Retributionem Auge um Auge, Zahn um Zahn - Roland Geisler - E-Book

Retributionem Auge um Auge, Zahn um Zahn E-Book

Roland Geisler

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Beschreibung

Der aus Franken stammende Ex-Kriminalist Roland Geisler hat eine neue Türe im Krimi-Genre aufgestoßen als Autor und Verleger von Kriminalgeschichten, die mehr alltäglicher Wahrheit als dichterischer Fantasie verpflichtet sind. - Bernd Zachow - Nürnberger Nachrichten. >> Ein Meisterstück der Kriminalliteratur.<< Dr. Kimmel - Leitender Oberstaatsanwalt, Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth

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Roland Geisler und Julia Seuser

Dadord Frangn

Band 2

Retributionem

Auge um Auge, Zahn um Zahn

Ein Franken-Thriller

 

 

 

Dadord in Frangn © by Roland Geisler

Veröffentlicht im Dadord in Frangn-Verlag, Josef-Bauer-Str.18, 90584 Allersberg

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagsmotive: © Thinstock

Abbildungen: Roland Geisler

Redaktion: Julia Seuser

eBook Konvertierung: Dadord in Frangn-Verlag

 

 

Erstausgabe 2015

ISBN 978-3-00-050294-1

 

 

 

 

Schwierig ist es, verborgen zu bleiben, wenn man Unrecht tut; sicher zu sein, dass man verborgen bleiben werde, ist unmöglich.

Epikur

 

 

Dieser Franken-Thriller ist ein Konstrukt aus Fiktion und Zeitgeschichte. Beides verschmilzt in „Retributionem – Auge um Auge, Zahn um Zahn“ und führt den Leser aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück.

Alle Figuren, bis auf Ausnahme der zeitgeschichtlichen Personen, sind erfunden. Sofern diese Personen der Zeitgeschichte in unserem Buch handeln oder denken wie Romanfiguren, ist auch dies frei erfunden. Fiktiv sind ebenso die Handlungsorte in der Gegenwart. Die Planung und die Ereignisse rund um die Giftanschläge im Sommer 1945 beruhen auf einer wahren Begebenheit.

Die Autoren möchten dem Leser eine Handlung vermitteln, die eine gewisse Authentizität beinhaltet. Deshalb muss dem Geschichtenerzähler erlaubt sein zu sagen: Es ist nur eine Geschichte, aber vielleicht war es ja tatsächlich so!?

Lediglich manch taktische und kriminalistische Handlungsabläufe der Gegenwart könnten im wahren Leben so erfolgt sein.

Alle Informationen über polizeiliche und strafprozessuale Ermittlungshandlungen sind als „offen“ einzustufen, da diese für die Öffentlichkeit frei zugänglich sind z.B. BGBL I, 2005, 3136. Alle diese Maßnahmen werden zudem im Internet durch verschiedene deutsche und ausländische Strafverfolgungsbehörden ausführlich beschrieben.

Im Anhang finden Sie ein Glossar zu fränkischen und kriminalistischen Redewendungen.

 

 

 

Das Leben ist wie eine Reise im Zug …

 

 

 

 

 

... das große Mysterium der Reise ist, dass wir nicht wissen, wann wir endgültig aussteigen werden!

(Quelle unbekannt)

 

Prolog 1

 

Mittwoch, 7. April 2010, 14.45 Uhr, Südfriedhof Nürnberg

 

Es war Viertel vor drei, als das Totenglöckchen des Nürnberger Südfriedhofes zu läuten begann. Alle Freunde, die sie auf ihrem letzten Gang begleiten sollten, waren anwesend. Es war ein düsterer, kalter Tag, dieser 7. April 2010.

Der Nieselregen, der sich auf dem dunklen Eichensarg niederlegte und langsam an den lackierten Seiten herabfloss, vermittelte den Eindruck, als seien es Tränen. Tränen all derer, die sie heute zum letzten Mal begleiteten.

Wie konnte das passieren? Die Diagnose Leukämie traf beide wie ein Schlag. Doch dann, nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, die Erleichterung. Schneller als erwartet fand sich ein geeigneter Knochenmarkspender. Es schien wieder alles in die richtigen Bahnen zu laufen. Lediglich ihre ehemals dunkelblonden Haare waren verschwunden; durch die Knochenmarkspende wuchsen sie nun dunkelbraun, fast schwarz. Die Hoffnung, dass beide ihr glückliches Leben fortsetzen konnten, blühte auf. Sie schmiedeten bereits gemeinsame Pläne am Krankenbett im festen Glauben, die Krankheit sei besiegt.

Umso härter traf ihn der Anruf der Klinik. Man berichtete ihm, dass sie Fieber habe, die Blutwerte im Keller seien, und sich ihr Immunsystem auf einen Zweikampf einstellen müsse. Das war vor dreizehn Tagen. Heute wussten alle, wer den Zweikampf gewonnen hatte.

Gunda und Basti stützten ihn, als er gebrochen und schluchzend den letzten Weg hinter Isabell beschritt. Für den letzten Gruß hatte Schorsch ihre Lieblingsblumen gewählt, kirschrote Gerbera. Die Schleife des Sargbuketts trug den Spruch: „Wenn die Liebe einen Weg zum Himmel fände und Erinnerungen zu Stufen würden, dann würde ich hinaufsteigen und dich zurückholen.“ Dieser sollte Isabell für ihn unvergessen machen.

Es war fünf vor drei, als die Pfarrerin den letzten Segen erteilte, „Der Weg“ von Herbert Grönemeyer verhalten aus den beiden kleinen Lautsprechern erklang, die am Rande des Grabes aufgestellt waren, und ihr Sarg in die Tiefe ihrer letzten Ruhestätte versank.

 

Dies war nun eineinhalb Jahre her. Die Trauer hatte nachgelassen, der Alltag hatte sein Leben wieder eingenommen. Die schöne Zeit mit Isabell jedoch blieb in seiner Erinnerung.

 

Prolog 2

 

Freitag, 16.September 2011, 16.55 Uhr, Fountain Street, Valletta, Malta

 

Es war ein sonniger Herbstnachmittag, der 16. September 2011. Valletta lag noch in der Nachmittagssonne, und sie waren wie immer pünktlich. In einer Grube unweit des alten Olivenhains loderte bereits das Holz. Die weiße Schicht der Glut war ideal, es hatte die Hitze erreicht.

„Abaddon“ hatte zum Fest geladen. Wieder einmal hatten seine Männer einen Teil ihres Auftrages erledigt, bedenkenlos konnte er sich auf sie verlassen. Ein Telefonat, und sie standen parat. Er hatte sie persönlich ausgewählt. Es waren Spezialisten aus Sonderkommandos verschiedener Armeen und Geheimdienste. Sie nahmen in seinem Firmengeflecht Schlüsselpositionen ein und wurden für ihre Aufträge bestens entlohnt.

Die Männer setzten sich auf die kahle Pinienbank. Auf dem Holztisch standen Tonbecher und eine Weinkaraffe bereit. Sie stießen miteinander an und tranken jeder einen großen Schluck. Nach einer Weile des Schweigens fokussierte sich ihr Blick auf das schwarze Lämmchen, das bereits angebunden, nur einen Meter von ihnen entfernt, auf seinen Tod wartete.

Die Prozedur konnte nun beginnen.

Sodann stand einer von ihnen auf und umklammerte das Lamm mit festem Griff. Der Jüngste der Männer legte den grauen Wetzstein auf dem Tisch ab, danach führte er die scharfe Klinge zur Kehle des unruhig zuckenden Tieres. Mit einem Schnitt führte er die Schächtung durch, dann drückten seine Hände das Opfer zu Boden. Das warme dunkelrote Blut, das schwallartig aus dem Körper des Tieres austrat und dabei über seine Hände floss, versickerte im staubigen Sandboden. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Lämmchen sich nicht mehr regte. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

 

Das große Anwesen in der Fountain Street war von außen nicht einsehbar, die hohen alten Mauern aus vergangener Zeit schirmten unliebsame Besucher ab. Seit Jahrzehnten unterhielt man hier einen wichtigen Stützpunkt. Laut Firmenschild war es der Sitz der „Global Pax-Trade Ltd.“.

Das Gebäude war strategisch sehr günstig gewählt. Luftlinie waren es nur zirka hundertfünfzig Meter bis zur nordöstlich abfallenden Steilküste, die nach ungefähr zwanzig Metern den Meeresspiegel erreichte. Hier hatte man in den späten Siebzigern einen separaten Zugangsbereich zu diesem Objekt angelegt. Sensible Transporte von Mensch und Material waren somit nicht mehr unter der Kontrolle der maltesischen Behörden.

