Raptare...für ewig mein! - Roland Geisler - E-Book

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Roland Geisler

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Beschreibung

Im Frankenland verschwinden Kinder während der Coronapandemie spurlos. Die Nürnberger Mordkommission steht vor mehreren Rätseln. Wie hängen die verschiedenen Fälle zusammen? Was sind die Hintergründe des Geschehens? Nach und nach finden die Ermittler heraus: Es geht offenbar um Entführungen auf Bestellung. Nicht nur kinderlose Paare sind bereit, viel Geld zu zahlen … Schorsch und sein Team müssen schnell handeln, denn erste Kinderleichen tauchen auf. In Band VII der „Schorsch-Bachmeyer-Krimi-Reihe“ führt der Autor seine Leser abermals in Abgründe menschlichen Fehlverhaltens, denn ein Ableger der „QAnon-Bewegung“ scheint im Frankenland angekommen zu sein.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Prolog

Sonntag, 08.03.2020, 16:00 Uhr, irgendwo im Frankenland

A

uf der alten Eichenbank hatte schon so mancher Gast Platz genommen, sie stand am Rand der Wiese in der warmen MŠrzsonne und lud zum Verweilen ein. Eine Frau sa§ dort und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die WŠrme. War der milde, schneearme Winter schon zu Ende? Es war der zweitwŠrmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.

Die ersten FrŸhlingsboten machten sich hier in der FrŠnkischen Alb bemerkbar. Die wilden Krokusse blŸhten bereits, und vereinzelt hatten die Stare schon wieder zu ihren NistplŠtzen zurŸckgefunden. Es war ein stiller Ort, die Bank auf dem Frauenberg. Die kleine Kapelle neben der Bank veranlasste nicht nur die Pilger, auf dem hier endenden Kreuzweg zu verharren und in der Stille ein Gebet zu sprechen, auch mancher Wanderer hatte hier schon vor einem Wolkenbruch Schutz gefunden.

Die Frau dachte Ÿber ihre letzten Wochen und Monate nach. Sie war den Weg des Bšsen gegangen. Nun kam ihr ein Virus zu Hilfe, das die Welt heimgesucht hatte und von dem man nicht wusste, welches Verderben es Ÿber die Menschheit bringen wŸrde. Sie erinnerte sich an den Katastrophen-Thriller Contagion[2] aus dem Jahr 2011. Darin kŠmpften Matt Damon und Kate Winslet gegen ein Virus, verursacht von FledermŠusen, die nunmehr auch beim Coronavirus wieder mitspielen durften. Denn die deutschen Bezahlmedien, also der šffentlich-rechtliche Rundfunk, leisteten ganze Arbeit, und auch die privaten Sender mischten bei den Schreckensszenarien krŠftig mit. Das machte viele Menschen depressiv und mŸrbe. Das war der Frau nur recht, es spielte ihrem Vorhaben in die HŠnde. Wenn sich die šffentliche Berichterstattung nur noch auf das Virus konzentrierte, erhšhten sich die Chancen, dass sie und ihre Komplizen unter dem Radar bleiben wŸrden.

Seit Januar 2020 versetzten die eigens aus China gekauften Filmchen nicht nur die deutsche Bevšlkerung in Angst und Schrecken. Der psychische Druck, einem tšdlichen Virus ausgesetzt zu sein, der vor laufenden Kameras Menschen, die sich mit ihm infiziert hatten, tot umfallen lie§, war Ÿberall spŸrbar. Und niemand konnte dem, so schien es, bisher etwas entgegensetzen.

Allabendlich zeigte das Fernsehen deutsche Krematorien, in denen rund um die Uhr verstorbene Opfer beseitigt wurden. Was niemand sah: Die hohe Auslastung kam dadurch, dass NachbarlŠnder mit niedrigeren EinŠscherungskosten keine AuftrŠge aus Deutschland mehr annahmen. Die Reportagen mit den vollen Krematorien sollten die BŸrger nicht nur einschŸchtern, sie waren gezielt darauf ausgelegt, den Menschen ihren Selbstwert zu nehmen, ihren Stolz anzugreifen und sie folgsam zu machen. Folgsam in der Pandemie. Das Ziel der Regierung war es, die UrŠngste im Menschen hervorzurufen, denn Angst gab ihr die Gewissheit, dass die angeordneten staatlichen Ma§nahmen auch befolgt wurden.

Auf der einen Seite gab es die Verschwšrungstheoretiker, die AluhuttrŠger, auch Schwurbler genannt, die man staatlicherseits der rechten Ecke zuordnete. Diese Protestler standen der Berichterstattung der Bezahlmedien sehr skeptisch gegenŸber und riefen in den sozialen Medien zum Widerstand auf.

Die Mehrheit der Bevšlkerung jedoch, welche dieser gezielt gesteuerten Angst- und Panikmache ausgesetzt war, schenkte der Berichterstattung uneingeschrŠnkt Glauben. Zudem zeigte das Fernsehen schon fast apokalyptische Szenen aus anderen LŠndern der EuropŠischen Union. Eine Endlosschleife, welche die Menschen, auch den sogenannten deutschen Michel, mŸrbe machte und in Schrecken versetzte.

Gewannen nun die Gegner der staatlichen EinschŠtzung der Pandemie, die gebetsmŸhlenartig auf ihren Demos und SpaziergŠngen das Virus und die notwendigen Ma§nahmen in Abrede stellten und dadurch die Spaltung weiter forcierten, die Oberhand? Die Frau auf der Bank bezweifelte dies. Denn die Regierung setzte auf Vorsicht und VerstŠndnis. Angst- und Panikmache veranlasste viele Menschen, den geforderten Eigenschutz besser einzuhalten und die Vorgaben der Regierenden und der Virologen zu befolgen. Diese predigten, dass die Pandemie nur so erfolgreich bekŠmpft werden kšnne.

War das so?

Die Frau grinste und blickte auf den Eingang der Kapelle, durch den schemenhaft die Umrisse der Mutter Gottes zu erkennen waren. Ihr sollte es recht sein, wenn die gro§e Mehrheit der Menschen folgsam war. Denn so wurde die Maske – die Vermummung von Gro§ und Klein, von Alt und Jung – zum alltŠglichen Gebrauchsgegenstand. Ihren teuflischen Plan machte das leichter, leichter als vor der Pandemie, als man achtsam hatte sein mŸssen, um nicht erkannt, gar identifiziert zu werden. Die verordnete Maskierung machte das um vieles schwerer.

Sie lŠchelte. Noch immer war ihr Blick auf den Eingangsbereich und die Umrisse der Mutter Gottes dahinter gerichtet. Eine Šltere Frau betrat die Kapelle und kniete vor der Statue der heiligen Maria nieder. Sie faltete ihre mit einem schwarzen Rosenkranz umwickelten HŠnde und neigte andŠchtig ihr Haupt, doch sie verweilte nur kurz und verschwand aus der Kapelle in den nahen Wald, ohne die Frau auf der Bank anzusehen. Diese erhob sich von der alten Eichenbank und ging in die Kapelle. Dort kniete sie nun ihrerseits nieder und steckte rasch ein am Fu§ der Madonna abgelegtes Kuvert in ihre Tasche. Eilig verlie§ sie Kapelle und den Frauenberg.

Drei Tage spŠter

Die Frau aus der Kapelle sa§ im Spielparadies am Marienberg und beobachtete die spielenden Kinder. Es waren viele Kinder, im Alter von zwei bis circa zehn, blond oder dunkelhaarig, hier und da ein Rotschopf.

Kinder bis sechs Jahre waren von der Maskenpflicht befreit, was der stillen Beobachterin die Auswahl erleichterte. Sie wusste, welches Alter, Geschlecht und Aussehen ihr Auftraggeber erwartete. Heute war Mittwoch, der Tag, an dem Gro§eltern in Begleitung ihrer Enkel freien Eintritt hatten. Das Angebot wurde rege genutzt, und die Eis- und PopcornverkŠufer freuten sich.

Es war kurz vor sechzehn Uhr, als sich der fŸnfjŠhrige Marvin, zufrieden und satt nach drei Kugeln Schokoeis, von Opa Jochen und Oma Karin verabschiedete. Die beiden wollten ihm den letzten Wunsch fŸr den Nachmittag erfŸllen und ihn den Ausgang im geheimnisvollen Labyrinth allein finden lassen. Bevor sie es sich anders Ÿberlegen konnten, rannte der FŸnfjŠhrige begab sich zur Dschungelplattform, wo der Irrgarten aufgebaut war.

