Agitare der Todesschweiß - Roland Geisler - E-Book

Agitare der Todesschweiß E-Book

Roland Geisler

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Beschreibung

Im Nürnberger Reichswald werden Jäger zu Gejagten. Der oder die Täter gehen bei der Auswahl ihrer Opfer akribisch vor und hinterlassen keine Spuren am Tatort. Gehören die Täter zum Kreis der „Animal Liberation Front“, kurz ALF, also zu einer autonomen Zelle radikaler Tierschützer? In welche Machenschaften und dunklen Geheimnisse sind manche der regionalen Waidmänner verstrickt? Oder wurzeln die Taten in völlig anderen Motiven und verfolgen ein ganz anderes Ziel? Das Ermittlerteam rund um Schorsch Bachmeyer steht in einem Wald voller Rätsel. Als dann Ben Löb vom israelischen Generalkonsulat in München seinen Freund Schorsch mit einer Eilmeldung des Mossad konfrontiert, geraten die Jägermorde in den Hintergrund. Ein Anschlag, der nicht nur die Frankenmetropole, sondern die gesamte westliche Welt in ihren Grundfesten zu erschüttern droht, könnte bevorstehen. Die Zeit rennt … Auch im fünften Fall um Kriminalhauptkommissar Schorsch Bachmeyer lässt der Autor den Leser tief in die Abgründe der menschlichen Seele blicken. Ein authentischer Fall – mit kulinarischen Geheimtipps, eigenwilligen Ermittlern und überraschenden Wendungen –, fesselnd bis zur letzten Seite. "Wieder ist es Ihnen gelungen, eine fesselnde Geschichte so zu verpacken, dass der Leser sich schwer tut, das Buch auf die Seite zu legen, ohne zu wissen, wie die Geschichte endet. Dank Ihrer Erfahrung auf dem Gebiet der Ermittlungen geben Sie dem Leser auch wieder eine Vielzahl von Einblicken in die Polizeiarbeit, die mit der Realität übereinstimmt". Dr. Walter Kimmel, Generalstaatsanwalt Nürnberg

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Roland Geisler Agitare – der Todesschweiß

Dieser Franken-Krimi ist ein Konstrukt aus Fiktion und abgewandelten Kriminalfällen der kriminalistischen Praxis und Forensik. Beides verschmilzt ineinander und führt den Leser durch die Geschichte.

Alle Figuren, bis auf manche zeitgeschichtlichen Personen, sind frei erfunden, teilweise wurden sie über einen »Fake Name Generator« inspiriert. Sofern diese Personen der Zeitgeschichte handeln oder denken wie Romanfiguren, ist auch dies ein Produkt der Autorenfantasie. Die einzige Ausnahme hierbei sind die geschäftsführenden Personen von Mercedes Benz in Wendelstein. Fiktiv sind ebenso einige der Handlungsorte in der Gegenwart.

Der Autor möchte dem Leser eine Handlung vermitteln, die eine gewisse Authentizität beinhaltet. Deshalb muss dem Geschichtenerzähler erlaubt sein zu sagen: Es ist zwar nur eine Geschichte, sie beruht aber auf realen Informationsquellen über verschiedene Verbrechenstatbestände, die in Teilen und unabhängig voneinander tatsächlich so oder so ähnlich vorgefallen sind. Lediglich manch taktischer und kriminalistischer Handlungsablauf der Gegenwart könnte im wahren Leben so erfolgt sein.

Alle Informationen über polizeiliche und strafprozessuale Ermittlungshandlungen sind als »offen« einzustufen, da diese für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind – z. B. BGBl. I, 2005, 3136. Alle diese Maßnahmen werden zudem im Internet durch verschiedene deutsche und ausländische Strafverfolgungsbehörden ausführlich beschrieben.

Roland Geisler

Dadord in Frangn

Band 5

Agitare … der Todesschweiß

Ein Kriminalroman aus der Schorsch-Bachmeyer-Reihe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dadord in Frangn 2019 © by Roland Geisler Veröffentlicht im Dadord-Frangn-Verlag, Inhaberin Lydia Hederer, Narzissenweg 10, 90530 Wendelstein. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Verlegerin und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet oder vervielfältigt werden. Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagmotive: © Thinkstock Abbildungen: © Thinkstock und Roland Geisler 963493564: © Manjurul/istock 815624554: © spaxiax/Getty Images 508296537: © Nixxphotography/Getty Images Lithografie von Louis Kramp – Wilddiebe – gemeinfrei Lektorat: Astrid Leder, Schwaig b. Nürnberg Druck: CPI books GmbH, Leck Made in Germany Erstausgabe 2019 ISBN 978-3-00-063429-1 2. Auflage

Alle Begierden, die nicht zum Schmerz führen, wenn sie nicht befriedigt werden, sind nicht notwendig, sondern sie enthalten ein Verlangen, das schnell schwindet, sobald sich zeigt, dass sie zu den schwer erfüllbaren gehören oder Schaden verursachen.

– Epikur –

Du bist der schönste Zufall meines Lebens.

Prolog

Montag, 30. April 2018, 02.35 Uhr, Lorenzer Reichswald, nahe Brunner Straße, 90475 Nürnberg

Der Erdtrabant leuchtete hell, die Vollmondnacht würde ihm den Weg weisen. Der Himmel war kaum bewölkt, die Temperaturen waren auf vierzehn Grad zurückgegangen und man konnte schon fast von einer klaren, ja für diese Jahreszeit zu warmen Nacht sprechen, der Wonnemonat war im Anmarsch.

Er verlangsamte seine Fahrtgeschwindigkeit und verließ die Fischbacher Hauptstraße nahe dem Sportgelände des TSV Fischbach und folgte der Brunner Straße, wo er nach kurzer Zeit rechts in einen Waldweg abbog und seinen Wagen abstellte. Er hatte für diese Nacht alles gründlich vorbereitet. Seit Wochen beobachtete er das Waldstück. Er hatte in der Nähe von vier Jagdkanzeln Wildkameras positioniert, die ihm in regelmäßigen Zeitabständen anzeigten, wann die Schlächter des Waldes ihre jagdlichen Einrichtungen bezogen. Seit Anfang April beobachteten sie fast täglich, wo die besagten starken Rehböcke standen, die zum Auftakt der Bocksaison ihr Leben lassen mussten. Ihr Leben für zartes, wohlschmeckendes Fleisch und deren unersättlichen Jagdtrieb.

Mit Ablauf des Tages würde das Töten unschuldiger Tiere, das alljährliche Gemetzel in dieser Jagdsaison beginnen. Nun aber würde sich das Blatt wenden. Denn schon heute sollte seine Jagdsaison beginnen, die Jäger sollten zu Gejagten werden. Er würde ihnen auflauern wie ein Wolf seiner Beute. Ihr Sterben, der Übertritt aus dem Leben in den Tod, würde allgegenwärtig sein. Dabei würden ihre Muskelkräfte erlahmen, eine allgemeine Mattigkeit würde sich über ihre Körper ziehen. Das Eigenvermögen, ihr Leben in einer bestimmten Sphäre selbst zu bestimmen, würde versagen. Ihre Herzen würden entweder schneller oder schwächer schlagen, ihr Lebensturgor würde entströmen zu einem eingefallenen hippokratischen Gesicht. Dessen spitze Nase, hohle Augen, eingefallene Schläfen, kalte und zusammengezogene, nach unten eingebogene Ohren sowie eine harte, gespannte, trockene Stirnhaut zeigen das Ende des Lebens an. Des Jägers Atmung wird dabei stöhnend und ängstlich, langsam bedeckt ein kalter, klebriger Schweiß seine Gliedmaßen. Sein Todesschweiß.1

Und er würde nicht eher ruhen, bis die Wut mit seiner Jagd, seiner Menschenjagd auf die verhassten Jäger, mit einem lang ersehnten Aufschrei im Lorenzer Reichswald verhallte.

Prolog 2

Freitag, 27. April 2018, 09.47 Uhr, Goma, Provinz Nord-Kivu, Demokratische Republik Kongo

Es dauerte nicht mehr lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Das nahegelegene Hôtel Cap Kivu war nur gut fünf Kilometer vom Flughafen entfernt. Der Langstreckenflug von Frankfurt nach Goma hatte seine Spuren hinterlassen. Beide würden sich einen Tag Erholung gönnen, bevor sie den nächsten Schritt ihres Plans in Angriff nähmen, der die Menschheit in Europa in ihren Grundwerten erschüttern sollte.

Es war kurz nach zehn Uhr am Vormittag, als sie den grauen Land Rover beladen hatten und auf der Hauptstraße in Richtung Beni fuhren. Bis zu ihrem Ziel waren es annähernd vierhundert Kilometer, im besten Fall neun Stunden mit dem Auto, falls nichts dazwischenkam. Anspannung machte sich breit. Seit Monaten hatten sie alles minutiös vorbereitet. Sie waren die Auserwählten. Kalif Ibrahim, der Führer des Kalifats, das am 29. Juni 2014 ausgerufen worden war, setzte auf sie. Die kumulativen Fallzahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 4. April 2018 bestätigten insgesamt neunundzwanzig Todesfälle in der Provinz Nord-Kivu. Es handelte sich um eine Variante derselben Virusspezies wie beim Ausbruch 2013/2014 in Zentralafrika. Das Sterben ging weiter.

Sie durften ihren Führer nicht enttäuschen. Durch ihr abgeschlossenes Studium der Biowissenschaften an der University of Chicago und der New Yorker Columbia University waren ihnen die Gefahren ihres Tuns bekannt. Denn nur ein klitzekleiner Fehler in der Umsetzung ihres Vorhabens würde ihr teuflisches Projekt gegen die Ungläubigen zum Scheitern verurteilen.