Seit Jahren hatte man sich von hier aus ein Sprungbrett nach Europa und der restlichen Welt geschaffen. Als Angehöriger des Malteserordens kam man ungehindert durch alle Sicherheitskontrollen, und der internationale Flughafen Frankfurt lag nur zweieinhalb Flugstunden entfernt.

Seit Jahrzehnten war das „Gelübde der Vergeltung“ – die „Talionsformel“ – nicht mehr angewandt worden. Die ihnen bekannten Todeslisten waren abgearbeitet, und es gab lange Zeit keine Hinweise darauf, dass sich noch einer der Verbrecher unter ihnen befand. Alle Verantwortlichen von damals waren ihrer gerechten Strafe zugeführt worden.

Nun aber lagen neue Erkenntnisse vor. Offensichtlich gab es doch noch ein paar von ihnen, deren wahre Identität nach all den Jahren der Verschwiegenheit nun bekannt geworden war.

 

1. Kapitel

 

Dienstag, 20. September 2011, 05.50 Uhr, Pilotystraße, Nürnberg

 

Oans, zwoa, gsuffa ... Er war fast noch im Tiefschlaf. Vor sechs Stunden erst war Georg Bachmeyer, der bei der Nürnberger Mordkommission von allen nur „Schorsch“ genannt wurde, mit seinen Kollegen von der Wiesn zurückgekehrt. Das schrille Läuten seines Telefons beförderte ihn schlagartig aus seinen alkoholgeschwängerten Träumen wieder zurück ins Hier und Jetzt. Er gähnte herzhaft, verzog aber jäh das Gesicht. Die vier Maß Bier, der Radi und die gegrillte Schweinshaxe hatten einige nächtliche Blähungen verursacht, die deutliche Duftspuren in seinem Schlafzimmer hinterlassen hatten. Bevor er das Telefonat annahm, stand er auf und öffnete sein Schlafzimmerfenster bis zum Anschlag.

„Servus, Schorsch! Ausgeschlafen?“

Er erkannte die Stimme von Heidi Baumann. Heidi war die stellvertretende Leiterin des Kriminaldauerdienstes, kurz KDD.

„Guten Morgen, Heidi. Eigentlich habe ich noch einige Stunden Schlaf nachzuholen. Wir waren doch gestern alle auf der Wiesn beim ‚Tag der Betriebe‘, und die letzte Maß hätte ich wohl doch lieber stehen lassen sollen.“

Heidi lachte. „Ich weiß, Schorsch, ich habe eure Rückkehr schließlich noch mitbekommen.“

„Und warum rufst du mich dann zu dieser unchristlichen Zeit an?“

„Es geht leider nicht anders. Wir haben einen Toten westlich von Fürth, genauer gesagt, in der Westvorstadt. Die Kollegen von der Bundespolizei haben mich soeben verständigt. In der Oberleitung der Deutschen Bahn hängt eine gekreuzigte Person.“

„Gekreuzigt?“

„Gekreuzigt und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Es ist kein schöner Anblick.“

„Und was sollen wir in Fürth? Da ist doch die Fürther Dienststelle zuständig!“ Er sah sich schon wieder in seine Kissen zurückfallen, aber Heidi nahm ihm sogleich die Illusion.

„Die Kollegen in Fürth haben heute ihren Betriebsausflug, und wir vertreten sie bis morgen. Also ist deren Zuständigkeit seit heute Nacht null Uhr unsere Zuständigkeit. Tut mir leid, dass dein Tag heute nicht besonders gut anfängt!“ Sie machte eine kurze mitleidige Pause, bevor sie die weiteren Informationen ausspuckte. „Die Bundespolizei sichert bis zum Eintreffen der Kriminalpolizei den Tatort. Das Oberleitungsnetz wurde abgestellt, derzeit fahren Ersatzbusse. Die Fahrstrecke sollte jedoch so schnell wie möglich wieder für den Schienenverkehr freigegeben werden. Unsere Spusi ist unterrichtet. Ebenso sind schon Kollegen meines Dauerdienstes dorthin unterwegs. Schau dir das bitte mal an!“

„Wo genau?“

„Die Eisenbahnbrücke, Verlängerung Parkstraße, die zum Scherbsgraben führt.“

„Gut, Heidi, ich mache mich auf den Weg und werde so in dreißig Minuten da sein.“

Der Tatort befand sich in unmittelbarer Nähe seiner Stammsauna, dem Fürthermare von Andreas Wolf. Wie gerne wäre Schorsch heute dorthin gefahren, allerdings aus ganz anderen Gründen. Er hastete ins Badezimmer, putzte seine Zähne und warf sich eine Ladung Wasser ins Gesicht.

 

Schorsch sah noch etwas verknittert aus, als er um kurz nach sechs Uhr in die Tiefgarage stürmte, seinen Mercedes-Benz Strich-Acht anwarf und die Pilotystraße Richtung Westen verließ. Es dämmerte, die Vögel zwitscherten, und es schien ein schöner Altweibersommertag zu werden. Der morgendliche Berufsverkehr hatte noch nicht wirklich begonnen, sodass er schon nach kürzester Zeit den Frankenschnellweg erreichte und Richtung Fürth fuhr.

Schorsch wählte die Mobilfunknummer von Roland Löw. Roland, Schorschs Kollege, wohnte in Fürth ‒ war also ortskundig ‒ und wurde von allen nur „Blacky“ genannt. Nicht etwa aufgrund einer zufälligen Ähnlichkeit mit dem großen Joachim Fuchsberger, nein, er war das Kind eines dunkelhäutigen Vaters und einer hellhäutigen Mutter, was ihm seinen unwiderstehlichen dunklen Teint beschert hatte. Vielleicht kam er deshalb so gut bei Frauen an?

„Guten Morgen, Schorsch. Was gibt's?“, meldete sich Blacky schon nach dem zweiten Klingeln. Anscheinend hatte er den gestrigen Abend besser weggesteckt als Schorsch.

„Guten Morgen, Blacky. Die Bundespolizei hat uns informiert, wir sollen einen Toten in Fürth inspizieren. Der hängt gekreuzigt in der Oberleitung, nahe der Eisenbahnbrücke, Verlängerung der Parkstraße. Mach dich fertig und komm bitte zum Tatort. Ich bin in fünfzehn Minuten vor Ort.“

„Ok, Chef, ich beeile mich.“

 

Schorsch erreichte die Parkstraße um kurz nach halb sieben. Von Weitem konnte er das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge der Bundespolizei erkennen, die zwischenzeitlich die Zufahrt zu dieser Einbahnstraße mit einem Absperrband abgesichert hatten. Er parkte seinen Mercedes in der angrenzenden Lindenstraße und begab sich in Richtung Tatort. Schorsch erkannte die zwei Kollegen der Fürther Dienstgruppe neben der Polizeiabsperrung, die nun die Tatortabsperrung übernommen hatten und die Verkehrsteilnehmer ebenso in die Lindenstraße umleiteten. Er ging auf die Kollegen zu.

„Guten Morgen, Männer, Bachmeyer vom K11.“ Er zeigte ihnen seinen Dienstausweis.

„Guten Morgen, Herr Bachmeyer, man hat uns über Ihr Erscheinen informiert. Sie werden bereits erwartet.“ Der Kollege hob das Absperrband und ließ ihn passieren.

Die Stimmung war irgendwie unheimlich. Links von Schorsch, also im Osten kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen durch den noch vorhandenen Bodennebel. Der leichte Wind verursachte einen herbstlichen Blättertanz, und je näher man sich dem Tatort näherte, desto mehr roch es nach verbranntem Fleisch.

„Schorsch, warte, ich bin schon da!“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Blacky hatte den Tatort erreicht und joggte auf ihn zu.

Auf der Brücke hatte die Bundespolizei zwischenzeitlich eine Leuchtgiraffe installiert, um den Tatort besser ausleuchten zu können. Die beiden Kommissare überquerten die Brücke und hangelten sich langsam den steilen Bahndamm zu den Gleisanlagen hinab. Schorsch erkannte Robert Schenk und sein Team von der Spusi in ihren grauen Schutzoveralls. Robert und seine Leute waren für die Tatortsicherung zuständig. Jede noch so kleine Spur und jeder Hinweis konnte entscheidend sein. Deshalb war eine gründliche Spurensicherung wesentlicher Bestandteil einer guten und erfolgreichen Fallbearbeitung.