Der kleine Racker irrte schon knapp zehn Minuten im Urwald umher, als er von einer jungen Frau in einer Malteseruniform angesprochen wurde.

ÈWer bist du denn? Du suchst mit Sicherheit den Ausgang. Kann ich dir helfen?Ç Sie lŠchelte ihn an.

Vertrauensvoll sah der kleine Junge auf die sich vor ihm niederkniende Frau. Zwar konnte er noch nicht lesen, aber das helle Kreuz auf Rot schien ihm Hilfe zu signalisieren.

ÈIch habe mich verlaufenÇ, schniefte er leise.

ÈSoll ich dir zum Ausgang helfen?Ç

Der Junge Ÿberlegte. ÈAber ich habe Oma und Opa gesagt, dass ich es allein schaffe.Ç

ÈIch kenne einen geheimen Ausgang, und dann Ÿberraschst du die beiden, und ich werde nichts verraten.Ç

Erleichtert reichte Marvin ihr seine Hand.

ÈSchau mal, dort hinten in der dunklen Ecke, dort in der geheimnisvollen Grotte, wo eigentlich keiner den Ausgang vermutet, werden wir zu Oma und Opa nach drau§en kommen.Ç Die junge Frau sah sich um. Es waren keine weiteren Kinder in der NŠhe. Sie schob den kleinen Marvin in den dunklen Raum und hielt ihm mit den Worten: ÈHier riech mal, wie gut der duftetÇ, einen kleinen TeddybŠren vor die Nase.

Noch ehe der kleine Bub von dem PlŸschtier aufsehen konnte, wurde ihm schwummrig im Kopf. Er hatte keine Zeit mehr, sich darŸber zu wundern, als die BetŠubung durch das Chloroform einsetzte.

Die Rettungsassistentin šffnete den Rei§verschluss eines Koffers, den sie hinter einer Regenwaldleinwand abgestellt hatte, und legte den betŠubten Marvin in den roten Trolley, dessen Vorderfront mit einem reflektierenden AufnŠher Notfall-Medizin und dem Malteserkreuz versehen war. Der Junge fand eingerollt gerade Platz darin, und die EntfŸhrerin zog eilig den Rei§verschluss zu.

So verlie§ sie das Labyrinth und lief geradewegs Marvins Gro§eltern in die Arme. Diese waren langsam beunruhigt und hatten beschlossen, ihrem Enkel hinterherzugehen. Die Uniform der Malteserin erschreckte die Gro§mutter, die deshalb die junge Frau im tiefsten FrŠnkisch fragte: ÈAllmŠchd, is dou wos basssierd?Ç

ÈZum GlŸck nichtÇ, beruhigte die Malteserin, Èein Fehlalarm wie hŠufiger hier im Spielparadies.Ç

Die Gro§eltern wandten sich wieder dem Ausgang des Labyrinths zu, wŠhrend die vorgebliche Helferin schnellen Schrittes Richtung Ausgang davoneilte.

Es war kurz nach achtzehn Uhr, als Marvins Eltern und Gro§eltern bei der Polizeiinspektion NŸrnberg-Ost eintrafen und das spurlose Verschwinden des kleinen Marvin Lauterbach zur Anzeige brachten.

1.Kapitel

Samstag, 02.Mai 2020, 15:55 Uhr, NŸrnberger Land, KinderfŸrsorgehort Zur heiligen St.Brigitta, Am Hainbuchen-Wald, nahe 90530 Sperberslohe

D

er kleine Marvin hatte sich gut in die Gruppe der ÈKleinen FŸchseÇ integriert. Die Traurigkeit Ÿber den Verlust seiner Eltern und Gro§eltern durch eine neuartige Virusinfektion lie§ nach. Die schreckliche Geschichte, die ihm knapp sieben Wochen zuvor nach dem Aufwachen aus einem DŠmmerschlaf erzŠhlt worden war, erinnerte ihn an die Berichte, die er aus dem Fernsehen und den Diskussionen der Erwachsenen zu Hause kannte. Und auch seine Pfleger unterhielten sich Ÿber das tšdliche Virus, dessen Ursprung in China liegen sollte.

Den Schmerz Ÿber den tragischen Tod seiner Familie hatte Marvin noch nicht verwunden, aber er war ruhiger damit geworden. Der FŸrsorgehort war Teil der gemeinsamen Vermittlungsstelle der Stadt NŸrnberg und des Landkreises NŸrnberger Land, hierhin wurden Kinder gebracht, die zur Adoption freigegeben waren. Hier arbeiteten Psychologen, die ihr Handwerk im Umgang mit Vollwaisen verstanden. Ziel ihrer Arbeit war, dass die Kinder den Verlust der eigenen Eltern akzeptierten und bereit wurden fŸr eine neue Familie.

Die psychotherapeutischen Anwendungen, insbesondere die Hypnotherapie, zeigten bei dem kleinen Marvin guten Erfolg. Seine kšrperlichen und seelischen ZustŠnde hatte man durch Trance und Suggestionen[3][4]unter Kontrolle gebracht. Seine Therapeutin fŸhrte Marvin zielgerichtet hin zu seinem zukŸnftigen Leben in einer neuen Familie. Dr.Adelheid Kohlhaas war dafŸr die Beste. Sie beherrschte ihr Handwerk, nutzte dazu Elemente aus dem Behaviorismus, der Tiefenpsychologie, dem Kognitivismus, der humanistischen Psychologie und der Psychobiologie.

Die SiebenundvierzigŠhrige war diejenige, die darŸber entschied, wann die Therapien hinreichend waren und der Zeitpunkt fŸr eine reibungslose Vermittlung gekommen war. Diese wiederum oblag anderen behšrdlichen EntscheidungstrŠgern. Ein Sachbearbeiter der Adoptionsstelle hatte den zukŸnftigen Eltern von Marvin alle formalen Eignungskriterien bescheinigt, jemand aus dem Standesamt hatte die Papiere des Kindes erstellt.

Der Ring der Komplizen funktionierte reibungslos bei der Vermittlung der von ihnen entfŸhrten Kinder. Die neuen Papiere machten aus Marvin Lauterbach den zu vermittelnden Maurice Burghardt, ausgestattet mit wasserdichten Dokumenten.

Seine Eltern Nora und Arne Burghardt waren angeblich am Dreikšnigstag dieses Jahres auf der BAB 6 nahe Kreuz Altdorf tšdlich verunglŸckt. Der einzige †berlebende war der sechsjŠhrige Maurice Burghardt, der nach kurzer Zeit im Krankenhaus zur Behandlung von Dr.Kohlhaas in den KinderfŸrsorgehort gekommen war.

Montag, 04.05.2020, 09.34 Uhr, Landratsamt NŸrnberger Land

Es war kurz nach halb neun, als Roderich Gutmanns Telefon klingelte, am Display erkannte er die bekannte Telefonnummer, er lŠchelte zufrieden und nahm das GesprŠch an. Der adrette zweiundfŸnfzigjŠhrige Sachgebietsleiter der Vermittlungsstelle des Landkreises NŸrnberger Land war gro§, sportlich engagiert, hatte graumelierte, kurze Haare, sein strahlender Teint, den Roderich auch in der Winterzeit ab und an mit einem Besuch im Sonnenstudio auffrischte, wirkte. Er fand in der Damenwelt Beachtung. Das wusste er zu nutzen, die Zahl seiner Eroberungen war hoch. Seine Neider nannten ihn hinter vorgehaltener Hand ÈGeorge Clooney fŸr ArmeÇ.

Gutmann war politisch gut vernetzt, auch durch seine Hobbys, das Golfen und die hohe Kunst der Jagd, pflegte er Kontakte, die ma§geblich zu seinem Erfolg beitrugen. Wer ihm und seiner GeschŠftsidee nŸtzte, den umgarnte er, die anderen lie§ er links liegen. Er lockte Mitarbeitende, deren TŠtigkeit er zur Umsetzung seiner illegalen und menschenverachtenden GeschŠftsidee brauchte, mit Geld. Nahmen sie es – und sie taten es alle, er suchte vorab sorgfŠltig aus –, drohte er mit Aufdeckung, sollten sie ihm je von der Stange gehen oder etwas ausplaudern.

