Agnes von Lilien - Caroline von Wolzogen - E-Book

Agnes von Lilien E-Book

Caroline von Wolzogen

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Beschreibung

Dieses eBook: "Agnes von Lilien" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Der Roman "Agnes von Lilien" ist die Geschichte eines empfindsamen und allem Schönen gegenüber aufgeschlossenen schwärmerischen Mädchens, das sich in der realen Welt jedoch fremd und unverstanden fühlt und sich zu einem Idealmann, der alle Tugenden in sich vereint, hingezogen fühlt. Der Roman ist in Ich-Form geschrieben, als fiktive Autobiografie, und das nicht mit dem überlegenen Wissen einer erwachsenen, ihr Leben rückblickend aufzeichnenden Frau, sondern aus der Perspektive einer naiven und "natürlichen" jungen Frau und weist eine ganze Reihe struktureller Mängel und erzählerischer Inkonsistenzen auf. Die Mentalität und der Tugend- und Wertekanon aber, die den Roman charakterisieren, trafen den Zeitgeist der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Caroline von Wolzogen (1763-1847) war die Schwägerin Friedrich Schillers und eine berühmt deutsche Schriftstellerin.

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Caroline von Wolzogen

Agnes von Lilien

e-artnow, 2018 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

An meine Kinder
Erster Theil
Zweyter Theil

An meine Kinder

Inhaltsverzeichnis

Für Euch, meine Kinder, entriß ich diese Blätter dem Strome der Vergangenheit! Ich habe die Blüthenzeit meines Lebens noch einmahl durchlebt, während ich sie schrieb. Die Natur gab mir jenen wohlthätigen Schleier, der den Bildern der Vergangenheit ihren lebendigen Zauber bewahrt, und mit ihm tausendfachen Genuß und reicheres Leben.

Die klare Ansicht einer fremden Existenz ist nie ganz ohne Wirkung auf unsre eigne. Was ich bin, oder was ich zu seyn wähne, und unter welchem freundlichen Einfluß des Schicksals ich es wurde, – sollen Euch diese Blätter zeigen.

Alle Kunstforderungen müßt Ihr hier aufgeben. Nur die Erinnerung bewegte meinen bildenden Sinn, und die Geister der Vergangenheit erschienen wie Ossians Geister auf flüchtigen Wolkengestalten.

Wie sanft ist der Übergang aus der jugendlichen Täuschung zur Wahrheit des Lebens, wenn selbst der Besitz des höchsten Gutes, welches wir wünschten, uns in den Kreis der Wirklichkeit zurückführt! Es bleibt nichts unbefriedigtes in unsrer Seele, und das stille Geschäft einer höheren Bildung nimmt seinen ununterbrochnen Fortgang, ohne von den beunruhigenden Träumen eines ungestillten Verlangens gestöhrt zu werden.

Die Verbindung zweyer liebenden Seelen löst das sonderbare Räthsel unsrer Existenz, im Gefühl einer ewigen Befriedigung und eines ewigen Strebens nach etwas Unerreichbarem.

Euer holdes Daseyn gab unserm Leben die schönste würdigste Bedeutung. Eure klaren Augen, in denen die Welt sich von so einfachen Seiten spiegelte, Euer kindisches Begehren und Streben – führte uns sanft in die Unschuldswelt zurück, erhielt den zärtesten Bildern unsres Gemüths ihre frischen Farben, und klärte die Quellen des heiligsten innren Lebens auf. Als Ihr denken und wollen lerntet, sah ich mit Entzücken, daß das schöne Verhältniß der Gemüthskräfte Euch wie die Gestalt Eures Vaters angebildet wurde.

Den Kreis von Freunden, der sich um uns versammelte, vermochte keine Laune des Schicksals zu zerstreuen. Im Drang der Verhältnisse hatten sich die edlen Naturen erprobt und bewährt erfunden.

Kindliches Vertrauen verband alle Herzen, Muth und Weisheit vereinte sie zu edlem Wirken, Geist und Grazie webte das Band des Umgangs.

Eure verehrten Großeltern lebten ein glückliches Alter.

Mein Pflegevater wiegte Euch noch auf seinen Knieen. Mit freudestrahlendem Blick sah er in meinem ältesten Sohn den künftigen Herrn seines geliebten Dörfchens. Die stille Wirkung dieses edlen Geistes blieb unter uns ewig lebendig, sein Glaube glühte in unserm Herzen.

Die Obergewalt der Güte in der Natur zu fühlen, wie er, das war die Quelle und die Wirkung unsres Glücks.

Die Ruhe, die sich unter die blinde Nothwendigkeit beugt, tödtet die schönsten Blüthen unsers Wesens, sie erzeugt nur das kräftige Selbstgefühl eines Athleten; – aber die Stille der Seele, die ihr eignes Glück wieder in der Natur auszuathmen strebt, die liebliche Fülle der Freyheit und Schönheit, die Wohlthätigkeit des ganzen Daseyns, bildet sich nur in einem Gemüth, dem die Nothwendigkeit als höchste Güte erscheint.

Über der Wiege meines ersten Kindes gelobte mir Julius auch Vater zu werden, und in dem ersten reinsten Naturverhältniß alles liebende Vermögen seines reichen Herzens zu beschäftigen.

Bettina hatte sich schön ausgebildet unter den Augen der Gräfin und ihres Vaters. Ihr Geist, ihr Talent war bezaubernd.

Sie scherzte selbst mit mir in Nordheims Gegenwart über ihren ersten Jugendtraum; ich hielt sie für ganz geheilt.

Bald fühlte ich, daß sie Julius in einem neuen Lichte wahrnahm. Leidenschaftliche Liebe, Neigung ohne Grenzen war die Natur des Mädchens, und Julius nahm sie mit dem zärtesten Herzen auf. Er selbst schien sich mehr hinzugeben, als sie lebhaft zu ergreifen, aber es war im höchsten feinsten Sinn; sie wurden ein glückliches Paar.

Die Gestalt des alternden Mütterchens macht einen sonderbaren Kontrast mit der glühenden Leidenschaft die in diesen Blättern athmet. Die Zeit macht von selbst unser Leben zu einem vollendeten Gemählde, in dem jede Farbe der allgemeinen Harmonie untergeordnet ist. Nur wenn ein irrer Wille dem stillen Naturgang widerstrebt, entstehen grelle Töne.

Euer Vater lächelte bey manchem Zug dieser Geschichte, und freute sich unter dem ergrauenden Scheitel, das freundliche Leben der Jugend noch einmahl aufglühen zu sehen.

Wir freuten uns dessen, was wir gewesen sind und noch sind. Die Form ist unverändert geblieben. Wir gehen dann in den großen Saal, und sehen unsre Bilder an.

Die Vergangenheit umleuchtet uns als ein freundlicher Strahl, und wenn wir uns die Hände drücken, die sich durch eine Reihe von Jahren zu mildem Wirken vereinten, – dann fühlen wir nicht, daß uns die Jugend entflohen ist, sondern daß eine neue Jugend in uns aufblüht.

