AgroCity – die Stadt für Afrika - Al Imfeld - E-Book

AgroCity – die Stadt für Afrika E-Book

Al Imfeld

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Beschreibung

Nirgends wachsen die Städte heute so schnell wie auf dem afrikanischen Kontinent. Seit der Unabhängigkeit, also seit den 1960er-Jahren, wurden acht neue Millionenstädte fast aus dem Nichts erbaut – von Lilongwe (Malawi) und Dodoma (Tansania) bis Abuja (Nigeria) und Yamoussoukro (Elfenbeinküste). In diesen chaotisch gewachsenen Megacitys dominiert der europäische Modernismus. Eine »afrikanische« Architektur, ja eine afrikanische Urbanität muss erst entstehen. *AgroCity* ist ein Beitrag dazu. Reportagen aus verschieden gearteten städtischen Vororten zeigen den Unterschied zwischen Townships, Minenstädten und Slums auf. Essays beschäftigen sich mit Fragen wie: Wann wird eine Stadt eine Stadt? Wie könnte einst eine afrikanische Stadt aussehen und lebenswert sein? Wie können aus Bäuerinnen und Bauern Menschen mit urbaner Orientierung werden? Denn das Städtewachstum in Afrika ist auch die Folge einer massenhaften Landflucht, weg von übernutzten und ausgelaugten Böden einerseits und sozialer Langeweile andererseits. Was tun in dieser doppelten Krise? Dieses Buch präsentiert Skizzen für eine städteplanerische Mischung und Versöhnung von Stadt und Landwirtschaft. Eine solche AgroCity hat südlich der Sahara durchaus eine Chance, und Al Imfelds Überlegungen bergen zahlreiche Anregungen auch zum urbanen Zusammenleben hier bei uns.

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Al Imfeld

AgroCity – die Stadt für Afrika

Al Imfeld

AGROCITY – DIE STADT FÜR AFRIKA

Mit Illustrationen von Ali ShahtoHerausgegeben von Lotta Suter

© 2017 Rotpunktverlag, Zürichwww.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Ali ShahtoISBN 978-3-85869-743-11. Auflage 2017

Inhalt

Teil I

EINE ZIVILISATION MIT ZUKUNFT

Mit Jacques im Slum

Zwischen Manifest und Meditation

Zehn Vorbemerkungen zur afrikanischen Stadt

Antikes Rom oder futuristisches Singapur?

Grundsteine einer AgroCity für Afrika

Teil II

STADTENTWICKLUNG IN AFRIKA

Vom Land in die Stadt

Die Mission, der Slum und die AgroCity

Weltbank und Währungsfonds als Slum Lords

Afrikanische Kirchen als Vorläuferinnen der Stadt

Warum Bantu-Afrika eine AgroCity braucht

Weder Individualismus noch Tribalismus

Kein Haus für immer

Städte mit einem neuen Gesicht

Drang nach Anerkennung

Von Katutura zu Matutura

Eine Chance für Ramciel

Manifest für die neue Stadt

Teil III

EINE URBANE AGRIKULTUR

Auf dem Weg zur Stadt-Landwirtschaft

Eine bäuerliche Stadt

Megacitys mit Agrarsatelliten

Sonne, Regen, Wind und Boden

Stadtlandwirtschaft oder Urban Farming

Grundprinzipien des Urban Farming

Biodiversität und kulturelle Vielfalt

Zwischen Staub und Shit

Teil IV

BEOBACHTUNGEN ZU EINZELNEN STÄDTEN UND SLUMS

Was ist ein Slum?

Nairobi, Kenia

Von Slums umringt

Südafrika

Dreifache Urbanisierung

Sambia

Kupferstädte ohne urbanen Glanz

Chitungwiza, Simbabwe

Einblick in politisches Versagen

Luanda, Angola

Slumclearing

Maputo, Mosambik

Eine Stadt mit Tentakeln

Kinshasa, Demokratische Republik Kongo

Mobutus Schandfleck

Brazzaville, Republik Kongo

Am anderen Ufer des Kongo

Lagos, Nigeria

Die Gauklerstadt

Bamako, Mali, und Niamey, Niger

Ländliche Städte

Umsiedeln statt Zwangsräumen

Arme vertragen sich nicht

Teil V

FARBIGE STÄDTE

Schillerndes Design

Die AgroCity braucht Kunst

Land und Landrecht

Unsichtbares sichtbar machen

Wichtige Orte und Gegenstände

Maschinen und Werkzeuge für die AgroCity

Welche Ernährung in der AgroCity?

Mobilität in der AgroCity

Wechselnde Farben

Gesundheit in der AgroCity

Eine andere Schule

Teil VI

DAS IST DIE AGROCITY!

Zehn Thesen zur neuen afrikanischen Stadt

AgroCity – ein Manifest

ANHANG

Teil I

EINE ZIVILISATION MIT ZUKUNFT

Mit Jacques im Slum

Alle nannten ihn einfach Jacques, denn sein Beiname Bugnicourt war für die meisten unaussprechbar. Jacques lebte und forschte seit Menschengedenken im Senegal. Sein Büro im ersten Stock der Enda spiegelte seine Welt. Enda steht für Environnement et Développement de l’Afrique, heute heißt die Organisation offiziell Enda Tiers Monde. Doch nur wenige vor Ort wissen, was diese Abkürzung genau bedeutet; für Westafrikanerinnen und Westafrikaner ist es schlicht und einfach die Enda. Jacques’ Office war seine Heimat geworden. Auf dem großen Arbeitstisch lagen einzeln und auf Haufen, nach links oder rechts gebüschelt, Notizen, Zeitungsausschnitte, Briefe und Bilder. Die Mitarbeiter sprachen von einem kreativen Chaoten. Die Madame am Empfang schickte kaum je einen Besucher zu ihm ins Büro. Sie rief Jacques ins Vestibül oder sagte, der Chef wolle nicht gestört werden, man solle das Problem mit seiner Sekretärin besprechen. Und dann folgte jeweils der Nachsatz: »Jacques sagt, seine Sekretärin wisse auch alles, was er wisse.«

Jacques stammte aus dem Elsass, war von Hause aus zweisprachig und hat sich später in Afrika intensiv mit lokalen Sprachen befasst. Immer wieder betonte er: »Ich kann aus der Sprache oft mehr erkennen als aus dem Boden.« Er war zudem eine imponierende Gestalt; die Afrikaner meinten, er stamme wohl aus der griechischen Mythologie.