»Mein Bruder, die Zeit, unsere Zeit ist gekommen«, bemerkte der ältere der beiden. Mit festem Griff umklammerte er das Lenkrad des Jeeps und chauffierte seinen Begleiter bravourös auf der holprigen Straße Richtung Beni, die zusehends nach dem Verlassen der Provinzhauptstadt immer schlechter wurde und dem Fahrer sein ganzes Können abverlangte. Es war eine Staub- und Dreckpiste, auf der jede Spur innerhalb kürzester Zeit verweht wurde.

»Wohl wahr Bruder, wenn alles nach Plan verläuft, werden wir kommendes Wochenende wieder in Deutschland sein. Mit dem im Gepäck, worum uns unsere Brüder beneiden werden«, entgegnete der Jüngere. Seine funkelnden Augen waren auf seinen Begleiter gerichtet, dabei hob er seine rechte Hand in die Höhe, streckte seinen Zeigefinger in Richtung Himmel und deklamierte mit feierlichem Ernst: »Allahu Akbar!

Denn wie es in der Sure 25, Vers 55 geschrieben steht:

Dennoch verehren sie statt Allah das,

was ihnen weder nützen noch schaden kann.

Der Ungläubige ist ein Helfer

wider seinen Herrn.«2

Nach knapp zehn Stunden, es war kurz nach zwanzig Uhr, erreichten sie die Zufahrtsstraße zu einem abgelegenen Dorf nahe Beni. Schilder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit den Hinweisen:

Attention, Fièvre Ebola!

und

EBOLA SIGNS AND SYMPTOMS:

IF YOU HAVE FEVER,

DIARRHOEA AND VOMITING,

WITH AND WITHOUT BLEEDING,

GO IMMEDIATELY TO THE NEAREST HEALTH FACILITY.

ließen die ankommenden Besucher unschwer erkennen, dass sie sich in einem Ebola-Endemie-Gebiet befanden. Sie waren angekommen.

Die Dämmerung setzte ein und wie von Kalif Ibrahim angekündigt, sollte es eine klare Nacht werden. Der zunehmende Halbmond kündigte bereits die anstehende Vollmondphase an. Es war hell genug, der leicht verschleierte Erdtrabant würde ihnen den Weg zur Quelle des Bösen weisen. Der Zufahrtsbereich zum Friedhof war ebenso mit mehrsprachigen Hinweisschildern bestückt. Sie parkten ihr Fahrzeug unweit eines kleinen Pfades, der von einer Marula-Baumreihe abgeschirmt wurde. So waren es nur noch zirka 30 Meter, als vor ihnen ein Hinweisschild

CEMETERY/CIMETIÈRE

MAKABURI

auftauchte. Hier lagen sie also, die Opfer mit der Diagnose virales hämorrhagisches Fieber, dessen Infektion bis zu neunzig Prozent tödlich verlief.

Im Schein des Mondlichts suchten sie nach frisch aufgeschütteten Gräbern. Alle Opfer im Provinzbezirk Beni wurden nach ihrem Tod in einen virendicht versiegelten Leichensack verpackt und hier auf diesem abgelegenen Friedhof begraben. Sie zogen sich ihre extraterrestrisch anmutenden Schutzanzüge über und begannen im Schweiße ihres Angesichts ein augenscheinlich neues Grab aufzugraben.

Es war kurz vor Mitternacht, als der ältere Biologe den Leichensack mit einem Teppichmesser öffnete. Hörbar trat Luft aus, die fäulnisbedingte intravasale Gasbildung des männlichen Opfers setzte sich fort. Dann ging alles sehr schnell. Der Jüngere öffnete mit einem Skalpell die Bauchdecke des Verstorbenen und legte mit einem chirurgischen Spreitzer seine Bauchhöhle frei. Der Austritt von Fäulnisflüssigkeit und die Gasblähung von Abdomen und Skrotum verursachte ein hörbares Grummeln, Glucksen und Knacksen. Dann öffnete er mit einem gekonnten Schnitt den Dickdarm und entnahm neben den Exkrementen etwas Körperflüssigkeit. Denn genau hier konnte sich der Erreger des Virus ausreichend im Endwirt vermehren. Es war ihr Schlüssel zum Erfolg, daraus die tödliche Substanz in Deutschland zu extrahieren, das Virus weiter zu kultivieren und es dann gezielt zu verbreiten.

Es war bereits weit nach Mitternacht, der neue Tag hatte begonnen, als sich die Grabstätte wieder in ihrem ursprünglichen Zustand befand. Nichts deutete darauf hin, dass hier und heute der Anfang eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit begonnen hatte. Sie blieben unentdeckt. Nachdem sie sich gegenseitig dekontaminiert hatten, verstauten sie ihre Utensilien zur Bergung des Virus in einem blauen Müllsack, der kurze Zeit später in einem nahegelegenen Müllcontainer in Flammen aufging. Das kostbare Erregermaterial deponierten sie sicher verpackt unter dem Rücksitz ihres Geländewagens.

Es war vollbracht. Der ältere der beiden holte sein Satellitentelefon hervor und wählte die Nummer seines Herren und Auftraggebers, der kurze Zeit später das Gespräch annahm. »Gott ist am Größten, kommt nach Hause, wir sind alle stolz auf Euch«, entgegnete Yazeed Fadl Allah Shadid.

1. Kapitel

Dienstag, 1. Mai 2018, 05.11 Uhr, Lorenzer Reichswald, nahe Netzstaller Weg, 90475 Nürnberg

Es war kurz nach fünf Uhr, knapp vor Morgengrauen, als Joseph Gottlieb, ein leicht untersetzter Mitfünfziger, von seinen Jagdgenossen nur Sepp genannt, seinen Suzuki Jimny hinter einer Schwarzdornhecke parkte. Vorsichtig öffnete Sepp die Heckklappe, zog sich seinen olivfarbenen Jagdparka über und holte seinen olivgrünen Rucksack und seine Repetierbüchse hervor. Er stellte den Rucksack am Waldboden ab und lehnte sein Gewehr an eine angrenzende Buche. Dann griff er in die aufgesetzte Seitentasche seiner Jagdhose und holte ein Seifenblasenbehältnis hervor, um kurz danach festzustellen, ob sich möglicherweise der Wind gedreht hatte. Der Wind passte, wie es ihm seine Wetter-App gestern Abend noch vorausgesagt hatte. Sepp grinste, seine Augen funkelten und er kraulte sich zufrieden seinen grauen Spitzbart, der sein kantiges und spitz zulaufendes Gesicht unterstrich. Zufrieden schulterte er seinen Rucksack und sein Gewehr, bevor er seinen Hut aufsetzte und leise die Türen seines Geländewagens verschloss.

Die Windrichtung zu bestimmen, war das A und O jedes Jägers, denn im falschen Wind saß man vergeblich. Das Wild witterte den Menschen bereits auf große Distanzen und heute sollte sein Tag sein. Der Tag, an dem ein drei- bis vierjähriger Rehbock auf seiner Abschussliste stand, den er seit Wochen beobachtete. Es war ein starker Bock, dessen Wildkörper sich deutlich von den herkömmlichen ein- oder zweijährigen Böcken abhob. Er war muskulös, bullig und konturenreich, seine Gesichtsmaske war daher nicht mehr bunt und auch nicht mehr scharf gezeichnet, da seine Farbränder ineinander verliefen. Durch sein kantiges, kurzes Haupt wirkte zudem sein Gesichtsausdruck deutlich ernster gegenüber Jungböcken. Sein Körperwachstum war abgeschlossen.

Der Lorenzer Reichswald hatte einen sehr guten Bestand an Rehwild. Es war daher nicht nur bei Jägern ein beliebter Gaumenschmaus, dieses edle Wildbret zu genießen, auch die umliegende Gastronomie schätzte es, diese Wildsorte auf ihrer Speisekarte zu führen. Für seinen ersten Abschuss in der neuen Jagdsaison hatte er die »Schlehenkanzel« ausgewählt. Diese Jagdeinrichtung lag in der Nähe einer Waldlichtung fernab von Gehwegen und war daher in der Morgendämmerung auch ohne Lichtquelle gut anzupirschen.

Er hatte sich darüber mit seinen Jagdkollegen abgesprochen, heute am 1. Mai 2018 würde ihn hier keiner beim Ansitz stören. Kein anderer Jagdkollege würde die Schlehenkanzel besetzt haben. Heute war er allein im Revier und würde warten, bis der starke Bock, wie in den vergangenen Tagen beobachtet, frühmorgens aus dem Dunkel des Waldes hervortrat und zum Äsen den Wildacker an der Waldlichtung aufsuchte.

Gottlieb hasste es zudem, von Joggern oder Mountainbikern beim Ansitz gestört zu werden. Diese auserwählte Reviereinrichtung lag daher abseits möglicher Wanderwege. Sie gehörte mit einer Leiterhöhe von 7 Metern im Revier zu den höchsten Jagdkanzeln und verschaffte meist einen guten Anblick auf Reh-, Schwarz- und Raubwild, wie sie es in der Waidmannsprache nannten. Gottlieb schaltete sein Mobiltelefon auf lautlos und pirschte sich unter dem Morgengesang verschiedener Waldvögel vorsichtig an die Schlehenkanzel heran. Es waren meist männliche Singvögel, die im frühen Morgengrauen, abhängig von den jeweiligen Mondphasen, mit ihrem Gezwitscher den Wald weckten und lebendig machten, ihm sozusagen neues Leben einhauchten.

Sepp war angekommen. Er schulterte den Gewehrgurt um die rechte Schulter und führte dabei bäuchlings die Waffe vor sich her, um zu verhindern, dass der Gewehrkolben an den einzelnen Leitersprossen anschlug und so möglicherweise das Wild vergrämte. Aber Sepp Gottlieb war nicht der Einzige in seinem Revier, der das Wild vergrämen konnte. Bereits seit vier Uhr morgens hatte sich jemand auf die Lauer gelegt. Jemand, der diesen Tag genau so sehnlichst erwartet hatte wie Sepp Gottlieb.