„Servus, Robbi! Und, wie weit seid ihr schon?“

„Guten Morgen, Schorsch! Servus, Blacky! Gut, dass ihr so schnell kommen konntet. Die Leuchtgiraffe von den Schottersheriffs ist uns eine große Hilfe. Wir sind noch mittendrin, aber da hat jemand auf grausamste Weise eine regelrechte Hinrichtung durchgeführt. So etwas habe ich noch nie gesehen!“, antwortete Robert.

Schorschs Blick wanderte vom Leiter der Spurensicherung hinauf zur Oberleitung. Roberts Leute versuchten gerade, das Stangenkreuz mit dem verkohlten und sichtlich geschrumpften Gekreuzigten von dort zu entfernen. Ihre Anstrengungen waren jedoch vergebens. Mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln war eine Bergung des Opfers unmöglich. Die Berufsfeuerwehr würde diesen Job übernehmen müssen.

Es war in der Tat ein schrecklicher Anblick. Man hatte das Opfer augenscheinlich mit einer Kette auf zwei Eisenrohre gekreuzigt und dann bodenabwärts auf die Oberspannungsleitung der Deutschen Bahn geworfen. Am Ende des Kreuzes war ein Anker angebracht, der das Opfer zwischen den Oberleitungen festhielt. Die Kette, mit der die Person festgebunden worden war, hatte man so lange gelassen, dass diese den Schotterboden berührte. Durch die extrem wirkenden Ströme war das Opfer bis zur Unkenntlichkeit verbrannt und verstümmelt worden.

Zudem verursachten die Böen des Herbstwindes ein makabres Spiel. Der Tote pendelte am Kreuz, und die Kette der Kreuzigung schleifte dabei über den Schotterboden. Das Geräusch erinnerte an die aneinander scheuernden Fußketten der Ruderer auf einer Galeere, auf die man im Mittelalter Schwerverbrecher verbannt hatte.

„Schorsch, hast du eine Ahnung, warum der Gekreuzigte verkehrt herum, also mit dem Kopf nach unten hängt?“ Blacky guckte ihn fragend an.

„Hm … Ich kann natürlich auch nur Vermutungen anstellen“, antwortete Schorsch mit einem skeptischen Blick. „Aber es gibt da unterschiedliche Ansätze. Petrus ist ja auch nach unten gekreuzigt worden, weil er bei seiner Hinrichtung äußerte, dass er nicht würdig sei, auf die gleiche Weise wie Jesus zu sterben. Allerdings bedeutet das umgekehrte Kreuz in der heutigen Zeit auch die Umkehrung christlicher Werte. Man findet es häufig im Zusammenhang mit Okkultismus, und in der Black-Metal-Szene gilt es als ein Zeichen des Teufels.“

„Was du alles weißt, Schorsch. Sei ehrlich, du warst damals der Streber im Konfirmandenunterricht.“ Blacky konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, wurde aber sogleich wieder ernst. „Oh Mannomann, Chef! Was kommt da wohl noch auf uns zu? Wenn ich diese Grufties schon von Weitem sehe, bekomme ich Gänsehaut.“

Zwischenzeitlich waren auch die Bestatter eingetroffen. Der schwarze Mercedes-Kombi mit seinen lila Vorhängen und seinen weiß geätzten Milchglasscheiben mit Palmenblättern parkte direkt neben der Leuchtgiraffe. Die beiden älteren Herren stiegen aus dem Fahrzeug aus und warteten darauf, ihrer unangenehmen Arbeit nachgehen zu können. Sie hatten bereits ihren Leichenbergesack neben den Abhang abgelegt, da aufgrund des steilen Bahndamms eine Bergung mit dem üblichen grauen Kunststoffsarg nicht möglich war.

„Guten Morgen, meine Herren!“ Plötzlich trat Oberstaatsanwalt Dr. Menzel aus dem Schatten des Bahnbrückenpfeilers hervor. „Gestern noch auf der Wiesn gefeiert, und heute geht's schon wieder ans Eingemachte. Und das in Fürth! Euer Kriminaldauerdienst hat mich verständigt.“

Oberstaatsanwalt Dr. Menzel, Gruppenleiter bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, war ein Hartliner unter den fränkischen Anklagevertretern. Sobald ihm die notwendigen Beweise vorlagen, fackelte er nicht lange, um Beschlüsse und Haftbefehle für seine Ermittler zu beantragen. Sein Mobiltelefon, munkelte man, hatte er immer griffbereit auf dem Nachttischkästchen liegen, den dazugehörigen Ersatzakku immer in der Ladestation. Er war keineswegs ein „Bedenkenträger“, wie sie das in ihren Kreisen nannten. Denn einige junge Staatsanwälte waren sehr karriereorientiert und wollten durch möglichst wenig Aufsehen und mögliche Beschwerden die Karriereleiter schnell hinaufklettern. Entsprechend bekamen sie bei der Beantragung von Haftbefehlen, Beschlagnahmen und Durchsuchungsbeschlüssen das bekannte „Bauchdrücken“, das sich schon mal bis zum Enddarm hinziehen konnte. Im Gegensatz zu diesen Anklagevertretern bekam Dr. Menzel höchstens mal Bauchschmerzen, wenn er etwas Falsches gegessen hatte. Er war einfach viel zu lange im Geschäft, und seine juristischen Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten machten aus ihm den „Macher“ der Anklage schlechthin! Menzel hatte noch sieben Jahre bis zu seiner Pension, bis dahin könnte er es sogar bis zum Leitenden Oberstaatsanwalt schaffen. Das Zeug dazu hatte er allemal.

Zeitgleich mit Dr. Menzel hatte auch die alarmierte Berufsfeuerwehr der Stadt Fürth den Tatort erreicht. Sie besaßen das notwendige Equipment, um eine gefahrlose Bergung des Gekreuzigten durchführen zu können.

Alle Anwesenden beobachteten nun gespannt, wie sich zwei Feuerwehrbeamte im Rettungskorb mit einer hydraulischen Drehleiter dem Opfer näherten. Sodann fixierten sie den Leichnam mit einer Rettungsleine und führten diesen langsam abwärts zur Gleisanlage. Zwei weitere ihrer Kollegen standen im Schotterbett, sicherten mit der Führungsleine und dirigierten den Leichnam zum Bahndamm. Kaum dass dieser im dunkelgrauen Schotterbett abgelegt worden war, schoss eine Kollegin aus Roberts Spusi-Team weitere Fotos vom Mordopfer. Jetzt erst wurde das Ausmaß der verheerenden Verbrennungen sichtbar, die der Starkstrom der Fünfzehntausend-Volt-Oberleitung verursacht hatte.

Nun trat auch Blacky heran und kniete sich neben das Opfer. Er war sichtlich geschockt. „Mensch, Schorsch, das ist ja nur noch ein Klumpen verbranntes Fleisch. Man kann nicht einmal mehr erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.“

Nur widerwillig kniete sich Schorsch neben seinen Kollegen, und sie begannen mit der Inspektion der Leiche.

Die kleinen Nebelschwaden links und rechts vom Bahndamm verflüchtigten sich, und es wurde langsam heller. Die Stimmung war gespenstisch. Im Hintergrund hörte man das Krächzen von Raben, die auf der Oberleitung Platz genommen hatten. Warteten sie womöglich auf ihr Frühstück?

Mit einem großen Bolzenschneider der Berufsfeuerwehr entfernte Robert den lädierten Körper von dem Stangenkreuz, das aus zwei Wasserleitungsrohren zusammengezimmert worden war. Das Lösen der Metallteile vom Körper gestaltete sich hingegen schwierig, da durch den wirkenden Starkstrom die verschiedenen Körperteile regelrecht mit dem Kreuz und der Eisenkette verschmolzen waren. Die Hautoberfläche und die noch vorhandenen anhaftenden Klamotten des Toten verursachten beim Lösen ein knackendes Geräusch, wie das Ablösen einer verbrannten Schweineschwarte am Spieß. Der Anblick war mehr als grauenvoll, und das verkohlte menschliche Fleisch roch süßlich.