Ich hatte Jacques 1966 in Chicago kennengelernt, als genau ein Dutzend Neugierige aus aller Welt die Ökolandwirtschaftsbewegung gründeten. Initiatoren waren die Deutschen Bernhard Glaeser und Kurt Egger, die zusammen mit Rudolf Buntzel in den Usambara-Bergen im Nordosten Tansanias Eco-Farming großflächig entwickelten und später auch in Ruanda ausprobierten. Ähnliche Ideen kamen aus Japan und Indien, aus Brasilien und in den 1960er-Jahren stark aus den USA. Um der Bewegung Weltbeachtung zu verleihen, wurde bewusst dieser erste Kongress in Chicago organisiert.

Als Jacques 1972 in Dakar die Enda gründete, ein westafrikanisches Forschungsinstitut für angepasste, alternative oder biologische Landwirtschaft in den verschiedenen Zonen Afrikas, vermisste er wie wir anderen den umfassenden ökologischen Aspekt in dieser überall sprießenden alternativen Landwirtschaft. Biologischer Landbau war uns allen sowohl zu wenig als auch etwas verdächtig. Denn »Bio« hatte dem Sozialen, den Kontexten im weiteren Sinn zu wenig Beachtung geschenkt. Wir wollten eine Landwirtschaft, die sich auch bestehenden Räumen und den darin lebenden sozialen Systemen anpasst. Wir nannten es »Eco«, wobei dieses Wort mehr meinte als das deutsche Öko. Im englischen Begriff steckte für uns viel mehr Kosmos, Welt, Umwelt, Mitwelt und Kontext. Es ging uns um ein umfassendes, sinnvolles und nachhaltiges Haushalten.

Immer wieder, meistens am Ende einer Westafrikareise, besuchten mein Journalistenkollege Gerd Meuer und ich Jacques Bugnicourt. Als ich ihn Ende der 1990er-Jahre traf, fragte er sofort: »Kommst du mit?« Selbstverständlich. Und ich war gespannt, was er mir nach so vielen Jahren zeigen würde. Er fuhr mit mir in einen Slum am Rande von Dakar. Das Wohngebiet war etwas erhöht, der heißen Sonne gnadenlos ausgesetzt, keine Bäume gaben Schutz. Offensichtlich kannten die Menschen Jacques, denn sie strömten gleich in Scharen auf ihn zu. Nun erst sagte mir Jacques: »Ich habe ein Slum-Projekt an die Hand genommen.« Etwas traurig fuhr er weiter: »Ich werde nämlich als Enda-Chef pensioniert. Die Geldgeber wollen das so.« Meine Reaktion war: »Jacques, du spinnst. Deine unglaubliche Kraft liegt im Agrikulturellen. Du beginnst etwas, von dem du doch keine Ahnung hast.«

Da zeigte er mir, wie er in der Umgebung, wo wir uns gerade aufhielten, mit den Leuten zusammen ein Entsumpfungsprojekt gestartet hatte. Nun bauten sie eine Wasserleitung auf den höchsten Punkt, wo wir uns gerade befanden. Hier im Herzen des Slums sollte ein Speicher entstehen, von hier aus sollten mehrere Hütten mit Wasser versorgt werden.

Schweigsam traten wir den Rückweg ins Stadtzentrum an. Er lud mich bei meiner Unterkunft ab. Ich war sehr nachdenklich geworden. Jacques im Slum statt auf einem Dürreacker – der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ich schrieb ihm später noch einen freundschaftlichen Brief und fragte ihn, ob er nicht angesichts der erzwungenen Pensionierung einfach kopflos in etwas entfliehe? Es kam kein Brief zurück. 2002 verstarb Jacques Bugnicourt 72-jährig.

Seine Arbeit im urbanen Raum hatte bei mir etwas angestoßen, zunächst konfus kam die Frage hoch und verließ mich seither nicht mehr: Könnten afrikanische Slums nicht auch von einem agrikulturellen Gesichtspunkt aus betrachtet werden?

Immer klarer wurde mir, dass auf dem afrikanischen Kontinent Slums mit Landwirtschaft in Verbindung gebracht werden müssen. Das wäre ein Beitrag zur Bekämpfung der Armut und des Hungerproblems in einem. Eine neue Art Vorstadt müsste entstehen, das könnte für Afrika ein neuer Denkansatz sein: die Vision einer AgroCity, einer afrikanischen Stadt, die es noch nicht gibt.

Im Gedenken an meinen Freund Jacques (1930–2002) möchte ich ein Öko-Konzept für afrikanische Urbanität entwickeln und zu Experimenten aufrufen. Er sah sie zuerst: die AgroCity, die Stadt für Afrika.

Zwischen Manifest und Meditation

Sowohl mit dem Aufbau als auch mit der Sprache dieses Buches gehe ich meinen eigenen Weg. Ich umkreise die Themen, so wie man um einen Berg herumwandert. Von jedem Punkt aus sieht und erlebt man diesen Berg und die umgebende Landschaft anders. Diese Methode der Umkreisung kann bei den Leserinnen und Lesern den Eindruck der Wiederholung erwecken. Eine Duplikation ist es jedoch gerade nicht. Es ist einerseits eine Differenzierung und anderseits eine Weiterführung des Themas. Dieser Vorgang erzeugt eine Vertiefung. Es handelt sich um eine andere Form wissenschaftlichen Vorgehens. Statt mit Ausschluss arbeite ich umkreisend mit Einschluss und neuen Aspekten. Diese Schreib- und Denkform erlaubt auch den Lesenden, nach eigenem Gutdünken und Interesse durch das Buch zu wandern und nicht unbedingt linear von A bis Z zu gehen.

Des Weiteren schreibe ich Essays und nicht Sachbuchkapitel. Daher sind die einzelnen Texte voneinander zuweilen stilistisch sehr verschieden. Die Reflexion über Staub und Shit (Seite 99) verlangt nach einer anderen Sprache als das Porträt von Chitungwiza (Seite 133).

Nicht nur weltweit entwickelt sich heute alles sehr schnell; noch schneller und kaum mehr fassbar geht es auf dem afrikanischen Kontinent zu und her. Ein Beispiel: Noch vor drei Jahren präsentierte sich Katutura (Seite 67) wie von mir dargestellt. Doch kürzlich sagten mir Kenner der Gegend, dass mein Porträt bereits der Geschichte angehöre, denn 2015 kam bei den Präsidentschaftswahlen Hage Geingob an die Macht und setzte andere politische Akzente. Man beachte also: In diesem Buch wird nicht Geschichte geschrieben, sondern es werden Ausschnitte aus Vorgängen vermittelt, die sich auch nach Drucklegung weiter verändern werden. Ich versuche dennoch, einen Einblick in einen längeren Zeitablauf zu geben. Das Buch gleicht darin einem Fotoband: Es sind Momentaufnahmen aus einem Zeitraum von fast dreißig Jahren.