Durch gegenseitige Schutz- und Gehorsamspflichten ging der Plan der Bande auf, ohne dass Verrat drohte. Mit ausgewŠhlten Mitarbeitern hatten sie sich eine Behšrdenstruktur geschaffen, die es ihnen ermšglichte, viel Geld zu verdienen. Kinderlos gebliebene Eltern, deren Wunsch nach einem Spršssling grš§er war als ihre Bedenken, ein solches im Darknet auf einer Vermittlungsplattform zu finden, gab es ausreichend.

2.Kapitel

Dienstag, 04.August 2020, 10:00 Uhr, PolizeiprŠsidium Mittelfranken, EG, Raum 07, gro§er Besprechungssaal

W

ie alle Behšrden hatte auch die NŸrnberger Polizei die Richtlinien der Coronapolitik fŸr ihre Mitarbeitenden umzusetzen. Die dafŸr Verantwortlichen der Kriminalfachdezernate sa§en bei ihrem wšchentlichen Briefing mit Abstand zusammen. Nachdem die Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts vorgetragen waren und Ÿber die Umsetzung der neuen Schutzma§nahmen und deren Auswirkungen auf die jeweiligen Strafverfolgungsbehšrden berichtet worden war, wurden ErmittlungsfŠlle besprochen. Unter den restriktiven Ma§nahmen konnten in diesen Briefings Kommissariats-Ÿbergreifend Kollegen Ÿber Sach- und VerfahrensablŠufe informiert werden. Es gab eine rege Diskussion zu den šffentlichen Verhaltenstipps fŸr BŸrgerinnen und BŸrger bei hŠuslicher Gewalt, eine Diskussion, die die Arbeit der Polizei erschwerte, denn TŠter konnten nun, isoliert in der Wohnung, wesentlich leichter von au§en unbemerkt bleiben. Daran konnte man wenig Šndern, auch daran, dass die Opfer, ebenfalls an die Wohnung gebunden, sich verstŠrkt scheuten, Gewalttaten anzuzeigen.

Nach einiger Zeit meldete sich Sabine Hofbeck von der Fachdienststelle fŸr zentrale Dienste mit einem anderen Thema zu Wort. ÈLiebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute schon mal alle Fachdezernate zusammenhaben, weise ich auf einen Umstand hin, der den K11ern seit Monaten gro§e Sorgen bereitet. Seit Beginn der Pandemie haben wir einen Anstieg von vermissten Kindern zu verzeichnen. Ob das einen Zusammenhang hat, ist nicht zu erkennen.Ç

Die Beamtin projizierte mit einem Knopfdruck die Vermisstentabelle auf die Leinwand an der Wand des Konferenzraumes. Diese Tabelle zeigte den Beamten einen nicht unerheblichen Anstieg von vermissten Kindern in NŸrnberg und im lŠndlichen Umland.

Sabine Hofbeck deutete mit dem Laserpointer auf eine Kurve. ÈHier haben wir ein Schaubild der letzten fŸnf Jahre vorliegen. Ihr seht, dass immer wieder, aber in geringer Zahl, Kinder als vermisst gemeldet werden. Meistens werden sie am gleichen Tag wieder aufgefunden. Einige haben bei Freunden die Zeit vergessen, andere verirren sich im Wald. Wenige fallen leider einem Sexualdelikt zum Opfer, manche werden vom TŠter ermordet. Meistens werden die Opfer gefunden, und wir haben ein Spurenbild vorliegen. Dieses fŸhrt uns fast immer zum TŠter.Ç

Schorsch Bachmeyer sah sich im Raum um. Er war es, der Sabine gebeten hatte, die Statistik zu prŠsentieren. Ihn beunruhigte der Teil, der nun in den AusfŸhrungen folgen wŸrde. Immerhin lauschten alle im Raum aufmerksam.

Die Kollegin fuhr fort: ÈSeit November 2019 sehen wir aber einen Anstieg der Zahl vermisster Kinder, die nicht wieder auftauchen. Hier handelt es sich offensichtlich um Kinder, die gezielt entfŸhrt oder verschleppt wurden. Ob wir es hierbei mit einem EinzeltŠter zu tun haben, wissen wir nicht. Fakt ist, dass wir seit der Pandemie bei vermissten Kindern einen Anstieg von vierunddrei§ig Prozent zu verzeichnen haben. Obwohl seit Mitte MŠrz in Bayern alle Sport- und SpielplŠtze sowie Spielparadiese geschlossen sind, hat die Zahl der Vermissten nicht abgenommen.Ç

Gunda Vitzthum, die wie ihre Kollegen Schorsch Bachmeyer und Horst Meier vom K11 zuhšrte, warf ein: ÈGut, dass wir heute in solch einer gro§en Runde zusammensitzen. In der Tat, das wirft Fragen auf. Wir wissen, dass trotz der Schlie§ungen Kinder beschŠftigt werden wollen. Was macht man, wenn einem zu Hause die Decke auf den Kopf fŠllt, die Nerven blank liegen und dann noch die Kinder quengeln? Man schickt sie raus, ŸberlŠsst sie sich selbst. Die Folge hierbei ist eine Verlagerung der herkšmmlichen SpielplŠtze. Sei es im Winter ein zugefrorener Weiher zum Schlittschuhlaufen, sei es eine Rodelbahn im verschneiten Wald, weit weg von der Aufsicht der Erwachsenen. Oder im Rest des Jahres eine alte Sandgrube, wo man sich mit Freunden zum Fu§ballspielen trifft. Ein Waldrand, der zum Versteckspiel aufruft, oder ein kleiner Bach im Wald, den man mit Freunden aufstaut. Ich sehe bei fast jedem Spaziergang, dass die Kinder heutzutage solche Ausweichmšglichkeiten fŸr ihre Freizeitgestaltung wŠhlen. Dort findet sich niemand vom Ordnungsamt, der belehrende Worte predigt, dort sind keine FlatterbŠnder oder Verbotsschilder aufgestellt. Ich bin Ÿberzeugt, dass dies den oder die TŠter magisch anzieht. Das ist unser erster Ansatz. Die Maske hilft den TŠtern, unerkannt zu bleiben. Haben TriebtŠter vor der Pandemie auf Spiel- und SportstŠtten oder in den gewerblichen Spielparadiesen ihre Opferklientel in Augenschein genommen, den passenden Moment abgewartet und dann ihre Tat umgesetzt, passiert das jetzt dort, wo die Kinder keiner Beobachtung unterliegen.Ç

Schorsch warf ein: ÈIch kann deinen AusfŸhrungen nur beipflichten. Die Spiel- und SportplŠtze sind leer. Und die Einhaltung solcher Absperrungen werden regelmЧig von den OrdnungsŠmtern ŸberprŸft. Daher treffen sich die Kinder an Orten, die wenig oder gar nicht kontrolliert werden. Dort, wo eine exakte Personenbeschreibung aufgrund der Maske ins Leere lŠuft, wie Gunda anfŸhrte. Nur ein Beispiel, vor Kurzem waren Rosanne und ich mal wieder zum Wanderausflug in der Schwarzachklamm, was meint ihr, wie viele Kinder wir dort zum Spielen angetroffen haben? Manche erkundeten die Gustav-Adolf-Hšhle, andere wiederum kletterten an den Sandsteinfelsen, wieder andere spielten Fangerlenz und Versteckerlenz.Ç Im Raum kannten alle Rosanne, Schorschs langjŠhrige LebensgefŠhrtin.

