das ganze Wochenende am Schreibtisch sitzen müsste. Er war gerade erst von einem Arbeitseinsatz in Dhaka zurück. Ich wollte ihn für mich haben. Im Radio, das wie immer neben dem Toaster auf der Küchenarbeitsplatte stand und mit seiner krummen Antenne irgendwie BBC World empfing, kamen Nachrichten über ein schlimmes Erdbeben in Armenien. Zehntausende Menschen waren ums Leben gekommen, Hunderttausende hatten ihr Zuhause und sämtliches Hab und Gut verloren. Eine Stadt namens Spitak war komplett zerstört worden. Die Frau im Radio sagte, eine neue Stadt müsse auf den Ruinen errichtet werden. Das sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow bat die Welt um Hilfe. Ich bestrich meinen Pancake mit Butter und streute Zucker darüber.

»Wohnt Mamas Familie nicht in Armenien?«

Mein Vater zuckte zusammen, dann sah er mich durch seine Glasbausteinbrillengläser mit großen Augen an.

»Nein«, sagte er. »Ihre Familie stammt aus Armenien, lebte aber in der Türkei. Inzwischen sind sie alle in Amerika.«

Für gewöhnlich vermieden wir es, über meine Mutter zu sprechen, aber die BBC hatte gesagt, es sei ein Notfall. Im Notfall gelten andere Regeln.

Ich bin zur Hälfte armenisch, war mir jedoch nicht sicher, ob das Erdbeben etwas mit mir zu tun hatte. Mein ghanaischer Vater, meine Stiefmutter Anabel, meine Schwester Yasmeen und ich wohnten in Italien. Ich hatte gerade zum ersten Mal vom Kaukasus gehört, denn eine Bruchstelle im Gebirge hatte das Beben verursacht. Ich fragte meinen Vater, was ein Nachbeben sei. Er sagte, das seien kleinere Erschütterungen, die auf ein Erdbeben folgen. Eine verspätete Reaktion der Erde auf Stress.

Es klingelte, als ich zum Zähneputzen nach oben gehen wollte. Yasmeen, die gerade in die Küche getapst kam und sich noch die Augen rieb, war schlagartig wach und rannte hinter mir her zur Tür. Wir hofften, unsere Freunde von nebenan seien zum Spielen gekommen.

Unsere Mutter stand mit zwei roten Luftballons und zitternden Händen auf der Veranda. Ich starrte sie an. Als ich meine Stimme wiederfand, rief ich meinen Vater. Wir hatten meine Mutter seit drei Jahren nicht gesehen, zuletzt, als ich vier war. Mein Vater nickte zur Begrüßung und schickte Yasmeen und mich zum Anziehen ins Haus. Als wir die Treppe wieder hinunterkamen, standen meine Eltern noch immer im Flur. Sie schwiegen sich an. Meine Mutter hatte die Hände in den Taschen vergraben. Die roten Ballons hatte sie losgelassen, sie schwebten unter der Decke. Meine Mutter ließ den Kopf hängen. Mein Vater stand breitbeinig und mit gestrafften Schultern da.

»Eure Mutter macht einen Ausflug mit euch.« Er nahm unsere dicken Jacken aus dem Schrank. Ich konnte ihn auf der anderen Seite der Haustür spüren, als er sie hinter uns schloss, als wolle er uns damit sagen, dass er da sein würde, wenn wir wiederkämen, genau so, wie wir ihn zurückgelassen hatten.

Der Mann meiner Mutter fuhr schweigend, während meine Mutter losplapperte. Unsere Halbschwestern würden uns unbedingt sehen wollen. Nächstes Mal würden sie sie mitbringen. Venedig sei einfach zauberhaft. Sie könne kaum glauben, dass es so einen Ort wirklich gab. Unsere Großeltern hätten uns einen Drachen in Form eines Fischs gekauft. Unser Vater könne uns dann im Frühjahr zeigen, wie man ihn steigen lässt.

Trotz Nieselregens setzte uns der Mann meiner Mutter an der Piazza Navona ab. Ein Künstler machte eine lustige Zeichnung von uns Dreien, mit ausgebeulten Köpfen und erschrockenen Blicken. Wir aßen in einem Café – Spaghetti al pomodoro. Wir bestellten alle extraviel Parmesan. Meine Mutter fragte nach der Schule und sagte, unser Haus gefalle ihr, dabei hatte sie doch bloß unseren Flur gesehen. Ich fragte sie nach dem Erdbeben. Sie hatte noch nichts davon mitbekommen.

»Irgendwann reisen wir alle zusammen nach Armenien«, sagte sie. Es klang halb wie eine Frage, halb wie eine Feststellung, deshalb antwortete ich »Ja«, obwohl ich ihr nicht glaubte.

Als wir das Restaurant verließen, kam ein Jongleur auf uns zu und grinste. Er schien kaum die Hände zu bewegen, doch seine Keulen in Blau, Gelb und Rot kreisten hoch über seinem Kopf. Er fing zwei mit der einen und die dritte mit der anderen Hand auf und verbeugte sich tief. Meine Mutter klatschte. Yasmeen und ich, Fremden gegenüber immer scheu, studierten die Risse in den Pflastersteinen. Meine Mutter drückte dem Jongleur ein paar goldene und silberne Tausend-Lire-Münzen in die Hand. Auch Yasmeen und ich bekamen je eine, um sie in die Fontana dei Quattro Fiumi zu werfen. Ich sagte meiner Mutter, was mein Vater mir über den Brunnen erzählt hat – dass die vier Figuren darin die Götter von vier Flüssen auf vier Kontinenten darstellen: Nil, Ganges, Donau und Río de la Plata. Über den Göttern erhebt sich ein Obelisk mit einer Taube an der Spitze. Der Obelisk steht für die katholische Kirche. Die Flussgötter sind mächtig, verneigen sich jedoch vor dem Vatikan.

»Der Brunnen ist ein Symbol des Kolonialismus«, flüsterte ich, ein Echo meines Vaters, der mit mir spricht wie mit einer Erwachsenen. Kolonialismus ist, so habe ich es verstanden, wenn weiße Menschen Schwarzen Menschen und People of Color das Land stehlen, wenn sie sie schlagen und töten, wenn sie sie versklaven und unterwerfen. Mein Vater, das weiß ich, wurde im letzten Jahr unter Kolonialherrschaft in der damaligen Goldküste geboren. Er sagt, in der Geburtsstunde Ghanas geboren worden zu sein, war der Grundstein für sein Glück, unser Glück. Es gefiel mir, dass meine Mutter lachte und mich ein schlaues Kind nannte. Als ich meine Münze ins Wasser warf, kniff ich die Augen zu und lauschte, wie sich das Lachen meiner Mutter unter das Rauschen des Wassers mischte. Dieses Geräusch war der Wunsch, den ich nicht in Worte zu fassen wagte, weil Worte missverstanden werden können.