Erster Theil

Inhaltsverzeichnis

Ich wurde in dem Hause des Pfarrers zu Hohenfels, als seines Bruders Tochter erzogen. Sobald ich es verstehen konnte, sagte mir der Pfarrer, meine Eltern wären während meiner ersten Kindheit gestorben, aber ich sollte ihn als meinen Vater ansehen. Ich erfüllte dieses Verlangen in seinem vollen Sinn, denn ich fühlte nie, daß meine Eltern mir fehlten. Er war ein seltener Mann, und ich werde in der Geschichte meiner Erziehung ausführlicher seyn, als ich vielleicht sollte, weil sich sein Charakter in derselben am besten darstellt. Sein Gemüth war eine reine Harmonie, der sich jeder mit Vergnügen näherte, und ohne es zu suchen, wirkte er auf einen großen Cirkel. Er ließ sich gern und leicht in ein Gespräch ein, und wußte das gemeinste an die wichtigsten Gegenstände so natürlich und leicht anzuknüpfen, daß er das innere Wesen der Menschen aufschloß.

Als mein Verstand reif genug war, um die Menschen gegen einander zu vergleichen, sagte ich oft meinem Vater, wie hoch über alle andere erhaben Er mir erschiene. Mit einem milden Ernst in seinem Blick erwiederte er dann: Wenige zwang das Schicksal mit so freundlicher Gewalt auf der Bahn des Rechten zu bleiben, als mich. Manche Kraft wird zerstöhrt, ehe sie ihre wahre Richtung empfängt. Ich hatte hohen Genuß und tiefes Leiden, aber die Flamme der reinen Liebe erhielt mein besseres Leben. Eine Welt von Erinnerungen schien sich bey solchen Äußerungen in seinem Innern zu entwickeln; sein Auge war gesenkt, er war in sich selbst versunken, aber schnell, als von einem neuen Feuer belebt, kehrten sich dann seine Blicke nach mir; er sagte mir ein freundliches Wort, gab mir einen kleinen Auftrag, welchen ich vorzüglich gern befolgte; ich fühlte, daß irgend ein Gefühl seinen Busen drängte, welchem er Gewalt anthat, und es war mir als schwebte auf seinen Lippen: »Du bist doch mein Liebstes in der Welt!« Über meine Erziehung wachte er mit der Sorgfalt, mit der er jede einmahl übernommene Pflicht beobachtete. Er beschäftigte sich mit mir in seinen ernsten Stunden, aber ich war auch sein liebstes Spiel in den wenig geschäftlosen Augenblicken, die er sich vergönnte. Ich entsinne mich, daß er mich früh gewöhnte, die Begriffe der Arbeit und Ordnung mit meinen Spielen zu verbinden; das geringste, einmahl angefangene Geschäft mußte ich vollenden. Ich war weich und liebend gebildet, und konnte auch keine leise Äußerung der Unzufriedenheit von meinem Vater ertragen. Am tiefsten schmerzte mich, wenn er nach einer begangenen Unart mich wenige Stunden von sich entfernte. Das Einkommen, von welchem das Hauswesen bestritten wurde, war sehr mäßig, aber eine weise Einrichtung verbannte, mit aller unnützen Verschwendung auf der einen Seite, auch allen Geiz auf der andern. Nichts ging verloren, also war genug da, um ein reines ordentliches Leben zu führen, und meine Jugend war reich an allen kleinen Freuden, die der Wohlstand erzeugt.

Diese einfachen Verhältnisse, durch die Kunst meines Vaters geleitet, dienten mir zur Schule des Betragens für das künftige Leben. »Du sollst herrschen und dienen lernen, mein liebes Kind,« sagte er mir zuweilen: »wenn man beides mit Einsicht und mit Achtung für sich selbst zu thun versteht, so ist eins so leicht als das andere; aber sicher ist es Quelle mannichfaltiger Schiefheit und Verworrenheit in vielen Verhältnissen, wenn unsere Fähigkeit ausschliessend für das eine oder für das andere entwickelt wurde. Die Ungeschicklichkeit, sich in irgend einer Lage zu betragen, zieht ein Heer kleiner Übel um uns her, die endlich den Blick in die äußere Welt und in unser Inneres umdämmern. Darum übe dich in allen Formen des Umgangs, und lerne jeden Menschen nach seinem individuellsten Daseyn behandeln, und dich selbst in jedem Verhältniß auf die freieste und für andere am wenigsten drückende Art stellen.« Sein Beispiel, sein stillwirkendes Leben erklärte mir den tiefen Sinn dieser Rede.

Wenn mich nicht häusliche Geschäfte abriefen, war ich größtentheils in einem Kabinet, welches an meines Vaters Zimmer stieß. Ich fühlte mich in voller Freiheit, und, war doch in immerwährender Aufsicht. Da mein Vater selbst nie in eine gewisse Leere und Unbedeutenheit des Daseyns versank, so lernte ich sie auch nicht kennen; ich lebte in einem Cirkel stiller Geschäftigkeit, und mein jugendlicher Frohsinn entwickelte sich mit einigen Gespielen meines Alters. Die Kinder unserer Gutsherrschaft und ein paar Bauerkinder aus der Nachbarschaft lockten mich zu allen kindischen Spielen, und mein Vater sah es gern, wenn ich in körperlicher Behendigkeit die andern übertraf; selbst Rosine durfte kein schiefes Gesicht machen, wenn ich mit zerrissener Schürze und Halstuch zurückkam, aber ich selbst mußte auch alles wieder in guten Stand bringen, und wenn sie dazu helfen wollte, so war es nur Gefälligkeit. Ich hatte einige Lehrstunden, um mich an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen; aber mir damahls unbemerkbar war mein Vater, während dem ganzen Lauf des Tages, mit meiner Bildung beschäftigt.

Wir lebten in einer lieblichen Gegend, und die mannichfaltigen und großen Naturgestalten um mich her nährten meinen Schönheitssinn. Das geheimnißvolle Leben der Natur ergriff mich früh, und die sanften Schauer der Bewunderung dehnten meinen Busen in erhabenen Gefühlen aus. Freundlich gesinnte Geister, schien mirs, wandelten im wechselnden Spiel des Lichtes um die Häupter der Berge, und in den buschigten Ufern des Flusses; ich empfand jenen namenlosen Zauber, in den der Genuß der Schönheit uns wiegt, in vollem Maße. Mein Vater ergriff diese reinsten aller Lebensmomente, um mein tiefstes Daseyn mit dem Gefühl Gottes und der Unsterblichkeit zu beleben. Die christliche Religion lehrte mich mein Vater in ihrem wahren Sinn, kindlich und einfach, als das Resultat der reinsten menschlichen Natur, der wir streben müssen uns zu nähern, und sie in unserm innern und äußern Leben herzustellen.

Mein glückliches Gedächtniß und mein leiser Sinn für die Schönheit brachte meinen Vater auf den Gedanken, mich die alten Sprachen zu lehren, die er enthusiastisch liebte. Die langen Winterabende hinter den Spinnrocken oder am Strickzeug vergingen uns so, daß er mir Stellen aus den Alten vorsagte, die ich auswendig lernen und übersetzen mußte. Die Kunstgestalten der alten Welt sollten meine Einbildungskraft zum Schönen und Edeln stimmen, und mich lehren, meine Sinne für den Eindruck des Gemeinen und Unwürdigen zu verwahren. Durch den Reiz der Neuheit dringt oft ein gemeiner Gegenstand an unser Gemüth, und aus Mangel an schönern Bildern, die ihn verdrängen könnten, umfangen wir ihn mit leidenschaftlichem Begehren.