Michael Wasserburger, Leiter K33 – Kriminaltechnik –, ergŠnzte: ÈHast du nervige Kids, die gelangweilt zum x-ten Mal ihre Videospiele am hŠuslichen Fernseher aufrufen, bist du um jede Minute froh, die diese sich heimlich mit Freunden verabreden und du fŸr einige Zeit Ruhe findest. Da wird auch nicht nachgefragt, wohin die Kids gehen, Hauptsache, die sind weg und nerven nicht. Der Umstand, dass in dieser Coronazeit mehr Kinder verschwinden, beunruhigt mich sehr. Meint ihr vielleicht, dass hŠusliche Gewalt in dieser Pandemie solche Ausma§e annimmt, dass Eltern zu TŠtern werden, also ihr eigen Fleisch und Blut beseitigen?Ç Michaels Blick ging durch die Runde, bevor er abschlie§end fragte: ÈOder wo sind sonst die Kinder abgeblieben?Ç

Sabine antwortete: ÈEs gibt EinzelfŠlle, in denen Ÿberforderte Eltern vor Gewalt gegenŸber ihren Kindern nicht zurŸckschrecken. Aber das geht normalerweise nicht bis zum Tštungsdelikt.Ç

Gunda ergŠnzte: ÈEs gibt in der Tat Eltern, die in dieser Coronakrise durchdrehen. In den letzten sechs Monaten hatten wir allein in NŸrnberg drei Kindesmisshandlungen mit Todesfolge. In Johannis hatten wir einen Vater, der sein vierjŠhriges Kind wegen unaufhšrlichen Schreiens so durchschŸttelte, dass es zu massiven Verletzungen im Hals- und Kopfbereich kam. Das Kind verstarb, wurde obduziert, und die massiven Verletzungen deuteten darauf hin, dass die Todesursache auf die Misshandlungen durch den Vater zurŸckzufŸhren war. Der Beschuldigte war gestŠndig, rŠumte den Vorfall bei seiner Einvernahme ein. Er gab an, dass er zu diesem Zeitpunkt damit Ÿberfordert gewesen sei, in seiner kleinen Wohnung regelrecht eingesperrt zu sein, mit seiner Frau und weiteren zwei Kindern. Auch habe ihn die Vorstellung, als Brotverdiener in dieser schweren Zeit durch eine Erkrankung auszufallen, gar zu sterben, nicht mehr fŸr seine Familie sorgen zu kšnnen, in Angst und Schrecken versetzt. Allerdings wurde in diesem wie in den anderen FŠllen nicht versucht, die Leiche des Kindes verschwinden zu lassen und es als vermisst zu melden.Ç Gunda holte einmal tief Luft, dann fuhr sie fort: ÈMeine Meinung: Die bewusst gesteuerten AngstzustŠnde der staatlichen Medien fŸhrten im vorliegenden Fall zu dieser schrecklichen Kurzschlussreaktion. Ein anderer Fall zeigt uns wiederum auf, zu welcher Grausamkeit Eltern fŠhig werden, wenn sie in der Pandemie ihre Arbeitsstelle verlieren. Man sollte meinen, dass hier der Staat einspringt, den Betroffenen finanziell unter die Arme greift. Pfeifferdeckel. In dieser Zeit lŠuft vieles schief. So auch bei einem Ehepaar aus Worzeldorf. Beide verloren ihren Job und wurden vor zwei Monaten arbeitslos. Sie konnten den Kredit fŸr das Reihenhaus nicht mehr bezahlen. In einer verheerenden Kurzschlussreaktion vergifteten sie erst ihre Kinder und dann sich selbst. Ich habe den Abschiedsbrief gelesen – die gebetsmŸhlenartig in den Medien wiedergegebene Angst- und Panikmache hat sie gebrochen. Es ist nicht mehr so, wie es frŸher war, die Welt dreht sich anders, schneller und mit Angst und Panik versehen. Das fŠngt bei den hochbetagten Senioren an, die všllig isoliert von der Au§enwelt eingesperrt ihr Leben fristen, und endet bei den Kindern, die in eine Welt hineinkatapultiert wurden, in der Freunde, Sport, Spiel und Unterhaltung gŠnzlich fehlen. Und genau diese Thematik fŸhrt dazu, dass sich Kinder entweder zurŸckziehen oder eben mit Freunden oder auch allein drau§en neue Spiel- und Unterhaltungsmšglichkeiten suchen, die in der heutigen Zeit nicht ungefŠhrlich sind und so manchen TriebtŠter aus dem stillen KŠmmerlein locken. Was hat man denn in dieser Zeit schon zu verlieren, wie lange dreht sich diese Welt denn noch? Nach dem Motto: Ich will jetzt das erleben, was mir vielleicht schon bald verwehrt bleibt. Nach der Devise: Vielleicht das Verbotene jetzt erleben und nicht mehr abwarten, was auf mich in den kommenden Tagen und Monaten zukommt.Ç Gunda blickte nachdenklich in die Runde und ergŠnzte: ÈMeine AusfŸhrungen bringen unser Kommissariat bei den vermissten Kindern auch nicht weiter, aber ich wollte mit meinen Beispielen nur den verŠnderten Hintergrund benennen, vor dem auch unsere aktuellen FŠlle zu sehen sind. Die Welt ist eine andere geworden.Ç

Schorsch nickte Gunda kurz zu. Er verstand die hilflose Verzweiflung, die in den Worten der Kollegin mitschwang. ÈDas Schlimme im Fall der vermissten Kinder ist, dass wir bisher keinen Anhaltspunkt haben. Also auch keinen auf Sexualdelikte. Mšglicherweise ist der Hintergrund ein ganz anderer, auch das dŸrfen wir nicht ausschlie§en.Ç

Auch Sabine hatte Gunda aufmerksam zugehšrt. ÈWenn man sich das alles mal genau anschaut, dann scheinen noch andere Optionen mšglich. Da halte ich nicht einmal mehr eine illegale Versuchsreihe mit Kindern fŸr gŠnzlich abwegig, die den anstehenden Impfstoff fŸr uns testen.Ç

Wasserburger schmunzelte kopfschŸttelnd und strich sich Ÿber sein Kinn. ÈEtwas weit hergeholt, liebe Kollegin, ist QAnon[4] denn schon so aktiv bei uns? Kennt ihr das? Das ist eine aus den USA importierte Verschwšrungstheorie, die behauptet, eine einflussreiche, weltweit agierende, satanistische Elite entfŸhre Kinder, halte sie gefangen, foltere und ermorde sie, um aus ihrem Blut ein VerjŸngungsserum zu gewinnen.Ç Wasserburger kratzte sich nun am Kinn und schŸttelte erneut nachdenklich seinen Kopf.

Horst warf ein: ÈIst es also nicht abwegig, dass Kinder entfŸhrt und fŸr etwas benutzt werden? Wie du sagst, gibt es vielleicht zwischenzeitlich ja auch bei uns solche QAnon-BefŸrworter, die sich in ihren Wahnvorstellungen so etwas wie in den USA ausdenken und verbrecherisch umsetzen. Davor warnen auch unsere Verfassungsschutzbehšrden. Das beste Beispiel war doch unser Ermittlungsverfahren in der sogenannten Schwarzen Szene. Ihr erinnert euch an diesen Club Sadoso in Muggenhof, mit dem Einsatz des niederlŠndischen verdeckten Ermittlers Bram van Veen? Die hatten auch Kinder fŸr ihre Zwecke sexuell missbraucht. Und was spricht dagegen, dass genau in der Pandemie in dieser Szene vermehrt auf Kinder zugegriffen wird? Diese Teufelsanbeter mussten sich auch von ihren Ÿblichen Locations zurŸckziehen, treffen sich verbotenerweise heimlich und leben weiter ihre kranken Fantasien mit unschuldigen Kindern aus. Vielleicht auch mit denen bei uns vermissten Kindern.Ç

Schorsch warf ein: ÈWir stecken in einer Sackgasse, was diesem blšden Virus geschuldet bleibt. Seit Wochen ist auch unsere Staatsschutzabteilung mit den vermissten Kindern betraut. Die ursprŸngliche Schwarze Szene, die wir in den vergangenen Jahren auf dem Schirm hatten, musste ihre Locations wie den Club Sadoso, den Horst gerade erwŠhnte, aufgeben. Diese Clubs sind aus dem šffentlichen Leben, dem šffentlichen Raum verschwunden. Nur wohin? Seit dem Ausrufen des Katastrophenfalls hat sich diese Community mit Sicherheit nicht aufgelšst. Die agieren, genauso wie unsere Kinder und Jugendlichen, an Orten, die von der šffentlichen Hand nicht oder nur sehr schwer zu kontrollieren sind. Also im Verborgenen. Die OrdnungsŠmter und Strafverfolger wurden durch diese Krise in eine Ausweglosigkeit manšvriert. Wie gesagt, diese Community hat sich sicherlich nicht aufgelšst. Sie lebt ihre krankhaften Fantasien nur an anderen, mitunter geheimen Orten aus. Und das Verschwšrungspotenzial wird dadurch keineswegs gemildert, bestes Beispiel hierfŸr ist die QAnon-Bewegung in den USA. Die agieren im Verborgenen, treffen geheime Absprachen, und ihre Versammlungsorte sind so ausgewŠhlt, dass nur ein erlauchter Kreis Kenntnis davon hat. So die derzeitigen Erkenntnisse des FBI. Verdeckte Ermittler dort einzuschleusen, wie einst Bram van Veen, ist in dieser Pandemiezeit unmšglich geworden. Diese Community hat ein neues Terrain gefunden, wo man unentdeckt seine Fantasien an Schutzbefohlenen ausleben kann. Weit weg von den FŠngen der Strafverfolger. Und, Leute, es macht mŸrbe, wenn du als Ermittler in eine Zwangslage gelenkt wurdest und seit Monaten nicht weiterkommst.