Jetzt beobachte ich meine Mutter dabei, wie sie in den blauen Fiat steigt. Ihr Mann startet den Motor. Um sie noch deutlicher zu sehen, blinzele ich. Sie lehnt den Kopf ans Seitenfenster, und ich stelle mir vor, oder hoffe vielleicht sogar, dass sie weint. Das Auto fährt los und wird von der Nacht verschluckt. Ich schnuppere nach Abgas oder Parfüm, nach irgendeinem Überrest der Gegenwart meiner Mutter. Doch ich rieche nur nassen Kalkstein und Knoblauch. Meine Stiefmutter Anabel macht Abendessen. Die Piazza Navona scheint auf einmal weit entfernt. Wir wohnen in EUR, einem Stadtviertel, dessen Name das Akronym von Esposizione Universale di Roma ist – einer Weltausstellung, die aufgrund des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nie stattgefunden hat. EUR wurde von Mussolini erbaut, um das zwanzigjährige Jubiläum des faschistischen Italiens zu feiern und die Stadt Richtung Meer zu erweitern. Anders als der Rest von Rom ist EUR ein ordentliches Viertel. Alle Gebäude sind stabil, blütenweiß und rechtwinklig angeordnet. Normalerweise vermittelt mir seine Einförmigkeit ein Gefühl von Sicherheit, doch jetzt kommt es mir ungastlich und seelenlos vor.

Irgendwo im Haus kreischt meine Schwester. Sie will nicht in die Wanne. Der Grund für ihre Wut ist ein völlig anderer, das ist mir klar. Mit einem tiefen Atemzug nehme ich die allerletzten Partikel meiner Mutter auf, die noch in der Luft hängen, und schließe die Tür hinter mir.

Im Flur ziehe ich die Schuhe aus. Die Kälte des Marmorbodens dringt durch meine dünnen Söckchen. Über mir flackert die Glühbirne, die mein Vater schon seit Ewigkeiten austauschen will, von hell zu dunkel und wieder zu hell. Zwischen Daumen und Zeigefinger klemmt das Polaroid, das mein Vater vor ein paar Minuten von meiner Mutter, Yasmeen und mir gemacht hat. Wir haben alle drei die Augen zu.

Als ich später zu meinem Vater und Anabel ins Schlafzimmer gehen will, um Gute Nacht zu sagen, höre ich, wie mein Vater seinem Ärger Luft macht.

»Sie hält es wohl nicht für nötig, Zeit mit ihren Töchtern zu verbringen«, sagt er. »Ein paar Stunden, mehr kriegt sie nicht hin? Das ist genau der Grund, wieso ich ihnen gar nicht erst sagen wollte, dass sie kommt. Sie wird sich niemals ändern.« Beim Abendessen hat er viel Rotwein getrunken, und seine Stimme ist lauter als sonst. Sie übertönt das Gluckern der Heizung und die beinahe menschlich anmutenden Töne der streunenden Katzen, die tagsüber unter den Tischen der Trattorias um Reste betteln und nachts in der Kanalisation Mäuse jagen.

Ich klopfe an die angelehnte Tür und betrete das Zimmer, bemühe mich, langsam zu gehen, statt meinem Vater in die Arme zu rennen. Meine Unterlippe zittert, und ich schiebe sie nach vorn, um nicht loszuweinen, als mein Vater mich in den Arm nimmt. Ich lege den Kopf auf seine Schulter und schmiege das Gesicht an seinen Hals, der nach Seife duftet. Jeden Abend hält er mich so im Arm, bis wir beide im selben Rhythmus schwingen. Unser Herzschlag ist eins, er gehört mir und ich gehöre ihm. Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und erinnert mich daran, etwas Schönes zu träumen, erinnert mich daran, dass morgen der ganze Tag nur uns gehört. Wir können zusammen lesen und abends Highlife-Musik hören und im Schlafanzug tanzen, wenn ich Lust habe. Damit will er mich trösten, das weiß ich. Er will mich vergessen machen, dass meine Mutter da war.

In der Woche darauf nehme ich die Karikatur von der Piazza Navona und das Polaroid von meiner Mutter, Yasmeen und mir mit zum Erzählkreis in der Schule. Meinem Vater sage ich nichts davon.

Ich gehe auf die International School in der Via Cassia. Ich habe Mitschüler*innen von überall auf der Welt, aber außer mir gibt es nur ein weiteres Schwarzes Kind. Sarah Brennan, ein englisches Mädchen mit grünen Augen, will wissen, warum meine Mutter und ich unterschiedliche Hautfarben haben. Da ist keine Bosheit in ihrer Stimme, nur Neugier, und trotzdem schäme ich mich. Ich kann nur sagen, dass ich es nicht weiß. Als ich an meinen Platz zurückgehe, glüht mein Gesicht.

Beim Mittagessen setzt sich meine Lehrerin Miss Rossi neben mich und fragt, ob es schön mit meiner Mutter war. Ich nicke und mir steigen Tränen in die Augen. Sie nimmt mich an die Hand, führt mich auf die Toilette und hilft mir, mein Gesicht zu waschen. Sie fragt mich, was los ist. Wie erkläre ich ihr bloß das Beben, das einen Spalt verursacht, bis sich ein gewaltiger Riss auftut, der ganze Leben und ganze Städte in ihren Grundfesten erschüttert und Trümmer, Vertreibung und Exil nach sich zieht? Wie erkläre ich ihr, dass ein Tag, der mit Pancakes zum Frühstück beginnt, in einer Katastrophe enden kann, dass von einem Moment auf den anderen ein Erdbeben oder eine Mutter kommen kann und alles verändert? Wie erkläre ich ihr, dass sich Risse lautlos ausbreiten können, selbst wenn die Erde aufhört zu beben? Aufgestaute Kräfte können sich jeden Augenblick Bahn brechen und die Welt in gefährliches Chaos stürzen. Ich weiß nicht, wie ich ihr das alles erklären soll, deshalb sage ich ihr nur, ich hätte Angst vor den Nachbeben.

Neuansiedlungsmeldeformular

Name: Nadia Adjoa Owusu

Pseudonym(e): -

Geburtsdatum: 23. Februar 1981

Alter: 28

Geschlecht: weiblich

Familienstand: ledig

Staatsangehörigkeit: Vereinigte Staaten von Amerika; Ghana

Religion: Atheistin? Agnostikerin?

Höchster Bildungsabschluss: BA (Master angestrebt)

Beruf/Tätigkeit: Kellnerin, Studierende, Autorin

Vater: Osei Owusu

Mutter: Almas Janikian

Ethnische Herkunft: Schwarz. Biracial1. Indoeuropäisch? Zentralasiatisch? Obwohl ich mich als Schwarz identifiziere, bin ich buchstäblich kaukasischer als die meisten Menschen, die sich als Kaukasier*innen2 bezeichnen. Die Ethnie meiner Mutter ist armenisch, und Armenier*innen stammen aus der Kaukasusregion zwischen Europa und Asien. Ihre Großeltern sind während des Völkermords an den Armenier*innen 1915 bis 1917 aus der Türkei geflohen. Sie ließen sich schließlich in Watertown, Massachusetts nieder, wo meine Mutter geboren wurde. Mein Vater gehörte dem Volk der Ashanti aus der Region um Kumasi im Süden Ghanas an.

Bevorzugte Sprache: Englisch ist meine Erstsprache. Früher habe ich fließend Italienisch gesprochen. Ich kann es noch immer, aber mein Wortschatz ist verkümmert. Meine bevorzugte Sprache ist allerdings Twi – die Muttersprache meines Vaters –, obwohl ich nur ein paar Brocken davon spreche. Wenn ich in New York an Leuten vorbeikomme, die Twi sprechen, gehe ich langsamer und höre ihnen eine Weile zu. Der Klang der Sprache wärmt mich von innen, wie Erdnusssuppe mit Fufu. Doch das ist wahrscheinlich nicht, was mit »bevorzugt« gemeint ist.