Es war kurz vor halbsechs. Sepp Gottlieb hatte nur noch zwei Sprossen zu überwinden, bis er die Kanzelplattform erreichte und die Tür der Schlehenkanzel öffnen konnte. Plötzlich und unvermittelt beendete ein Krachen und Bersten die Idylle. Kurz zuvor, als Gottlieb mit seiner rechten Hand den sicheren Haltebügel der Kanzelplattform erreichte und er seinen linken Fuß nachzog, um mit beiden Füßen die drittletzte Sprosse zu betreten, krachte diese unter Gottliebs Last weg. Sepp Gottlieb verlor sein Gleichgewicht und stürzte seitwärts nach rechts samt seiner Jagdausrüstung sechs Meter in die Tiefe. Dabei fiel er so unglücklich, dass er sich durch die Wucht des Aufpralls die Gewehrmündung durch den Unterkiefer und weiter durch den Oberkiefer rammte. Die Folgen dieser massiven Gewalteinwirkung waren verheerend. Sepp Gottlieb erlitt eine Schädelbasisfraktur und blieb schwer verletzt am Boden liegen.

Dienstag, 1. Mai 2018, 05.42 Uhr, Lorenzer Reichswald, nahe Netzstaller Weg, 90475 Nürnberg

Vorsichtig trat er an sein Opfer heran, das mit starrem Blick und weit aufgerissenen Augen röchelnde Laute von sich gab. Erkennbar hielt es dabei in seinem Todeskampf mit seinen beiden Händen den Gewehrlauf umklammert und versuchte, diesen aus seinem Unterkiefer zu ziehen. Vergebens. Beide Augen waren blau unterlaufen und aus seiner Nase trat schwallartig Blut hervor. Offensichtlich hatte die schwere Verletzung ein Blutgefäß getroffen, was zum baldigen Tod des Jägers führen würde.

Stille kehrte ein, die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich im Osten des Reichswalds. Er griff in seine Jackentasche, holte ein paar Gummihandschuhe hervor und zog sie über. Dann riss er dem Schwerverletzen den Gewehrriemen von der Schulter. Mit einem kräftigen Ruck entfernte er den Büchsenlauf aus dem Schädel seines Opfers und legte das Gewehr auf dem Boden ab. Kurz darauf durchsuchte er den Rucksack sowie die Jacken- und Hosentaschen des Waidmanns. Abgesehen von einem mitgeführten Revolver, den er aus dem Schulterholster von Gottlieb zog, förderte er aus dessen Rucksack neben einem Fernglas nicht nur ein Nachsichtgerät zutage. Im Rucksack befanden sich außerdem noch Munition, der Jagdschein des Opfers sowie eine Revierkarte, welche die Reviergrenzen und die einzelnen Jagdeinrichtungen angab. Er packte alle Utensilien in den Rucksack, begab sich zu einer angrenzenden Fichtenreihe und schnitt eine Zweigspitze ab, die er unmittelbar danach mit den Worten: »Hier, dein letzter Bissen«, in den Mund des Opfer steckte.

Es war kurz nach sechs, als er mit der Jacke des Opfers den blutigen Gewehrlauf abwischte, den Rucksack schulterte und schnellen Schrittes die Unglücksstelle verließ.

Dienstag, 1. Mai 2018, 12.45 Uhr, Friedrich-Luber-Str. 72, 90592 Schwarzenbruck

Traudl Gottlieb drückte erneut die Wahlwiederholung ihres Telefons. Ihr Ehemann war seit zwölf Uhr mittags überfällig. Die Klöße waren zerkocht und Traudl Gottlieb hatte ein mulmiges Gefühl, da Sepp immer pünktlich zum Mittagessen erschien. Seit 28 Jahren war auf ihn Verlass, Sepp war immer überpünktlich und wenn er einmal im Stau stand oder eine Besprechung länger dauerte, dann meldete er sich. Heute war alles anders. Traudl spürte insgeheim, dass etwas passiert sein musste. Wenn ihr jetzt jemand helfen konnte, dann war es sein Jagdkollege Bruno Sugula.

Sepp und Bruno hatten sozusagen ein gemeinsames Jägerleben. Sie kannten sich seit über 30 Jahren, hatten gemeinsam ihren Jagdschein gemacht und waren beide im Jagdschutz- und Jägerverein Nürnberger Land sehr aktiv. Alle möglichen Events der Jagdgenossen im Nürnberger Land wurden von den beiden organisiert und vorbreitet. Ihr Engagement für die Jägerei fand nicht nur bei Waidmännern in Mittelfranken große Beachtung, Sepp und Bruno waren auch für den Bayerischen Jagdverband sehr aktiv, zumal Bruno auch als Lehrender für angehende Jungjäger bei der Jagdschule Frankenland in Erscheinung trat.

»Servus Traudl, hat Sepp seinen Bock?« Sugula erkannte die Telefonnummer auf dem Display.

»Hallo Bruno, ich rufe dich an, weil ich mir Sorgen um Sepp mache. Du weißt doch, er ist heute Morgen zur Bockjagd ins Revier gefahren. Normalerweise meldet er sich dann über WhatsApp, wenn er etwas geschossen hat oder gibt durch, wenn er wieder zurückfährt. Wie immer wollten wir heute um zwölf Uhr Mittagessen. Sepp meldet sich nicht, da muss was passiert sein«, klagte Traudl.

»Du Traudl, ich kenne die Stelle, wo Sepp auf den Bock ansitzt, ich fahre mal raus und sehe nach«, entgegnete der Jäger.

Dienstag, 1. Mai 2018, 14.11 Uhr, Kriminaldauerdienst, Polizeipräsidium Mittelfranken

Heidi Baumann hatte es wieder einmal erwischt, der Feiertag am Dienstag wurde abermals zum Diensttag. Es war kurz nach vierzehn Uhr, als sie den Notruf eines Jägers annahm, der ihr einen tragischen Unfall mit Todesfolge im Lorenzer Reichswald mitteilte. Die zweiundvierzigjährige Kriminaloberkommissarin griff zum Telefon und informierte den Bereitschaftskollegen vom Nürnberger K11.

Schorsch Bachmeyer und seine Lebensgefährtin Rosanne hatten es sich gerade auf ihrer großen Couch gemütlich gemacht. Der Wonnemonat weckte nicht nur bei der Tier- und Pflanzenwelt gewisse Triebe. Rosanne und Schorsch hatten daher für den Nachmittag nichts Spezielles eingeplant. Sie lagen halbnackt auf dem Sofa, Flagalutzi war angesagt. Rosanne hatte gerade eine Flasche Rotkäppchen geköpft und zwei Gläser eingeschenkt, als das Telefon klingelte.

»Servus Heidi, ich sehe, du hast schon wieder die Arschkarte am Feiertag gezogen und ich habe schon eine kleine Vorahnung, dass mein Feiertag auch gelaufen ist. Was gibt es?«

»Hallo Schorsch, da hast du gar nicht so unrecht. Wir haben einen toten Jäger im Lorenzer Reichswald. Eine Streife ist schon vor Ort und hat mir soeben die Angaben des mitteilenden Jägers bestätigt. Ein Jagdkollege wurde tot aufgefunden. Dem ersten Anschein nach stürzte der von der Jagdkanzel und hat sich dabei eine massive Gesichtsverletzung zugezogen, die vermutlich auch zu seinem Tod geführt hat. Soeben hat ein Notarzt den Tod des Geschädigten bestätigt. Also da ist Handlungsbedarf angesagt. Fahrt mal raus und seht nach, denn dummerweise fehlt dem Opfer nicht nur sein Gewehr, auch andere mitgeführte Utensilien sind laut des vor Ort befindlichen Hinweisgebers verschwunden. Da stimmt was nicht. Die genaue Wegbeschreibung schick ich dir aufs Handy. Robert und sein Team habe ich schon mal vorausgeschickt«, beendete Heidi das Telefonat.

Es war kurz nach fünfzehn Uhr, als Schorsch Bachmeyer und seine Kollegin, Gunda Vizthum, den Lorenzer Reichswald erreichten. Schon von Weitem konnten sie einen Rettungswagen, zwei Einsatzfahrzeuge ihrer uniformierten Kollegen und den weißen Mercedes Sprinter ihrer Tatortgruppe sehen. Zwei Kollegen waren gerade dabei, mit Absperrband die Zufahrt zum Waldgebiet zu blockieren. Schorsch legte die Anhaltekelle mit der Aufschrift »Polizei« auf die Frontablage und näherte sich im Schritttempo und mit heruntergelassener Scheibe den Einsatzkräften.

»Servus miteinander, Vizthum und Bachmeyer vom K11, wir wurden verständigt, dass es hier einen Toten gibt.«

»Ja, ihr werdet schon erwartet.« Die Kollegin hob das Absperrband an und zeigte in Richtung der Unglückstelle. »Dorthin fahren, bis zu dem grünen Jimny, dann geht es fußläufig noch zirka zweihundert Meter in den Wald hinein. Wir haben den Weg gerade farblich gekennzeichnet,« erläuterte sie.

Schorsch und Gunda stellten ihr Dienstfahrzeug ab und orientierten sich am Absperrband, wo sie kurze Zeit später an einer Waldlichtung eintrafen.

»Servus Gunda, Servus Schorsch«, begrüßte sie Robert Schenk, der Leiter ihrer Spurensicherung, »wir sind fast fertig mit unserer Tatortarbeit. Da hat jemand ganze Arbeit geleistet und die letzten drei Sprossen vom Hochsitz von hinten angesägt. Der Geschädigte ist dann von zirka fünf bis sechs Meter gestürzt und hat sich dabei tödliche Verletzungen am Schädel zugezogen. Der Täter muss vor Ort gewesen sein. Das Makabre an der Geschichte, dem Geschädigten wurde ein Fichtenzweig in die Mundhöhle gesteckt.« Robert schüttelte nachdenklich seinen Kopf und blickte in die Runde.