„Ich bin gespannt, ob unser Rechtsmediziner an dem noch Spuren findet“, äußerte Robert erste Bedenken. „Wenn ich mir den Zustand der Leiche so ansehe, würde ich behaupten, dass das nahezu ausgeschlossen ist.“

„Vermutlich hast du recht, Robert“, bestätigte Schorsch. Er wandte sich an Staatsanwalt Dr. Menzel, der direkt zwischen ihm und Robert Platz genommen hatte. „Was sagen Sie dazu, Herr Dr. Menzel?“

„Schrecklich, einfach schrecklich! So etwas ist mir während meiner langen Amtszeit tatsächlich noch nie vor Augen gekommen. Habt ihr den Tatort so weit schon gesichert?“

„Unsere Spusi ist fertig, lediglich die körperliche Untersuchung hier am Opfer steht noch an“, antwortete Schorsch.

„Gut, Bachmeyer. Ich frage deshalb, weil ich jetzt erst einmal eine Zigarette brauche. Rauchen am Tatort ist also okay?“ Menzel schaute Robert fragend an.

„Geht in Ordnung, Dr. Menzel“, gab dieser sein Okay.

Dr. Menzel griff in seine Jackentasche und holte sein silbernes Zigarettenetui hervor. Dann steckte er sich eine Mentholzigarette an und inhalierte einen tiefen, langen Zug. Währenddessen stießen nun auch die beiden Kollegen der Bundespolizei hinzu und begannen sogleich mit der Untersuchung des Opfers.

Nur wenige Minuten später wandte sich Polizeihauptmeister Axel Korn an die restlichen Anwesenden, die sich in der Zwischenzeit an den Anblick des verkohlten Fleischklumpens gewöhnt hatten. „Das Besondere an diesem Opfer ist, dass durch die vorhandene Kette, die den Schotterboden berührt hat, die fünfzehntausend Volt länger durch das Opfer geflossen sind als bei üblichen Oberleitungsunfällen. Stromunfälle bei Gleisbauarbeiten enden meist tödlich, aber die Opfer werden bei der Berührung der spannungsführenden Teile durch den Stromschlag von der Stromquelle zurückgeschleudert. Die Einwirkzeit dauert hier nur Sekunden, oder besser gesagt, Millisekunden. In den meisten Fällen kann das Opfer noch leicht identifiziert werden. Hier bei diesem Opfer sprechen wir aber von einer wesentlich längeren Einwirkzeit. Bis das Sicherungssystem der Deutschen Bahn den Strom automatisch abgeschaltet hat, vergingen mindestens zehn bis fünfzehn Sekunden. Das erklärt, warum der Körper bis zur Unkenntlichkeit verbrannt ist. Unser Körper besteht zu achtzig Prozent aus Wasser, und wenn das verdampft, dann schrumpft er zusammen wie eine Rosine.“

Der Leichnam lag nun neben dem Kreuz. Die Ketten waren gelöst und in Einzelteilen daneben ausgebreitet worden. Kaum zu glauben, dass der große Klumpen einmal ein Mensch gewesen sein soll, dachte Schorsch und durchkämmte mit seinem Blick noch einmal alle vor ihm liegenden Teile. Beim näheren Betrachten des verkohlten Körpers fiel ihm plötzlich ein Glitzern ins Auge. In der Mitte des Klumpens, schätzungsweise dort, wo normalerweise die Brust lag, stach etwas Metallenes hervor. Er ging erneut in die Hocke und entdeckte einen ovalförmigen Gegenstand, der an einer dünnen Kette befestigt war. Es sah aus wie eine Erkennungsmarke der Bundeswehr. Vorsichtig löste er die Kette mit der Marke vom Körper ab. Es knirschte.

Robert, der die Situation mitverfolgt hatte, beugte sich neugierig zu Schorsch, um einen Blick auf die Marke zu werfen. „Haben wir da etwa einen Bundeswehrler vor uns?“

Es schien in der Tat eine deutsche Erkennungsmarke zu sein, auf der jedoch eine ausländische Schriftprägung zu erkennen war. Die genaue Herkunft sollte sein Kollege Michael Wasserburger für ihn abklären. Wasserburger war Leiter der Nürnberger KTU, der 47-jährige Erlanger arbeitete seit 1997 beim Polizeipräsidium Nürnberg.

„Normalerweise sind hier der Anfangsbuchstabe des Namens, die Personenkennziffer, die Religionszugehörigkeit, Kennziffer des Kreiswehrersatzamtes und die Blutgruppe eingestanzt“, bemerkte Schorsch. „Bei dieser Erkennungsmarke aber fehlen diese erforderlichen Einstanzungen. Hier haben wir eine ganz andere Beschriftung.“ Er reichte die Marke Robert, der sie wiederum an Dr. Menzel weitergab.

Es handelte sich um eine sehr außergewöhnliche Prägung:

„Das ist ja wirklich sehr mysteriös, das soll sich gleich mal unser Rechtsmediziner anschauen. Ich werde Dr. Nebel sofort anrufen.“ Dr. Menzel holte sein Mobiltelefon hervor und scrollte nach der Telefonnummer des Rechtsmediziners Prof. Dr. med. Alois Nebel, der von den K11-ern nur „Doc Fog“ genannt wurde. Die Verbindung wurde aufgebaut.

Nach dreimaligem Läuten ging der Doc an den Apparat. „Dr. Menzel, was gibt es zu so früher Stunde? Ich bin gerade auf dem Weg in die Gerichtsmedizin“, hörten auch alle anderen Anwesenden die markante Stimme durch den Lautsprecher.

„Ja, mein Lieber, wir haben hier eine Leiche in einem außergewöhnlichen Zustand, total verkohlt. Ich habe keine Ahnung, ob Sie da noch etwas finden werden.“ Dr. Menzel schilderte Doc Fog die Auffindesituation der Leiche.

„Schicken Sie mir den Leichnam gleich zu, Dr. Menzel, ein Oberspannungsopfer ist sehr lehrreich für meine Studenten“, antwortete Doc Fog in seinem unnachahmlich pragmatischen Tonfall. „Ich werde mich gleich an die Arbeit machen.“

„Werde ich veranlassen, besten Dank.“ Das Gespräch war beendet, und Dr. Menzel widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Kollegen vor Ort. „Meine Herren, haben Sie eine Ahnung, was diese Schriftzeichen bedeuten?“ Er deutete auf die Erkennungsmarke.

Wortlos guckte jeder nochmals auf die Marke, aber keiner von ihnen konnte den geheimnisvollen Präge- oder Schriftsatz genauer bestimmen. War es Farsi, Hebräisch oder Urdu? Sie hofften alle, dass Michael Wasserburger ihnen hier weiterhelfen würde.

„Okay, wir sind dann eigentlich so weit hier fertig.“ Dr. Menzel griff erneut zu seinem Zigarettenetui. „Man kann das Opfer in die Gerichtsmedizin bringen. Herr Bachmeyer, veranlassen Sie bitte den Transport zu Professor Dr. Nebel. Und Ihnen allen, meine Herren, dann noch ein erfolgreiches Schaffen!“ Mit einer Kippe im Mund verließ der Herr Oberstaatsanwalt den Tatort.

Schorsch winkte den Bestattern zu und signalisierte ihnen damit, dass sie nun mit ihrer Arbeit beginnen durften.

Die Arbeit für die K11-er hingegen war hier beendet. Die Kollegen der Bundespolizei demontierten bereits die Leuchtgiraffe, während die beiden Bestatter sich mit dem gefüllten Leichenbergesack den Bahndamm hoch kämpften. Der Tatort war wieder freigegeben.

„Also dann, pack mer's!“ Schorsch verabschiedete sich von den Kollegen der Bundespolizei. Zu Robert und seinem Team, die sich gerade ihrer Schutzoveralls entledigten, sagte er im Vorbeigehen: „Hört zu, wir treffen uns gleich bei der Anneliese in der Kantine. Ich brauche jetzt einen starken Kaffee und ein Leberkäsweckla!“

„Gute Idee, Schorsch“, antwortete Robert, „das könnten wir alle auch gebrauchen. Also dann, bis gleich!“

 

2. Kapitel

 

Dienstag, 20. September 2011, 08.42 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11

 

Unmittelbar nachdem sie sich gemeinsam bei Anneliese gestärkt hatten, suchte Schorsch seinen Kommissariatsleiter, Kriminaldirektor Raimar Schönbohm, auf, um ihm den neuen Mordfall mitzuteilen. Er klopfte kurz an dessen Bürotür und betrat dann das Zimmer. Schönbohm war eben erst im Präsidium angekommen und zog sich gerade seine schwarzen Birkenstocks an. Der Kriminaldirektor hatte nur noch drei Jahre bis zu seiner Pensionierung und war der „Moosbüffel“ unter den Kommissariatsleitern. Denn auch nach fast dreißig Jahren Polizeitätigkeit in Franken ließ er es sich nicht nehmen, seine Anweisungen in schönstem Oberpfälzisch zu erteilen, weshalb ihn einige Kollegen seiner Dienstgradgruppe als hinterwäldlerisch abtaten. Zudem war Schönbohm in Altneuhaus aufgewachsen, einem kleinen Dorf in der östlichen Oberpfalz. Und böse Stimmen behaupteten: „Wenn du in Altneuhaus an der ersten Haustüre klopfst und es macht jemand auf und schaut dich an, dann weißt du gleich, wie der Letzte im Dorf aussieht!“ Sprüche wie diese musste sich der 59-Jährige des Öfteren anhören.