Ich will als Autor nichts beweisen, sondern bloß Hinweise und Einblicke, Anregungen und Impulse geben. Daraus soll so etwas wie ein vorläufiges Manifest für eine nachhaltige Stadtentwicklung in Afrika entstehen. Die Ideen müssen natürlich je nach Metropole und City, je nach Geschichte und Kontext variiert werden. Ich bin mir auch bewusst, dass ein solcher Wandel mindestens zwei Generationen braucht und im Ablauf der Zeit selbst wieder abgewandelt werden muss. Es geht mir um einen Beginn mit der Hoffnung auf ein langsam sich veränderndes Problembewusstsein. Ich bin selber überzeugt, dass es in dieser Welt nie einen radikalen Neubeginn gibt. Dieses Buch ist eine Mischung zwischen Charta und Atlas, zwischen Manifest und Meditation.

Ich komme von der Wirklichkeit Afrikas her. Ich habe seit 1966 über die agrarische Geschichte Afrikas geforscht und geschrieben und traf dabei auf eine fünfzigtausendjährige Landwirtschaftsgeschichte. Ich bin nicht Architekturspezialist, sondern Soziologe oder Sozialtheoretiker der Entwicklungszusammenarbeit.

Auf dem afrikanischen Kontinent werden neue Städte aus dem Nichts heraus geplant. Da schon über sechzig Prozent der Landbevölkerung das Land verlassen haben und an den Stadtrand gezogen sind, wurde viel Land frei. Es bietet sich die Chance, in diese Leere etwas neuen oder zusätzlichen »Staub« zu streuen. Ich vertraue auf die gelegentliche Verwirklichung ausgestreuter Ideen.

Zehn Vorbemerkungen zur afrikanischen Stadt

1. Es ist klar, dass es auf dem afrikanischen Kontinent schon früher Städte gab, doch wir fragen nach der heutigen, postkolonialen, eigenständigen Stadtentwicklung.

Auf dem afrikanischen Kontinent sind mindestens dreitausend Jahre Stadtentwicklung mit verschiedenen historischen Phasen nachzuweisen. Es gab bereits zur Zeit der Ägypter, Nubier, Phönizier, Griechen und Römer im nördlichen Afrika urbane Entwicklungen wie Kairo, Alexandria, Meroë und Aksum im Sudan oder Karthago im heutigen Tunesien. Nordafrika war führend in der Stadtgeschichte. Nach der islamischen Eroberung Nordafrikas entwickelte sich rasch eine ganz bestimmte Stadtform mit Moschee und Markt im Zentrum. Diese Stadtform wurde ab dem 12. Jahrhundert im Malireich in der Sahelzone weitergeführt mit Agadez, Timbuktu, Djenné, Ségou oder Gao, dann im heutigen Nigeria in Kano, Zaria und Maiduguri. Später entstanden entlang der Küste des Atlantischen Ozeans Sklavenausschiffungshäfen (z.B. Gorée, Luanda) und am Indischen Ozean Bagamoyo oder Sansibar und verschiedene Forts (etwa Fort Elvira). Waren das echte Städte? Auf der Suche der Portugiesen nach einem Weg rund ums Kap nach Indien wurden Versorgungsstützpunkte errichtet. Kann man das als Städte gelten lassen? Der britische, französische und portugiesische Kolonialismus baute administrative Zentren, aus denen die Kolonialstädte hervorgingen.

2. Wie wird eine Stadt definiert? Wann wird – oder was macht – eine örtlich konzentrierte Ansammlung von Menschen zur Stadt?

Bedeutet Urbanität eine bestimmte Einwohnerzahl? Wird ein Ort von einer außenstehenden Obrigkeit zur Stadt mit Stadtrechten erklärt? Kann ein Sklavenhafen oder ein Marktort eine Stadt sein? Wann wird aus einem Dorf eine Stadt? Sind Handwerkerkonzentrationen, wie wir sie von Nigeria her kennen (Nok- und Ifekultur mit ihren Brennöfen zur Erstellung von Terrakotten) auch schon Städte?

In meinem Verständnis macht eine Monokultur allein keine Stadt aus. Zentral sind für den urbanen Raum drei Aspekte: Dichte – Diversität – Diffusion. Die Stadt hat eine durchmischte Bevölkerung mit verschiedenen Aufgaben und mit einer bestimmten Ausstrahlung. Die Menschen sollten von einer urbanen Identität erfüllt sein.

Nach allem, was ich über Afrika weiß, gibt es keine Bantu-Stadt; die Bantu sind in Kleingesellschaften organisiert, kennen jedoch eine starke Dorfkultur.

3. Die sogenannte afrikanische Stadt kann nicht einfach isoliert und abstrakt in Raum und Zeit analysiert werden. Wichtig für die neu entstehenden städtischen Gebilde Afrikas ist der belastende historische Hintergrund.

Da die meisten afrikanischen Städte erst in der Kolonialzeit, das heißt kurz vor oder nach Beginn des 20. Jahrhunderts, gebaut wurden, handelte es sich um koloniale Verwaltungs- oder Dienstleistungszentren. So etwa Nairobi, die Hauptstadt Kenias, die um 1905 im Zusammenhang mit dem Bau der Eisenbahnlinie vom Indischen Ozean nach Uganda entstand oder Mombasa als Ausgangspunkt der Eisenbahnverbindung »Lunatic Express« nach Kampala, der Hauptstadt Ugandas. Daressalam wurde als Verlagerung des nördlich gelegenen und als Sklavenausschiffungshafen desavouierten Bagamoyo konzipiert. Dakar und Abidjan waren koloniale Städte genauso wie Lagos und Monrovia. Im Süden Afrikas entstanden die Städte meist auf den hinterlassenen Abfallgruben des Bergbaus. Johannesburg zum Beispiel wurde auf den Arsengiften der Goldgräberei erbaut. Die sambischen Kupferstädte wurden alle auf Altlasten aus der Kupfergewinnung errichtet.

4. Eine afrikanische Stadt lässt sich nicht ohne weiteres mit einer asiatischen oder südamerikanischen Stadt vergleichen.

Wie soll ein Wissenschaftler Lagos mit Mumbai oder Johannesburg mit Kalkutta vergleichen? Möglich ist allenfalls die Gegenüberstellung eines einzelnen Aspekts wie Straßenverkehr, Elektrifizierung oder Graffiti. So oder so geht dabei eine wichtige historisch-kulturelle Dimension verloren. Für Afrika bedeutet selbst die koloniale Prägung etwas anderes, denn sowohl Asien wie auch Lateinamerika haben andere koloniale Vergangenheiten. Der Ferne Osten kennt viel längere und komplexere Kolonialherrschaften; die eine löste die nächste ab. Das begann bereits mit dem Buddhismus (vor allem in Korea), später kamen chinesische und japanische Kolonialherren. Der britische, französische und holländische Kolonialismus sind in dieser Region eher späte Erscheinungen oder Überlagerungen. Städte hatte es längst vor dem europäischen Kolonialismus gegeben.