Ich war immer beschäftigt, und durch einen wichtigen Gegenstand interessirt. Dieses erhielt meinem Vater die Zügel meiner Einbildungskraft in Händen. Freie Luft und Bewegung stärkten meinen Körper. Ich lernte den Feldbau in allen Details kennen, legte im Obst- und Küchengarten wohl selbst Hand an. Mein Sprachstudium, Übungen des Stils im Deutschen und Französischen, Geographie, Naturlehre füllten die Morgenstunden, die von häuslichen Geschäften übrig blieben. Des Nachmittags lehrte er mich Klavierspielen, und ließ mich nach einer Sammlung guter Kupferstiche und Gypsabgüsse, die er besaß, zeichnen, um meiner Hand einige Fertigkeit zu geben, und mein Auge in der Richtigkeit der Verhältnisse zu üben.

Sorglos und unbefangen flossen meine Tage dahin, die Liebe meines Vaters erfüllte sie mit fröhlichem Wechsel. Jede ländliche Beschäftigung war uns ein kleines Fest, welches die gewohnte Lebensweise unterbrach, und der Fleiß wurde mir wieder zum Genuß, wenn ich meines Vaters Freude an meinen Fortschritten wahrnahm.

Mein Vater lebte größtentheils einsam, und hatte von mancherlei Verbindungen in der Nachbarschaft nur einen alten Arzt auch als Freund des Hauses beibehalten. Es war ein Mann von ernsten strengen Sitten, und höchst bestimmten Begriffen. Ich fürchtete ihn als Kind, aber jemehr ich heranwuchs, lernte ich ihn achten und beinah seinen Umgang lieben, da er mir immer etwas Neues aus der Natur und Menschenwelt zu lehren wußte, und eine Freude an meiner schnellen Fassungskraft bezeigte. Herzlich bedauerte ich seinen Tod. Mit diesem Freund verlor mein Vater den einzigen Umgang, der ihm zu einem Gedankenwechsel Anlaß gab, und ich die Freude manches unterrichtenden Gesprächs.

Die Gesellschaft der Salmschen Familie, unserer Gutsherrschaft, wurde mir uninteressanter, jemehr sich mein Geschmack bildete. Aber mein Vater hieß mich oft sie besuchen, damit ich meine Eigenheiten der Gesellschaft anschmiegen lernte, und von der Äußerung einer gewissen Sonderbarkeit befreyt bliebe, die man leicht in der Einsamkeit gewinnt. Durch natürliche Gutmüthigkeit, die gern jeden glücklich und frey in seiner eigenen Sphäre sich bewegen sieht, lernte ich leicht den Ton der Unterhaltung treffen, der für die Familie passend war, und diejenigen Seiten meines Wesens verbergen, die sie nicht fassen mochte. Die Fräulein liebten meinen Umgang, weil ich weder in Kleiderpracht noch in sogenannten feinen Manieren mit ihnen rivalisirte, und wenn mein natürlicher Anstand und mein reinliches einfaches Hauskleid ein Lob von ihren Eltern, oder einem Fremden, welcher zum Besuch bey ihnen war, erhielt, so waren die Eigenschaften einer Pfarrerstochter doch so ganz unter der Sphäre ihrer Ansprüche, daß keine Aufwallung des Neides ihr Wohlwollen gegen mich unterbrach. Ich fühlte mich, ohnerachtet ihres guten Betragens gegen mich, dennoch fremd in ihrem Hause, und wenn ich dann mit dem Ausdruck herzlicher Sehnsucht wieder zu meinem Vater kam, sagte er mir mit einem tiefsinnigen Blicke: Mädchen, Mädchen! Du gewöhnst dich so ganz nur in Odem der Liebe zu leben; ich fürchte, du wirst sonst nirgends zu Hause seyn. So erreichte ich mein achtzehntes Jahr.

Es war einer der ersten schaurigen Herbstabende. Ein dichter Nebel lag in den Thälern, der Wind trieb stürmisch graue Wolken über den östlichen Himmel, und der West flammte in tiefem Purpurroth. Gelbe Blätter flogen aus den schon halbnackten Wipfeln der Bäume, und flatterten an den Fenstern vorbei. Das Knistern des Feuers im Kamin versammlete den ganzen kleinen Haushalt. Alle Bilder des herannahenden Winters spielten in der ersten erwärmenden Flamme empor, und jedes Mitglied der Familie durchflog in Gedanken den Kreis seiner Geschäfte, die Freuden und Leiden, denen es in diesem Zeitraum entgegen sah.

Mein Vater saß mit jener weisen Ruhe, die des Wechsels gewohnt ist, und Jahre wie Tage gleichmüthig vor sich hinziehen sieht, in seinem Lehnstuhl. Er legte den Plutarch aufgeschlagen aus der Hand, weil es finster wurde, und nahm die großgedruckte Bibel vor sich, um einen Text für die nächste Sonntagspredigt zu wählen. Rosine ging im Zimmer auf und ab, das blank gescheuerte Geräthe aus der Küche herbeizuholen, welches ich mit zierlicher Ordnung in den Wandschrank im Hintergrunde des Zimmers aufstellte. Man zog die Thürschelle, und mein Vater rief: Agnes, mein Kind! Schon war ich an der Hausthüre. Es war halbfinster, doch konnt’ ich noch bemerken, daß eine fremde Gestalt hereintrat. Was wünschen Sie, mein Herr? fragte ich; und er erwiederte: »Ich bin ein Reisender und sehr ermüdet, man kann mich im Gasthof nicht aufnehmen; darf ich hoffen, daß der Herr Pfarrer es verzeihen wird, wenn ich ihn um ein Nachtlager bitte?«

Die Stimme war einnehmend, und erregte einen sonderbaren Antheil in meinem Herzen, so daß ich die gewohnte Gastfreiheit meines Vaters, mit lebhafterm Ausdruck als gewöhnlich verkündigte. Das wird Ihnen mein Vater mit Vergnügen geben, sagte ich, treten Sie herein. Er trug seine Bitte meinem Vater nochmahls vor; dieser hieß ihn freundlich willkommen, und setzte sich wieder an seinen Tisch bei dem Fenster, um einige Gedanken aufzuzeichnen, die ihm für seine Predigt eingefallen waren. Der Fremde war ein großer schöner Mann, seine Kleidung war sehr einfach, und deutete weder Armuth noch Reichthum an. Ich trug ihm einen Stuhl zum Kamin, und setzte mich mit meinem Strickzeug ihm gegenüber. Die Flamme im Kamin warf einen hellen Schimmer auf sein Gesicht; und ich nahm feste und anmuthige Züge wahr, aus denen nicht mehr die erste Fülle der Jugend leuchtete. Rosine hatte unterdessen Licht herbeigeholt, mein Vater schrieb fort, und alles war still. Ich suchte vergebens nach ein paar Worten, um eine Unterhaltung anzuknüpfen, aber nichts war mir gut genug von allem, was mir einfiel, und nie scheuete ich mich mehr, etwas Unbedeutendes zu sagen, als in diesem Augenblick. Die Furcht, er möchte mein Schweigen für Unaufmerksamkeit oder für Mangel an feiner Sitte halten, machte mir es gleichwohl peinlich. Er schien keinen Anspruch auf Unterhaltung zu machen, und sah still nach dem Feuer. Zuweilen streifte sein Blick im Zimmer umher, und nur einmahl ruhte er auf mir. Es war etwas unaussprechlich anziehendes in seinem dunkelbraunen Auge; mild und still faßte es die Gegenstände, aber zugleich so tiefeindringend, als möchte es das verborgenste im Herzen erspähen. Mein Strickgarn fiel zu Boden, er hob es auf, und gab es mir mit gerader gutmüthiger Höflichkeit. Der Faden hatte sich um seine Hand geschlungen, sie ruhete einige Sekunden in der meinen, und ein Ring fiel von seinem Finger. Während ich den Ring aus dem Faden loswickelte, hatte ich Zeit, auf der blauen Emaille den Nahmen Amalie zu lesen.