Aber immer stand Schönbohm hinter seinem Kommissariat, und seine Männer hinter ihm. Die kannten ihn und wussten genau, wie sie den „Wäldler“ und seine Art zu nehmen hatten.

„Guten Morgen, Herr Schönbohm.“

„Guten Morgen, Herr Bachmeyer. Was gibt's zu berichten? Kommt die Monatsstatistik für den Polizeipräsidenten voran?“

„Statistik läuft. Ich bin wegen eines neuen Kapitalverbrechens hier.“

„Na hoppala, was ist denn passiert?“

Schorsch teilte Schönbohm die Ereignisse der letzten Stunden mit.

„Mensch, Bachmeyer, das ist ja schrecklich, da läuft es einem ja kalt den Buckel runter. Sonst schon irgendwelche Anhaltspunkte? Ich weiß, es ist eben erst passiert, aber ich möchte gleich den Polizeipräsidenten darüber in Kenntnis setzen.“

„Nein, weitere Anhaltspunkte gibt es noch nicht.“

„Gut, dann wollen wir wie gewohnt um zehn Uhr eine Lagebesprechung durchführen. Informieren Sie bitte alle Leute, die Spusi und Herr Wasserburger sollen auch mit dabei sein.“

„Jawohl, wird erledigt“, antwortete Schorsch und ging zurück in sein Büro.

 

Zwischenzeitlich war auch Schorschs Zimmernachbar eingetroffen, Kriminaloberkommissar Horst Meier, mit dem er sich seit Jahren ein Büro teilte.

„Servus, Schorsch! Ich hab schon gehört, es gibt ein neues Verbrechen.“

„Guten Morgen, Horst. Ja, ich war gerade bei Schönbohm und hab ihn unterrichtet. Um zehn Uhr findet wie gewohnt eine Lagebesprechung statt. Kannst du bitte die Kollegen informieren, inklusive Michaels KTU und Roberts Spusi?“

Horst nickte und hängte sich sofort ans Telefon, um allen Bescheid zu geben.

 

Dienstag, 20. September 2011, 09.53 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11, Besprechungsraum 1.102

 

Eine solche Lagebesprechung fand eigentlich jeden Montag im Kommissariat statt. Neben dem Austausch von Informationen bezüglich des normalen Tagesgeschäfts, des jeweiligen Standes der offenen Ermittlungsfälle und bevorstehende Hauptverhandlungen erfolgte hier auch die Zuteilung von Neufällen und gegebenenfalls die Bildung von Sonderkommissionen, kurz SOKO genannt, beziehungsweise einer MOKO, wie es bei der Mordkommission hieß.

Sie hatten alle bereits Platz genommen. Horst hakte die Anwesenheitsliste ab, indem er die Namen seiner Kollegen aufrief. „Michael Wasserburger von der KTU, Robert Schenk von der Spusi, und das Team der K11 bestehend aus Sebastian Blum, Waltraud Becker, Eva-Maria Flinn, Roland Löw, Hubert Klein, Gunda Vitzthum, Schorsch und meiner Wenigkeit. Alle da, nur der Leiter des K11, Kriminaldirektor Schönbohm, fehlt noch.“

In diesem Augenblick betrat Raimar Schönbohm mit Dr. Mengert den Raum.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich werde heute mal an der Lage teilnehmen“, begrüßte der Polizeipräsident die Anwesenden und nahm direkt neben Schorsch Platz.

Dr. Johannes Mengert war seit 2009 Polizeipräsident von Mittelfranken, und eines seiner großen Anliegen in seinem Präsidium war die schnelle und lückenlose Aufklärung von Straftaten. Egal ob Vergehen oder Verbrechen, die Mittelfranken hatten in der bayerischen Kriminalstatistik die höchste Aufklärungsquote, und das sollte unter seiner Führung auch weiterhin so bleiben.

Schönbohm trat vor den versammelten Kreis der Kollegen und eröffnete die Runde. „Guten Morgen, Kollegen! Wie Sie alle schon wissen, gab es heute Morgen einen Toten in Fürth. Ein schreckliches Kapitalverbrechen, das es rasch aufzuklären gilt. Herr Bachmeyer und Herr Löw waren mit unserer Spurensicherung vor Ort. Aber um Ihnen nicht weiter vorzugreifen, Herr Bachmeyer, würde ich Sie bitten, hier zu übernehmen.“ Er nickte Schorsch zu und nahm selbst auf einem der noch freien Stühle Platz.

„Guten Morgen, Herr Dr. Mengert“, begann Schorsch, „schön, dass Sie Zeit gefunden haben, an unserer Lagebesprechung teilzunehmen.“ Noch einmal erklärte er allen Anwesenden den bis dahin bekannten Sachverhalt und gab dann das Wort weiter an Michael Wasserburger, ihren KTU-Leiter. Dieser hatte tatsächlich ein paar neue Hinweise in petto.

„Liebe Kollegen, die Spurenauswertung ist natürlich noch nicht abgeschlossen, wäre ja auch unmöglich in so kurzer Zeit. Aber ich habe zwischenzeitlich schon mal ein wenig über die Erkennungsmarke recherchiert, die das Opfer getragen hat. Es handelt sich vermutlich um eine Erkennungsmarke der Bundeswehr, die man im Internet auf verschiedenen Verkaufsplattformen erwerben kann. Aber ‒“, Michael stockte kurz, „die vorhandene Prägung ist hebräisch!“

„Hebräisch?“, wunderte sich Dr. Mengert.

„Ja, hebräisch. Die vorhandene Prägung bedeutet: Auge um Auge!“

„Auge um Auge, Zahn um Zahn?“, wollte Schorsch wissen.

„Eigentlich nur ‚Auge um Auge‘. Aber meine Recherche hat ergeben, dass es sich hier um einen Rechtssatz aus dem Alten Testament, der Sefer ha-Berit, handelt.“ Er reichte eine Kopie herum, die folgendes Zitat beinhaltete:

 

„Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.“ (Exodus 21, 23–25)

 

„Somit trifft deine Auslegung schon zu, Schorsch“, sagte Wasserburger, nachdem fast alle das Papier einmal in der Hand gehabt hatten.

„Tja, mehr haben wir bisher allerdings nicht“, entgegnete Schorsch. „Aber mal sehen, was Professor Dr. Nebel über den Toten in Erfahrung bringt.“

„Trotzdem: sehr gute und schnelle Recherche, Herr Wasserburger“, lobte Schönbohm, und Dr. Mengert nickte. „Wir müssen abwarten, was die Obduktion in diesem Fall noch bringen könnte, aber angesichts des Zustands des Opfers bin ich eher skeptisch. Die Tatortbilder der Spusi lassen mich eher daran zweifeln, dass die Rechtsmedizin hier noch nützliche Hinweise zutage fördert.“

Schließlich übernahm der Polizeipräsident das Wort: „Herr Bachmeyer, es scheint ein überaus spannender Mordfall zu sein. Den Fall behalten wir hier bei uns. Eine Abgabe an die Fürther Dienstgruppe kommt nicht infrage!“

Schönbohm sah den Präsidenten erstaunt von der Seite an, fügte sich aber dem Wunsch seines Vorgesetzten. „Also bilden wir eine neue Mordkommission. Herr Bachmeyer, der am Tatort war und mit den Örtlichkeiten vertraut ist, bekommt den Fall übertragen. Herr Bachmeyer, bilden Sie eine neue MOKO und halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.“

Damit war die Lagebesprechung offiziell beendet, und Schönbohm und Dr. Mengert verließen schnellen Schrittes den Besprechungsraum.

Schorsch räusperte sich und wandte sich an die Zurückgebliebenen: „Tja, Leute, wir haben nicht viel, aber vielleicht ergeben sich ja noch weitere Erkenntnisse. Robert, habt ihr auf der Eisenbahnbrücke irgendwelche Spuren sichern können?“

„Wir sind dabei, aber gib uns bitte noch ein paar Tage Zeit“, antwortete der Gefragte.