Nicht so in Afrika. Die afrikanische Stadt gibt es nicht. Städte gibt es im subsaharischen Afrika erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als die europäischen Kolonialisten Verwaltungszentren zu bauen begannen. Afrikanische Menschen hatten nur als Angestellte der Weißen Zugang ins Innere dieser kolonialen Städte. Die Apartheidpolitik wurde außer von den Portugiesen von allen Kolonialmächten angewandt. Einheimische durften bloß in »Squatters« oder »Townships« am Rande wohnen. Diese Außenquartiere waren niemals Städte, sondern höchstens Siedlungen.

In Asien und Lateinamerika sind die Städte ganz anders entstanden und gewachsen. Selbstverständlich kennen alle Städte weltweit verelendete Viertel, doch die Gründe ihrer Existenz und somit auch des sozialen Verhaltens in den Städten sind anders.

5. Wie neu die afrikanische Stadt ist, führt uns die neue Metropolenarchitektur nach der Unabhängigkeit der 1960er-Jahre vor Augen. Afrika befindet sich am Beginn einer Stadtwerdung. Die Menschen – vor allem die Bantu (über eintausend Kleinvölker) – denken agrikulturell und nicht urban. Daher darf analytisch vorgebracht werden: Die Stadt ist erst eine Ansammlung von Slums oder Dörfern.

Nach 1960 wurden bis heute sieben neue Hauptstädte fast aus dem Nichts erbaut. Sie sind bereits heute Millionenstädte – von Lilongwe (Malawi) und Dodoma (Tansania) bis Abuja (Nigeria) und Yamoussoukro (Elfenbeinküste). Es ist erschreckend, wie innerhalb von nur fünfzig Jahren ein chaotisches Wachstum ohne jegliche übergreifende Planung stattfand. Diese rapide Millionenvermehrung wurde noch kaum analysiert, geschweige denn die Frage, ob diese neuen afrikanischen Hauptstädte nicht etwas ganz anderes sind als eine Megacity? Sind sie mehr als aneinandergereihte »Slums« auf der einen und Finanzdistrikte auf der anderen Seite, aus denen etwas Westlich-Urbanes herausgelesen wird?

Das heutige Wesen einer afrikanischen Megacity ist chaotisch. Man muss nur an den Verkehr in der Innenstadt denken. Ich wage zu behaupten, dass die erste Slumwelle mit der Segregation zwischen Weiß und Schwarz begann, eine zweite Welle kam mit der Eroberung durch das Auto. Die dritte Welle folgte dann mit dem Exodus vom Land an den Rand einer vermeintlichen Stadt.

Die Regierungen Afrikas finden sich meist hilflos und überfordert in einem Wirrwarr, Stadt genannt. Niemand wurde auf die Stadt vorbereitet; im Kopf dominiert noch immer die agrikulturelle Welt. Politiker und Beamte bewegen sich in einem nicht an die Moderne angepassten Denkmuster. In einer Metropole entsteht Vielfalt, die Bedeutung der Großfamilie nimmt ab. Es ist jedoch typisch für Afrika, dass in allen Slums die Ethnien sauber getrennt leben. Das macht es dann möglich, bei Wahlen die eine Ethnie gegen die andere auszuspielen und sogar in den Krieg zu hetzen. Es fand also in den großen afrikanischen Städten kaum Durchmischung statt, und daher sind diese Slums eine armselige Kopie der Gated Communities des reichen Nordens.

Tragischerweise sind die heutigen Städte in Schwarzafrika im Zeitalter der Apartheid stecken geblieben, wo die Ethnien per Dekret einer bestimmten Township zugeteilt wurden. Einst war es der Zwang der weißen Regierung; heute diktiert und zwängelt die eigene Großfamilie, der Clan. Die meisten europäischen Stadtentwickler berücksichtigen diesen fatalen Hintergrund kaum oder gar nicht.

6. Der alte Kolonialismus zerfiel und wird jetzt wie afrikanischer Staub in alles, sogar in die Stadtentwicklung, hineingestreut.

Die meisten afrikanischen Städte wurden erst während der Kolonialzeit gegründet und langsam aufgebaut. Um 1960 begann die afrikanische Loslösung von den Kolonien; die Welt erwartete nun den Aufbau von Nationen, doch wurden die kolonialen Strukturen und Hintergründe belassen. Eine entkolonisierte afrikanische Stadt gibt es noch nicht. Und so sind sogar die Stadtzentren keine vitalen Zentren, also Zentren, von denen Leben ausgeht, sondern sie bleiben eine Festung der alten Herrschaft und sind daher neokolonial. Anstelle des ehemaligen kolonialen Mutterlands übernahm das städtische Zentrum die Leitung einer neuen Variante von Kolonie.

Schwarzafrika ist sowohl von einem subtil verhüllten Kolonialismus als auch von einer alles prägenden Apartheid vereinnahmt. Daher gibt es momentan keinen wirklichen urbanen Aufbruch. Das urbane Leben hat noch nicht begonnen; ein städtischer Humanismus entwickelt sich dennoch, zögernd und meist versteckt in der Kultur, in der Musik und im Gedicht, in der Malerei und Bildhauerei.

7. Die vermeintliche Krise der afrikanischen Stadt ist eine Krise der traditionellen landwirtschaftlichen Zivilisation.

Afrikas agrikulturelle Lebensweise ist zerfallen. Während fünfhundert Jahren wurde die Agrikultur durch den Sklavenhandel auf verschieden Routen durch den ganzen Kontinent hindurch nach West und auch nach Ost (Suaheli-Kultur) in den Grundfesten erschüttert. Dann folgten hundertfünfzig Jahre Kolonialismus mit gnadenlosem Raub des Landes und mit Zwangskulturen. Nach 1960 fand keine landwirtschaftliche Erneuerung statt; selbst die Entwicklungszusammenarbeit fuhr im kolonialen Muster fort und nahm an, dass alles Land auf der Welt gleich zu behandeln sei.

8. Noch heute sind 90 Prozent der Wirtschaft und Infrastruktur in der afrikanischen Megacity und in den Randsiedlungen informell organisiert.

Eine moderne Stadt braucht in politischer und ökonomischer Hinsicht ein bestimmtes Ausmaß von Formalisierung. In einer größeren Ansammlung von Menschen müssen einige Dinge wie Eckpfeiler sicher dastehen. Das gilt auch für die afrikanische Stadt.