Herkunftsland: Ich bin in Daressalam in Tansania geboren, aber nur, weil mein Vater zu der Zeit zufällig dort stationiert war. Er arbeitete für eine UN-Organisation.

Meine Mutter ist US-Bürgerin, sodass ich bei meiner Geburt Amerikanerin wurde. Allerdings habe ich, bis ich achtzehn war, gar nicht in den USA gelebt. Vieles in Amerika kam mir vertraut vor, als ich ankam. Man kann Amerika überall auf der Welt erleben. Doch mich als Amerikanerin zu bezeichnen, kommt mir trotzdem nicht ganz zutreffend vor.

Ich besitze auch einen ghanaischen Pass. Soweit ich weiß, habe ich ihn jedoch nie benutzt. Es ist wesentlich einfacher, mit dem amerikanischen zu reisen. Aber meinem Vater war wichtig, dass ich auch offiziell Ghanaerin bin.

Ich war noch nie in Armenien oder der Türkei (bis auf eine Zwischenlandung am Flughafen von Istanbul).

Der Job meines Vaters brachte viele Umzüge mit sich. Bis zu meinem dritten Lebensjahr habe ich in Tansania gelebt. Mit drei bin ich dann nach England gezogen und habe zweieinhalb Jahre bei meiner Tante Harriet gewohnt. Zum zweiten Mal nach England gegangen bin ich mit zwölf, als ich für ein Schuljahr auf einem Internat in Surrey war. Von fünf bis acht lebte ich in Italien und war dann mit dreizehn noch einmal drei Jahre lang dort. Von acht bis zehn wohnte ich in Äthiopien. Von zehn bis zwölf und von sechzehn bis achtzehn lebte ich in Uganda.

Meine Stiefmutter Anabel stammt aus einem kleinen Dorf auf der tansanischen Seite des Kilimandscharo. Der zweite Mann meiner Mutter war Somalier. Deshalb habe ich zwei Halbschwestern und einen Halbbruder, die armenisch-somalisch-amerikanisch sind. Mein Halbbruder auf der Seite meines Vaters, Kwame, ist ghanaisch und tansanisch.

Kaum war ich achtzehn, bin ich nach New York gezogen, wo ich seitdem lebe. New York ist eine Art Zuhause für mich.

Verwirrt? Ich auch. Auf die Frage nach meiner Herkunft wusste ich noch nie eine Antwort.

Land, in dem Asyl beantragt wird: Es gibt drei einschlägige Definitionen für das Wort Asyl: 1. Schutz vor Inhaftierung und Auslieferung, der vor allem politischen Geflüchteten durch einen Staat, eine Botschaft oder andere Einrichtung gewährt wird, die nicht an bürgerliche Gesetze gebunden ist. 2. (veraltet) Ein Heim für die Unterkunft und Pflege von psychisch Kranken, Waisen oder anderen Personen, die besonderer Hilfe bedürfen. 3. Ein sicherer Zufluchtsort.

Obwohl mein Antrag sich auf die erste Definition zu beziehen scheint, bin ich auf der Suche nach einem Ort, auf den gleichzeitig auch die zweite und dritte Definition zutreffen. Ich bin auf der Suche nach einem Ort, an dem ich die Nachbeben aussitzen kann.

1 Unter Rücksichtnahme der Fußnote zu »Race« auf S. 218 verwende ich hier den englischen Begriff, da der Diskurs im deutschen Sprachraum noch kein passendes Äquivalent hervorgebracht hat. (A. d. Ü.)

2 Nadia Owusu verwendet hier bewusst das Wort »caucasians«, einen rassifizierenden, wissenschaftlich widerlegten, im englischsprachigen Raum aber noch gebräuchlichen Überbegriff für weiße Menschen, um mit der begrifflichen Nähe zur Kaukasusregion zu spielen. (A. d. Ü.)

Vorbeben

Vorbeben:

Ein relativ schwaches Erdbeben, das einem stärkeren um einige Tage oder Wochen vorausgeht und seinen Ursprung im oder um das Hypozentrum des stärkeren Bebens herum hat.

Anmerkung:

Für die Begriffe Vorbeben, Hauptbeben und Nachbeben gibt es keine strenge wissenschaftliche Definition. Sie werden verwendet, um die stärkste Erschütterung einer Abfolge von Erdbeben von den vorhergehenden und darauffolgenden zu unterscheiden. Ist ein Nachbeben stärker als das vorhergehende Beben, benennen wir es in Hauptbeben um, die vorherigen Erschütterungen werden somit zu Vorbeben. Die Geschichte wird umgeschrieben. Wir wissen erst im Nachhinein, was wohin gehört.

Unliebsames Wiedersehen

Als ich achtundzwanzig war, machte meine Stiefmutter Anabel Urlaub in New York. Zu der Zeit wohnte sie in Pakistan, wo sie für eine UN-Organisation arbeitete. Wir trafen uns in einem Restaurant ein paar Blocks von meiner Wohnung in Chinatown entfernt, aßen Nudelsuppe und tranken Rotwein dazu. An dem Abend sagte mir Anabel, mein Vater sei nicht an Krebs gestorben, wie ich bis dahin geglaubt hatte. Er sei, so behauptete sie, an Aids gestorben.

Ich weiß nicht mehr, warum weder meine Schwester Yasmeen noch mein Halbbruder Kwame bei dem Essen dabei waren – sie wohnten damals beide in New York. Yasmeen arbeitete hinterm Tresen eines Taco-Ladens in Red Hook. Kwame war im zweiten Collegejahr.

Mein Vater war vierzehn Jahre zuvor gestorben, wenige Wochen vor meinem vierzehnten Geburtstag. Der Streit, der darin eskalierte, dass Anabel mir sagte, er sei an Aids gestorben, hatte sich an einer Nichtigkeit entfacht:

»Lass uns nach dem Essen doch noch auf ein Konzert gehen«, schlug Anabel vor.

»Keine Zeit«, sagte ich. »Ich bin schon mit Freund*innen verabredet.«

»Aber ich bin deine Mutter und zu Besuch hier«, sagte sie. »Wir sehen uns so selten.«

Ich zuckte mit den Schultern. Schweigend aßen wir weiter. Dann:

»Kau anständig«, forderte Anabel mich auf.

»Ich kaue doch. Entspann dich mal.«

»Wer ist hier unentspannt? Zeig gefälligst Respekt gegenüber Älteren. Mir gegenüber.«

»Ich glaub, du bist übergeschnappt.«

Ich wusste, dass meine Worte – du bist übergeschnappt – Projektile waren, die ich auf sie abgefeuert hatte. Anabel, das ahnte ich schon, würde in die Luft gehen. Wenn sie eines fürchtete und verachtete, dann war es Wahnsinn, das wusste ich. Vielleicht, weil sie nach dem Tod meines Vaters selbst eine Form davon durchgemacht hatte: eine Depression, hatte ich zumindest den Eindruck gehabt, oder PTBS. Mindestens ein Jahr lang hatte sie die Abende damit verbracht, in ihr Weinglas zu schluchzen. Ihre Launen schwankten zwischen eisigem Schweigen und flammender Wut. In den letzten Jahren hatte sie sich allerdings völlig neu erfunden und war jetzt stets ausgeglichen und unerschütterlich. Sie sprach in gedämpftem, angeekeltem Tonfall von den Zusammenbrüchen, Ängsten und Depressionen anderer. Eine müsse ja stark bleiben, sagte sie oft, und sich nicht unterkriegen lassen. Es helfe niemandem, wenn man in hysterische und krankhafte Zustände verfalle. Sie wolle sich keine Schwäche leisten. Nein, sie sei, das betonte sie immer wieder, glücklich, weil sie sich für ein glückliches Leben entscheide. Und zwar jeden Tag aufs Neue. Wenn ich die Zeit um den Tod meines Vaters ansprach oder nur erwähnte, wie viel besser es uns inzwischen ging, wechselte sie das Thema. Es schien für sie nicht infrage zu kommen, auch nur in Betracht zu ziehen, dass sie noch einmal eine Form von Verrücktheit befallen könnte …