„Okay, ihr kennt ja das übliche Prozedere. Wir lassen uns überraschen, was die Spusi noch so alles zutage fördert. Wie soll unsere neue MOKO überhaupt heißen? Ich erwarte Vorschläge.“

„Schorsch, wir haben da ja einen Gekreuzigten, wie wäre es also mit MOKO Golgatha?“, warf Horst in die Runde.

„Super Name, Horst!“, rief Gunda.

„Gefällt mir auch gut“, sagte Blacky.

Auch die anderen signalisierten Zustimmung, indem sie mit den Köpfen nickten.

„Ihr habt mich überzeugt. Der Name passt wirklich gut. Also dann bleibt's bei MOKO Golgatha“, bestätigte Schorsch den Vorschlag.

„Aber eigentlich ist Golgatha doch kein so guter Name“, legte Horst plötzlich nach.

„Was? Wieso denn nicht?“ Blacky sah seinen Kollegen verdutzt von der Seite an. „Das passt doch perfekt: damals die Kreuzigung auf Golgatha, nun die Kreuzigung in der Westvorstadt.“

„Ja schon, meine Lieben. Aber was machen wir, wenn unser Gekreuzigter nach drei Tagen wiederaufersteht?“

Alle lachten und grinsten Horst an, der seinen schwarzen Humor in gewissen Situationen einfach nicht zügeln konnte.

„Waltraud und Eva-Maria“, wandte sich Schorsch an die beiden Frauen, die sich bisher noch kaum zu Wort gemeldet hatten. „Ein Foto können wir der Öffentlichkeit zwar nicht präsentieren, aber startet dennoch mal einen Aufruf im Radio und in der Presse, ob heute Nacht irgendjemand etwas auf der Eisenbahnbrücke bemerkt hat, einen Lieferwagen oder Geräusche oder so. Und Waltraud, kümmere du dich bitte auch um die Erstellung eines neuen elektronischen Fallordners unserer MOKO Golgatha.“

„Geht klar, Chef!“

„Basti und Blacky, checkt ihr doch mal die Blitzampeln rund um die Örtlichkeit, vielleicht ist da ja ein Lieferwagen oder Kombi drauf. Ebenso die Einsatzprotokolle der Kollegen von der Polizeidirektion Fürth. So einen Gekreuzigten bringt man ja nicht so ohne Weiteres in einem Pkw zum Tatort. Gunda und Hubsi, ihr bleibt mal mit Michael an der Erkennungsmarke dran. Gunda, vielleicht fällt dir ja ein Kontakt ein, der uns da weiterhelfen könnte. Deine Quellen bei den Nachrichtendiensten waren ja noch nie zu verachten. Und geht doch beide mal die aktuellen Vermisstenanzeigen durch.“ Die Angesprochenen nickten und machten sich Notizen, während Schorsch sich noch einmal Michael Wasserburger zuwandte. „Was meinst du, Michael, bringen uns das Kreuz und die Ketten vielleicht weiter?“

„Unsere KTU gibt wie immer ihr Bestes, aber so wie es aussieht, sind die Wasserleitungsrohre aus dem Baumarkt, genau wie die Eisenkette. Und Baumärkte und Installationsbetriebe gibt es sehr, sehr viele hier bei uns. Also ich verspreche mir da nicht viel, aber hab noch ein wenig Geduld.“

„Gut, dann wären wir meinerseits für heute durch. Habt ihr noch irgendwelche Fragen?“ Keiner hatte dem etwas hinzuzufügen. „Also dann, frohes Schaffen!“

Horst und Schorsch verließen den Raum und gingen zurück in ihr Büro. Schorsch wollte mehr über Michaels Ausführungen bezüglich der Erkennungsmarke erfahren, und Google sollte ihm dabei helfen. Horst versuchte sich hingegen schon einmal an einem Schaubild bei „Analyst Notebook“, einem Softwareprogramm für Ermittler, das die Strukturen und Verknüpfungen von Tatkomplexen aufzeigte. Hier konnten dann alle Sachbearbeiter ihrer neu ins Leben gerufenen MOKO alle wichtigen Details der Tat nachvollziehen: ein Beziehungsgeflecht vom Tatort zu möglichen Zeugen, weitere Anhaltspunkte zum Tatwerkzeug, markante Ergebnisse der Gerichtsmedizin, Täterprofile, mögliche Telekommunikationsverbindungen und vieles mehr. Jeder im Team hatte Zugriff auf das Schaubild und konnte seine weiteren Ermittlungsergebnisse an Horst weitergeben. Dieser aktualisierte dann das Schaubild, sodass alle im Team über den neuesten Ermittlungsstand informiert waren. Ein paar Informationen hatten sie ja schon: Tatort, Tatzeit, die Erkennungsmarke und deren Prägung, die Wasserleitungsrohre, die Ketten und natürlich das bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Opfer. Und vielleicht gab es ja doch noch einen Vermissten, der als Opfer infrage kam?

„Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Schorsch hatte jede Menge Treffermeldungen. Aber die Gesamtheit der Treffer sagte aus, dass dieser biblische Vers um den Begriff „Vergeltung“ rankte.

„Horst! Vergeltung!“

„Wie, Vergeltung?“

„Na ja, dieser Spruch sagt ganz klar aus, dass es sich begrifflich um einen Vergeltungsakt handeln könnte. Unser Opfer wurde auf das Kreuz gefesselt und dann auf die Oberleitung geworfen. Diese Hinrichtung war ein Vergeltungsakt. Nur wofür? Und was hat es mit dieser hebräischen Schrift auf sich? War es ein Jude, der da hingerichtet wurde? Aber warum trug er dann eine solche Erkennungsmarke bei sich? Die ovale Form steht ganz klar für ihre deutsche Herkunft, da bis ins letzte Jahrhundert nur bei uns eine solche Form üblich war? Haben wir es womöglich mit Nazis zu tun? Also meiner Meinung nach tun sich da zwei Spuren auf: einmal das rechte Milieu und einmal ein religiöser Hintergrund. Na ja, vielleicht liegt ja mittlerweile eine Vermisstenanzeige vor, die uns weiterbringt.“ Er blickte auf seine Rolex GMT-Master, sein „Männerspielzeug“, wie er die Uhr gerne nannte. Es war bereits Viertel vor zwölf, Zeit zum Mittagessen. „Wie sieht's aus, Horst, gehst du mit in die Mittagspause?“

Horst schüttelte seinen Kopf. „Nein, danke. Petra hat mir Nudelsalat eingepackt, ich bleib hier und lese meine Zeitung fertig.“ Er stand auf, ging in die Teeküche, holte eine blaue Tupperschüssel aus dem Kühlschrank und ging zurück an seinen Schreibtisch. Dann schlug er den Regionalteil der Nürnberger Nachrichten auf und stocherte genüsslich mit einer Gabel in seinem Nudelsalat.

„Lass es dir schmecken“, rief ihm Schorsch zu, bevor er selbst das Büro verließ. „Ich drehe mal eine Runde in der Fußgängerzone. Bis gleich!“

Richtig Hunger hatte Schorsch allerdings nicht. Deshalb verzichtete er darauf, in die Kantine zu gehen. Auch das Restaurant seines Freundes Leonardo Pinneci am Jakobsmarkt, sein Stammlokal, konnte seinen Appetit nicht anregen. Gerade als Schorsch die Treppe zum Präsidiumsausgang nahm, kam ihm Michael Wasserburger entgegen.

„Mahlzeit, Michael, drehst du eine kleine Runde mit mir?“

„Gerne, ich hole nur noch schnell meine Jacke. Bin gleich wieder hier.“

 

Kurze Zeit später verließen beide das Präsidium und schlenderten Richtung Fußgängerzone. Und Mittagspause hin oder her, natürlich blieb es nicht aus, dass sie sich über den spektakulären Fall unterhielten.

„Was ich schon sagen kann“, berichtete Wasserburger, „ist, dass es sich um eine Erkennungsmarke aus dem Dritten Reich handelt, und nicht, wie zuerst angenommen, von der Bundeswehr. Meine Aussage von heute Morgen muss ich also revidieren, sie stammt sicher nicht aus irgendeinem Internetshop, sondern ist definitiv echt. Und der Wortinhalt der Prägung ist uns ja bereits bekannt.“

„Deutsche Wehrmacht, sagst du? Bist du dir da ganz sicher, dass es sich um eine Hundemarke aus dem Zweiten Weltkrieg handelt?“ Schorsch konnte seine Ungläubigkeit nicht verbergen, obwohl er wusste, wie gründlich sein Kollege Äußerungen wie diese abwog, bevor er sie aussprach.