Der Fremde nahm ihn mit einem flüchtigen Erröthen zurück. Ob seine gebückte Stellung, oder die Nähe des Feuers es verursacht hatten? oder ob der Ring lebhaftere Gefühle in ihm erregte? oder ob er den Nahmen seiner Schwester, seiner Freundin, oder seiner Frau am Finger trug? Diese Fragen kreuzten sich in meinem Kopf, und neben dem bemerkte ich die feingeformte Hand, die so eben in der meinen gelegen hatte. Nun legte mein Vater ein Zeichen in seine Bibel, und nahte sich dem Kamin. Freundlich zog er mit der linken Hand sein ledernes Käppchen vom Haupt, reichte die rechte dem Fremden, und hieß ihn nochmahls willkommen. Sie rauchen vielleicht eine Pfeife Tabak in der kalten Herbstluft? fragte mein Vater. Der Fremde winkte Beifall. Ich trug nun auch den Theetisch zum Feuer, so kam alles in Ordnung, und der kleine Zirkel näherte sich einander vertraulicher, als der blaue Dampf in leichten Gewölken umherzog, und der gute Thee balsamisch duftete. Nach ächt griechischer Sitte schritt man erst zum Gespräch, nachdem der Gast gespeist worden war.

Wahrscheinlich kommen Sie heute von A.? sagte mein Vater. Sie hatten dann eine schlimme Tagreise, es ist eine von unsern schlechtesten Straßen im Lande. – »So unwegsam und holpericht die Straße ist,« erwiederte der Fremde, »so mild und freundlich scheinen mir die Menschen, die daran wohnen, und mit dem Tausche wäre man wohl gern zufrieden, wenn man es überall so haben könnte.«

Mein Vater. Ja brave gute Leute gibt es hier, und gibts überall, hoffe ich. Seit fünf und zwanzig Jahren liegt meine Welt in dem engen Zirkel von wenigen Stunden beschränkt, und wenn es mir in diesem dunkel und verwirrt scheint, so habe ich doch immer ein sicheres Mittel, wieder ins Klare zu kommen.

Der Fremde. Und welches?

Mein Vater. Ich suche mir die individuellsten Verhältnisse des Menschen, der mir grundschief und verdorben scheint, ganz bekannt zu machen. Sein Alter, Stand, Erziehung, Temperament, Vermögen, Freundschaften u.s.w. Dann greife ich in meinen eigenen Busen, und fürwahr violes, vieles in seiner Handlungsweise wird mir da leichter erklärlich, was mir außer jenen Beziehungen ungeheuer dünkte.

Der Fremde. Glauben Sie an den Saamen des Bösen in der Menschennatur?

Mein Vater (lächelnd). Nicht in dem Sinn, wie Sie vielleicht meynen, mein Herr; aber ich glaube, und fühle den Saamen der Schwachheit in jeder menschlichen Brust; – glaube, daß nicht jeder sich halten kann, in der schönen Freiheit des Herzens, daß er oft das begehrt, was er nicht sollte, und dadurch zum Sklaven wird, weil er aus dem Gleichgewicht seines innren Wesens heraustritt, wo er König und Herr seyn könnte.

Der Fremde. So sind wir eins! O wie freut, es mich, wenn ich ein Gemüth finde, das seine Einheit bewahrte, das seine Wahrheit und Liebe lebendig erhielt! Wer in diesem schönen Kreise der Menschheit zu bleiben strebt, kann nicht irren, denn Wahrheit und Liebe sind das Wesen der Religion und Philosophie, und erhalten die Gesundheit und Grazie der Empfindung. Ihr seyd nun einmahl die privilegirten Seelenärzte – fuhr er freundlich lächelnd fort – und mich dünkt, ich sey bey einem der bescheidensten, mithin der erfahrensten. Wie bewahrt sich die Seele am freiesten im Kampf mit den widerstrebenden Eindrücken von außen, und der Verdorbenheit um sich her?

Mein Vater. Freund, vor allem möcht’ ich Ihnen sagen: Alle gute Gabe kommt von oben herab, vom Vater des Lichts!

Der Fremde. Und wenn es Seelen giebt, die nur die Richtung gegen das Licht kennen? Es windet sich die eingeschlossene Blume nach der Seite, wo ihr der Lichtstrahl entgegendringt, aber die dunklen Schranken weichen nicht, und ihre Farben bleiben matt und bleich. Was sollen diese thun?

Mein Vater. Sich des geahneten Lichtes freuen, bis das Schicksal, oder eine bis jetzt ungeahnete neue Kraft in ihrem Gemüth die Schranken zerbricht. Jedes wahre innige Verlangen deutet auf die anziehende Kraft eines fernen Gegenstandes.

Der Fremde stand lebhaft von seinem Sitze auf, stellte sich dicht vor meinen Vater, sah ihm fest, aber freundlich, ins Auge. Über meine Wangen flog eine glühende Röthe. Du wahrer Jünger Deines Herrn, sagte er mit sanftgehobener Stimme, indem er meines Vaters beide Hände faßte; Du besitzest seine Milde und seinen großen Sinn; wie lange suchte ich vergebens eine Seele, wie die Deine? Mein Vater sah innig zufrieden aus, und es war seit diesem Augenblick ein herzlicheres Verständniß zwischen uns dreyen. Welcher feinfühlende Mensch hatte nicht solche Momente, in welchen die Seele gleichsam als in ein feineres Element versetzt, zärtere, innigere Beziehungen wahrnimmt, und sich leichter und fester an eine andere anzuschließen vermag, deren Schönheit sie im reinern, erhöhteren Licht erblickt!

Rosine hatte den Tisch gedeckt, und das Abendbrod aufgetragen, welches aus unsern gewöhnlichen zwei Schüsseln bestand, und wegen des, Gastes nur mit einem kleinen Nachtisch vermehrt wurde.

Mein Vater hatte die Gewohnheit in seinem Hause, daß immer ein kleiner Vorrath vorhanden seyn mußte, um einen guten Freund bewirthen zu können. Traktirt wurde nie, und kein Fremder konnte an einem ungewöhnlichen Treiben und Lärmen in Küche und Keller wahrnehmen, daß er Ungelegenheit verursachte. Ich bat mit der geringen Bewirthung vorlieb zu nehmen, und der Fremde erwiederte freundlich, es sey nichts gering, was mit solcher Güte und Anmuth gereicht werde, er habe nie einen bessern Reisbrey gegessen, und wirklich ließ er sich ihn treflich schmecken. Das Einfache, Edle in seinem Betragen rührte mich sonderbar, und ich hatte es an keinem andern Manne meiner Bekanntschaft noch bemerkt. Sein Schweigen gegen mich gefiel mir vorzüglich; mir schien es, als läge eine Art von Achtung darinnen, und als hielte er mich für eine gewöhnliche unbedeutende Unterhaltung zu gut. Oft fand ich seine Augen auf mich gerichtet, und der stille Antheil, den ich an seiner Unterhaltung mit meinem Vater nahm, schien ihm nicht zu entgehen.