Dennoch sei davor gewarnt, Afrika zu viel Informalität wegzunehmen. Das Informelle ist in der afrikanischen Kultur und Geschichte tief verankert, es bringt Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit ins Leben – und zwar auf allen Ebenen. Viele Entwicklungsorganisationen sind zu dogmatisch überzeugt, dass Entwicklung und Formalität (Bürokratie) zusammengehören.

Afrikas zukünftige Stadtentwicklung sollte die Informalität als kostbares Gut miteinbeziehen. Daraus könnte eine typisch afrikanische Stadtkultur entstehen. Prozesse und Interaktionen machen das Einzigartige, das Alltägliche und die Mélange einer heutigen afrikanischen Urbanität aus.

Ganz besonders in Schwarzafrika, das heißt südlich der Sahara, ist die Stadt im Werden, im Wandel oder im Umbruch. Das macht sie daher auch viel beeinflussbarer als andernorts. Ein kleines Design wirkt sich rasch auf alles aus. Man kann daher eine bereits existierende afrikanische Stadt leicht in Bewegung oder Wandel bringen.

9. Es geht bei der neuen afrikanischen Stadt – oder der urbanen Agrikultur – nicht um abstrakte Begriffe und Theorien, sondern um ein neues Zusammenleben.

Nehmen wir das Beispiel der dorfzentrierten Bantukultur. Zu jedem Dorf (oder Flecken) gehörte ein weitgehend informeller Markt. Es wurde getauscht, aber auch ausgetauscht und Umschau gehalten. Das Dorf bildete den Treffpunkt. Die Leute gingen jedoch nicht immer nur in ihr eigenes Dorf; man besuchte stolz die Nachbardörfer, lernte sich gegenseitig kennen, und so kam es auch zu »Mischehen«. All das war Teil der Agrarkultur.

Auch hier gab es Ausnahmen. In Tansania etwa dominierten im ganzen Land die Streusiedlungen. Und ausgerechnet hier entwickelte Julius Nyerere, der erste Präsident des unabhängigen Staates, eine eigene Dorfideologie, Ujamaa genannt. Nyerere wollte das ganze Land in Dörfern zusammenführen; er erkannte viel zu spät, dass die herkömmlichen Streusiedlungen nicht willkürlich oder zufällig waren. Es gab sie, weil die Böden für größere Ansiedlungen nicht geeignet waren. Die Folgen dieser Verdorfung (villagization) waren verheerend, wirtschaftlich und politisch, vor allem aber ökologisch. Vielleicht kann dieses Beispiel auch eine Warnung an afrikanische Megacitys sein?

10. Die neue afrikanische Stadt muss multikulturell und kreolisch sein. Beim langsamen urbanen Neubeginn hat Afrika südlich der Sahara eine ganz besondere Chance. Deshalb propagiere ich für Afrika eine AgroCity. Angestrebt ist ein möglichst krisenfreies Ineinandergehen von Agrikulturellem und Urbanem, von Stadt und Land.

Es geht zunächst darum, eine urbane Philosophie und Lebensweise zu entwickeln. Wir alle, und Afrika insbesondere, stehen in dieser Zeit des Klimawandels an einem Neubeginn der Stadtentwicklung. Der oft missbrauchte Begriff der Nachhaltigkeit bedeutet für eine zukünftige afrikanische Stadt größte Vielfalt und Verschiedenheit, es sind Parallelsysteme, die sich kreuzen.

Da sowohl Stadt als auch Land in der Krise sind, ist ein gemeinsamer Neubeginn nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Das hat den Vorteil, dass die Stadt nicht gegen das Land ausgespielt werden kann. Umgekehrt sind aber auch Land und Landwirtschaft nicht durch eine alte Vorherrschaft der Stadt vorbelastet. Ein Ineinander- und Zusammengehen könnte möglich sein.

Hie endet die Philosophie und es beginnt nun das Praktische. Es geht ums Erproben, ums Experimentieren, und nicht um eine langweilige Uniformität. Die Verbindung von Stadt und Land leitet eine neue Zivilisationsform ein. Der jahrtausendealte Konflikt zwischen Land und Stadt könnte zu einem neuen kreativen Urbanismus führen. Natürlich wird auch da wieder eine Konfliktkultur entstehen, doch vielleicht wird es ein Dialog, der nicht mehr im jahrtausendealten Dualismus von Entweder- Oder stecken bleibt.

Antikes Rom oder futuristisches Singapur?

Viele Regierungen Afrikas sind von einem Geist der Alleinherrschaft, von einer Neigung zum Diktatorischen erfüllt. Sie träumen von einem Absolutismus, fast abstrakt, im luftleeren Raum, ohne Menschen. Sie fliehen ins Kolossale oder Bombastische und pflegen einen afro-faschistoiden Baustil, der stets nahe am Kitsch liegt, da er bloß Macht manifestiert, jedoch hohl und ohne konkretes Leben bleibt. Solche Megalomanie konnte man – oder kann es noch – sehen bei Idi Amin (Uganda), Jean-Bédel Bokassa, Sese Seko Mobutu oder im südlichen Afrika bei Hastings Kamuzu Banda (Malawi), Robert Mugabe (Simbabwe), Jacob Zuma (Südafrika) und sogar König Mswati III. von Swaziland mit seinen 14 Frauen und 13 Palästen.

Die entsprechenden Städte bilden solchen Größenwahn ab, als ob die Fortsetzung der kolonialen Stadt eine faschistoide sein müsste. Von diesen Regierungen werden Städte geplant und gebaut, welche die konkreten Menschen ausschließen und die sich weder um die Grundbedürfnisse der Menschen noch um den frevlerischen Ressourcenverschleiß kümmern. Mit ihrem Gehabe leiten sie die permanente Verslumung aller Bereiche ein – sowohl der Umwelt als auch der Menschen.

Diese Herrscher sind psychisch auch das Produkt eines Kontinents, der über Jahrhunderte hindurch geknechtet und gedemütigt wurde. Ein Kontinent voller Traumata der Erniedrigung möchte endlich auch groß sein. Die Mächtigen Afrikas träumen davon, Europa oder gar die Welt möglichst rasch zu überholen. Ein Symbol für dieses Bestreben ist der exakt kopierte, jedoch massiv vergrößerte Petersdom aus Rom in der neuen Hauptstadt Yamoussoukro (Elfenbeinküste). Es wäre verlockend, die gesamte heutige Stadtarchitektur Afrikas einer Psychoanalyse zu unterziehen. Denn mit dieser psychotischen Mentalität baut man auf seelische Wunden, die von der schmerzhaften und unterdrückten Vergangenheit herrühren. Doch Blessuren sind noch nie gute Bausteine für die Zukunft gewesen.