„Ganz sicher, Schorsch. Ich habe soeben die Metallanalyse vom Labor erhalten, und hätte es dir nach der Mittagspause sowieso mitgeteilt.“

 

Polizeipräsidium Mittelfranken – KTU-Tagebuch-Nr: 2011/09/22-03TD-K11-WassB-„MOKO Golgatha“

 

 

 

„Interessant, eine Erkennungsmarke aus der Nazi-Zeit also. Was es damit wohl auf sich hat? Vielleicht steckt ja doch eine rechtsextreme Gruppierung dahinter? Vielleicht braune Extremisten, die einen Nichtgesonnenen hingerichtet haben? Das heißt für uns, dass wir in alle Richtungen ermitteln müssen, und unsere Staatsschutzabteilung muss mit ins Boot! Interessanter Hinweis, Michael, danke. Aber jetzt essen wir erst einmal ‚Drei im Weckla‘, komm, ich lade dich ein.“

 

Kurz vor ein Uhr waren sie wieder im Präsidium, und jeder eilte an seinen Schreibtisch zurück. Schließlich gab es noch viel zu tun, damit die Ermittlungen im Fall Westvorstadt so richtig ins Rollen kommen konnten.

Auf der Treppe zu Schorschs Büro liefen ihm Waltraud und Eva-Maria über den Weg.

„Mahlzeit, Mädels. Gibt es schon was Neues?“

„Was die aktuellen Vermisstenanzeigen im Nürnberger Raum angeht, ist das Ergebnis leider negativ, aber wir sind auch noch nicht mit allen durch. Wir warten noch auf das Gesamtanfrageergebnis vom Landeskriminalamt“, antwortete Eva-Maria.

„Alles klar, dann übe ich mich weiter in Geduld“, entgegnete Schorsch und ging weiter in sein Büro. Dort schrieb er sogleich einen Vermerk über die Hinweise und das Gespräch mit Michael Wasserburger. Die Staatsschutzabteilung sollte in jedem Fall informiert werden.

Das Obduktionsergebnis von Doc Fog stand noch immer aus, sodass Schorsch auch hier noch keine weiteren Ermittlungsschritte einleiten konnte. Das gesamte Team war mit Aufgaben betraut, und er konnte sicher sein, dass es diesen auch pflichtbewusst nachging. Bis allerdings zuverlässige Ergebnisse vorlagen, konnte es noch eine ganze Weile dauern. Also beschloss Schorsch, den Feierabend einzuläuten. Es war ein schöner Altweibersommertag, und er hatte noch jede Menge Überstunden abzubauen.

Es werden wohl die letzten schönen Tage dieses Sommers sein, dachte er, und entschied sich dafür, den Nachmittag an der Wiesent zu verbringen. Vielleicht hatte er Glück und einige Äschen und Forellen würden seine Sedge nehmen.

 

Gegen Viertel nach vier erreichte er das Hotel „Zur Post“ in Waischenfeld. Waischenfeld, der kleine Ort in der Fränkischen Schweiz, ist für Fliegenfischer eine Art Pilgerort, denn die Wiesent, die sich idyllisch in die Natur einbindet, ist hier besonders gut zu befischen. Die Inhaber des Hotels, die Familie Schrüfer, bereiten die frisch gefangenen Fische sogar für ihre Gäste zu.

Schorsch zog seine Wathose an, legte seine Fliegenweste über und pirschte sich vorsichtig mit seiner Steckrute an das Gewässer. Das saubere und klare Wasser war eine Augenweide für jeden Fliegenfischer. Und er hatte genau die richtige Zeit erwischt. Die Äschen und Bachforellen fingen an zu steigen und bereiteten ihm so richtig Freude.

Es war gegen fünf Uhr, als er eine Flussbiegung umging und dort auf Doc Fog stieß, der gerade dabei war, eine große Bachforelle zu drillen.

„Mensch, Alois! Grüß Gott!“

„Schorsch, grüß dich! Kannst du mir bitte mal schnell beim Landen helfen? Das hier ist ein riesiger Brocken, und ich hab nur ein sehr dünnes Vorfach.“

Vorsichtig führte Schorsch seinen Unterfangkescher in die Wiesent, und Doc Fog dirigierte gekonnt seinen Fang über den Kescher. Die „Rotgetupfte“ war gelandet.

„Super, vielen Dank, Schorsch“, bedankte sich der Arzt. „Du warst meine Rettung! Und die hier gibt es heute noch zum Essen.“ Sichtlich stolz begutachtete er den Fisch und fing sogleich damit an, ihn auszunehmen.

Während Doc Fog die Forelle versorgte, also ausnahm und für das gemeinsame Abendmahl putzte, nutzte Schorsch die Gelegenheit, um nach den Obduktionsfortschritten zu fragen.

„Ich bin ja erst vor zwanzig Minuten hier angekommen, weil ich euren Toten noch fertig machen wollte“, erklärte der Doc. „Der sah zwar ziemlich verschmort aus, aber ihr solltet morgen unbedingt mal bei mir vorbeischauen.“

„Warum? Was hast du gefunden? Ach Mensch, Alois, spann mich doch nicht so auf die Folter! Erzähl!“, drängte Schorsch.

„Nun ja, allzu viel war ja nicht mehr auszuwerten, außer natürlich die Blutgruppe, die DNA und dass er links ein künstliches Hüftgelenk hatte. Aber eine Sache, die ich gefunden habe, gibt doch Anlass zu Spekulationen.“ Alois schaute ihn grinsend an.

„Alois, jetzt sag schon!“

„Er hatte eine speziell angefertigte Backenzahnbrücke, links oben die 6-8er. Diese Art von Brücke haben sich eigentlich nur wirkliche SS-Größen einsetzen lassen, die nicht mehr an den Endsieg geglaubt haben.“

„SS-Größen? Backenzahnbrücke? Ich verstehe nur Bahnhof!“

„1943 bis Anfang 1945 gab es bei den Nationalsozialisten nur eine Handvoll Zahnärzte beziehungsweise Kieferchirurgen, die solche Geheimverstecke in den Kiefer einbrachten. Es waren Klappbrücken aus Reintitan. Diese Zahnbrücken sind in filigraner Handwerkskunst von speziellen Zahntechnikern hergestellt worden. Man hatte an einer Aufnahmemöglichkeit für eine Zyankali-Kapsel gefeilt und eine Lösung gefunden. Titan war das perfekte Material, das eine solche tödliche Kapsel sicher umhüllen und verstecken konnte. Man konnte also in dieser Titanbrücke seinen eigenhändigen Suizid platzieren lassen.“

Quelle: Bundesarchiv

 

„Ja, aber war das nicht gefährlich für den Träger?“, fragte Schorsch.

„Der Schließ- und Öffnungsmechanismus war so ausgereift, dass man die Brücke mit ein wenig Aufwand nach der Verhaftung problemlos in seiner Gefängniszelle öffnen konnte. Lediglich eine Büroklammer war hierzu notwendig.“

Schorsch konnte kaum glauben, was er da hörte. „Und es bestand wirklich keine Gefahr, sich damit ungewollt das Leben zu nehmen?“

„Nein. Die Träger haben es zuerst an einem Modell geübt, bevor ihnen die Brücke eingesetzt wurde. Sie haben also minuziös gelernt, wie sie sich im Ernstfall aus ihrer Verantwortung stehlen können. Nach dem verlorenen Krieg haben sich die SS-Schergen das Gift wieder entnehmen lassen, beziehungsweise haben sie es selbst entnommen, wie gesagt, es war ja nicht sonderlich schwierig. Zudem waren die damaligen Zahnärzte ja noch bekannt. Die Zahnbrücke wurde nach der Entnahme wieder ganz normal verschlossen und diente weiter dem bisherigen Kauapparat. Am Gebiss musste also nichts verändert werden. Du wirst es kommende Woche an meinem neuen Exponat sehen, du kannst es sogar selbst mal ausprobieren. Adolf Eichmann hatte damals auch so eine spezielle Backenbrücke. Die Kapsel hatte er sich aber in Buenos Aires entnehmen lassen, weil er sich in Argentinien in Sicherheit wog. Hätte er gewusst, dass die Israelis ihn irgendwann einmal entführen werden, dann hätte er vermutlich noch damit gewartet.“

„Das ist ja hoch spannend, Alois. Aber von welchem Exponat redest du?“, wollte Schorsch wissen.