Das Gespräch begann sich wieder anzuknüpfen, als der junge Herr von Salm, der Sohn unsers Gutsherrn, hereintrat. Er war eben von der Universität gekommen, um seine Eltern während der Ferien zu besuchen. So vorlaut der junge Herr auch sonst seyn mochte, so still war er in der Gesellschaft meines Vaters, der keine Plattheit, welche sich mit Anmaßung äußerte, ungerügt hingehen ließ. Er sah den Fremden aufmerksam an, der ihm ohngeachtet seines einfachen Anzugs zu imponiren schien. Lange trug er sich mit einer Frage, die er endlich bey einem Stillstand des Gesprächs herauspolterte; denn wenn er nicht ungestraft vorlaut seyn durfte, so war er schüchtern. Auch wollte er nicht gern Fremden eine geringe Meinung von sich geben, und hub darum immer mit etwas Gelehrtem an. Darf ich fragen, mein Herr, ob Sie gute Lateiner in Ihrer Stadt an der Schule haben? Für diesesmahl war ich mit seiner Frage sehr wohl zufrieden, denn ich hoffte etwas von unsers Gastes Wohnort durch sie zu erfahren. Die Antwort befriedigte mich nur halb. Ich war seit drey Jahren außer Deutschland auf Reisen, Herr von Salm, und kenne also den gegenwärtigen Zustand der Schulen nicht. Er sprach nach diesem mit meinem Vater über den Nutzen, die alten Sprachen gründlich in der Jugend erlernt zu haben, und endlich kamen sie auf ihre Lieblingsschriftsteller. Es freute mich wahrzunehmen, wie sehr mein Vater das Urtheil des Fremden ehrte, und die mannichfaltige Schönheit und Anmuth zu bemerken, die sich bey regerem Interesse des Geistes in seinen Zügen entfaltete.

Herr von Salm, halb verlegen und halb unmuthig, keinen Antheil an der Unterredung zu haben, sagte mir halbleise, er ginge, um seine Schwester zu mir abzuholen. Wie gern hätte ich für diesen Abend ihre Gesellschaft entbehrt! Der Fremde wandte sich gegen mich, als uns Herr von Salm verlassen hatte, und fragte mich, ob diese Familie meine einzige Gesellschaft sey, und ob ich vergnügt in dieser Einsamkeit lebte? Ich er wiederte, daß es mir nur sehr selten einfiele, mannichfaltigern Umgang zu wünschen, und daß ich mich nie entschließen könnte, ihn zu suchen, wenn ich die Gesellschaft meines Vaters dadurch verlieren müßte. Es kamen mir leicht Thränen ins Auge, wenn ich an die Trennung von meinem Vater dachte, weil er selbst oft mit Rührung von der unfehlbaren Trennung sprach, die uns früh oder spät, doch so sicher, drohte. Ich war diesen Abend, seit der Erscheinung unsers Gastes so sonderbar gespannt, daß ich mich vergebens bemühte, meine hervorquellenden Thränen zurückzuhalten. »Gutes Kind,« sagte der Fremde lebhaft, und sah mir freundlich theilnehmend ins Auge: »halten Sie diese schönen Thränen nicht zurück. – Nichts bürgt so sicher für die Weisheit der Eltern, und die Güte der Kinder, als wenn diese das väterliche Haus lieben.« Mein Herz schlug heftig, und ich fühlte einen noch nie empfundenen süßen Schauer durch meine Nerven zittern; wir schwiegen alle einige Minuten, der Fremde sah starr, doch lieblich vor sich hin; endlich wandte er sich zu meinem Vater und sagte mit gemilderter Stimme: Wie glücklich sind Sie durch Ihre Tochter! »Ja ich bin es so sehr durch sie, als wäre sie es durch die Natur.« – Der Fremde sah den Pfarrer hier fragend an, und ich selbst fühlte zum erstenmahl etwas Geheimnißvolles mit meiner Existenz verbunden. Als mein Vater die Augen niederschlug, und schwieg, schlossen sich die schon zu einer Frage geöfneten Lippen des Fremden. Erndten Sie auch sichtbar Segen an Ihrer Gemeinde? sagte er nach einigen Momenten des Nachdenkens. – Ja, Gott sey Dank, antwortete mein Vater, mein Bemühen bleibt nicht fruchtlos. Es war ein wildes Völkchen, als ich herkam. Eigennützig und diebisch aus Faulheit und Ungeschicklichkeit, und voller Streitsucht aus Unwissenheit und Mißtrauen. Aber jetzt fängt es an, sich in die Ordnung zu fügen.

Der Fremde. Welcher Mittel bedienten Sie sich?

Mein Vater. Mein Herr, ich fing es von der umgekehrten Seite an, als man es gewöhnlich treibt. Mir scheint es ein Irrthum, wenn man wähnt, man müsse alle Kultur sogleich beim Geistigen anfangen; – ich meyne, man kommt immer zu früh daran, ehe das Leibliche in Ordnung ist, und sogenannte aufgeklärte Gesinnungen seyen nur taube Blüthen, wenn sie nicht aus dem gesunden Stamme eines ordentlichen reinlichen Lebens Nahrungssaft einsaugen. Wenn das Volk durch Arbeitsamkeit sichern Unterhalt findet, so kommt Ordnung und Sitte von selbst. Wirkliche Noth hebt alle moralische Bande auf; der Mensch, den sie drückt, ist im Zustande des Kriegs gegen die Gesellschaft. Wenn die physischen Bedürfnisse mäßig befriedigt sind, sproßt die Seele aus eigener Kraft in Gedanken auf, und die Gefühle des Rechten und Guten, des Glaubens und der Hofnung entkeimen ihrem mütterlichen Boden, als starke, gesunde Gewächse. Die Erfahrungen, die ich in meinem kleinen Kreise machte, scheinen mir beweisend. Ich war so glücklich, durch die Hülfe meiner vorigen Gutsherrschaft vieles für den Wohlstand dieses Dörfchens thun zu können. Unser voriger Herr war nicht allein ein vortreflicher Landwirth, er kannte auch alle Produkte und Bedürfnisse der umliegenden Gegend auf das genaueste, verstand in hohem Grad die Kunst, die Menschen zu behandeln, und sie zu seinen guten Zwecken zu lenken. Er richtete den Feldbau und alle Arbeiten seiner Unterthanen nach den Bedürfnissen der benachbarten Orte ein, so sehr es die Eigenthümlichkeiten des Bodens gestatteten. Da er das Zutrauen aller besaß, so verband sein Geist das Ganze, und jeder Einzelne fand irgend einen Vortheil in seiner Haushaltung dadurch. Überall wußte unser Herr Zugang zur vortheilhaftesten Absetzung der überflüßigen Produkte, und so entstand nach und nach durch die Sicherheit des Erwerbs der Geist der Arbeitsamkeit und stillen Ordnung. Wenig Müssiggänger blieben in der Gemeinde, und die Gemüther bildeten sich gesund und sittlich. Im Anfang wurde der Geldbeutel ihres Herrn mehr in Anspruch genommen, als meine Seelenarzneien. Jetzt, bey einem ruhigen und arbeitsamen Leben, und nach den Eindrücken, die die Jugend, mit welcher ich mich gleich anfänglich beschäftigte, empfing – jetzt nahet sich mir der größte Theil meiner Gemeinde im ächten Gefühl edlerer Bedürfnisse. Die Jugend wünscht Aufklärung über manche Gegenstände des Denkens, und oft Regeln für das Leben von mir, und das Alter spricht gern von seinen Hofnungen nach dem Tode. O warum mußte uns unser treflicher Herr so bald entrissen werden!