Ich hatte Anabel noch nie wütender erlebt, als wenn ich sie verrückt oder übergeschnappt nannte. Von Zeit zu Zeit tat ich das, um einen Streit zu gewinnen. Der Gedanke, dass ihr neu erfundenes Ich nicht ganz glaubwürdig sein könnte, schien unerträglich für sie zu sein. Dabei war ihre Maske überzeugend, das musste ich zugeben. Nur jemand, der sie sehr gut kannte, war in der Lage, dahinter zu blicken. Unter der glatten, faltenfreien Haut zuckte unmerklich ein Muskel, staute sich Blut in den Adern.

In dem chinesischen Restaurant wollte ich Anabel die Maske runterreißen. In aller Öffentlichkeit. Ich wollte sie in die Luft gehen sehen, mit knallrotem Gesicht. Ich wollte sie daran erinnern, wer sie wirklich war. Mich konnte sie nicht täuschen. Als Zielscheibe ihrer Wut wollte ich gelassen wirken, und durch meine Gelassenheit überlegen. Es war nicht so, als hätte es mich sonderlich interessiert, was die anderen Leute im Restaurant von mir oder ihr dachten. Aber ich wusste, dass sie sich von einer öffentlichen Bloßstellung nicht so schnell erholen würde. Immer wieder würde sie die Szene in ihrem Kopf abspulen. Die Erinnerung würde zurückkommen und sie aufregen, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Sie würde sich an mein Gesicht erinnern – mein ungerührtes Gesicht. Sie würde sich immer an die strengen Blicke der Fremden erinnern, an ihr Kopfschütteln. Wenn ich es mir recht überlege, hatte mein Drang, Anabel die Maske runterzureißen, nichts mit dem zu tun, was sie sagte. Zwischen Müttern und Töchtern, zwischen Stiefmüttern und Töchtern, entstand leicht so etwas wie eine Abwehrhaltung. Aber zwischen Anabel und mir kippte diese Abwehrhaltung schnell ins Destruktive.

Statt in die Luft zu gehen, zischte Anabel jedoch durch die zusammengebissenen Zähne:

»Übergeschnappt? Wie kannst du es wagen? Nach allem, was ich für dich geopfert habe!«

»Was hast du denn bitte geopfert?«, fragte ich. »Du hast mich doch bloß bei dir behalten, weil du so mehr vom Erbe meines Vaters hattest. Du hast Yasmeen und mir mehr als deutlich gezeigt, dass du uns eigentlich gar nicht wolltest.«

Ich wusste, dass Anabels Gründe, nach dem Tod unseres Vaters das Sorgerecht für Yasmeen und mich zu übernehmen, komplexer waren. Wollen und Nichtwollen waren sehr wahrscheinlich zwei nebeneinander existierende innere Zustände gewesen. Wahrscheinlich gilt das für viele Eltern – ob leiblich oder nicht. Doch in dem Moment wollte ich ihr wehtun. Diese vereinfachte Darstellung ihrer Motive würde Schaden anrichten. Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie mich aus zusammengekniffenen Augen an, mit offen stehendem Mund. Dann verzogen sich mit einem Mal alle Wolken und ihr Blick wurde ruhig, als wäre ihr gerade aufgegangen, was sie sagen musste, um zu gewinnen:

»Du glaubst auch, dein Vater wäre perfekt gewesen, oder? Er ist nicht an Krebs gestorben. Er war kein Engel. Er ist an Aids gestorben. Und was meinst du, wieso er Aids hatte?«

Meine Beziehung zu Anabel war immer zerklüfteter Gestalt gewesen. Nachdem ich mit achtzehn nach New York gezogen war, waren wir ohne Erklärungen oder Entschuldigungen mal mehr, mal weniger präsent im Leben der anderen. Vor unserem Essen im chinesischen Restaurant hatten wir uns ein Jahr lang nicht gesprochen. Sie schrieb mich auf Facebook an, um mir zu sagen, dass sie in New York sei; um mir ein Treffen vorzuschlagen. Weder sie noch ich erwähnte das monatelange Schweigen zwischen uns. Zur Begrüßung küssten wir einander auf beide Wangen. Wir machten einander Komplimente für unser Äußeres: ihre Braids, meine Ohrringe. Es hatte keinen besonderen Grund für die Funkstille gegeben. Oder vielmehr gab es ein ganzes Leben voller Gründe, ein ganzes Leben voller unausgesprochener Feindseligkeiten auf beiden Seiten.

Ich hatte Anabel das erste Mal getroffen, als ich fünf war.

»Das ist Anabel«, hatte mein Vater nur gesagt. »Wir heiraten.«

Ich weiß nicht mehr, ob dieses erste Treffen an einem Flughafen stattfand oder in dem Haus in Rom, wo wir eine Familie wurden. Yasmeen und ich waren kurz zuvor zu unserem Vater nach Rom gezogen, nachdem wir zweieinhalb Jahre bei seiner Schwester – Auntie Harriet – in England gewohnt hatten. Anabel sah in meinen Augen aus wie ein Filmstar: groß, dünn und geradezu übernatürlich schön mit ihren hohen Wangenknochen, den vollen Lippen und der großen Lücke zwischen den Schneidezähnen. Ein kleiner Finger hätte bequem dazwischen gepasst. Ich sah die Liebe im Blick meines Vaters, sah, dass sie nicht mir galt, und kochte innerlich. Yasmeens Ausdruck hingegen war offen, voller Hoffnung. Sie sprang auf, umarmte Anabel. Nichts wünschte sich meine Schwester so sehnlich wie eine Mutter. Yasmeen sagte Mommy zu fremden Frauen im Supermarkt, wenn diese sich zu ihr hinunterbeugten und ihr in die Wange kniffen. Sie klammerte sich an unsere Tanten, an die Freundinnen unseres Vaters, sogar an unsere griesgrämige deutsche Nanny. Arme kleine mutterlose Mädchen, nannten uns die Leute.

Anabel tätschelte Yasmeen den Kopf. Sie sah mich erwartungsvoll an. Ich schlang die Arme um meinen Vater. Anabel runzelte die Stirn.

Auch ich sehnte mich nach einer Mutter, aber ich glaube, das sichere Wissen, dass ich nie eine haben würde, nicht so wie die anderen Kinder, hatte mich bereits abgehärtet. Mein Vater gehörte jedoch mir, davon war ich überzeugt. Mir und Yasmeen. Ich wollte ihn mit niemandem teilen.