3.Kapitel

Sonntag, 16.August 2020, 15:00 Uhr, Basaltsee Tintenfass am Farnsberg, 97792 Riedenberg, Bergseestra§e

A

lle FreibŠder in Bayern waren geschlossen. Wer in der Sommerhitze schwimmen wollte, dem blieben abgelegene Badeseen oder versteckte Weiher. An den Basaltsee am Farnsberg kamen vor der Pandemie nur wenige Einheimische. Jetzt aber war der Parkplatz in der NŠhe der geschlossenen GaststŠtte Berghaus Rhšn voller Autos. Eine Ecke des Sees hatten AnhŠnger des textilfreien Badens belegt. Sie ignorierten das absolute Badeverbot ebenso wie die jungen Familien auf der anderen Seite des GewŠssers. Kontrollen der OrdnungsŠmter oder der Polizei waren wegen der abgelegenen Lage kaum zu befŸrchten. Das Tintenfass wurde so in der Coronazeit ein Tummelplatz fŸr die Kinder derjenigen, die es mit den Abstandsregeln nicht so genau nahmen. Hier konnten die Eltern ÈBronzeÇ machen, sich den tŠglich in Funk und Fernsehen gebetsmŸhlenartig propagierten Coronaauflagen entziehen und ihren Spršsslingen wieder ein GefŸhl von Freiheit vermitteln. Hier war man abgeschieden unter Gleichgesinnten. Der Naturspielplatz am Berghaus Rhšn entpuppte sich als Spielparadies.

Auch fŸr den kleinen Vladimir Welker, der sich von seinen Eltern zum Spielen mit anderen Kindern verabschiedete. Es war halb vier am Nachmittag, als der fŸnfjŠhrige Vladimir von einer hŸbschen jungen Frau nahe einer Kletterwand angesprochen wurde. Ihr Outfit, ein kšnigsblaues T-Shirt mit einem Edelwei§-AufnŠher mit der Aufschrift Bergwacht, lie§ ihn vermuten, dass die Frau eine AutoritŠt war.

ÈNa, du kleiner Klettermaxe, hier an der Kletterwand kann man sich wenigstens mal austoben, was? Warst du denn schon einmal hier bei uns? Ich kenne dich nicht, woher kommst du denn?Ç

Vladimir vertraute der Frau, die ihn freundlich anlŠchelte, sofort: ÈNix darf man in dieser Zeit, alles ist verboten, sagen mein Papa und meine Mama. Deshalb haben wir heute Morgen unsere Sachen gepackt und sind hierhergefahren. Papa meint, dass man hier seine Ruhe vor den ganzen Verboten hat.Ç

ÈDa haben deine Eltern gar nicht so unrecht, aber die kleine Kletterwand ist doch nur etwas fŸr Babys. Soll ich dir mal eine bessere zeigen?Ç

Neugierig und erwartungsvoll blickte der Bub sein GegenŸber aus seinen mandelbraunen Augen an. Seine Freunde hatten sich vor einigen Minuten verabschiedet, ihre Eltern wollten zurŸckfahren, und nun drohte es ihm langweilig zu werden. ÈEcht, es gibt noch eine grš§ere? Da bin ich aber gespannt.Ç

ÈEs ist gleich um die Ecke, komm mal mit.Ç

Sie nahm Vladimirs Hand und fŸhrte ihn zum Parkplatz des Berghaus Rhšn. Ein wei§-rotes Flatterband, das zirka drei§ig Meter vor der GaststŠtte den Besuchern den Zuweg versperrte, sollte zeigen, dass hier derzeit keine Gastronomie stattfand. Zudem sollte es verhindern, dass Besucher des Basaltsees sich an diesem Ort aufhielten. Ein wei§es Kunststoffschild im Zufahrtsbereich der HŸtte, auf dem auch das Abzeichen der Bergwacht prangte, zeigte den Erholungssuchenden, dass hier die Gastronomie eingestellt worden war.

Coronabedingt bleibt das ÈBerghaus RhšnÇ bis auf Weiteres geschlossen – wir bitten um Ihr VerstŠndnis. Bei NotfŠllen erreichen Sie die Bergwacht weiterhin unter nachfolgender Telefonnummer: 09749-9307721

Bleiben Sie gesund, Ihre

Vladimir Welkers Begleiterin blieb hinter dem Schild stehen und hielt dem Jungen mit den Worten: ÈDeine Nase lŠuft ja, komm her und schnŠuze dich malÇ, ein Taschentuch vor die Nase. Sofort wurde ihm dŠmmrig, denn das mit Chloroform getrŠnkte Taschentuch brachte ihm in Sekundenschnelle einen tiefen Schlaf.

Kurze Zeit spŠter verlie§ ein dunkelgrŸner SUV, dessen Frontscheibe mit einem Bergwacht-Sticker versehen war, bergabwŠrts den Zufahrtsweg zum Berghaus.

Eine Stunde spŠter

Die Šngstlichen Rufe von Irina und Eugen Welker, die ihren Sohn nirgends entdecken konnten, verhallten im Nichts. Der kleine Vladimir war unauffindbar. Keiner der noch anwesenden Bade- und Seebesucher schien sein Verschwinden bemerkt zu haben. Der Bub blieb auch nach Eintreffen der alarmierten Bergwacht, welche mit einer Hundestaffel das umliegende GelŠnde des Berghauses absuchte, unauffindbar.

4.Kapitel

Mittwoch, 19.August 2020, NŸrnberger Land, KinderfŸrsorgehort Zur heiligen St.Brigitta, Am Hainbuchen-Wald, nahe 90530 Sperberslohe

E

s war gegen einundzwanzig Uhr, die DŠmmerung hatte bereits eingesetzt, als der Bub nach drei Tagen langsam wieder aus seinem tiefen Schlaf erwachte. Noch sichtlich benommen sah er sich im Raum um und merkte, dass man ihn auf einem Bett fixiert hatte. Er lag in einem Zimmer von knapp zwanzig Quadratmetern, das schlicht eingerichtet war. Neben seinem Bett stand ein NachttischkŠstchen. Die Nachttischlampe war ausgeschaltet. Drei Lichterspots erhellten den Raum, sie waren auf jeweils ein Bild an der Wand gerichtet. Die Bilder zeigten dem Jungen eine surreale Welt. Das Bild vor ihm zeigte

fliegende Wale, die einen Fjord Ÿberflogen und dabei von einer Person auf einem Boot beobachtet wurden.

Das rechte Bild zeigte eine gešffnete TŸre im Nirgendwo, ein Mann schien seine TagtrŠume in den hereinschwebenden Wolken auszuleben.

Das Bild links von Vladimir zeigte ein MŠdchen vor einer gro§en TŸre ebenfalls im Nirgendwo, wo sich fliegende Schmetterlinge in ihren FlugkŸnsten ma§en.

Vladimirs Blick wanderte im Raum umher, wŠhrend eine leise Musik- und Klangfolge in seine Ohren drang. Es war Musik zum Abbau von Stress und negativen Emotionen, die auf die Psyche des Buben wirken sollte. Ein Zusammenspiel von Tiefenentspannung und wohldurchdachter Hypnotherapie sollte damit den Jungen auf sein kŸnftiges Leben vorbereiten. Dies war der Anfang seiner Umerziehung. Er sollte bereit gemacht werden fŸr ein neues Leben, fŸr das Interessenten viel Geld bezahlen wŸrden.

Ein Leben in einer anderen Welt, in der es keinen Vladimir mehr geben wŸrde, lag vor ihm. Es gab kein ZurŸck mehr fŸr den Jungen.