„Es mag sich jetzt vielleicht makaber anhören, aber ich bin riesig froh, dass ich solch ein Opfer noch mal auf den Tisch bekommen habe. Ich habe den noch vorhandenen Oberkiefer entnommen und unser Präparator macht mir daraus ein wunderbares Exponat. Eine solche Titanbrücke fehlte mir nämlich noch in meiner pathologischen Sammlung. Und seinen Oberkiefer braucht der sowieso nicht mehr.“

Schorsch musste grinsen. „Makaber trifft es auf den Punkt, Alois. Aber das schau ich mir gerne an.“

„Du wirst Augen machen, mein Lieber, wenn du das Exponat siehst. Bis jetzt habe ich nur davon gelesen und einige Fotos gesehen, aber kommende Woche liegt es bei mir in der Ausstellung. Einzigartig in Franken!“ Die Augen des Rechtsmediziners leuchteten wie die eines kleinen Kindes, das gerade einen Dinosaurier-Bausatz erfolgreich zusammengebastelt hatte. „Und was das Opfer angeht“, lenkte der Doc das Gespräch wieder in eine sachliche Richtung, „ihr müsst nach einem vermissten alten Mann suchen. Und ich meine, einem richtig alten Mann. Er müsste etwa im Alter von achtzig bis hundert Jahren sein.“

Diese Information war grundlegend, und Schorsch wollte sie seinem Team nicht vorenthalten. Deshalb zückte er sein Mobiltelefon und rief direkt im Präsidium an. Von Gunda erfuhr er außerdem, dass sich zwischenzeitlich auch die Staatsschutzabteilung in den Fall mit eingeklinkt hatte, was nach den eben gehörten Erkenntnissen nur zu begrüßen war.

Dann wandte sich Schorsch wieder seinem Angelpartner zu. „Ich hätte nicht geglaubt, Alois, dass du an dem Toten überhaupt noch was findest. Aber jetzt wird mir auch das mit der Erkennungsmarke klar. Es könnte sich bei dem Opfer um eine ehemalige Nazi-Größe handeln, an der eine späte Rache verübt wurde. Der hebräische Satz auf der Erkennungsmarke ist eigentlich eindeutig. Oder aber jemand führt uns bewusst auf eine falsche Spur und der Täterkreis liegt ganz woanders!“

„Nein, das glaube ich nicht“, widersprach ihm der Doc. „Ich gehe fest davon aus, dass unser Opfer im Dritten Reich eine Führungsposition innehatte. Mein Bericht ist gerade bei unserem Schreibdienst, ich denke mal, Ende der Woche liegt er bei dir auf dem Schreibtisch.“

 

Es war schon nach neunzehn Uhr, als die beiden bei der Familie Schrüfer ihren ersten Silvaner tranken. Alois' Bachforelle wurde blau zubereitet, sie war jedoch so groß, dass sie fast nicht in das vorhergesehene Sudgefäß passte. Dazu gab es frische Kartoffeln mit Sahnemeerrettich und zerflossener Butter. Das Hotel in der Fränkischen Schweiz hatte nicht nur ein ausgezeichnetes Fliegengewässer, sondern auch eine hervorragende Küche.

 

3. Kapitel

 

Mittwoch, 21. September 2011, 07.45 Uhr, Polizeipräsidium Nürnberg, K11

 

Seine Vespa sollte Schorsch sicher zur Dienststelle bringen. Der Altweibersommer hielt an, es war ein wunderschöner Sonnenaufgang. Die Autoglasscheiben der parkenden Autos waren mit einer leichten Wasserschicht benetzt, aber östlich der Pirckheimerstraße blitzten bereits die ersten Sonnenstrahlen hervor. Dennoch hatte unverkennbar der Herbst Einzug in Nürnberg gehalten. Die Last des Morgentaus hatte vereinzelte Blätter von den Ästen der Bäume gelöst, und ein kühler, frischer Morgenwind blies Schorsch auf seinem Roller entgegen. Er jedoch genoss das Gefühl und fühlte sich schlagartig wacher und fit für den Tag.

Nachdem er seine Fünfziger auf den Behördenparkplatz abgestellt hatte, machte er sich schnurstracks auf den Weg in Raimar Schönbohms Büro. Sein Vorgesetzter sollte nun ebenfalls die Neuigkeit von Doc Fogs Obduktion erfahren.

„Guten Morgen, Herr Schönbohm, ich habe wichtige Neuigkeiten“, fiel Schorsch sogleich mit der Tür ins Haus, nachdem er das Zimmer betreten hatte.

„Das klingt doch gut“, begrüßte ihn Schönbohm. „Dann schießen Sie gleich mal los! Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

„Ja, gerne!“, antwortete Schorsch.

„Milch? Zucker?“

„Ein Schuss Milch, danke.“

Schönbohm legte zwei Kaffeepads ein und betätigte den Bedienknopf der Kaffeepadmaschine. „Nehmen wir doch dort drüben in der Besprechungsecke Platz“, sagte er und deutete auf zwei bequeme Sessel in der Ecke seines Büros.

Das Interieur traf Schorschs Geschmack. Schönbohm besaß eine Bildergalerie des französischen Malers Paul Gauguin. Natürlich nur Kopien. Der Künstler, der seinerzeit vor allem impressionistische Werke schuf und gleichzeitig den Grundstein zum Symbolismus legte, wurde vor allem durch seine Bilder aus der Südsee bekannt. Es war eine ungewöhnlich farbenfrohe Besprechungsecke, und es fehlte nicht viel und der Betrachter verschmolz in eine romantische Zweisamkeit nach Französisch-Polynesien. Schorsch dachte an Isabells ehemalige Wohnung in der Pachelbelstraße und an ihre gemeinsame Zeit. Auch sie hatte die Kunstwerke dieses Malers geliebt.

„Bitteschön, Ihr Kaffee, Herr Bachmeyer!“, riss ihn die Stimme Schönbohms aus seinen Gedanken. Der Kriminaldirektor reichte Schorsch das Heißgetränk und ließ sich in einem der Sessel nieder. „So, was gibt es denn zu berichten, Herr Bachmeyer?“

Er erzählte Schönbohm von dem Röntgenbefund des Toten und von der geheimen Reintitanbrücke am Oberkiefer sowie deren Bedeutung.

„Das ist ja eine spannende Geschichte“, war Schönbohms Kommentar. „Ich habe schon mal was von diesen Brücken gehört, aber selbst noch keine gesehen.“

„Dann dürfen Sie sich freuen, denn kommende Woche bekommt Doc Fog ein Exponat davon. Dann können wir beim nächsten Betriebsausflug ja mal seine pathologische Sammlung besichtigen.“

„Ach, er hat sich von dem Ding ein Präparat anfertigen lassen?“ Schönbohm schien die Ironie hinter Schorschs Worten nicht bemerkt zu haben. Stattdessen dachte er einen kurzen Moment nach und fügte dann hinzu: „Und was sagen die Angehörigen dazu?“

„Haben wir denn welche?“, erwiderte Schorsch. „Bei dem Opfer konnte man sowieso nicht mehr viel von seiner ursprünglichen Gestalt erkennen, und auf diese Weise bleibt der Nachwelt, also unseren Medizinstudenten, zumindest ein anschauliches Exponat erhalten.“

„Ich meinte ja nur ‒“ Schönbohms Bedenkenträgerei kam durch, doch er bemerkte es selbst und brach den Satz wohlweißlich ab. Stattdessen fuhr er fort: „Unser Opfer muss demnach also eine Nazi-Größe gewesen sein. Wir müssen nach jemandem suchen, der in dieser Zeit eine Führungsposition innehatte. Diese Person muss demnach schon ein gewisses Alter gehabt haben. Haben wir schon alle Vermisstenmeldungen abgeklärt, Herr Bachmeyer?“

„Wir sind gerade noch dabei, aber vielleicht bekommen wir da ja zeitnah ein Ergebnis. Der Tote muss ja irgendwo abgängig sein. Das Isotopengutachten von Doc Fog liefert uns auf jeden Fall den Hinweis, wo das Opfer zuletzt gelebt hat. Aber welchen Bezug hatte das Opfer zu Fürth? Sind vielleicht unsere Täter aus Fürth? Eine Einzelperson können wir als Täter schon einmal ausschließen, denn das gekreuzigte Opfer muss von mindestens zwei Personen auf die Oberspannungsleitung geworfen worden sein.

---ENDE DER LESEPROBE---