Aus diesen ersten paar Monaten unseres Zusammenlebens, bevor Anabel meinen Vater heiratete, habe ich Erinnerungen, wie sie mich anfunkelte, wenn ich auf den Schoß meines Vaters kletterte, während die beiden auf dem Sofa saßen und Gin Tonic tranken. Ich weiß noch, wie ich nachts an die Schlafzimmertür klopfte, weil ich Angst vor einem Gewitter hatte. Ich weiß noch, wie sie mir zuflüsterte, ich solle sie in Frieden schlafen lassen. Ich weiß noch, wie sie mir die Tür vor der Nase zumachte. Ich weiß noch, wie Bitterkeit mein Herz erfüllte.

Es ist möglich, dass ich Anabels Verhalten falsch interpretiert habe, dass ich mich falsch erinnere, dass meine Erinnerungen von dieser Bitterkeit getrübt sind. Oder aber Anabel war kalt mir gegenüber, weil sie spürte, dass ich sie als Konkurrenz empfand. Vielleicht wollte sie ihre Autorität als Frau des Hauses beweisen. Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Mit ziemlich großer Sicherheit kann ich allerdings sagen, dass mein aufmüpfiges Benehmen schlimmer wurde, je näher die Hochzeit rückte.

An dem Tag, als Yasmeen und ich unsere Blumenmädchenkleider anprobierten, war es am schlimmsten. Die Kleider waren bauschig. Wir sahen aus wie kleine gelbe Zuckerwattebällchen. An unseren Haarbändern prangten riesige Schleifen. Ich war ein Kind, das sich genauso gern im Schlamm wälzte, wie es Prinzessin spielte. Ich liebte Rüschen. Doch ich war fest entschlossen, das Kleid zu hassen. Es sei kratzig, jammerte ich. Anabel ignorierte mich.

»Wir müssen dringend einen Relaxer für die beiden kaufen«, sagte sie zu meinem Vater. »Das sind ja schon fast Dreadlocks.«

Sie grub ihre langen spitzen Nägel in mein dickes, verknotetes Haar und riss daran. Es ziepte. Ich übertrieb maßlos – verzog das Gesicht und schrie auf. Anabel strich sich über ihr eigenes frisch geglättetes Haar, als wollte sie sich vergewissern, dass meine Krause nicht ansteckend war. Mein Vater sprang mir nicht bei. Ich brach in Tränen aus.

»Ich will keinen Relaxer«, zeterte ich. »Wenn du mich zwingst, rasier ich mir eine Glatze. Und diese blöden Rüschensocken zieh ich auch nicht an. Damit drücken die Schuhe.«

Ich weinte nicht wegen meiner gequetschten Zehen oder dem verknoteten Haar. Anabel nahm mir weg, was mir am meisten bedeutete. Unser Haus und mein Vater wurden einer Generalüberholung unterzogen: Raus mit der alten gemütlichen Couch; ab mit Babas Bart. Ich hatte nicht vor, Anabel alles zu geben, was sie wollte, zumindest nicht ohne Protest.

Am Ende ging ich ohne Socken und ohne Relaxer Richtung Altar. Zum Altar musste ich, aber wenigstens mit Würde.

Ein Jahr später hatten Anabel und ich im Haus in Rom unser jeweiliges Territorium abgesteckt. Anabel herrschte über das Wohnzimmer mit seinen unbequemen geblümten Polsterbänken und Perserteppichen. Dort saß sie mit meinem Vater bei Cocktails und Weißwein, die langen Beine auf seinen Schoß gelegt. Sie sprach meist im Flüsterton, doch wenn sie lachte, dann im Sopran mit Crescendo. Ich imitierte ihr Lachen im Spiegel. Mein Territorium war das Arbeitszimmer meines Vaters. Dort lasen wir schweigend Bücher, er auf seinem Drehstuhl, ich bäuchlings auf dem Teppich. Oder wir schrieben Geschichten und lasen sie einander laut vor. Er gab mir Verbesserungstipps. Seine Geschichten waren in meinen Augen perfekt.

Jedes Mal, wenn wir umzogen – von Rom nach Addis Abeba, von Addis Abeba nach Kampala, dann wieder zurück nach Rom –, eroberten Anabel und ich die jeweiligen Räume im neuen Haus. In Addis hatte mein Vater kein Arbeitszimmer. Stattdessen nahm ich die Veranda hinterm Haus ein. Mein Vater und ich lasen und schrieben zum Zirpen und Zwitschern der Vögel und Insekten.

Manchmal, wenn die UN-Organisation meinen Vater auf eine ausgedehnte Mission in ein anderes Land schickte, schlossen Anabel und ich widerwillig Frieden. Wenn er weg war, vergaß ich, dass wir Gegnerinnen waren, dass wir uns eigentlich nicht lieb hatten. Auch sie schien weicher zu werden. Unsere Gespräche wurden länger und weniger feindselig. Wir lachten über die Witze der anderen.

Mit elf bekam ich zum ersten Mal meine Periode, genau an dem Tag, als mein Vater von einer Mission im Norden Ugandas wiederkommen sollte. Das Blut in meiner Unterhose und Shorts jagte mir einen Riesenschreck ein. Ich hatte nicht gewusst, dass die Blutung so stark sein würde, hatte nicht gewusst, dass man sie nicht wie Urin einhalten konnte. Der Gedanke daran, meinem Vater gegenüber auszusprechen, dass und wo ich blutete, war schrecklich, außerdem war er ohnehin nicht da, also erzählte ich es Anabel. Wir stiegen ins Auto, um dicke Binden und ein Eis zu kaufen. Auf der Rückfahrt sagte sie mir, ich sei jetzt eine Frau, eine wunderschöne Frau. Die Männer würden Schlange stehen, um sich von mir zu nehmen, was sie kriegen konnten.

»Denk dran«, sagte sie, »du kannst sie schwächen, indem du ihnen nicht gibst, was sie wollen. Dann hast du die Macht.«

Ich verstand nicht, was Anabel mir sagen wollte. Ich wusste noch nicht, was Männer von mir wollen könnten, wusste nicht, wofür die Periode da war. Aber sie hatte mich als Frau bezeichnet. Sie hatte mich wunderschön genannt. Damals wünschte ich mir, wir könnten immer so sein wie in dem Augenblick: zwei Frauen im Auto, die mit heruntergekurbelten Scheiben an ihrem Vanilleeis lecken und sich zu einem Whitney-Houston-Soundtrack über Schönheit und Macht unterhalten.

Doch als mein Vater am Abend mit Geschenken aus dem Dutyfree-Shop nach Hause kam – Parfüm für Anabel, Toblerone für Yasmeen und mich und eine Spielzeuglokomotive für Kwame –, zogen Anabel und ich uns in unsere Zimmer zurück. Ich wartete darauf – stellte mir vor, wie wir beide darauf warteten –, welche Tür mein Vater öffnen würde.

Erst nach der Krebsdiagnose meines Vaters, nachdem er bettlägerig wurde, gaben Anabel und ich unser jeweiliges Territorium auf. Wir wussten beide, dass wir ihn verlieren würden. Wir gaben unsere Territorien auf, aber nicht unsere Feindseligkeit.

Der Tod meines Vaters vernichtete mich. Vielleicht lag es daran, dass ich nie richtig betrauert hatte, dass meine Mutter mich verlassen hatte, jedenfalls warf ich mich wild entschlossen in die Trauer um ihn. Trauer, stellte ich fest, war die Konstruktion einer Geschichte. Ich musste eine Geschichte konstruieren, um meine Welt zu rekonstruieren. Ich musste Entscheidungen treffen, was hineingehörte und was ausgelassen werden musste.