5.Kapitel

Dienstag, 17.November 2020, Praxis fŸr Psychotherapie und Hypnotherapie, Am RŸbenacker 17, 90602 Pyrbaum, OT Pruppach

I

rina Welker war mit ihren KrŠften am Ende. Seit drei Monaten wurde ihr Sohn vermisst, und die Polizei hatte nicht eine Spur von ihm. Das dŸstere Wetter passte zu ihrer Verzweiflung. Mit ihrem Mann stritt sie hŠufig, beide machten sich VorwŸrfe, dass sie nicht genug auf ihren Sohn geachtet hatten an jenem Tag am Basaltsee. WŠre nicht ihre Hoffnung, dass Vladimir wieder auftauchen kšnnte und der Albtraum ein Ende fŠnde, Irina Welker wŸrde den vielen folgen, die in diesen Tagen, verstŠrkt durch die anhaltenden EinschrŠnkungen wegen Corona, den Weg auf die Bahngleise suchten.

Wie ein Hinweis war ihr der Flyer erschienen, der in der wšchentlichen Werbewurfsendung zwischen den Prospekten eines Discounters und eines Baumarktes gesteckt hatte. Freie PlŠtze bei einem Psychotherapeuten, die waren rar. Diese Therapeutin hier hatte sogar eine Referenz vom Jugendamt. Der Flyer machte einen sehr guten Eindruck. Dort wŸrde sie sicher gut aufgehoben sein mit ihren Sorgen und den quŠlenden VorwŸrfen, die sie sich ebenso wie ihr Mann immer wieder machte.

Wenn ihnen jemand dabei helfen konnte, Ÿber diesen Schicksalsschlag hinwegzukommen, dann sollte das jemand sein, der die besten Referenzen vorweisen konnte. Jemand wie die Therapeutin, die in dem serišsen Reklamezettel beschrieben wurde.

Irina Welker rief noch am selben Tag in der Praxis an – und bekam einen Therapieplatz.

Dr.Adelheid Kohlhaas war Spezialistin in Hypnotherapie. Die Mutter des entfŸhrten und von ihr selbst behandelten Vladimir zu behandeln, war fŸr sie ein besonderes GlŸck. Geschickt manipulierte sie Mutter und Sohn, selbstverstŠndlich ohne dass die Mutter etwas davon ahnte. Wer wŠre auch auf eine solche Idee gekommen? Sie war sogar dankbar, dass Dr.Kohlhaas ihr half, sich weniger VorwŸrfe zu machen, ihre Trauer teilweise zu Ÿberwinden und keine Gedanken mehr an Suizid zu hegen.

FŸr die GehirnwŠsche des Jungen wiederum waren der Therapeutin die Aussagen der Mutter sehr hilfreich. Ihr Ziel aber war in diesem Fall, das Kind von seiner Mutter zu entfremden, damit es deren angeblichen Tod akzeptierte und bereit wurde fŸr seine neuen, gut zahlenden Eltern. So wurde die ahnungslose Irina Welker zum Werkzeug von Dr.Kohlhaas. Zu einer Schachfigur, die man fŸr eine Zweckgemeinschaft gezielt manipulieren konnte.

Schachmatt.

6. Kapitel

Montag, 07.Dezember 2020, 13.32 Uhr, Frankencenter, Glogauer Str.30–38, 90473 NŸrnberg

E

s war kurz nach halb zwei, als die Pharmareferentin Bea Medicus, eine adrette Mittdrei§igerin, und ihr korpulenter LebensgefŠhrte, Balthasar Rexroth, Au§endienstmitarbeiter einer bekannten frŠnkischen Brauerei, die Einkaufspassage erreichten. Ihr heutiger Auftrag war klar definiert, man hatte zwei Bestellungen vorliegen, eine davon war Šu§erst lukrativ. Die Auftraggeber, ein kinderloses Unternehmerehepaar aus Dresden, waren bereit, fŸr die Beschaffung von mŠnnlichen Zwillingen eine sechsstellige Summe zu bezahlen.

Der andere Auftraggeber, ein amerikanischer Privatier, der sich in Oberfranken niedergelassen hatte, war auf der Suche nach einem blonden MŠdchen im Alter von drei bis fŸnf Jahren, vorzugsweise mit blau-grŸnen Augen und langen Haaren. FŸr diesen zielgerichteten Auftrag hatte der amerikanische GeschŠftspartner fŸnfundzwanzigtausend Euro ausgelobt.

Wie in allen Einkaufspassagen waren aufgrund der Coronaregeln die Einkaufswege vorgegeben und durch farbliche Markierungen am Boden bestimmt. Es dauerte fast zwei Stunden, bis das Paar eine Mutter mit einem Doppelkinderwagen ins Visier nehmen konnte. Das aber war ein Volltreffer! Die Mutter war Lena LachhŠuser, eine junge Mutter Mitte zwanzig. Sie nutzte wie jeden Montag ihren freien Tag, um ihre EinkŠufe zu erledigen.

Bea und Balthasar erkannten, dass sie das gro§e Los gezogen hatten, denn in dem doppelbreiten Beemoo Kinderwagen erkannten sie zwei Buben, beide in einer blauen Jeans und einen braun-grŸn karierten Winterparka gekleidet, mit wei§en Winterstiefeln, ihre blauen ZipfelmŸtzen rundeten ihr gleiches Aussehen ab. Es waren Zwillinge, die genau dem Anforderungsprofil ihres Dresdner Auftraggebers entsprachen.

Es war kurz nach vierzehn Uhr, als die Mutter vor dem WŠschefachgeschŠft Hunkemšller stand und feststellen musste, dass sie aufgrund der engen Stellage und der Vielzahl der unterschiedlichen ReizwŠsche den Kinderwagen nicht mit in das WŠschegeschŠft nehmen konnte. Lena LachhŠuser entschloss sich, den Kinderwagen in Sichtweite au§erhalb des LadengeschŠfts abzustellen. Von jetzt an waren die Zwillinge unbeaufsichtigt, und es dauerte nicht lange, bis die Mutter von einer freundlich lŠchelnden Frau mit Pagenkopf angesprochen und in ein GesprŠch verwickelt wurde. Dass die Mutter sich so schnell ablenken lie§, sagte dem PŠrchen, dass sie ihren Auftrag hier umsetzen und damit den Jackpot fŸr sich einheimsen konnten. Lena LachhŠuser war im Kaufrausch. WŠhrend sie in der Kabine eine Corsage anprobierte, funkte Bea ihren Partner mit einem ausgestreckten Daumen an. Der hatte sich zwischenzeitlich, scheinbar auf einem Handy daddelnd, neben den Zwillingen positioniert.

Der Daumen war fŸr ihn das ausgemachte Zeichen, dass der Zeitpunkt gekommen war, die EntfŸhrung der Zwillinge gefahrlos vorzunehmen.

Kurze Zeit spŠter sah man eine verzweifelte Mutter, die laut schreiend durch die Einkaufspassage torkelte und unentwegt die Namen Pascal und Marten rief.

Vergebens!

Viele der anwesenden Besucher ignorierten ihre Hilferufe und forderten sie zugleich auf, die Coronaregelungen einzuhalten und ihre heruntergezogene Maske wieder aufzusetzen.

Es war viertel nach drei, als eine Polizeistreife der Polizeiinspektion NŸrnberg-SŸd das Frankencenter erreichte.

Lena LachhŠuser, die inzwischen von zwei ebenfalls herbeigerufenen NotfallsanitŠtern betreut wurde, sa§ apathisch auf einem Stuhl und fixierte mit starrem Blick den Platz, wo sie ihre beiden Buben zuletzt gesehen hatte.

Um 17:33 Uhr wurde Lena LachhŠuser in Begleitung ihres Mannes im PolizeiprŠsidium Mittelfranken von Gunda und Horst zum Tathergang einvernommen. Die beiden waren alte Hasen in der Kommission K11. Die wiederum war zustŠndig fŸr Mord, aber auch fŸr VermisstenfŠlle, hinter denen ein Mord stehen kšnnte. Lena LachhŠuser, der man ein Beruhigungsmittel gespritzt hatte, konnte sich nur vage an die Frau erinnern, die sie bei Hunkemšller angesprochen hatte. Es sei eine nette Frau gewesen, mit Pagenkopf, das Gesicht verhŸllt, die mit ihr noch vergebens nach ihren Kindern gesucht hatte, bevor sie im Besucherstrom auf Nimmerwiedersehen verschwunden sei.