»Unter Jägern sagt man dazu letzter Bissen«, antwortete ein unbekannter grauhaariger Mann, Ende fünfzig, der in Jagdbekleidung unweit des Tatorts auf einem Baumstumpf saß. Sichtlich schockiert stützte er mit seinen beiden Handflächen seine linke und rechte Wange und verfolgte mit starrem Blick die Arbeit der Tatortgruppe.

Robert Schenk nickte bejahend und deutete auf ihn: »Das ist Bruno Sugula, ein Jagdkollege des Geschädigten und ein ehemaliger Kollege von uns. Bruno hat früher bei der PI West seinen Dienst verrichtet, bis er vorzeitig in den Ruhestand wechselte. Er hat das Opfer, Joseph Gottlieb, so vorgefunden. Dieser wollte heute Morgen auf die Bockjagd. Hier seine mitgeführten Ausweispapiere und sein Autoschlüssel.« Robert überreichte Schorsch eine Asservatentüte mit den persönlichen Gegenständen des Opfers und fügte hinzu: »Seine Jagdwaffen und mögliche Gegenstände, die man zur Jagd eigentlich immer mitführt, also das Fernglas oder ein Jagdrucksack, fehlen jedoch. Es sieht so aus, als ob sich diese Gegenstände jemand widerrechtlich angeeignet hat.«

In diesem Augenblick klingelte Sugulas Mobiltelefon. Es war Traudl Gottlieb, die Frau des Opfers. Sugula drückte die Anruferin wiederholt weg und bemerkte: »Das ist schon wieder die Traudl, seine Frau. Die will wissen, was mit Sepp los ist. Ich kann ihr das am Telefon nicht sagen.«

Schorsch und Gunda sahen nachdenklich zu ihm herab. »Wir machen das schon«, sagte Gunda und fasste den trauernden Kollegen an seine rechte Schulter.

»Aber Robert, wie kommt es zu den massiven Verletzungen im Kopfbereich?«, fragte Schorsch, der sich zwischenzeitlich mit Gunda einen Schutzoverall übergezogen hatte und kniend neben der Leiche dessen Gesichtsverletzung betrachtete.

Robert begann: »Schorsch, diese markanten Verletzungen, die vermutlich zum Tod von Gottlieb geführt haben, dazu kann uns nur Doc Fog etwas Genaueres sagen. Es sieht so aus, als wäre da ein stumpfer Gegenstand in den Unterkiefer eingedrungen. Zuerst dachte ich an einen Schuss, also einen herkömmlichen Jagdunfall. Aber wir konnten keine Schusswaffen am Tatort vorfinden. Fest steht zumindest, dass die Sprossen durch einen Dritten angesägt, also manipuliert wurden. Der Geschädigte hat meines Erachtens in der Dämmerung beim Aufbaumen diese Manipulation nicht bemerkt. Das sieht mir nach einem vorsätzlichen Kapitalverbrechen aus«, schloss Robert.

»Wie, beim Aufbaumen?«, fragte Schorsch.

»Aufbaumen bedeutet in der Waidmannsprache das Besteigen der Jagd-einrichtung, also hier der Kanzel«, antwortete Robert, der selbst seit achtzehn Jahren diesem Hobby frönte.

»Du wieder mit deiner Jägersprache«, schmunzelte ihm Schorsch entgegen. »Aber Robert, ganz ehrlich, ich wollte auch schon immer mal die Jägerprüfung machen. Mein Großvater war damals als Jäger bei einem Rittergutbesitzer in Schlesien angestellt. Sehr oft war damals mein Vater als Kind bei der Pirsch dabei, wusste also schon als kleiner Junge über die Jagd Bescheid. Er selbst hatte nie einen Jagdschein besessen, aber die Jagd in seiner Kindheit mit seinem Vater hat ihn dazu geprägt, selbst auf die Jagd zu gehen. Allerdings ohne Jagdschein. Er war schlichtweg ein Wilderer, der sich nie hatte erwischen lassen. Sein Revier lag direkt vor unserer Haustüre. Der Faberwald. Aber nun wieder zurück zu unserer Leiche«, schloss Schorsch nachdenklich.

Gunda kniete vor dem Toten und betrachtete die klaffende Wunde am Unterkiefer, als sie kurze Zeit später anmerkte: »Was sind das für Ausscheidungen hier?« Sie ergriff mit ihrer rechten Hand den Unterkiefer von Sepp Gottlieb. Die eintretende Erstarrung seiner Kaumuskeln aufgrund der einsetzenden Leichenstarre machte sich bereits bemerkbar, Gunda benötigte beide Hände, um den Kiefer nach unten zu drücken. Sie entfernte vorsichtig den Fichtenzweig, Gottliebs Mundhöhle und sein Rachenraum war mit Erbrochenem gefüllt. Gunda richtete ihren Blick zu Robert und Schorsch und erläuterte: »Es könnte sein, dass er sich durch den Sturz eine Schädelbasisfraktur zugezogen hat und dann an seinem Erbrochenem erstickt ist. Oder er verlor durch den Sturz und durch die massive Gewalteinwirkung im Unter- und Oberkiefer sofort sein Bewusstsein. Über die genaue Todesursache werden wir aber erst aufgeklärt, wenn ihn Doc Fog auf seinen Tisch hatte.«

»Ja, Alois wird das herausfinden«, entgegnete Schorsch, der noch einmal die Sprossen der Leiter in Augenschein nahm. »Robert, der Täter wusste genau, was er machte und was er damit wollte. Er nahm den Sturz und den Tod unseres Opfers nicht nur billigend in Kauf, unser Täter hat diese Tat perfide geplant und den Tod von Gottlieb beabsichtigt. Aber warum gerade hier?«, fragte Schorsch in die Runde.

Bruno Sugula, der immer noch sichtlich betroffen auf dem Baumstamm saß und den Ausführungen der Kollegen lauschte, entgegnete: »Wieso wusste der oder vielleicht auch die Täter, dass Sepp genau diese Kanzel für seine Bockjagd nutzte? Wir haben noch fünf andere Jagdeinrichtungen hier in diesem Abschnitt, vielleicht sollten wir dort auch mal nachsehen.«

Robert Schenk bestätigte ihm nickend sein Anliegen und sagte dann in die Runde: »Das sollten wir in jedem Fall gleich im Anschluss tun. Wer sagt uns, dass unser Täter nicht noch Gehilfen hatte und diese noch andere Manipulationen vorgenommen haben? Vielleicht finden wir zudem noch verwertbare Spuren, mögliche DNA oder sonstige Beweismittel.«

»So machen wir das, wenn die beiden Herren ihre Arbeit getan haben«, erwiderte Gunda, die ihren Blick auf die ankommenden Bestatter warf, die mit einem Leichenbergesack nahe der angrenzenden Fichtenschonung sich gerade einen Weg durch das unwegsame Gelände frei kämpften.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis Sepp Gottlieb eingetütet war und einer der Bestatter fußwärts von Gottlieb mit seinem Mittelfinger in einen silbernen Metallring griff und mit einem kratzenden Geräusch den Reißverschluss nach oben zog, um den Bergungsvorgang des Opfers abzuschließen.

Schorsch bemerkte: »Meine Herren, der kommt nach Erlangen in die Rechtsmedizin, Professor Dr. Nebel wird sich den ansehen.« Dann holte Schorsch sein Telefon hervor und wählte dessen Mobilfunknummer.

»Ja Schorsch, was gibt es? Ich bin gerade an der Wiesent, heute ist die Schonzeit für die Forellen vorbei. Ich habe schon eine Rotgetupfte im Körbchen liegen.« Der Doc erkannte Schorschs Mobilfunknummer.

»Nicht nur die Forellen«, entgegnete Schorsch, »auch der Bock ist heute offen, seine Jagdsaison hat heute ebenso begonnen.«

»Bist edzerdla unter die Jäger ganga?«, fragte Alois Nebel nach, der von allen Ermittlern nur Doc Fog genannt wurde.

»Wäre ich gerne, aber ich habe heute mit Gunda Bereitschaft. Ich rufe dich wegen eines Opfers an, das du dir morgen mal anschauen solltest.« Als er dem Doc die Auffindesituation von Gottlieb erklärt hatte, machten sie sich unter Führung von Sugula auf den Weg zu den weiteren Kanzeln im Reviergebiet.

Dienstag, 1. Mai 2018, 16.02 Uhr, Lorenzer Reichswald

Bruno Sugulas Furcht, dass noch an anderen Kanzeln im Revier ein Anschlag vorgenommen wurde, hatte sich bestätigt. Bei allen fünf Jagdkanzeln wurden an den letzten drei Stufen Manipulationen vorgenommen. Der oder die Täter sägten die Sprossen bis zur Hälfte durch und kaschierten dann heimtückisch die Sägestellen mit einer brau-grauen Masse, sodass diese später nicht auffielen und jeder, der diese Leiter besteigen würde, in die Falle tappte, sein Gleichgewicht verlor und mit großer Wahrscheinlichkeit abstürzte.

Robert Schenk und sein Team sicherten Teile dieser undefinierbaren Masse, dokumentierten und asservierten die angesägten Sprossen und kennzeichneten die defekten Leitern mit einem Polizeiabsperrungsband, das sie gut sichtbar an den beschädigten Hochsitzen anbrachten.

Schorsch, Gunda, Robert mit seinem Team und Jäger Sugula waren wieder an Gottliebs Jimny angelangt. Schenk durchsuchte den Geländewagen, um kurze Zeit später festzustellen: »Es sieht wirklich so aus, als ob der oder die Täter die Waffen und sonstige jagdlichen Utensilien des Opfers mitgenommen haben. Wir müssen wissen, was Herr Gottlieb heute Morgen dabeihatte.«

Bruno Sugula, der aufmerksam das Geschehen mitverfolgte, begann: »Sepp hatte zur Bockjagd immer seine .308 Repetierbüchse der Marke Blaser dabei. Sein Revolver, einen Smith & Wesson im Kaliber .357 Magnum, fehlt ebenso. Zudem fehlen sein Rucksack und sein Fernglas. Diese Gegenstände muss jemand mitgenommen haben. Es wird uns Gewissheit geben, wenn wir in seinem Waffenschrank nachsehen. Wir müssen ja sowieso seiner Frau die traurige Nachricht überbringen«, schloss der Jagdkollege.