In meiner Version der Geschichte von der Krankheit und dem Tod meines Vaters waren er und ich die Hauptfiguren: ein heldenhafter Vater und eine Tochter, die ihn über alles liebte. Meine Geschwister – Yasmeen und Kwame – waren Nebenfiguren. Das war ichbezogen, mir aber egal. In meiner Geschichte plagte die Krankheit meines Vaters mich ebenso sehr wie ihn. Ich sah zu, wie er schwächer wurde. Ich roch seinen schlechten Todesatem, wenn ich neben ihm lag und erzählte, was ich zu Mittag gegessen hatte, Belanglosigkeiten aus der Schule und aus Filmen. Ich hörte ihn vor Schmerz aufschreien, oder vor Scham, wenn sein Schließmuskel versagte und er in einer Pfütze seiner Exkremente aufwachte.

Mein Tagebuch aus der Zeit ist voller Einträge über seinen Gewichtsverlust, Haarausfall und chronische Furunkel – Nebenwirkungen der aggressiven Chemotherapie. Ich notierte die Formen seiner vorstehenden Knochen und die Farbe des Eiters, der aus den Furunkeln quoll, wenn sie aufplatzten.

Anabel taucht in diesen Tagebüchern nirgends auf, obwohl sie es war, die ihn pflegte, obwohl sein Krankenbett auch ihr Bett war, obwohl sie immer da war, Erbrochenes aus dem Teppich schrubbte und seine rissigen Zehen eincremte. Nicht ein einziges Mal dankte ich ihr dafür. Ich schrieb sie bereits aus der Geschichte, meiner Geschichte, heraus. Ich dankte ihr nicht, sondern gab ihr auch noch die Schuld.

Ich weiß noch, wie mein Vater einmal um einen Apfel bat, und Anabel ihn angiftete, er solle ihn sich selbst holen. Sie wusste, dass er nicht mehr laufen konnte. Sie rief einen Priester, damit er ein Gebet für meinen Vater sprach, etwas, das er niemals gewollt hätte, weil er weder an Gebete noch Gott glaubte. Als er mit den wenigen Worten, zu denen er noch fähig war, protestieren wollte, hob sie die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ich erkannte ihr Handeln nicht als verzweifeltes Austeilen einer leidenden Person, sondern als Beweis dafür, dass ich diejenige war, die ihn wirklich liebte, und sie die böse Stiefmutter. Meine Geschichte brauchte nun mal einen Bösewicht.

»Er wollte keinen Priester«, sagte ich. »Er hat mir gesagt, er will nicht, dass ihm Religion angetan wird. Das waren seine Worte.«

»Ach, halt den Mund«, zischte sie. »Halt einfach den Mund.«

Ich glaube, später hat sie sich entschuldigt – für das halt den Mund, nicht für den Priester. Aber sicher bin ich mir nicht.

Nachdem mein Vater gestorben war, sagte mir meine Mutter am Telefon, dass sie nicht zur Beerdigung nach Rom kommen würde. Sie würde nicht kommen, um Yasmeen und mich für sich zu beanspruchen. Ich schwor mir, ihr das niemals zu verzeihen, nie wieder ein Wort mit ihr zu reden. Yasmeen war weniger bereit, noch ein Elternteil zu verlieren, glaube ich. Sie sah mich erschrocken an, als ich ihr mitteilte, dass die Beziehung zu unserer Mutter ein für alle Mal zerbrochen war. Doch mein Vater hatte ihr aufgetragen, ihrer großen Schwester und Beschützerin zu vertrauen. Mir hatte er aufgetragen, ihr Vertrauen niemals zu missbrauchen. Yasmeen überließ die Entscheidung mir.

»Bleibt bei mir«, sagte Anabel, als ich ihr vom Telefonat mit meiner Mutter erzählte. »Ich habe eurem Vater versprochen, mich um Yasmeen und dich zu kümmern. Und ich brauche euch. Ihr seid meine Töchter.«

An diesem Tag weinten Anabel und ich zusammen. Wir beschlossen, zu viert eine Familie zu sein: wir beide, Yasmeen und Kwame. Ich werde nie vergessen, dass Anabel uns für sich beansprucht hat, als meine Mutter es nicht tat. Doch lange dauerte es nicht, bis wir wieder in alte Muster verfielen. Wir stritten uns um die Seele meines Vaters: ob und wo sie weiterlebte und was sie brauchte. Anabel wollte nach vorn schauen. Ein Freund meines Vaters, der für dieselbe UN-Organisation arbeitete, verschaffte ihr einen Einstiegsjob in deren Büro in Rom. Es war ihr erster Job. Nach der Hochzeit mit meinem Vater hatte sie an einer amerikanischen Universität in Rom einen Bachelor in Rechnungswesen gemacht, aber nie in ihrem Beruf gearbeitet. In ihrem neuen Job musste sie viel lernen, sich umgewöhnen. Sie wollte sich ein neues Leben aufbauen. Ich hingegen weigerte mich, loszulassen.

Anabel glaubte an den Himmel. Ich glaubte an die Erinnerung. Wir stritten um das, was mein Vater uns hinterlassen hatte, materiell wie ideell. Sie schloss seine Papiere weg – Notizen, Gedichte –, damit ich sie nicht lesen konnte. Ich bunkerte Reisetaschen voller Socken und Krawatten und versteckte sie ganz hinten in meinem Schrank. Yasmeen schlug sich auf meine Seite, war aber zu schwach, um mich groß zu unterstützen. Sie rauchte Zigaretten und nahm Abführmittel. Sie stellte sich auf die Waage und zählte Kalorien. Sie zählte sogar die Krümel, bevor sie sie sich auf die Zunge legte. Meine Wut nahm genug Raum für uns beide ein.

»Lass mich in Ruhe! Ich vermisse Baba!«, schrie ich Anabel an, als sie den Fernseher ausschaltete und mich aufforderte, endlich mit dem Trübsalblasen aufzuhören.

»Dann geh doch zum Friedhof und grab ihn aus«, sagte Anabel. »Kein Wunder, dass deine Mutter dich nicht wollte.«

Nach diesem Streit sprachen wir eine Woche nicht miteinander. Dann kroch Anabel eines Nachts zu mir ins Bett, und alle ungeweinten Tränen brachen sich Bahn. Der Geist meines Vaters habe sie geweckt, sagte sie, und habe versucht, sie in ein rosiges Licht zu locken. Ich hielt Anabels feuchtkalte Hand unter der Decke und fragte mich, warum sein Geist nicht zu mir kam.

Nach dem Tod meines Vaters lebten wir noch zwei Jahre in Rom. Dann zogen wir nach Kampala in Uganda, wohin Anabel versetzt worden war. Genau wie es bei Rom der Fall gewesen war, hatten wir früher schon einmal mit meinem Vater in Kampala gelebt. Er war zwei Jahre dort stationiert gewesen. Überall lauerten Erinnerungen an ihn. Als wir am Flughafen in Entebbe ankamen, holte uns der ehemalige Fahrer meines Vaters, Edward, ab. Jeden Tag fuhren wir an dem Haus vorbei, in dem wir zu fünft als Familie gewohnt hatten. Die internationale Schule, auf die Yasmeen, Kwame und ich gingen, hatte sich kein bisschen verändert. Ich spielte Fußball auf demselben Sportplatz, auf dem mein Vater mich angefeuert hatte, als ich beim Sportfest drei blaue Schleifen gewonnen hatte: im 100-Meter-Lauf, im 200-Meter-Lauf und im Staffellauf.