Mehr hatten die Ermittler nicht. Sie wussten nicht, wer sich hinter dieser netten und hilfsbereiten Frau verbarg. Oder ob ihre Hilfsbereitschaft nur vorgetŠuscht war. Hatte sie etwas mit den EntfŸhrungen der letzten Monate zu tun? War das eine erste Spur? Oder war es nur eine nette Kundin, die in dieser schweren Zeit das GesprŠch zu einer Gleichgesinnten suchte, die sich das Shoppen in der Pandemie auch nicht gŠnzlich vermiesen lassen wollte?

Die Zeit der GesichtsverhŸllungen lie§ die Ermittler an ihre Grenzen sto§en. Hinzu kam, dass sie keine Videoaufzeichnungen hatten, die ihnen einen Ansatzpunkt fŸr die AufklŠrung dieses Verbrechens hŠtten liefern kšnnen.

Schorsch war frustriert. Diese Pandemievorschriften machten es sogar KindesentfŸhrern leicht!

7. Kapitel

Montag, 21.Dezember 2020, 19:00 Uhr, NŸrnberger Land, nahe KinderfŸrsorgehort Zur heiligen St.Brigitta, Am Hainbuchen-Wald, nahe 90530 Sperberslohe

E

s war klein, fein, und die hohen Tannen rund um das alte SandsteingemŠuer gaben dem GebŠude einen geheimnisvollen Anstrich. Das ehemalige Forsthaus war in den Drei§igerjahren des vorigen Jahrhunderts erbaut worden, auch die NadelbŠume stammten aus dieser Zeit. FŸr Roderich Gutmann war es das perfekte Domizil. Hier konnte er nicht nur seiner Jagdleidenschaft freien Lauf lassen, das im Jahr 2015 aufwendig renovierte GebŠude war zudem ein abgelegener †bergabeort fŸr diejenigen, deren kriminelle Machenschaften im Verborgenen bleiben sollten. Ein Ort, der jedem die Sicherheit gab, bei GeschŠften unentdeckt zu bleiben. Hier konnten die Kunden in Ruhe die Ware begutachten, entscheiden, ob die bestellte Kreatur die Eigenschaften aufwies, die man erwartet hatte. Roderich Gutmann ging clever vor und hatte das GebŠude auf seinen Vater eintragen lassen, um die Eigentumsrechte zu verschleiern. Gotthilf Gutmann, ein pensionierter Beamter, hatte sich nach dem Tod seiner Ehefrau in einer Seniorenresidenz in Bad Windsheim eingekauft. Dort besa§ er ein Dreizimmerapartment, das in unmittelbarer NŠhe zur Franken-Therme lag.

Die Nachttemperaturen sollten auf minus vier Grad fallen, die nasskalten Tagestemperaturen und der Schneefall vom Wochenende lie§en Nebel Ÿber den Waldboden steigen. Dieser verbarg den Zugangsweg zum alten Jagdhaus.

Roderich Gutmann und Dr.Kohlhaas sa§en mit dem Jungen im Kaminzimmer. Den alten Kamin hatten sie bereits zwei Stunden zuvor angefeuert. Sein Knistern wurde untermalt von weihnachtlicher Musik, die aus einem Lautsprecher schallte. Das Kind spielte vor dem Kamin auf einem Teppich mit Bauklštzen. Die wohlige WŠrme und die einfŸhlsamen Worte seiner Psychologin zeigten bei dem kleinen Vladimir Wirkung, das schreckliche Schicksal seiner Eltern hatte der Junge bereits weitgehend verdrŠngt. Neue Wege wŸrden sich fŸr ihn auftun, versprach ihm seine Betreuerin, der er vertraute, weil sie immer bei ihm gewesen war, weil es ihm an nichts gemangelt hatte, weder an Nahrung oder Essen noch an Zuwendung. Sie versprach ihm nun einen Weg in eine neue, eine bessere Welt. Zwar verstand Vladimir nicht ihr Zitat von Epikur von der Èleidenschaftslosen Ruhe der SeeleÇ, doch eine Welt, frei von Schmerz und Angst, eine Welt der GlŸckseligkeit, dafŸr war er gerne bereit, einen neuen Namen anzunehmen.

Die TŸrglocke unterbrach die weihnachtliche Ruhe mit einem tiefen Ding-Ding, der erwartete Besuch war eingetroffen.

Es war viertel nach sieben, als Roderich mit seinen GŠsten das weihnachtlich geschmŸckte Kaminzimmer betrat. Gespannt blickten seine Begleiter auf den Jungen, der sich nach kurzem Aufblicken beim Klingeln nun wieder seinen Spielfiguren widmete.

Eine junge Frau kniete sich neben ihn und sah ihn aus hellen Augen freundlich an. ÈKleiner Mann, bald kommt der Weihnachtsmann – und er hat mir schon was fŸr dich mitgegeben.Ç Sie hielt Vladimir ein Weihnachtspaket hin, das mit einer grŸnen Schleife dekoriert war.

Vladimir blickte kurz zu Adelheid Kohlhaas, die ihm aufmunternd zulŠchelte und nickte. Dann nahm er mit einem freudigen LŠcheln das PŠckchen und bedankte sich. Neugierig zog er die Schleife herunter, riss das Papier ab und šffnete die Verpackung.

ÈEin Polizeiauto, ein PolizeiautoÇ, schrie er ŸberglŸcklich in den Raum.

Sein GegenŸber lachte. ÈDa hat mir der Weihnachtsmann wohl das richtige Geschenk fŸr dich mitgegeben. Sie zeigte auf einen Knopf: ÈDrŸck mal auf das Blaulicht!Ç

Der Junge folgte ihrem Hinweis und blickte entzŸckt auf das blinkende Licht.

ÈVerrŠtst du mir deinen Namen?Ç

Gutmann und Kohlhaas, welche das Geschehen aufmerksam verfolgten, sahen nun gespannt zu dem Jungen – wie wŸrde dieser antworten?

ÈIch bin Justin, nochmals vielen Dank fŸr das Geschenk. Wer bist du denn?Ç Er reichte ihr seine rechte Hand und sah die schlanke Frau fragend an.

ÈIch mšchte deine neue Mama oder besser gesagt, wir mšchten deine neuen Eltern sein. Ich bin Annalena.Ç Sie winkte ihren Mann, der neben Roderich und Adelheid stand, heran. Dieser gesellte sich zu seiner Frau und zu Justin, der seinen ehemaligen Vornamen durch die Arbeit von Dr.Kohlhaas bereits abgelegt hatte.

ÈHallo JustinÇ, sagte der neue Vater, Èwillst du denn mal Polizist werden? Das passende Auto hast du ja schon.Ç Er strich dem Jungen bei seinen Worten sanft Ÿber den Kopf.

Nun trat auch Adelheid Kohlhaas nŠher und klinkte sich in die Unterhaltung ein. ÈMein lieber Justin, das werden jetzt deine Eltern sein, der Roberto und die Annalena, beide werden dir gute und verlŠssliche Eltern sein. Beide freuen sich riesig auf eure gemeinsame Zukunft. Sie schenken dir die Mšglichkeit, neue Freunde zu finden in einer glŸcklicheren Zeit, so wie ich es dir in den letzten Wochen und Monaten erzŠhlt und dich gelehrt habe. Heute sind sie nun gekommen, um mit ihrem gemeinsamen Sohn, mit dir, Justin, in eure gemeinsame Zukunft aufzubrechen. Freust du dich darŸber?Ç Die Psychotherapeutin strich ihrem kleinen Patienten Ÿber beide Wangen.

Adelheids Behandlung der letzten Monate hatte offensichtlich FrŸchte getragen, freudig sprang der Junge auf und umklammerte mit beiden Armen seine neue Mutter, die dies ebenso glŸcklich erwiderte, indem sie den Jungen hochhob und fest an ihren Oberkšrper drŸckte.

S٤er die Glocken nie klingen, schallte aus den Lautsprechern, ein Feuerscheit brach knisternd entzwei.

Die neue Familie strahlte. So kamen die therapeutische Umerziehung von Dr.Kohlhaas und die administrativen FŠhigkeiten des Jugendamtsleiters bei der Ausstellung der Adoptions- und Personenstandsurkunden zu einem in ihrem Sinn erfolgreichen Abschluss.

Roderich Gutmann, Dr.Adelheid Kohlhaas und ihr Team hatten bravouršse Arbeit geleistet.