Seit wann ist er gestorben? fragte der Fremde mit sichtbarer Bewegung. Ich habe nicht einmahl den Trost, erwiederte mein Vater, zu wissen, daß seine Seele in ein besseres Leben hinübergegangen ist; – er lebt vielleicht noch im Elend, in trauriger Gemüthsverwirrung, in Gefangenschaft; nur Gewalt kann ihn von uns trennen, wenn er noch am Leben ist, und dieses bange Schweigen des Todes gegen Herzen, die ihn so innig liebten, verursachen. Er lebte so mit seinem ganzen Herzen in diesem Dörfchen, dem Kreise seiner Wohlthätigkeit; – willig hat er es nicht verlassen, es liegt eine uns undurchdringliche Nacht auf seinem Schicksal!

Die Gemüthsbewegung des Fremden stieg immer höher, und er fragte mit zitternder Stimme: Auf welche Art verschwand er?

Es sind achtzehn Jahr, als unser Herr eines Morgens befahl, sein schnellstes Pferd zu satteln; er zog seine Jagdkleidung an, ritt an meinem Hause vorbey, und rief mir zu, an die Gartenthür, die etwas entfernter von der Straße ist, zu kommen. Er reichte mir einen Beutel, und sagte: Hier haben Sie einen kleinen Fond zu unsern Einrichtungen für meine Unterthanen. Es möchten vielleicht Hindernisse für unsere Plane in den nächsten Zeiten entstehen; diese Summe, denke ich, soll hinreichen, sie fürs erste sicher zu stellen. – Leben Sie wohl, mein bester Freund. – Er wandte das Gesicht von mir ab, aber ich hatte eine ungewöhnliche Spannung in seinem Wesen wahrgenommen, seine Hand schien zu zittern, als er mir den Beutel reichte. Die Ahndung eines Unglücks flog durch meine Seele, und als ich meine Arme nach ihm erhob, um seine Hand zu drücken, und noch ein Wort von ihm zu vernehmen, gab er dem Pferde die Sporen, und war mir pfeilschnell aus den Augen. Noch einmahl sah er sich nach mir um, und seitdem sah ich ihn nie wieder.

Es sind achtzehn Jahr verstrichen, aber noch liegt jener Augenblick als gegenwärtig in meiner Seele, und nie seh’ ich den kleinen Fußsteig, der in den Wald führt, ohne daß alle Schrecken seines Abschieds mich überfallen. Dort ritt er hin, und warf den letzten, gewiß schmerzlichen Blick auf sein Eigenthum. Alle Herzen waren sein, und er in dem blühenden Mannsalter von dreyßig Jahren, mit einer Fülle der Thaten im Busen, mußte das alles verlassen! Die Unruhe jener ersten bangen Tage seines Verschwindens ist unaussprechlich. Ich fand die Summe von zweitausend Thalern in dem Beutel, und dieses vermehrte meine Besorgnisse, als seyen sie ein Vermächtniß, wenigstens deuteten sie eine lange Abwesenheit an. Ich kannte seine Vermögensumstände, seine Güter waren nicht schuldenfrey, und nur durch eine sehr strenge Ökonomie in allen Ausgaben für seine Person gewann er den Überschuß, den er zum Besten seiner Unterthanen verwendete. Seit fünf Jahren, die er hier verlebte, sah ich ihn immer nach dem festen Plan handeln, seine Güter von Schulden zu befreyen, und sich durch kluge Wirthschaft eines unabhängigen Einkommens zu versichern. Die Summe von zweitausend Thalern konnte er nicht erübrigt haben, und es mußte eine fremde gewaltsame Lage ihn nöthigen, von seinem Plan abzugehen. Oft hatte er mir gesagt, wie glücklich er durch das Gefühl sey, frey und unabhängig auf seinen Gütern zu leben, und wie kein anderes Verhältniß ihn anziehen könnte, weil ihm keines so natürlich und ehrwürdig schiene.

Die Unterthanen, welche gewohnt waren, ihren Herrn alle Sonntage bey ihren Vergnügungen zu sehen, bestürmten mich mit Fragen nach ihm, und ich mußte suchen, meine quälende Unruhe zu verbergen. Seinem Jäger und Verwalter hatte er, gleichsam im Scherz, weil er eben überflüßig Geld habe, ihren Lohn auf drey Jahre vorausbezahlt. Ich schickte sie und einige meiner zuverläßigsten Bauern in der Gegend umher, aber keiner konnte eine Spur von dieses geliebten Herrn Aufenthalt entdecken. So vergingen mehrere Wochen, die Bauern wurden immer unruhiger und drangen mit Fragen in mich. Als ich endlich sagen mußte, ich wisse eben so wenig als sie, und theile ihre Besorgnisse, entstand ein allgemeiner Jammer. Sie liefen stürmend im ganzen Schlosse umher, und am selbigen Abend durchsuchten sie das ganze Jagdrevier und alle Wälder der Gegend mit Fackeln, und behaupteten, man habe ihren geliebten Herrn ermordet, und sie müßten die Mörder ausfündig machen. Keiner wollte an seine Arbeit, bis sie ihn gefunden hätten; es war in der Erndtezeit, aber sie liefen lieber Gefahr ihren Unterhalt für das ganze Jahr zu verlieren, ehe sie sich vorwerfen wollten, nicht alles für ihren Herrn gethan zu haben. Nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen hörten sie endlich auf meine Ermahnungen, ihr Schmerz wurde stiller, und sie gingen wieder an ihre gewohnte Arbeit. Die Hofnung, welche ich ihnen machte, daß die Entfernung ihres Herrn von kurzer Dauer und freiwillig sey, weil er für sie bey seiner Abreise gesorgt habe, stellte am besten Ruhe und Ordnung wieder her. Ich selbst nährte diese süße Täuschung, bis ich eine Reise nach S. unternahm, wo ein vertrauter Freund meines Herrn sich aufhielt. Dieser bat mich, alle Nachforschungen einzustellen; er schien mit dem traurigen Geheimniß seiner Flucht bekannt zu seyn. »Sehen Sie unsern Freund als einen Todten an, er kann uns nur durch ein Wunder wiedergegeben werden, meine Pflicht erlaubt mir nicht Ihnen mehr zu sagen.« Diese Worte schlugen alle meine Hofnungen danieder.

Der Herr von Salm wußte es bey der Ritterschaft durchzusetzen, daß er, als Mitbelehnter, auch die Administration des Guts erhielt; er zog nach einem Jahre ein; man fand alles im besten Stand, und keine neue Schuld im Verzeichniß angezeigt. Den Schreibtisch in unsers Herrn Kabinet fand man ganz leer, und der Jäger sagte: er habe in den letzten Tagen viele Papiere verbrannt. Nirgends konnte ich seitdem eine Spur seines Aufenthalts entdecken. Vor zwey Jahren starb sein Freund in S., und mit ihm ist meine letzte Hofnung verschwunden.

Der Fremde wurde immer bewegter, und drückte meinem Vater mit feuchten Augen die Hand, sah dann lange stumm vor sich hin, und als die Thränen von neuem seine Augen schwellten, verbarg er das Gesicht in seinen gefaltenen Händen.