Nickend sah Gunda zu Sugula und fügte hinzu: »Am besten wäre es, wenn wir das gemeinsam machen, Sie kennen seine Frau ja persönlich. In solch einer schmerzlichen Stunde braucht man jemanden, der einem seelisch beisteht und tröstende Worte findet. Ein guter Freund und Weggefährte scheinen hier am besten angebracht zu sein. Es wäre nett, wenn Sie uns hierbei unterstützen und gerade im Hinblick auf die entwendeten Waffen ist ein Fachmann und Jagdkollege sehr hilfreich für uns«, sah ihn Gunda mit fragendem Blick an.

»Natürlich, das ist meines Erachtens die beste Lösung, denn Traudl braucht jetzt jemanden, der ihr in dieser schmerzlichen Zeit nahesteht, also fahren wir«, schloss Sugula in sich gekehrt und schlenderte mit gesenktem Kopf zu seinem Fahrzeug.

2. Kapitel

Mittwoch, 2. Mai 2018, 17.28 Uhr, N’Djili International Airport, Kinshasa

Sie hatten es geschafft und das Check-in hinter sich gelassen. Hier in der ehemaligen Kolonie Belgisch-Kongo und späteren Republik Zaire wurden die Sicherheitsvorkehrungen nicht so strenggenommen. Über ihre belgischen Reisepässe brauchten sie sich ohnehin keine Gedanken machen, diese hielten jeder Kontrolle stand. Ihr Kontaktmann in der kongolesischen Botschaft – Rue Marie de Bourgogne 30, 1000 Brüssel – hatte ganze Arbeit geleistet, denn die visarechtlichen Einreisedokumente für ihren Aufenthalt waren Originale, ausgestellt auf den belgischen Staatsangehörigen Dr. Mohamed Goossens, geboren am 05.01.1979 in Antwerpen, und Hassan Ibrahim Buhari, geboren am 05.06.1977 in Zaire. Hatten sie die belgische Hauptstadt einmal erreicht, würde der Weiterreise nach Franken nichts mehr im Wege stehen. Innerhalb der Europäischen Union war man zwischenzeitlich unter den muslimischen Glaubensbrüdern gut vernetzt, man konnte nicht nur schnell untertauchen, sondern es bestand seit Ende 2015 zudem die Möglichkeit, ohne Überwachung Kontakt mit Führungsgrößen des IS aufzunehmen.

Denn die Flüchtlingsströme der Asylbewerber bestanden nicht nur aus überwiegend jungen Männern aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Nordafrika, die in Europa Schutz oder ihr Glück suchten. Auch der Islamische Staat hatte diesen Weg, ihren Glauben in die westliche Welt zu exportieren, entdeckt und wusste ihn zu nutzen. So wurden bestimmte Glaubensbrüder ausgewählt, welche sich in den Strom der tatsächlich Asylsuchenden oder der regulären, auch akademischen Zuwanderer mischten. Die schiere Menge und heterogene Struktur der Neuankömmlinge begünstigte es, in der Masse unterzutauchen. Die sogenannten Schläfer des Islamischen Staates konnten sich etablieren.

Nur mit ihnen konnte man ein Terrornetzwerk bei den Ungläubigen unterhalten und gezielt durchdachte Terroranschläge im Namen Allahs durchführen. Egal ob dies nur kleine gezielte Nadelstiche beinhaltete, einen Anschlag mit dem Auto oder LKW in einer Menschenmasse oder einen Sprengstoffanschlag. Terror zu verbreiten, die Ungläubigen im Namen Allahs in Angst und Schrecken zu halten und dafür noch in den Medien die passende Plattform zu gewinnen, das war das große Ziel. Genau diese Strategie verfolgte der Islamische Staat.

Als perfektes Kommunikationsmittel hierfür standen auch dem IS die seit Beginn der 2000er-Jahre zunehmend ausgebauten mobilen Breitbandnetze in seiner ursprünglichen Heimat zur Verfügung. Der Rückstand an technologischer Infrastruktur – Telefon, Computer, Internet – wurde auch in weiten Teilen Afrikas und des Nahen Ostens durch einen Sprung direkt in die mobile Kommunikationstechnologie aufgeholt. Wozu aufwändig Kabel bis in entlegene Gegenden und jedes Haus verlegen, wenn der Mobilfunk doch längst oft bessere Lösungen bietet? Auch der Geldverkehr wird in manchen Ländern weit selbstverständlicher über mobile Anwendungen erledigt, als in Europa üblich. Der damit entstandene Markt für Mobiltelefone war so attraktiv, dass alle großen Hersteller mit regional erschwinglichen Gerätevarianten oder Second-Hand-Ware die Nachfrage deckten. Nahezu jeder Asylsuchende brachte so bereits ein Smartphone oder wenigstens ein Handy mit, oft als einzigen Wertgegenstand und überlebenswichtigen Begleiter auf der Reise. Der Minicomputer für die Hosentasche ersetzt die Brieftasche, den Straßenatlas, den Postkasten, das Telefonbuch und das Fotoalbum. Kommunikation ist ein Grundbedürfnis. Sei es mit Verbliebenen im Heimatland oder mit denjenigen, die sich noch auf der Flucht befanden oder an einem anderen Ort gestrandet waren. Sei es mit Schleppern oder anderen Helfern oder Behörden.

Die Kommunikationsmöglichkeiten von WhatsApp, Viber, Facebook und Co. ermöglichten ein günstiges oder kostenfreies, mitunter verschlüsseltes Telefonieren, wenn man nur eine Prepaid-Sim-Karte und einen öffentlichen WLAN-Hotspot für den Internetzugang hatte. Jeder Hauptbahnhof, viele Fastfood-Restaurants und einige Modeketten oder Discounter bieten in Deutschland längst unbegrenzt oder zumindest für eine Stunde kostenlosen Netzzugang. Diese Option machte sich auch der Islamische Staat zu eigen. Wer sollte schon in der Menge der VoIP-Gespräche ins Ausland gezielt ihre Telefonate herausfiltern? Lediglich in dortigen Führungspositionen griff man vereinzelt noch auf die Satellitentelefonie zurück.

Das große Ziel des IS war jedoch, ein globales Netzwerk im Darknet aufzubauen, um mit verschiedenen Terrororganisationen, wie z. B. Al Qaida, ein gemeinschaftliches, schlagkräftiges Terrornetzwerk zu etablieren, welches dann unter gewissen Strukturabläufen weltweit operieren konnte.

Es war kurz nach achtzehn Uhr, als die Boeing 777-300 der Ethiopian Airlines abhob. Erst nach einem fast zwanzigstündigen Nachtflug mit einem Zwischenstopp in Wien würden sie ihr Ziel, den Flughafen Brüssel Zaventem, erreichen. Ihre tödliche Fracht hatten sie sicher vor einer möglichen Zollkontrolle in einem Geheimversteck deponiert. Dazu nutzten sie eine Cola-Dose, die als präparierter Flaschentresor diente. Solche industriell angefertigten Geheimverstecke dienten nicht nur Kriminellen als mögliches Drogenversteck, auch in so manchem Haushalt wurde dieser getarnte Gegenstand zur Aufbewahrung von Geld oder Wertgegenständen benutzt. Der Erwerb war ziemlich einfach. Bei Amazon und Co. gab es hierfür unter dem Schlagwort »Dosensafe« oder »Geldversteck« eine große Auswahl. Von der Cola- und Raviolidose bis zum Energiegetränk, das einem Flügel verlieh, fand jeder sein passendes Geheimdepot.

Donnerstag, 3. Mai 2018, 14.28 Uhr,Flughafen Brüssel Zaventem

Es lief alles wie am Schnürchen. Auch hier in Belgien war, wie in der Bundeshauptstadt, das Sicherheitssystem von muslimischen Clans unterwandert. Hatte man im November 2017 bei der Berliner Polizei das Problem der gesteuerten Unterwanderung durch kriminelle arabische Clans erkannt, die im Bereich der organisierten Kriminalität eingesetzt waren, wurde hier in Brüssel diese Thematik weitgehend verdrängt. Zu groß waren die Bedenken der dortigen Regierenden, dass aufgrund der Vielzahl unterschiedlicher Kulturen in diesem Land der Rassismus in den Sicherheitsbehörden neu aufleben würde. Belgien war neben Frankreich sehr multikulturell geprägt, zumal erst 1962 die letzten Kolonien von Belgien ihre Unabhängigkeit erhielten und der Zustrom von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien allgegenwärtig war.

Kurz nach den grenzpolizeilichen Einreiseformalitäten begaben sich Mohamed Goossens und Hassan Ibrahim Buhari zum Gepäckband, wo sie unbehelligt ihr Reisegepäck aufnehmen konnten und die Zollkontrolle passierten. Es war geschafft, sie hatten wieder die Europäische Union erreicht. Ab hier war man sicher, man hatte den Tod der Ungläubigen im Gepäck, den Stoff, der bald schon ein neues teuflisches Kapitel in der Geschichte des Abendlandes schreiben würde. Der ältere der beiden zog sein Mobiltelefon aus seiner Jackentasche, scrollte nach einer Telefonnummer. Kurz nachdem sich die Verbindung aufgebaut hatte, sprach er sein Losungswort: »Die Kāfir würden zu Lämmern werden und ihr Weg zur Schlachtbank würde von Blut und stinkenden Exkrementen begleitet werden.«

Sein Gegenüber antwortete: »Allahu Akbar, fahrt vorsichtig zurück. Unsere ganze Hoffnung, euer aller Tun wird getragen vom Allmächtigen!« Die Zufriedenheit von Kalif Ibrahim war allgegenwärtig, als er das Telefonat beendete.