Wurde nach der Unabhängigkeit der kolonialisierten afrikanischen Länder um 1960 der alte Kaiserstil aus der Antike und sogar das Päpstliche und Königliche aus Rom und Versailles bevorzugt, folgt nun eine gewisse Ernüchterung und man flieht in eine futuristische Architektur ohne Menschen, aufgebaut mit Computern und 3D-Druckern. Die Folge davon sind ausgelagerte Silicon Valleys. Man schämt sich der alten Stadt, also baut man daneben eine neue, die absolut technologisch und elektronisch computerisierte, roboterisierte und möglichst automatisierte City, die mehr als eine Stadt im traditionellen Sinn sein soll. Kenia baut an einer Silicon Savannah. Voraus eilte Lagos mit einem modernistischen Konzept in der Lagune. Noch verrückter: Der sich total selbst zerfleischende Südsudan will gar eine neue Hauptstadt im Sumpf bauen. Dominierten vor fünfzig Jahren das Auto und die Autobahn, sind es heute Algorithmen und Clouds.

Immer wieder betonen Entwicklungsfachleute: »Die Erneuerung Afrikas muss von innen kommen.« Ist das bei solcher Verkrustung eines Pseudo-Afrika-Zeitgeistes überhaupt möglich? Ich behaupte: Nein. Es kann nur gelingen, wenn die Teilung zwischen Süd und Nord langsam aufgelöst wird, wenn Ost und West einbezogen werden. Denn das Neue und Erneuernde kommt selten von innen allein, sondern wird aus Distanz angestoßen.

Weder das alte Rom noch das moderne Singapur haben viel Rücksicht auf die Menschen genommen. Technologische Machbarkeit allein ist kein menschenwürdiges Kriterium. Wir haben menschliche Grundrechte mitzudenken. Wir alle benötigen sowohl eine neue Perspektive als auch eine offenere Einstellung. So etwas geschieht nicht plötzlich. Es braucht längere Zeiträume und viel Geduld. Für Afrika kann das heißen, dass es zunächst mit pompösen Bauten beginnen muss, um mit den neuen Anlagen langsam aus der Opferrolle herauszufinden und hin zu einer neuartigen menschen- und naturgerechten afrikanischen Stadt, die ich AgroCity nenne.

Grundsteine einer AgroCity für Afrika

Afrikas Menschen brauchen dringend eine bessere und erweiterte Infrastruktur. Damit die technischen Einrichtungen für Energie, Kommunikation, Straßen und Bahnen nach Ende des Kolonialismus endlich sinnvoll aufgebaut werden können, braucht es eine Bestandesaufnahme der philosophischen und denkerischen Infrastruktur. Welches sind wichtige afrikanische Denk- und Verhaltensmuster? Wo sind Afrikas Menschen vorgeprägt? Diese Muster darf kein Städteplaner außer Acht lassen.

Es ist klar, Afrikas Menschen brauchen neuen Schwung und kreative Ideen, um die Zukunft in Angriff zu nehmen. Jammern bringt nichts. Einander beschuldigen bringt noch weniger. Geschichte ist Geschichte; ein Zurück gibt es nicht. Doch die Vergangenheit enthält auch gute Traditionen, die teilweise durch die Kolonialgeschichte entweder verdunkelt oder gar verformt wurden. Jede Tradition kennt diese Schattenseite, die zeitbedingt war und nicht weitergepflegt werden muss. Es gibt aber auch das bleibend Wertvolle einer Tradition, das wiederbelebt werden kann. Ich halte fest: Tradition ist ambivalent.

1.Afrika lebt von Kleingesellschaften, die leicht dem Tribalismus verfallen können. Die afrikanische Gesellschaft muss sich mehr und mehr mischen auf dem Weg zu einer Erneuerung. Tribalismus steht im Widerspruch zu einer zukünftigen afrikanischen Demokratie.

2.Afrikas Aktivitäten sind primär informell, doch der moderne Nationalstaat, bestehend aus vielen kleinen Völkern im Gefüge einer globalisierten Welt, braucht eine gewisse Formalisierung, die alles zusammenhält. Vorschlag: Man regle nur im Großen, gebe bestimmte Vorgaben von oben und lasse viele Variationen zu, solange sie nicht zersetzend sind für das Ganze.

3.Afrikas Lebenskunst besteht im Mix, im permanenten Geben und Nehmen, im Anpassen und Ablehnen. Die Kleingesellschaften sind seit jeher mit den Nachbarn über Ehe und Markt verbunden. Man tauschte aus und glich sich an. Schon deshalb ist jeglicher Tribalismus reaktionär – vor allem im nachkolonialen Wirrwarr. Der Clan wurde da zum Verhängnis; keine Mittelklasse konnte entstehen, denn sie wurde dauernd vom Neid der Großfamilie gebremst.

4.Für das traditionelle Afrika ist der Markt das Zentrale, er ist Treff- und Kreuzungspunkt. Die Bantuvölker sind zwar in kleineren Gruppen organisiert, aber durch Märkte stets miteinander vernetzt. Auf dem Markt lernt man andere und anderes kennen; auf dem Markt wird ausgetauscht und dem Prinzip gefrönt: Das Essen der Nachbarn ist einfach immer besser.

5.Im Afrika südlich der Sahara existiert kaum ein Ansatz zur urbanen Denk- und Lebensweise. Davon müssen Planer ausgehen. In der langen Geschichte gab es im heutigen politologischen, geografischen und urbanen Verständnis keine afrikanische Stadt. Doch es gab durch die ganze Geschichte hindurch den Markt. So war archäologisch gedeutet die Gokomere-Kultur (frühe Eisenzeit, vor Groß Simbabwe, um 300 bis 600) ein Markttreffpunkt zwischen West (dem heutigen Namibia und Botswana) und Ost (Mosambik). Die Märkte waren Austausch- und Handelsumschlagplätze, es gab also keine Vielfalt verschiedenster Tätigkeiten und Lebensweisen; der Ort konzentrierte sich rein funktional auf eine Sache. Später waren die afrikanischen Zentren Sklavenverschiffungsorte und Versorgungsstützpunkte entlang der West- und Ostküste Afrikas, also stets sehr klar funktional ausgerichtet. Eine echte Stadt jedoch ist vielfältig, durchmischt, widersprüchlich, freiheitsliebend, also ein Ort mit vielen – auch sich widersprechenden – Funktionen.