So oft ich diese Geschichte auch schon gehört hatte, so hörte ich sie doch immer mit gleichem Interesse, und von Kindheit an war es meine liebste Unterhaltung gewesen, meinen Vater von seinem verschwundenen Freund erzählen zu hören. Wenn die Ältesten des Dorfes an schönen Sommerabenden unter den Linden versammelt waren, und ich mit meinem Vater vom Spatziergang zurückkommend bey ihnen ausruhte, kam wohl einer, legte ihm traulich die Hand auf den Arm, und flüsterte ihm ins Ohr: Ja unser Herr sollte wiederkommen! Mehrere kamen herbey, und man sprach von seiner Regierung und sehnte sich nach ihr zurück, wie nach der goldenen Zeit.

Der lebhafte Eindruck, den diese Geschichte auf unsern Gast machte, freute mich innig. Mir war es, als machte ihn dieser Antheil an einen so oft wiederkehrenden Gegenstand unserer Gespräche noch heimischer in der Familie; auch ergriff mich eine dunkle Ahndung, er sey in das geheimnißvolle Schicksal jenes so geliebten Mannes enger verflochten, als er es äußere. Es war ein bedeutendes Schweigen in dem kleinen Zirkel; unsere Herzen näherten sich einander ohne Worte; die junge Familie von Salm unterbrach es zu meinem Verdruß.

Die Fräulein hatten ihren Sonntagsstaat angelegt, da sie von einem Fremden gehört hatten, und kamen mit zierlichen Verbeugungen und einer franzosischen Exklamation zur Thüre herein. Nachdem sie den Fremden steif und vornehm gegrüßt hatten, musterten sie ihn von Kopf zu Fuß mit neugierigen Augen, und flüsterten dann zusammen: obgleich seine Kleidung nicht nach dem neuesten Schnitt sey, so habe er doch einen vornehmen Anstand. Er hatte für die Verbeugung höflich gedankt, und nach einigen flüchtigen Blicken auf die Damen, zog er sich mit meinem Vater in ein Fenster zurück. Die Fräulein sprachen viel über ihre Reise nach S., von den vornehmen Familien, mit denen sie dort Bekanntschaft zu machen dächten, und von ihrer Verwandschaft mit ihnen. Sie sprachen von diesem allen mit ungewöhnlich lauter Stimme, aber da alle Versuche, die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich zu ziehen, fehlschlugen, flüsterten sie wieder heimlich zusammen: es sey schwerlich ein Mann von Stande, da er keine der guten Familien dieser Gegend zu kennen schiene.

Das Geflüster, welches sich die jungen Damen oft bis zu einer beleidigenden Art über einen dritten erlaubten, den sie für unbedeutend hielten, war mir unerträglich; ich schlug ein Spiel vor. Die Fräulein, die nun einmahl die Hofnung aufgegeben hatten, durch ihre glänzende Unterhaltung die Aufmerksamkeit unsers Gastes zu fesseln, überließen sich nunmehr auch ganz ihrer ungebundensten Laune, und wählten die blinde Kuh. Das nächste Zimmer wurde geöfnet, und der junge Salm mußte sich die Augen verbinden. Er that es nur nach wiederhohlten Neckereyen seiner Schwestern, da er noch immer eine hohe Meynung von dem Fremden hegte, und noch hofte, seine Gelehrsamkeit in einer Lücke des Gesprächs einzuschieben. Endlich kam das Spiel in Gang, und ob ich gleich immer mit der halben Seele bey meinem Vater und dem Fremden war, so konnte ich doch nur abgetrennte Worte vornehmen. Ich hörte meinen Nahmen wiederhohlt nennen, sie sprachen eifrig, die Augen des Fremden suchten mich oft, und leuchteten mir wie ein Blitz in die Seele; bey jedem Stillstand des Gesprächs nahte er sich unserm Spiel immer mehr, und schien es mit Antheil anzusehen. Die Fräulein blieben mit ihren hohen Absätzen und langen Schleppen überall hängen, und liefen so ungeschickt, daß sie oft hinfielen, während ich in meinem leichten Hausanzuge und platten Schuhen leicht forthüpfte. Es freute mich nicht wenig, zu fühlen, daß die Augen unsers Gastes nur mir folgten, und zum erstenmahl bemerkte ich mit Vergnügen, wenn unsere Schatten auf der weißen Wand durch einander hüpften, daß ich eine schlankere Gestalt hatte, als meine Gespielinnen. Endlich kam die Reihe an mich, die Augen zu verbinden. Ich lief ein paar Minuten im Zimmer umher, dann nach der Thür, wo mein Vater und der Fremde standen, und faßte den Letzten beym Arm, um ihn in unser Spiel zu ziehen. Ich that dieses in einem Ausbruch fröhlicher Jugendlaune, die mich leicht bey solchen Spielen ergreift; selbst meinen Vater neckte ich oft so. Als ich schon des Fremden Arm gefaßt hatte, fiel mir erst ein, mich zu fragen, ob ich dieses auch hatte thun sollen? Und mein unbefangenes Gemüth wunderte sich wieder über diese Frage, da es ihren geheimnißvollen Sinn noch nicht verstand. In dieser Verwirrung hielt ich immer den Arm fest, bis er sich von meiner Hand losmachte, und meinen Leib umfaßte.

Süßer Moment des Lebens, wo Sinn und Geist zuerst in der holden himmelanstrebenden Flamme emporfliegen, wie allgegenwärtig bleibst du einem zartfühlenden Gemüth! Ich war anständig erzogen, in der höchsten Reinheit und Keuschheit des Sinns und der Einbildung; dieß war der erste Mann, gegen den ich meine volle Weiblichkeit empfand. Ich fühlte mich seit seiner Gegenwart von jenem magischen Gewebe umsponnen, das die Blicke der Liebe zu erzeugen scheinen, und in dem all unser Thun zärter, feiner und bedeutender wird. Bey seiner Berührung bebten meine Nerven, und eine hohe Heiligkeit schwebte um sein Wesen, die schauernd meinen Busen beklemmte. In diesem nahmenlosen süßen Gemisch der ersten Regungen des Herzens stand ich sprachlos, und versuchte nicht der süßen Gewalt, die mich umwand, zu entfliehen. Fallen Sie nicht, liebes Kind, sagte er sanft, als ich endlich seinen Arm leise wegrückte, und umfaßte mich von neuem. Ich suchte meine tiefe Bewegung durch einen Scherz zu verbergen, und verlangte, er sollte an meiner Stelle ins Spiel. Er löste mir das Tuch um die Augen ab. Als ich ihn ansah, waren seine Blicke fest auf mich gerichtet, und eine unaussprechliche Lieblichkeit milderte ihren Ernst. Sie haben mich also gefangen, Liebe; wollen Sie mich auch fest halten? sagte er mit dem zärtesten, doch halb ernsten Ton, der in der Modulation seiner klangvollen Stimme meine tiefste Seele ergriff. Er mischte sich nun auf eine leichte, fröhliche Art für einige Momente in unser Spiel; seine schöne Gestalt und die große Leichtigkeit und Grazie seiner Bewegungen entfaltete sich in vollem Reiz. Als er sich zurückzog, gab er mir die Binde zurück, und sagte: ich hätte ihn um zwanzig Jahre verjüngt; eigentlich dürfe man Amors Binde im vierzigsten nicht mehr tragen.

Er sah mich bey den letzten Worten scharf an; mir war, als suchte er eine Widerlegung in meinen Blicken. Bald hernach bat er meinen Vater um die Erlaubniß, sich zur Ruhe zu legen, indem er sehr ermüdet sey, und morgen eine starke Tagreise vor sich habe. Er ging sachte aus dem Zimmer, ohne weder mich noch die andere Gesellschaft zu grüßen. Mein Vater folgte ihm.