Als Teenagerin genoss ich in Kampala viele Freiheiten. Ich freundete mich mit einer Gruppe Mädchen und den Jungs in ihrem Schlepptau an und unternahm viel mit ihnen. Wir gingen abends aus – tanzten, kifften, betranken uns und knutschten in dunklen Ecken von Clubs. Auch Anabel blieb abends lange weg, hatte wieder Dates. Sie fragte mich nur manchmal, wohin ich ging und was ich machte. Nur ganz selten – meist, wenn sie schlechte Laune hatte – verbot sie mir, wegzugehen. Bei einer dieser Gelegenheiten stritten wir uns. Ich nannte sie irre. Ich war geschockt, Anabels Hände an meinen Schultern zu spüren, als sie mich auf mein Bett schubste. Ungläubig sah ich zu ihr hoch. Sie hob die Hand, schrie auf und schlug mit den Fäusten auf mein Gesicht ein. Ich rollte mich zusammen und schützte meinen Kopf mit den Händen. Sie schlug nicht so fest zu, dass sie mir körperlich wehtat. Es war nicht mein Körper, den sie verletzen wollte. Ich schlug nicht zurück. Es gab eine Grenze, die nicht überschritten werden durfte, das wusste ich. Die Schläge endeten abrupt, als der achtjährige Kwame mit seinem Plüschfrosch ins Zimmer kam. Beim Anblick seiner Mutter, die seine große Schwester schlug, brach er in Tränen aus. Er schrie, bis Anabel ihn auf den Arm nahm und aus dem Zimmer trug. In der Nacht schlief er am Fußende meines Bettes. Sein leises asthmatisches Schnarchen war zugleich nervig und tröstlich. Wenn er nicht wäre, dachte ich, würde ich Yasmeen wecken und mit ihr dieses Haus verlassen und zur Familie meines Vaters nach Ghana oder England ziehen, egal wohin, Hauptsache weg von ihr.

Als ich am nächsten Tag nach Hause kam, lag eine aufgeschlagene Bibel auf meinem Schreibtisch. Mit gelbem Textmarker angestrichen war Sprüche 29:15: Stock und Tadel helfen, klug zu werden; ein Kind, das man sich selbst überlässt, macht seiner Mutter Schande. Ich konnte Anabel im Flur rascheln hören. Ganz still saß ich da. Danach wichen Anabel und ich tagelang den Blicken der anderen aus. Ich klaute Geld aus ihrem Portemonnaie und kaufte drei Flaschen Gin. Als sie einen Kollegen zum Abendessen einlud, betrank ich mich. Beim Nachtisch lallte ich schließlich, lachte über die falschen Dinge, lachte über Anabel. Ihr Gesicht war knallrot, doch sie sagte nichts. Wir hatten ein Patt erreicht und gaben die Schlacht auf. Wir sprachen nie darüber, und Anabel schlug mich nie wieder. Unsere Wut köchelte. Wir waren wütend auf den Tod, auf den Krebs, auf den Himmel, der immer noch blau war, auf die Flüsse, die nicht über ihre Ufer traten, auf das gleich gebliebene Kampala. Uns blieb nur die jeweils andere für unsere Schuldzuweisungen.

Mit achtzehn zog ich von Kampala nach New York, um die Pace University zu besuchen. Anfangs unterstützte mich Anabel bei den Studiengebühren, allerdings nur so lange, wie das Geld reichte, das mein Vater für meine Ausbildung hinterlassen hatte.

Um mein Studium zu Ende zu bringen, musste ich mich stark verschulden und arbeitete nebenbei in zwei Jobs gleichzeitig – in einem Restaurant und in einem Club. Doch selbst das reichte nicht für Studiengebühren, Miete, Rechnungen, Bahntickets und Essen. Es gab Wochen, in denen das Essen für die Mitarbeitenden im Restaurant, in dem ich arbeitete, meine einzige Mahlzeit war. Lebensmittel und Bahntickets konnte ich mir nicht leisten. Weil ich mit der U-Bahn zur Arbeit fahren musste, entschied ich mich fürs Hungern. Ein- oder zweimal bat ich Anabel per Mail um Geld, wenn mir der Strom abgedreht worden war, oder ich dringend etwas zu essen brauchte. Mal überwies sie mir Geld, mal antwortete sie gar nicht. Zwischen dem letzten und vorletzten Jahr an der Uni nahm ich mir einige Zeit frei. Die Rechnung für die Studiengebühren war an ein Inkassounternehmen gegangen, und ich konnte mich erst wieder für Univeranstaltungen anmelden, wenn ich sie bezahlt hatte. Irgendwann in dieser Zeit kam Anabel zu einer Konferenz nach New York. Ich war fest entschlossen, an die Uni zurückzukehren und hoffte, dass sie mir dabei helfen würde. Beim Betreten des Restaurants, in dem ich mich mit ihr und einer Freundin der Familie zum Abendessen treffen wollte, bekam ich mit, wie Anabel, die mit der Freundin an der Bar wartete, auf Swahili sagte, ich hätte die Uni geschmissen. Sie meinte, ich würde es einfach nicht hinbekommen, gleichzeitig zu arbeiten und zu studieren. Was sie sagte, war nicht falsch. Ganz allein in New York zu sein und für mich selbst zu sorgen, mit Geld umgehen zu lernen und in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken – war für mich eine heftige Umstellung. Im Grunde hatte der extrem mobile, globale Lebensstil meiner Familie mich widerstandsfähig und selbstständig gemacht. Doch auf gewisse Weise hatte er mich auch verwöhnt. Bereits in jungen Jahren hatte ich gewaltige Verluste erfahren. Schon früh hatte ich mitbekommen, wie viel Leid auf der Welt herrscht: extreme Armut, Gewalt, Krankheit. Doch bevor ich nach New York gegangen war, hatte ich nicht einmal die Wäsche selbst machen müssen. Mein Vater und Anabel bezahlten Leute, die für uns sauber machten, kochten und uns durch die Gegend kutschierten.

Pleite zu sein, war etwas völlig anderes, als arm zu sein, das war mir klar. Trotz meines überzogenen Kontos hielten mich die Annehmlichkeiten und Privilegien, die ich ohne großes Zutun angesammelt hatte – meine internationale Privatschulbildung, meine Mehrsprachigkeit, mein selbstverständlicher Umgang mit Institutionen und Bürokratie –, über Wasser. Diese Annehmlichkeiten und Privilegien öffneten Türen. Dennoch fand ich es schwierig, mich an meine neue wirtschaftliche Lage zu gewöhnen. Ich war immer eine gute Schülerin gewesen. In der Highschool hatte ich außer in Mathematik immer gute Noten gehabt, ohne mich groß dafür anstrengen zu müssen. Doch in letzter Zeit fiel es mir schwer, in der Uni Schritt zu halten. Häufig kam ich erst um vier Uhr morgens von meinem Job in der Cocktailbar nach Hause. Meine Konzentrationsfähigkeit litt unter dem Schuldenstress. Ich war nirgendwo durchgefallen, hatte aber einige Cs bekommen. Ich verpasste ständig Vorlesungen. Ich las das Material nicht, gab Hausarbeiten zu spät oder schlampig geschrieben ab.