Kurz nach fünfzehn Uhr hievten sie ihr Gepäck in den Kofferraum ihres Leihwagens und kurze Zeit später wurde eine Nürnberger Zieladresse im Display ihres Navigationsgeräts berechnet.

3. Kapitel

Mittwoch, 2. Mai 2018, 08.07 Uhr, PP Mittelfranken, K11, Besprechungsraum 1.102

Der Feiertag war vorbei und die K11er saßen zur Frühbesprechung zusammen. Neben den üblichen Tagesgeschäften sowie dem Verlauf der aktuellen Ermittlungen gab es Neues zu berichten. Außer Kommissariatsleiter Schönbohm war auch Polizeipräsident Dr. Mengert anwesend. Mengert, der selbst der Jägerei nachging, hatte bereits am späten Abend des 1. Mai von einem Jagdkollegen von dem Verbrechen gehört und sich Einzelheiten über den Kriminaldauerdienst mitteilen lassen.

Der Polizeipräsident ergriff, nachdem Schönbohm sein Team begrüßt hatte, das Wort: »Tja liebe Kollegen, das gestern im Lorenzer Reichswald war ein geplanter heimtückischer Mord. Ich kannte den Geschädigten sehr gut, Sepp war ein Jagdfreund, der für jedermann da war. Der Täter hat mit Wissen und Wollen diese Tat geplant. Sepp Gottlieb konnte nichts Böses ahnen und in keiner Weise diesen feigen Anschlag vorhersehen oder sich schützen. Zum Tatzeitpunkt herrschte Dunkelheit. Er war somit dem Täter und dessen Tatvollendung hilf- und schutzlos ausgeliefert.« Bedacht griff sich Mengert an sein Kinn und zog nachdenklich mehrmals an seiner Kinnspitze, als er kurz darauf fortfuhr und einen Blick auf Schorsch richtete: »Herr Bachmeyer, Sie und Frau Vizthum waren gestern vor Ort. Ich möchte, dass Sie den Täter finden und die Tat zeitnah aufklären. Aufgrund der vorliegenden Tatumstände – der Täter hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Schusswaffen von Sepp Gottlieb angeeignet – ist nicht auszuschließen, dass er womöglich weitere Straftaten gegen uns Jäger planen wird. Es ist daher Eile geboten, dem Täter habhaft zu werden. Ich möchte deshalb bitte täglich über jeden neuen Sachstand in diesem Verfahren unterrichtet werden. Die Aufklärung dieses Kapitalverbrechens hat äußerste Priorität. Die Wahrscheinlichkeit, dass nichts passiert, ist ungefähr so, als wenn Sie einem alten, erwachsenen Gorilla, also einem Silberrücken, unbescholten mit einer Pinzette seine Augenbrauen zupfen«, gab der Polizeipräsident mit ernster Miene in die Runde.

Schönbohm ergänzte: »Ja, dieser Täter hat es auf die Jägerschaft abgesehen. Das ist unstrittig. Wir werden daher neben unserem alltäglichen Tagesgeschäft mit Hochdruck an diesen Fall rangehen und eine Mordkommission einrichten. Der Kollege Bachmeyer wird mit der Leitung der Ermittlungen betraut«, stimmte Schönbohm seinem Polizeipräsidenten zu.

Zufrieden nickte Schorsch Schönbohm und Dr. Mengert zu. Er hatte Witterung aufgenommen wie ein Bayerischer Gebirgsschweißhund, der soeben auf Schalenwild angesetzt wurde. Horst Meier, sein langjähriger Zimmerkollege aus dem Nürnberger Land, der neben Schorsch saß, tippte ihm mit der Hand auf den Arm: »Gell, ich bin fei a dabei«, flüsterte er ihm zu.

Schorsch nickte erneut zustimmend und bekräftigte in die Runde: »Dann sollten wir in jedem Fall unverzüglich an Presse und Medien herantreten. Denn wer sagt uns, ob der Täter seine Sabotageakte nur bei uns in Nürnberg oder dem Nürnberger Land umsetzt? Dieser Fall muss präventiv überregional an die Öffentlichkeit. Alle privaten Jagdpächter und auch die staatliche Bundesforstverwaltung müssen umgehend darüber unterrichtet werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben wir es mit einem Wiederholungstäter zu tun, der in einer Nacht- und Nebelaktion versuchen wird, weitere Jäger oder Jägerinnen zu töten.«

»Sehr guter Vorschlag Herr Bachmeyer, das sollten wir gleich umsetzen nachdem Sie Ihr Team zusammengestellt haben«, gab Schönbohm in die Runde. Alle K11er blickten erwartungsvoll zu Schorsch, der es sich nun nicht mehr nehmen ließ, sein eigenes Team zusammenzustellen: »Waltraud, du bist leider diesmal nicht mit dabei. Ich würde dich lieber in das übliche Tagesgeschäft mit einbinden. Die allgemeinen Abklärungen dürfen wir nicht schleifen lassen, du wirst dich daher mit unseren Cold Cases auseinandersetzen. Da muss unbedingt jemand dranbleiben«, ordnete Schorsch an, der für diese Entscheidung insgeheim große Zustimmung der übrigen Kollegen erntete.

Waltraud Becker, die immer makellos studiogebräunte Mitdreißigerin der K11er, war erst seit ein paar Jahren im Team und böse Zungen behaupteten, dass sie nur über ihren Onkel mütterlicherseits das notwendige Vitamin B dazu erhalten hatte. Polizeipäsident Dr. Johannes Mengert schätzte seine Nichte tatsächlich sehr. Das wusste und schätze wiederum die Kriminaloberkommissarin Becker, die ihre besondere Stärke und Anziehungskraft allerdings eher dem Beauty-Bereich zuschrieb. Kurzum, sie stand ihren Kollegen mehr mit Puderquaste und Haarspray im Weg herum, weshalb Schorsch sie lieber mit der Aufbereitung von alten, nicht abgeschlossenen Tötungsdelikten betraute, bei denen ihr mangelndes berufliches Engagement weniger Schaden anrichten konnte.

Ganz anders hingegen waren die anderen angestammten Kollegen, auf die Georg Bachmeyer auch dieses Mal unter keinen Umständen verzichten wollte.

Gunda Vizthum, die brünette Mitfünfzigerin, hatte viele Jahre beim Bundeskriminalamt ihren Dienst verrichtet und dort sehr gute Kontakte zu in- und ausländischen Strafverfolgungsbehörden sowie zu Geheimdiensten aufgebaut. Sie war eine Bereicherung im Team der Nürnberger Mordkommission und gehörte eindeutig zum Inventar.

Ebenso war Sebastian »Basti« Blum, ein ausgefuchster Oberpfälzer, fester Bestandteil der K11er. Überstunden zogen ihn geradezu magisch an, er war überaus engagiert.

Aber auch der Erlanger Hubert Klein, von allen »Hubsi« genannt, war wieder in Schorschs Team. Hubsi, der seit sechs Jahren in einer festen Lebenspartnerschaft mit seinem Freund Oliver war, hatte knapp noch sieben Jahre bis zu seinem Ruhestand. Mit seinem Partner Olli, wie er seine bessere Hälfte nannte, wollte er auf Gran Canaria eine Bar für Gleichgeschlechtliche eröffnen. Das war ihr großer Plan. Hubsi war bei der Arbeit grundsätzlich sehr bei der Sache, hatte immer einen guten Spruch parat und war aus beiden Gründen beliebt. Mit seiner markanten nasalen Aussprache verheimlichte er keineswegs seine sexuelle Orientierung. Hubsi stand dazu.

Nicht wegzudenken war natürlich Blacky. Der Deutschamerikaner und Womanizer, dessen Ausstrahlung bei so mancher Polizeianwärterin Begehrlichkeiten entfachte, wurde nicht nur für seine Hilfsbereitschaft geschätzt bei den K11ern. Roland Löw, wie er im richtigen Leben hieß, war zudem immer für unvorhergesehene Ermittlungen einsatzbereit. Egal ob am Wochenende oder bei Durchsuchungsaktionen zu später Stunde. Blacky war dabei.

Schorschs Blick galt auch Eva-Maria Flinn. Die Oberkommissarin, erfolgreiche Violinistin, stand zwar vereinzelt an den Wochenenden mit einem namhaften Orchester auf der Bühne, aber Eva-Maria glich bei den K11ern ihr künstlerisches Engagement dadurch aus, dass sie unter der Woche keine Überstunden scheute. Sie war da, wenn man Leute für spontane Einsätze brauchte.

Speziell für diesen Fall war Günther Gast mit seinem »Ermittlungs- und Analyseunterstützendem EDV-System«, kurz EASy genannt, ein wichtiger Bestandteil des diesmaligen Teams, wenn es darum ging, Beziehungen zwischen Personen, Informationen und Sachen in Schaubildern darzustellen. Dieses Programm, die bayrische Variante der länderübergreifend verwendeten Software rsCASE, erlaubte es den Ermittlern nicht nur, eine vereinfachte Telekommunikationsüberwachung durchzuführen, diese Technik gestattete zudem eine ganz neue Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Polizeidienststellen. Wird zum Beispiel eine Telefonüberwachung in Würzburg und Sonthofen durchgeführt und von beiden Telefonanschlüssen aus wird dieselbe Nummer angewählt, dann bekommen beide Polizeidienststellen eine Treffermeldung. Die Beamten können sich dann absprechen, ob die Telefonnummer wichtig ist und ob vielleicht ein kausaler Zusammenhang mit ihren jeweiligen Verfahren und den Anrufern besteht. Ein weiterer Vorteil dieser EDV: Der zuständige Provider übermittelt nicht nur automatisch die Verbindungsdaten, sondern auch die akustischen Daten, also die Telefonmitschnitte, welche dann von den Beamten abgehört und bei Relevanz für das Ermittlungsverfahren protokolliert werden. Zugleich erfolgt über rsCASE bzw. EASy eine automatische Anschlussinhaberfeststellung im System. Ein möglicher Mittäter, Gehilfe oder Zeuge steht somit sofort fest. Günther war daher beim aktuellen Fall der K11er ein wichtiger Pfeiler für die Aufklärung dieses Kapitalverbrechens. Damit waren die K11er wieder einmal komplett.