Als er zur Thür hinaus war, ergossen sich die Fräulein mit ihrem Bruder in tausend Vermuthungen und Fragen über die Erscheinung dieses Fremden. Nicht weniger drangen sie in mich, alle kleinen Umstände seiner Ankunft zu erzählen. Die Gegenwart meines Vaters machte sie etwas zurückhaltender. Er hatte einen edlen Ton in seinem Hause eingeführt, und alles unnöthige leere Geschwätz wurde soviel als möglich verbannt, weil es nur aus kleinen Gesinnungen entsteht, und sie auch wieder nährt. Der junge Salm, der doch den Werth des Geistes und der Kultur genug erkennen konnte, um große Achtung dafür zu äußern, ergoß sich in Lobeserhebungen über den Fremden. Ein vortreflicher Mann! rief er mit jenem affektirten Enthusiasmus, in den Seelen von geringen Fähigkeiten leicht verfallen: in Wahrheit ein vortreflicher Mann! begann er von neuem, wie er schön und bieder spricht, welch ein Feuer in seinem Auge, und wie etwas Großes und Vornehmes in seinem ganzen Benehmen liegt, als stehe ihm alles an, was er zu thun gedenkt, und als sey er überall der Herr. Und durch Simplizität und Verstand Herr, sagte mein Vater, welches die beste Herrschaft ist. Die Fräulein fielen auch ein, und fanden, er habe gute Fassons; einen Tadel, der schon auf den Lippen schwebte, schienen sie nur aus Furcht vor meinem Vater zu unterdrücken Im Ganzen schien es ihnen doch aufgefallen zu seyn, daß die wenige Aufmerksamkeit, die er der ganzen jungen Gesellschaft bezeigt hatte, nur einzig auf mich gerichtet war. Wie froh war ich, als die Gesellschaft endlich Abschied nahm, und mich meinem Herzen überließ! Mein Vater gab mir sogleich gute Nacht, und hieß mich das Frühstück gegen sieben Uhr bereiten.

Selbst meinen Vater verließ ich gern, zum erstenmahl in meinem Leben. Ich ordnete das nöthigste für den morgenden Tag, und ging in mein Zimmer. Ich sank auf einen Stuhl neben dem Bette, und überließ mich den lieblichen Bildern, die allgewaltig auf meine Seele eindrangen.

Nur der vergangene Abend lag mir vor den Sinnen, aber in welchen Zauberfarben, die mein ganzes Daseyn überglänzten, wie eine neu hervorbrechende Sonne! Mein Wesen ging mir in einer nie empfundenen erhöhten Kraft auf, eine Welt süßer Ahndungen umfaßte mich, und statt in flacher Dämmerung lag das Leben mit seinen Höhen und Tiefen klar vor meinem geistigen Auge. Immer fühlte ich den Druck seiner Hand aufs neue wieder, kindisch legte ich die meine auf die Gegend des Armes, die er berührt hatte, um gleichsam den Eindruck fest zu halten, und ihn in allen meinen Nerven wiedertönen zu lassen.

Holdes Zaubergefühl der Liebe, wo Sinn und Geist sich in einem allgewaltigen Klang vermählen! Ich genoß diese einzigen Momente, voll und rein, in allem Reiz der süßen mystischen Dämmerung, die die Freuden der Liebe im Busen eines sittsam erzogenen Mädchens umschleiert. Mich hinzugeben dem unaussprechlichen, hohen und schönen, der mir als eine Göttergestalt erschien; in ihm, durch ihn nur zu leben, zu empfinden, – alles dieses ging mir in der Seele auf, und mein Inneres zerfloß in der Gewalt und im Wechsel dieser seligen Bilder. Die Stunde der Mitternacht ging so vorüber, und vergebens legte ich mich zum Schlummer, nachdem ich mir ein nettes, weißes Morgenkleid zurecht gelegt hatte. Holde Träume umfingen mich, und der Geliebte erschien mir in tausend Gestalten und unter tausend verschiedenen Situationen.

Der Morgen begann. – In wenigen Stunden wirst du ihn sehen, sagte ich mir – und die sonderbare Furcht, mit welcher der Mensch allem hoch und heilig geachteten begegnet, ergriff mich. Die schlaflose Nacht bewirkte auch noch physische Ermattung; mit zitternder Hand kleidete ich mich an, und schlich leise durch Rosinens Zimmer, um sie noch eine Stunde Schlaf genießen zu lassen. Kaum wagte ich zu athmen, als ich auf dem Vorsaal an der Thür des Geliebten vorbey kam. Aufs neue ergriff mich das Bild des vergangenen Abends, als ich in das Wohnzimmer trat; die Magd war noch nicht aufgestanden, es zu reinigen, und es lag und stand noch alles umher, wie ich es am Abend verlassen hatte. Ich setzte mich auf den Stuhl, wo der geliebte Mann gestern gesessen hatte. Das Morgenroth flammte in Osten, die Häupter der Berge waren verklärt, und bald von Strahlen übergoldet. Die ferne Gebirgkette, und die niedern Hügel, die unser Thal einschlossen, schwammen im blauen Dufte des Herbstes, und das harmoniereichste Farbenspiel belebte die liebliche Landschaft. Silbern glänzte der Fluß aus den Schatten des Ufers, die sich allgemach verloren. Wie neu erschien mir diese liebe, so bekannt gewordene Gegend. – Sein Bild war gemischt mit allem was mir erschien, und alles Schöne schien mir nur ein Theil seines Wesens. Die Magd trat herein, um das Zimmer zu reinigen, und nur um die Sonderbarkeit meines frühern Erwachens zu entschuldigen, berief ich sie über ihr spätes Aufstehen. Es ist so spät noch nicht, erwiederte sie, und der Fremde wird auch gerne ausruhen wollen.

Diese Worte, die ersten die ich an diesem Tage vernahm, – sie trennten mich auf einmahl von meiner innern Welt freundlicher Bilder, wie die feindliche Scheere der Parzen das Leben von dem goldenen Lichte des Tages. Der Fremde! wiederhohlte ich bey mir selbst; das ist er, und wird es vielleicht immer für dich bleiben, und du räumtest ihm dein ganzes Herz so leicht ein. Die Thränen stürzten aus meinen Augen, und ich eilte ins Kabinet meines Vaters, welches ich alle Morgen selbst mit leisen Schritten aufräumte, um durch kein unzeitiges Geräusch seinen Morgenschlummer zu unterbrechen.

Der Vorhang innerhalb der Glasthür war verschoben, und ich sah sein Gesicht gegen die Thür gewendet. Welche Würde und heitere Stille schwebte über der reinen Stirn, deren Falten nur ruhiges Denken gezeichnet hatte! – welche Lieblichkeit athmete der sanft geöffnete Mund, um welchen Antheil, Mitleid und sorgliche Liebe sanfte Linien gezogen! Die milde segnende Hand lag auf der Decke, und drückte sanft auf die leis athmende Brust. Diese Stille umfing mich, und mein Busen wallte leichter und stiller. Ach für diese Beiden zu leben! sagt’ ich bey mir selbst; keiner ohne den andern kann mich ganz glücklich machen! Ich vollführte mein gewöhnliches Geschäft, und ging dann in die Küche, um das Frühstück anzuordnen.