Mich traf, dass Anabels Aussage über mein Scheitern einen wahren Kern hatte. Und sie hatte gar nicht registriert, wie sehr ich mich anstrengte, dass ich trotz meines Scheiterns noch immer wild entschlossen war, meinen Abschluss zu machen. Ich schämte mich, ließ es mir jedoch nicht anmerken. Ich umarmte Anabel und unsere Freundin. Dann bestellte ich mir ein teures Glas Wein, ein teures Steak. Lass sie doch bezahlen, dachte ich.

In den Jahren nach meinem Uniabschluss war Anabel einige Male in New York – um Kwame im College abzuliefern, wegen der Arbeit oder zum Shoppen. Jedes Mal trafen wir uns zum Mittagessen, Abendessen oder auf ein Getränk. Manchmal gingen wir zur Maniküre und Pediküre, saßen Seite an Seite, die Zehen in sprudelndes Wasser getaucht. Unsere Nägel wurden sorgfältig zurechtgestutzt, in Form gebracht und in glänzenden Farben lackiert. Vielleicht hofften wir beide, das Gleiche könnte auch für unsere Vergangenheit gelten. Konnte es nicht. Abgesehen von diesen gemeinsamen Mahlzeiten oder Maniküren sprachen wir kaum noch miteinander. Normalerweise war Anabel diejenige, die mich anrief. Normalerweise dauerten die Anrufe nur ein paar Minuten. Unsere Gespräche waren nicht vertraut. Wir sprachen nie darüber, was in unserem Leben passierte, wenn überhaupt nur sehr oberflächlich: Ich war für den Master angenommen worden, sie hatte mit Yoga angefangen. Ich erkundigte mich nach ihrer Familie. Sie sagte, es gehe ihnen gut. Dann erkundigte sie sich nach meinen Tanten in England – den Schwestern meines Vaters. Ich sagte, es gehe ihnen gut.

Als wir zusammen beim Abendessen saßen und Anabel mir eröffnete, dass mein Vater an Aids gestorben sei, wohnten sie und ich schon seit zehn Jahren nicht mehr unter einem Dach. Sie war von Kampala nach Islamabad versetzt worden, ein gefährlicher Posten. Sie hatte bereits Kolleg*innen bei Terroranschlägen verloren. Ich machte mir Sorgen um sie. Das hätte ich ihr sagen sollen. Habe ich nie getan.

Als Anabel sagte, mein Vater sei an Aids gestorben, schlug ich mit beiden Händen auf den Tisch und sprang auf.

»Lügnerin!«

»Du benimmst dich wie eine verzogene Göre«, sagte Anabel.

»Sag mal, willst du mich verarschen?« Mein Herz hämmerte, mein Kopf hämmerte.

»Immer gibst du mir die Schuld«, sagte Anabel. »Ich kann nichts dafür, dass dein Vater weiß Gott was mit weiß Gott wem getrieben und sich Aids dabei eingefangen hat.«

»Lügnerin«, wiederholte ich und ging, verließ das Restaurant.

Auf der Straße ließ ein Blitz in meinem Hirn mich innehalten, wie ein Stromschlag, gefolgt von Schwingungen und einem leisen, aber unverkennbaren Alarmton. Mit beiden Händen hielt ich mir den Kopf, bis ich weiterlaufen konnte. Den ganzen Heimweg über weinte und schrie ich. Die Blicke waren mir egal. Wenn mein Vater an Aids gestorben war, bedeutete das, dass er mich angelogen hatte. Es bedeutete, dass ich ihn nicht so gut gekannt hatte, wie ich glaubte. Anabel hatte Affären angedeutet. Ich konnte, ich wollte ihr nicht glauben.

»Lügnerin! Lügnerin! Lügnerin!«, brüllte ich.

Zu Hause kroch ich unters Bett und beförderte den eingestaubten Umschlag mit dem Totenschein meines Vaters zutage. Mit angehaltenem Atem las ich. Das offizielle Urteil versicherte mir: »Causa di morte: Cancro.« Todesursache: Krebs.

»Lügnerin! Lügnerin! Lügnerin!«, brüllte ich.

Die ganze Nacht über schrie ich immer wieder Lügnerin, wie ein Mantra oder ein Gebet. Ich versuchte, den Zweifel herauszuschreien, der sich in meiner Kehle festgesetzt hatte.

Über die Jahre schrieb ich mehrere Klagelieder für meinen Vater. Darin sprach ich ihn heilig. Ich musste an etwas Großes, Reines, Gottgleiches glauben. Und weil ich mich nicht überwinden konnte, an einen Gott zu glauben, dem ich nie begegnet war, einen Gott, an den auch mein Vater nicht geglaubt hatte, beschloss ich, an meinen Vater zu glauben. Ich ordnete und kategorisierte seine guten Taten: dass er die Kinder in den Geflüchtetenlagern in Eritrea mit Essen versorgt hatte; dass er sich an so viele ihrer Namen erinnerte; dass er mir immer kalte Cola ans Bett brachte, wenn ich Bauchweh hatte; dass er seiner jüngsten Schwester die Studiengebühren und seiner Nichte die Privatschulgebühren bezahlt hatte; wie sein Lachen ganze Räume, ganze Häuser fluten konnte.

Dass mein Vater Affären gehabt haben sollte, kam in meiner Geschichte, in meinen Klageliedern nicht vor.

Obwohl ich weiter daran festhielt, dass Anabel gelogen hatte, ließen die Schwingungen in meinem Hirn nicht nach. Der Alarm verstummte nicht. Ich glaubte, die Schwingungen und der Alarmton würden von einem Instrument in meinem Hirn stammen. Meinem Seismografen, wie ich ihn nannte. Seit meine Mutter, als ich sieben war, mit einem Erdbeben auftauchte, war ich wie besessen von ihnen und der Art und Weise, wie wir sie messen; der Art und Weise, wie wir versuchen, die Größe und das Ausmaß einer drohenden Katastrophe abzuschätzen. Wenn ich sage, ich glaubte an meinen Seismografen, dann meine ich damit eine unumstößliche Überzeugung. Ich wusste von der Existenz meines Seismografen, wie ich wusste, dass ich einen Leberfleck unterhalb des rechten Mundwinkels und ein ovales Muttermal gleich neben der Wirbelsäule habe. Als Kind wollte ich mir den Leberfleck und das Muttermal am liebsten herausschneiden. Als Erwachsene hätte ich mir beides chirurgisch entfernen lassen können. Mit einem kleinen Eingriff wäre es getan gewesen, doch bis dahin waren sie längst viel zu sehr Teil von mir. Einmal wurde mein Leberfleck aus einem Porträtfoto herausretuschiert. Ich fand das Foto schrecklich. Es sah überhaupt nicht nach mir aus. Erst begriff ich gar nicht, wieso. Als mir dann klar wurde, dass mein Leberfleck fehlte, wurde ich stocksauer. Mein Seismograf hingegen war nicht nur charakteristisch für mich. Er war fundamental. Ich wusste nicht, ob er mich umbrachte, rettete oder beides zugleich. Ihn zu entfernen wäre weniger Korrektur gewesen als Amputation.

Ein paar Tage nachdem Anabel mir gesagt hatte, dass mein Vater an Aids gestorben sei, hatte ich eine Nachricht auf der Mailbox: »Hallo, Nadia. Hier ist deine Mama. Bitte ruf mich unter dieser Nummer zurück. Wir müssen reden. Bitte ruf mich an.«

Es war das erste Mal seit über zehn Jahren, dass ich die Stimme meiner Mutter gehört hatte.