»Die Aussage, dass der Täter erneut zuschlagen wird, irritiert mich ein wenig«, griff Gunda die Überlegungen zum bisherigen Wissenstand wieder auf. »Bisher haben wir zwar einen toten Jäger, aber wer sagt uns, ob Gottlieb nicht ganz persönliche Feinde hatte und der Anschlag nur ihm gegolten hat? Wer sagt uns, dass ein zweiter Anschlag folgen wird? Wir sollten sein Umfeld und die Jägerschaft unter die Lupe nehmen, vielleicht haben wir es ja wirklich nur mit einem gezielten Anschlag zu tun. Wir sollten daher seinen Freund und Jagdkollegen Bruno Sugula näher befragen, vielleicht gab es in der Vergangenheit irgendwelche Hinweise auf mögliche Feindschaften, sei es im Bereich der Jagdausübung oder eben rein persönlicher Natur.«

Schönbohm ergriff das Wort: »Ja Frau Vizthum, diese möglichen Ansatzpunkte sollte in jedem Fall in die Ermittlungen mit einfließen, das übliche Prozedere gehört ja mit dazu. Aber was mich vor allem irritiert, ist die Tatsache, dass man das Opfer mit diesem letzten Bissen drapiert hat. Das lässt meines Erachtens schon darauf schließen, dass sich der Täter mit der Thematik Jagd zumindest auseinandergesetzt hat.«

Schorsch entgegnete: »Natürlich sind solche Zeichen Hinweise darauf, Herr Schönbohm, aber Frau Vizthum hat hier gar nicht so unrecht. Eine Abklärung seines persönlichen Umfelds und im jagdlichen Bereich scheint in jedem Fall sinnvoll. Schon möglich, dass wir mit den Spuren nur auf eine falsche Fährte gelockt werden sollen und es tatsächlich um etwas ganz anderes geht. Vielleicht gab es aber trotzdem in der Vergangenheit irgendwelche Zwischenfälle in deren Revier. Einen Wilderer oder einen fanatischen Tier- und Umweltaktivisten, einen Jägerhasser sozusagen, der auch nicht vor einem Mord zurückschreckt.« Schorsch blickte fragend in die Runde.

Robert Schenk, der in der hintersten Reihe Platz genommen hatte, erwiderte: »Ja Schorsch, an so etwas mache auch ich meinen ersten Verdacht fest. Trotzdem ist Gundas Einwand, ob es sich nicht nur um einen Einzelfall handeln könnte, nicht von der Hand zu weisen. Gottliebs Umfeld ist also ein wichtiger Ansatz, zumal ja andere Jagdeinrichtungen in deren Revier ebenso manipuliert wurden. Vielleicht hatte es jemand tatsächlich nur auf Joseph Gottlieb abgesehen und um sicher zu gehen, hat er alle Kanzeln, die er in seinem Revier nutzen könnte, sabotiert«, schloss Robert.

Hier schaltete sich Horst ein: »Gut, dann setzen wir bei dem Kollegen Sugula und bei der Witwe an. Ich kenne beide flüchtig und wäre daher gerne bei der Befragung dabei.« Sein Blick galt Schorsch, der ihm nickend zustimmte.

»Also dann fahren wir ins Nürnberger Land«, übernahm Bachmeyer die Aufgabenverteilung. »Hubsi und Eva-Maria, ihr klärt mal ab, ob es in den vergangenen sechs Monaten gleich gelagerte Fälle in Bayern gab, wo irgendwelche Aktivisten Anschläge im jagdlichen Bereich verübt haben. Also Unfälle mit und ohne Todesfolgen. Und Günther übernimmt wie immer die Abklärung der Einloggdaten aller Handys an den dort befindlichen Funkmasten zur möglichen Tatzeit. Also wann hat sich Gottliebs Mobiltelefon dort zuletzt mit welchen anderen fraglichen Handys eingeloggt. Und Günther, wenn du schon dabei bist, wäre ein zweistündiges Bewegungsbild vor Gottlieb Tod anhand der Daten seines Mobiltelefons gar nicht verkehrt. Vielleicht hat er jemanden vorher getroffen oder unser Täter hat ihm aufgelauert. Vielleicht hat sich unser Täter sogar vor ihm in den besagten Funkmasten eingeloggt und unmittelbar nach seinem Tod wieder ausgeloggt. Wer weiß? Deshalb geh bitte alle möglichen Varianten an Registrierungen bei den Funkmasten durch. Also pack mers!«, schloss Schorsch die Besprechung.

Mittwoch, 2. Mai 2018, 11.09 Uhr, Friedrich-Luber-Str. 72, 90592 Schwarzenbruck

Es war kurz nach elf Uhr, als Horst und Schorsch bei Frau Gottlieb eintrafen. Vor dem Anwesen stand ein schwarzer Mercedes mit der Aufschrift:

Moschewski Bestattungen aller Art – auch dein letzter Weg führt zu uns –

»Edzerdla kommen wir vermutlich ein wenig unpassend, oder was meinst Du?« Schorschs Blick galt Horst, der gerade versuchte, ihren Dienstwagen einzuparken.

»Freilich, edzerdla, weil du des sagst, vielleicht sollten wir lieber zuerst diesen Sugula aufsuchen«, entgegnete Horst.

»Des wird schwierig werden, denn der parkt genau vor uns. Der ist bei der Witwe«, bemerkte Schorsch trocken.

»Also, was machen wir?« Horst streichelte sich nachdenklich über seinen Seehundbart, den er schon seit dreißig Jahren trug, und blickte auf seine Armbanduhr. »Dann ziehen wir halt unser Mittagessen vor. Wohin gehen wir?«

»Wohin wohl, zu Leos Cousin! Wenn wir schon im Nürnberger Land sind, dann sollten wir Angelo in Wendelstein einen Besuch abstatten.« Schorsch griff nach seinem Mobiltelefon und googelte nach der Adresse. »Hier, in der Schwander Straße 10, das Cucina Italiana. Angelo öffnet um halb zwölf Uhr.«

Sein Kollege war begeistert: »Super Idee, Schorsch, also lass uns beim Angelo einparken.«

Angelo Gullo, der Cousin von Leonardo Pinneci, kurz Leo, der bis 2017 sein Restaurant am Jakobsmarkt in Nürnberg unterhielt, hatte sich im Ortsteil Sorg zum Edelitaliener gemausert. Seine hervorragende Küche war über die Grenzen des Landkreises Roth bekannt. Schorsch kannte Angelo und Leo seit seiner Jugend. Damals waren alle drei im selben Vespa-Club gewesen und hatten an den Wochenenden gemeinsam an ihren Mopeds herumgeschraubt. Angelo war ein sehr guter Freund und Vertrauter von Schorsch. Der Kalabrese war zugleich ein wichtiger Informant für seine Ermittlungen. Er kannte viele dubiose Größen aus dem fränkischen Umland.

Für Schorsch und seine Lebensgefährtin Rosanne war Angelo einer der besten Edelitaliener schlechthin, denn das ehemalige Ristorante seines Cousins Leo gab es leider nicht mehr. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2017 kam alles anders als erwartet, der blanke Horror. Es war kurz nach vier Uhr nachts, als im Keller und im Erdgeschoss seines Restaurants am Jakobsplatz Feuer ausbrach. Die Feuerwehr war zwar schnell zur Stelle und hatte das Feuer in kurzer Zeit unter Kontrolle, aber es war nichts mehr zu retten. Das Ristorante brannte vollständig aus. Die Stadt Nürnberg verschärfte daraufhin die bestehenden Feuerschutzrichtlinien, die Auflagen in der Nürnberger Altstadt waren nun zu streng. Und auch gesundheitlich hatte der Brand Leonardo Pinneci sehr mitgenommen. Leo erlitt einen Herzanfall. Nach einer Reha im März 2018 entschied er sich zu »back to the roots« und setzte sich in seinem Heimatdomizil in Sizilien zur Ruhe.

Mittwoch, 2. Mai 2018, 11.53 Uhr, Ristorante Cucina Italiana, Schwander Str. 10,90530 Wendelstein

Kurz vor zwölf erreichten sie das Ristorante Waldschänke in der Schwander Straße. Sie parkten den Wagen vor der Tür und traten ein. Im Hintergrund lief Toto Cutugno mit L’Italiano, ein Lied aus dem Jahr 1983, das sich neun Wochen in den Charts hielt und es auf Platz 36 brachte. Einmalig. In Schorsch wurden Erinnerungen wach. Erinnerungen an den Sommer 1984. Es war Schorschs Sturm-und-Drang-Zeit. Eine Zeit mit Höhen und Tiefen, wobei die Höhen überwogen.

Juli 84, es war das Jahr, in dem Angelos Tante Alessandra ihren Bruder Guiseppe, Angelos Vater, besuchte. Die zierliche Alessandra war Ende dreißig und strahlte etwas aus, was Männer anzog. Sie hatte langes dunkelbraunes Haar, ihre smaragdgrünen Augen hoben sich eindrucksvoll von ihrem dunklen, südländischen Teint ab. Alessandra verstand es, ihre Figur, ihre gesamte Erscheinung gekonnt zur Schau zu stellen. Sie war modebewusst, stilsicher und wusste genau, worauf es bei Männern ankam. Leder war unübersehbar ihre Leidenschaft und sie verstand es bravourös, ihren perfekt geformten Hintern, die atemberaubende Taille und ihre beachtliche Oberweite in Szene zu setzen. Es war die Zeit, in der sich die Szene Nürnbergs im Tanzpalast, Charlie M und im Ofenrohr präsentierte. So auch Alessandra. Angelo stellte sie Schorsch damals zu später Stunde im Tanzpalast vor. Sie tanzten, lachten, der Alkohol floss und ehe sich die beiden versahen, war es drei Uhr.