8. Kapitel

Mittwoch, 23.Dezember 2020, 07:00 Uhr, PolizeiprŠsidium Mittelfranken, K11

D

as Weihnachtsfest stand vor der TŸre, und wie jedes Jahr versuchten die Beamten in der Vorweihnachtszeit die bisher liegen gebliebenen UmlŠufe abzuarbeiten. Das fing bei Hinweisen von anderen Behšrden an, ging Ÿber interne Terminabgaben bis hin zu Pflichtveranstaltungen wie Sport oder Schie§ausbildung. Am Ende stand dann noch die Erstellung der Jahresstatistiken fŸr den PrŠsidenten. Daher hatte sich Schorsch schon um kurz nach sechs Uhr in die Zeiterfassung eingeloggt und genoss gerade seinen zweiten Kaffee, als sein Kollege Horst Meier ihr gemeinsames BŸro mit einem freundlichen: ÈGud Morng, bist ja scho zeitig am WergelnÇ, betrat.

ÈGut Morng, Horst, ich hatte noch einen Berg von UmlŠufen abzuarbeiten, du kennst ja unseren Schšnbohm, der wartet auf unsere Statistik, die er sich dann unter seinen Weihnachtsbaum legen kannÇ, entgegnete Schorsch mit einem sŸffisanten Grinsen und fuhr fort: ÈIch habe mir dazu mal die Zahlen unserer vermissten Kinder gezogen, und die beunruhigen mich mit jedem Monat mehr. Seit Anfang 2020 verschwinden in Nordbayern kleine Kinder. Die sind wie vom Erdboden verschluckt. AuffŠllig ist, dass wir keinerlei Anhaltspunkte fŸr ein Kapitalverbrechen vorliegen haben. Irgendwo mŸssen die Kinder aber geblieben sein. Oder haben wir es mit einem TŠter zu tun, der seine Opfer so gekonnt verschwinden lŠsst, dass kein Wanderer, kein Angler, kein JŠger oder Pilzsammler, auch niemand aus der stŠdtischen MŸllverbrennung uns einen gezielten Hinweis liefern kann? Das habe ich noch nie erlebt.Ç

Horst, der gerade seine Winterjacke abgelegt hatte, schaute nachdenklich zu seinem Kollegen und erwiderte: ÈSchon komisch, sehr komisch, weil wir Ÿberhaupt nichts haben. Keinen Leichenfund, nur sehr vage Hinweise auf eine mšgliche EntfŸhrung. Die sind so ungenau, dass uns kein TŠterbild vorliegt.Ç

Schorsch nickte zustimmend. ÈDie Situation mit diesem schei§ Corona stellt uns vor neue Herausforderungen. Mšgliche TŠter brauchen sich nicht zu maskieren, weil ja jeder mit einer Maske herumrennt. Die Bevšlkerung hat sich daran gewšhnt. Bei RaubŸberfŠllen in JuwelierlŠden oder dem schnellen Ding in einer Bankfiliale wissen die TŠter schon beim Betreten des Tatobjekts, dass sie kaum zu identifizieren sind. Diese Maskerade stellt uns Strafverfolger vor neue Herausforderungen. Und wenn ich die Orte des Verschwindens betrachte, dann fehlen mir ebenso die Ansatzpunkte. Waren es anfŠnglich Spielparadiese, kamen in der warmen Jahreszeit die Baggerseen oder abgelegene SpielstŠtten hinzu, wo man das behšrdliche Versammlungsverbot aushebelte. Dann wiederum tauchen in dieser Gemengelage auch FŠlle von KindesentfŸhrungen auf, die im elterlichen Zuhause passierten. In ebenerdigen Wohnungen, HŠusern oder Bungalows, wo man in der warmen Jahreszeit, etwa in einer lauen Sommernacht, die SchiebetŸre zum Kinderzimmer eine Handbreit gešffnet lie§. Ich frage mich, wie das alles zusammenhŠngt. Oder haben wir es mit verschiedenen TŠtern zu tun? Ganz ehrlich, Horst, ich tappe všllig im DunkelnÇ, schloss Schorsch resigniert, als Gunda den Raum betrat.

ÈGuten Morgen, na, und habt ihr schon alle Weihnachtsgeschenke besorgt?Ç, fragte diese gut gelaunt.

Horst entgegnete: ÈGud Morng, alles erledigt, wir schenken uns doch nix mehr, wir haben doch alles.Ç

Sein Kollege schmunzelte und sagte: ÈGuten Morgen, Gunda, was will man in dieser Zeit schon schenken, das kulturelle Leben ist zum Erliegen gekommen, ebenso die Kurzurlaube. Wellness gib es ja nicht mehr, also wo man zu zweit noch was gemeinsam erleben kann, das ist aus und vorbei, der Lockdown lŠsst grŸ§en. Was bleibt, ist etwas Persšnliches, eine Uhr, ein Collier, schšne Ohrringe oder ein Ring, also das, was eine Frau eigentlich erwartet.Ç

ÈUnd was bekommt dann deine Rosanne?Ç

ÈSie hat sich eine Armbanduhr gewŸnscht. So eine dicke Zwiebel, die hatte sie mir beim letzten Besuch im Frankencenter im Schaufenster gezeigt. Und gesagt, getan, die bekommt sie nun morgen von mir.Ç

Nachdem sie Gunda von den vermissten Kindern berichtet hatten, meinte diese: ÈSchwierig, ganz schwierige Situation. Die unterschiedlichen Tatorte und der Umstand, dass keines der vermissten Kinder wieder aufgetaucht ist, lŠsst uns kein Spurenbild erkennen. Nicht mal ansatzweise. Um wie viele Kinder geht es denn genau?Ç

Schorsch schaute in der Statistik nach und sagte: ÈSeit Ende 2019 sind achtzehn Kinder zwischen ein und sechs Jahren in Ober-, Mittel- und Unterfranken verschwunden. Was wir wissen, sind Altersgruppe und Geschlecht, mehr haben wir nicht. Was man erkennen kann, ist, dass sich die TŠter vielleicht auf Jungen konzentriert haben. Von den achtzehn Kindern sind dreizehn Jungs, aber vielleicht ist das gar nicht so aussagekrŠftig, weil wir wirklich keinerlei Hintergrundinfos haben. Ich darf mal unseren Rechtsmediziner Doc Fog zitieren: ÝNix, null, niente, nihil!ÜÇ

Gunda bemerkte: ÈIch will jetzt gar nicht emotional rŸberkommen, aber stellt euch nur vor, wir haben Weihnachten, das Fest der Freude, des Friedens und der Besinnlichkeit. Diese Eltern sind verzweifelt, weil sie nichts Ÿber den Verbleib ihrer Kinder wissen. Sie wissen nicht, wieso gerade ihr Kind verschwunden ist, ob es Ÿberhaupt noch lebt, wo und in welchem Zustand es sich befindet. Schrecklich, einfach schrecklich! Ganz ehrlich, ich wei§ ja nicht, wie es euch beiden geht, aber der Fall mit den LachhŠuser-Zwillingen geht mir echt nah. Wie kann es sein, dass im Frankencenter am helllichten Tag zwei Buben verschwinden? Ich will nicht die Mutter verteufeln, die Eltern haben es schwer genug. Weihnachten allein, ohne zu wissen, was mit ihren beiden Jungs los ist. Herzzerrei§end, einfach entsetzlich! Gibt es mittlerweile schon Hinweise, Zeugen, †berwachungsbilder?Ç

Horst entgegnete: ÈDas kann man nur nachvollziehen, wenn man eigene Kinder und solch einen Schicksalsschlag selbst erlebt hat. Dieses Ungewisse, diese psychische Last, die dich tŠglich mit VorwŸrfen quŠlt, dir den Schlaf raubt – entsetzlich. Und das lŠsst so manchen Betroffenen an den staatlichen Institutionen zweifeln. Vielleicht fragen die Eltern sich, ob wir Ÿberhaupt ermitteln, ob uns ein Vladimir, Marvin, Pascal oder Marten egal sind.Ç

ÈDa macht sich bei vielen betroffenen Familien inzwischen Resignation breitÇ, fŸgte Schorsch an und bemerkte nachdenklich: ÈAber wie fahren wir fort in unseren BemŸhungen? Die Zeugenaufrufe in den Medien und die Vermisstenanzeigen haben bisher nichts erbracht.

---ENDE DER LESEPROBE---