6.Afrika südlich der Sahara ist bis heute agrarisch im Denken und Verhalten geblieben. Jedoch haben Afrikas Menschen gegenüber der Landwirtschaft entweder eine widersprüchliche und gespaltene oder, durch Sklaverei und Kolonialismus bedingt, sogar eine negative Einstellung. Diese Denkweise herrscht vor allem bei Männern vor, die zwar Land besitzen möchten, jedoch nicht selbst bearbeiten. Dennoch sind die Bantu insgesamt der bäuerlichen Mentalität verhaftet.

7.Afrikas agrarisches Handeln ist von Frauen geprägt. Die Frauen bebauen bis heute das Land. Der Mann verhält sich wie ein kleiner Häuptling, ohne die Zügel wirklich in Händen zu halten. Der Mann gibt sich als pater familias, als Patriarch. Viele Männer möchten Politiker werden, große Reden schwingen und zusammen mit anderen Männern anstoßen und trinken. Es stellt sich die Frage: Wie nehmen die zukünftigen Städteplaner den afrikanischen Mann mit ins Netz der modernen Stadtgestaltung?

8.Afrikas Menschen, Mann und Frau, können über den Garten angesprochen und anders zusammengebracht zu werden. Der angolanische Architekt Mandu dos Santos Pinto schlägt vor, Afrikas Menschen über den Umweg des städtischen Gartens zur Landwirtschaft zurückzubringen. Verfolgt man auf dem Internet Urban Gardening Africa, dann stellt man fest, Gärten zur Gemüseversorgung entstehen auf dem ganzen Kontinent. Die Versuche bleiben dennoch punktuell, weil ein Konzept dahinter fehlt. Meist fehlt auch der Mann. Dem Zusammenhang des Gärtnerns mit dem allgemeinen Wasserhaushalt wird kaum Beachtung geschenkt; Abwässer werden selten miteinbezogen und genutzt. Das, was wir als »Agro« bezeichnen, bleibt noch unbeachtet.

9.Afrikas Gärten sollten von Anfang an vielfältig sein und Mehrwert schaffen. Gärten sollten auf keinen Fall monokulturell betrieben werden. Gärten sollten nicht nur zwecks Selbstversorgung angelegt werden, sondern die Gärtnerinnen und Gärtner sollten nach Tausch- und Verkaufsmöglichkeiten Ausschau halten. Das könnten etwa verschiedene Heilkräuter sein, die so wie Ricola in der Schweiz als Gesundheitsbonbons vermarktet werden könnten. Wenn immer möglich, sollten Gärten gemeinschaftlich oder genossenschaftlich organisiert sein. Die Gärten können Gemeinschaft aufbauen und nach und nach sogar teilzeitliche oder vollzeitliche Arbeitsplätze schaffen. Zum Gärtnern muss das Kompostieren hinzukommen; dieses braucht Spezialisten und Aufsicht. Zum Garten kommt die Solaranlage hinzu, ebenfalls mit einem Fachmann oder einer Fachfrau. Mit dem Garten verbunden ist eine gemeinsame Abwasserwirtschaft. Dabei sollte man nicht sofort für alles Maschinen kaufen, sondern so viel wie möglich – unter guter Aufsicht und Begleitung – selbst bauen und herstellen, learning by doing. Zum Garten wird bald ein Computer mit Internetzugang kommen: Er dient zum Erfahrungsaustausch mit anderen Hortikulturisten. Das sind Denkanstöße, die mehr und mehr bewegen. So geht man vom Urban Gardening zur Urban Agriculture über.

10. Afrika kommt über den Garten langsam zur Verarbeitung von bestimmten Produkten (Früchten, Beeren, Kräutern) und damit einem Wertzuwachs (added value). Zur Verarbeitung hinzu kämen parallel Unterhalts- und Reparaturwerkstätten von Geräten und Werkzeugen, Fahrrädern oder Küchengeräten und so weiter. Eine Miniindustrialisierung ist der Anfang zu mehr Bewegungsfreiheit.

11. Afrika kann über den Begriff Biodiversität zur AgroCity-Idee mitgenommen werden. Diese biologische Diversität muss auch ins Soziale übertragen werden. Das sollte mit dem Verständnis des Stellenwerts von Mischkulturen leichter fallen. Der Boden überlebt mit einer Vielfalt von Pflanzen, Büschen und Bäumen, von Würmern und Bakterien. Genauso entsteht eine lebendige Stadt aus möglichst großer Vielfalt, die durchmischt sein muss. Ghettos sollte es keine mehr geben, genauso wenig wie Gated Communities.

12. Afrikas Menschen gehen traditionell in kleinen Schritten vor; sie überfliegen nicht, haben jedoch einen Hang zum Dramatisieren, was die Übertreibung einschließt. Sie träumen vom Größten, vom Letzten, vom Modernsten und das alles möglichst sofort. Sie haben jedoch mit der heutigen Politik längst erfahren, dass dieses Wunschdenken nicht zum Alltag passt. Dort braucht es die kleinen und einfachen Schritte, eine kluge Lenkung zum langsamen Fortschritt. Afrikas Menschen müssen wieder lernen, einen Schritt nach dem andern zu machen, nicht alles auf einmal zu wollen, nicht nur den Rückstand zu sehen, sondern auch den allmählichen Fortschritt. Landwirtschaft ist wie eine Medizin, um Afrikas Menschen von den Wolken herunterzuholen und auf den Boden zu setzen.

13. Beim Kombinieren und Mischen entstehen selbstverständlich Konflikte, die einen Schlichter oder eine Schlichterin brauchen. Mediation ist zwar ein modern genutzter Begriff, doch den Vorgang kennen Afrikas Gesellschaften schon seit langem. Man soll nicht sofort juristisch vorgehen, sondern miteinander verhandeln, abwägen und Kompromisse schließen. Also möglichst viel informell und zwischenmenschlich lösen. Der Schlichter selbst kann so etwas wie ein Moderator der Auseinandersetzung sein; der Schlichter kommt besser wie bei uns ein Friedensrichter von außen und bewertet aus Distanz. All das basiert auf dem traditionellen Palaver, wobei heute die Frauen selbstverständlich miteinbezogen sein müssen.

14. Auch in Afrika sind Kinder sehr kreativ und innovativ. Warum später nicht mehr? Verformt die Schule? Oder bringt die Gesellschaft den jungen Afrikanerinnen und Afrikanern bei, dass die Kindheit vorbei ist und nun der Ernst des Lebens beginnt? Die neue AgroCity zwingt zur Innovation. Vielleicht kommt so eine neue Kindheit zurück? Gerade deshalb soll in den zukünftigen AgroCitys Kunst integral, nicht aufgeklebt oder zufällig sein.