Schorsch war mit seinen knapp zwanzig Lenzen fasziniert von dieser Frau. Sie strahlte etwas aus, was er vorher noch nicht erlebt hatte. War es ihr Alter, also ihre sexuelle Erfahrung, die sie als Frau mitbrachte, was Schorsch ganz kribbelig werden ließ? Oder waren es ihre traumhaften Maße, der Charme, den sie versprühte? Oder war es das Lied L’Italiano von Toto Cutugno? Es war wohl alles in einem, die besondere Stimmung dieser berauschenden Nacht in Gesellschaft dieser imponierenden Frau, und bevor sich der junge Polizeianwärter versah, lag er eine halbe Stunde später bei ihr auf der Couch.

Die ersten Vögel hatten schon zu zwitschern begonnen und Schorsch wollte Alessandra natürlich nur vor ihrer Wohnung absetzen, als sie ihn fragte: »Nah mein Lieber, der neue Tag beginnt, kommst du noch auf einen Kaffee mit hoch?« Er konnte – und wollte – damals nicht Nein sagen, offenbar hatte es diese reife Frau auf ihn abgesehen.

Alessandra bewohnte eine große Zweizimmerwohnung in der Nordstadt, nicht weit von Schorschs Wohnung in der Pilotystraße entfernt. Ihre Einrichtung war geschmackvoll im italienischen Flair gehalten. Es war ein Spagat zwischen Antike und Moderne. Es war der Charme der »Dolce Vita«, der hier in ihren eigenen vier Wänden mit filigraner Designsprache herrschte. Es war eine einladende, luftige Wohnung mit sandigen Farben, bunten Kissen und mediterranen Pflanzen. Vom Wohnzimmer hatte man einen Blick in ihr Schlafzimmer, dessen Zimmerdecke, ebenso wie im Wohnzimmer, von einer großen Glaskuppel durchbrochen wurde. Die letzten Sterne und der Mond tauchten gemeinsam mit dem anbrechenden Tag ihre Wohnungseinrichtung in einen mystischen Schein. Schorsch war beeindruckt, solch eine architektonische Leistung und Vielfalt hatte er bisher noch nicht oft gesehen.

»Na mein Lieber, stoßen wir nochmal auf den schönen Abend an. Ein Cinzano auf Eis und ein Glas Schampus sind jetzt, für diesen Moment, genau das Richtige …

Comunque, al tuo secondo giorno, amico«

…, sagte sie leise, als sie das Getränketablett auf dem Tisch abstellte und der versprochene Filterkaffee in weite Ferne rückte.

Alessandras Augen funkelten im Kerzenschein ihrer Wohnung, sie genoss seinen Anblick. Schorsch war gefesselt von ihrem Auftreten, von ihrer Leichtigkeit im Umgang mit ihm, dem kaum Erwachsenen. Es kam ihm vor, als ob Angelos Tante ein Spiel mit ihn plante. Seine Neugier wuchs förmlich und das war nicht das Einzige. Es regte sich etwas. Er verspürte Lust und Begierde. Seine mangelnde Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht verunsicherte ihn, gleichzeitig war er gespannt auf das Hier und Jetzt. Jeder Schritt von Alessandra in diesem Spiel, das sie im Gegensatz zu Schorsch nach allen Regeln der Kunst beherrschte, reizte ihn.

Angelos Tante wiederum ließ sich durch seine Unschuld inspirieren, eine spezielle Rolle in einer für sie vorhersehbaren Sexsession zu übernehmen. Kurzerhand verschwand sie hinter einer Trennwand im Schlafzimmer, um wenige Minuten später zum Klang italienischer Schmusesongs nur mit einer schwarzen Lederkorsage, schwarzen Nahtstrümpfen und High Heels bekleidet vor Schorsch zu stehen. Offenbar war sie eine leidenschaftliche Rollenspielerin. Sie kniete sich nieder, öffnete seine Hose und entkleidete ihn genüsslich, bis er splitterfasernackt war. Dann nahm sie ihn wie ein Kind an der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Ihr goldenes Metallbett war mittig im Raum platziert, ringsherum hatte Alessandra in einem Abstand von einem Meter rote Stumpenkerzen aufgestellt, die nun den Raum zusammen mit der schwindenden Nacht und dem anbrechenden Morgen stimmungsvoll illuminierten. Sie führte ihn zum Bett und schob ihn sanft bestimmend so hinein, dass Schorsch ausgestreckt auf dem Rücken auf dem Bett lag. Gekonnt stieg sie über ihn. Schorsch wollte seine Erektion zügeln. Aber egal, an welche abtörnenden Sachen er pflichtschuldig dachte, er ragte in die Höhe.

Alessandra griff über Schorsch und holte an der Stirnseite der Matratze mit den Worten: »Entspanne dich mein Lieber, vertrau mir«, ein bereits gefaltetes schwarzes Seidentuch hervor. Mit sanfter Stimme, »Du wirst diese Nacht nicht mehr aus deinem Gedächtnis verbannen können«, verband sie damit seine Augen, griff unter ein Kissen, holte zwei Erotik-Handschellen hervor und fixierte Schorschs Hände an ihrem Metallbett. Schorschs Aktionsmöglichkeiten waren damit plötzlich begrenzt, seine sinnlichen Wahrnehmungen stellten sich unwillkürlich auf die ungewohnte Einschränkung ein und verstärkten den Empfang der verbliebenen Sinneskanäle. Genau das wollte Alessandra erreichen. Gekonnt zog die Italienerin alle Register ihrer sexuellen Fantasien. So wurde aus der nach außen ehrbaren, netten und zuvorkommenden Mitdreißigerin hier – in dieser intimen Situation – eine verruchte Liebesgöttin. Ungezwungen entpuppte sich die scheinbar zurückhaltende Alessandra in dieser Nacht zu einer dezenten, aber bestimmenden Verbalerotikerin. Es gehörte nicht nur zu ihrem Repertoire, Schorschs Ohren mit ihrer Zunge zu stimulieren, Schorsch erlebte eine unanständige MILF, die es auskostete, einen willigen Jüngling vor sich zu haben. In lässiger Dirty-Talk-Manier und unter gezieltem Einsatz nicht nur ihrer flinken Zunge entdeckte sie Stellen an Schorschs Körper, die ihn nahezu zum Explodieren brachten. So etwas hatte Schorsch, bis zu dieser Zeit im Zwielicht am frühen Morgen, noch nicht einmal in seinen Fantasien erlebt. Einen Liebesakt mit einer erfahrenen Frau, die es verstand, ihr gefesseltes Gegenüber nicht nur mit ihrem Mund zu verwöhnen. Sie beherrschte ihn regelrecht. Sie verstand es, mit ihrem Lustsklaven all das zu tun, was jedem Mann Spaß bereitete. Ein Happy End bei Schorsch herbeizuführen, das er niemals vergessen würde. Es war genau der Moment der Welle voller Glückseligkeit, als Alessandra eine Stumpenkerze nahm und das heiße Wachs über Schorschs Brust und Bauchregion ergoss.

Kurz darauf lag er glückselig erschöpft, aber wieder vollkommen Herr seiner Sinne neben ihr. Angelos Tante lächelte und hielt ihm eine gefüllte Champagnerflöte entgegen. »Prost, mein Lieber, ich konnte nicht widerstehen. Du warst einfach zu verlockend.«

Angelo, der gerade an einem Tisch einem Ehepaar sein aktuelles Tagesangebot mit einer großen Schiefertafel präsentierte, wies sie auf einen freien Tisch hin und holte Schorsch damit abrupt in die Gegenwart zurück. Er trug eine graue Kochschürze und wie immer seine Entenschnabelmütze à la Gatsby, die ihm eine gewisse Einmaligkeit verlieh. Kurze Zeit später stand er vor den beiden Kommissaren und begrüßte sie: »Ciao, Schorsch, wie gehts dir? Was macht Rosanne? Servus, Horst, lange nicht gesehen!« Bei Angelo ging es nicht ohne Umarmung, also standen beide noch einmal auf. »Schön, dass ihr mich besuchen kommt, was treibt euch beide ins fränkische Umland?«

»Wir sind gerade dabei, ein Kapitalverbrechen aufzuklären und wollten dazu zwei Leute befragen. Aber es ist ja jetzt Mittagszeit und zudem haben wir vor dem Anwesen des Opfers das Fahrzeug des Bestatters gesehen, die besprechen vermutlich gerade die Trauerfeierlichkeiten. Da wollten wir nicht stören, stattdessen lassen wir uns lieber von dir und deiner Küche verwöhnen. Schön hast du es hier.« Schorsch betrachtete aufmerksam die Theke und das neue Interieur.

Die hellen holzgetäfelten Wände waren geschmackvoll mit Schwarzweißbildern von verschiedenen italienischen Musikern und Schauspielern dekoriert. Sie vermittelten den Gästen ein Italien im Flair der Sechzigerjahre. Angelos Küche war vorzüglich und hatte sich hier im Umland von Nürnberg und Roth prächtig entwickelt. Viele seiner Stammgäste schätzten die außergewöhnliche Küche, seine Speisekarte und die Kreidetafel boten Spezialitäten, die man kaum sonst fand. Egal ob Vor-, Haupt- oder Nachspeise, Angelo genoss es, seine Gäste zu verwöhnen.

»Was kann ich euch bringen?«

»Was kannst du uns heute zu Mittag empfehlen?«, wollte Horst wissen. Er wusste genau, auf Angelos Rat war Verlass.

»Naja, wenn ihr großen Hunger habt, dann würde ich euch beiden als Vorspeise ein Carpaccio vom Tintenfisch empfehlen, das ist reichlich und reicht für zwei Personen.

---ENDE DER LESEPROBE---