15. Afrikas Menschen sind fasziniert von der Elektronik; dort müsste man sie vermehrt abholen. Vielleicht wird über dieses Mittel Afrikas Kreativität angeregt, also ist dieser Weg auch für die AgroCity wichtig. Schon heute wird Banking in Afrika mit dem Mobiltelefon betrieben. Mit Laptop und Mobiltelefon kann der Garten, ja kann die Landwirtschaft revolutioniert werden. Da machen Afrikas Menschen mit und können erst noch innovativ werden.

16. Innovation kann informell oder formell sein, beide Formen benötigen Kredite, die ebenfalls auf verschiedene Weise aufgenommen werden können. Westafrikas Frauen benutzen seit langem ihr eigenes Kleinkreditsystem, die Tontine: Wenn eine Frau etwas benötigte, taten sich ein Dutzend Frauen zusammen, trafen sich zu einem Essen und jede Frau legte einen Beitrag in den Korb; diesen Ertrag konnte die Bittstellerin mitnehmen. So kursierte das Geld unter den zwölf Frauen, und jedes Mal erhielt die jeweilige Kreditnehmerin den gesamten Ertrag. Auch in Burkina Faso, in der Hauptstadt Ouagadougou, kennt man eine Selbsthilfeökonomie, die auf Gegenseitigkeit aufgebaut ist. Allgemeiner gesagt: Heute muss es Kleinbanken geben, kleine Landwirtschaftsbanken, die geringe Summen vergeben, für die lokale Bürger haften und so weiter. Für die meisten Afrikaner ist Geld noch etwas Fremdes, das nur wenige zu handhaben verstehen. Schon deswegen empfiehlt es sich, klein zu beginnen.

17. Über zwei Begriffe und deren Handhabung stolpern die meisten Bantu, nämlich über die Zukunft und über das Geld. Im indogermanischen Sinn kennen Bantusprachen kein Futurum, was sich vorstellungsmäßig auswirkt. Außerdem haben sie keine oder wenig Erfahrung mit Geld, das erst mit der Kolonialzeit kam und somit vor allem mit Steuern assoziiert wird. Folglich kann man mit Geld nur betrügen. Beide Begriffe haben heute mit Afrikas Problemen zu tun. Beide Begriffe behindern positive Informalität. Und Formalität allein, das habe ich bereits betont, hat keine Zukunft. Das wird den Widerspruch der AgroCity ausmachen; damit wird sie von Anfang an leben müssen.

18. Das Afrika der Zukunft basiert auf der Gemeinsamkeit (nicht Großfamilie) und dazu trägt die Entwicklung einer AgroCity wesentlich bei. Das Urbane schließt Bio- und Soziodiversität ein. Durchmischung schafft Gesellschaft; Isolation und Ghettoisierung zerstören jede Stadt der Zukunft.

19. Nochmals sei ganz klar und direkt das afrikanische Paradoxon erwähnt. Etwas ganz und gar Afrikanisches wird es nie geben. Seit Menschengedenken haben Afrikas Menschen südlich der Sahara in zwei und mit zwei Welten gelebt: Jeder Sklave hatte auch in der Ferne sein Afrika im Kopf; Apartheid, aber auch Rassismus sind ein Konflikt von zwei scheinbar unvereinbaren Sphären: Schwarz und Weiß. Auch heute – nach dem Kolonialismus – ist in vielen afrikanischen Menschen ein europäischer Kern; das kann zur Hassliebe, aber auch zu einer Überschätzung der einen oder anderen Seite führen. Viele Afrikaner lernen ihr Daheim erst in der Fremde oder in der Diaspora als (ideale) Vorstellung kennen. Dieser Zwiespalt muss Einzug in die Planung und Architektur finden. Kein Mensch – weder Afrikaner noch Europäer – will und kann eine rein afrikanische Stadt konstruieren. Sie wird stets ein Mix oder ein Paradox bleiben müssen.

20. Auch in Zukunft wird der afrikanische Mensch in zwei (oder sogar mehreren) Welten leben: im Dorf und in der Stadt; modern und traditionell. Afrikas Städte der Zukunft sind Biotope von Kontrasten und Paradoxen. Ohne diese Mélange kann niemand in der AgroCity leben. Das treffende und positive Wort dafür kennen wir noch nicht; es liegt irgendwo zwischen Potpourri und Gulasch, Amalgam und Hybrid. Doch vielleicht legt diese Stadtkultur den Grundstein für die Zivilisation der Zukunft.

Teil II

STADTENTWICKLUNG IN AFRIKA

Vom Land in die Stadt

DIE VORGESCHICHTE

Der Großteil der afrikanischen Menschen südlich der Sahara sind Bantu; man nennt sie so, weil Bantu – so wie bei den Europäern das Indogermanische – die gemeinsame linguistische Wurzel ist. Es gibt heute etwas über tausend Bantu-Völker; die meisten sind Kleingesellschaften; ihnen allen ist das Agrarische bis in die Sprache hinein Grundlage und Gemeinsamkeit.

Man spekuliert heute noch über den zeitlichen Rahmen der Bantu-Wanderungen und auch über ihren lokalen Ursprung. Es wird angenommen, dass die Bantu vor etwa dreitausend Jahren wegen Überbevölkerung aus den Wäldern des Kongo weggezogen sind. Die Bantu-Gemeinschaften wanderten in zwei Strömen nach Osten (Ruanda-Burundi, Uganda) und gegen Süden (Angola, Sambia, Simbabwe). All diese verschiedenen Bantu-Migrationsvölker waren und blieben bis heute agrarisch, es fehlt ihnen die kulturelle Tradition einer Stadt.

Demgegenüber haben sowohl die Christen als auch die Muslime von ihren theologischen Offenbarungen her ein visionäres Stadtkonzept. Die Christen reden entweder von der Stadt Gottes (Augustinus’ Civitas Dei), von der Heiligen Stadt auf dem Berg oder schlicht von Zion. Ähnlich verhält es sich im Islam. Die monotheistischen Kulturen kennen die heiligen Städte Jerusalem und Mekka, Rom und Konstantinopel. Die Stadt ist ein Symbol der Sicherheit und Macht; sie kommt letztlich einem Fort, einer Burg im Kampf gegen das Böse gleich. Sowohl die Europäer als auch die Araber hatten einen klaren Stadtbegriff: einerseits rund um die Kathedrale, andererseits um die Moschee.

Während es sowohl an der westafrikanischen Atlantikküste als auch an der ostafrikanischen Küste Ansätze von Städten gab oder gibt, entspringen sie in der Tat eher dem militärischen Fort. Diese Stadtform geht entweder auf die portugiesische Seefahrerzeit (auf der Suche nach einer Handelsroute rund um Afrika nach Indien) zurück oder auf die Suaheli-Handelszentren. Beide Zentren wurden zu Sklaven- oder Pagensammellagern und Verschiffungshäfen ausgebaut.