Ahnungslos unter Erleuchteten - Willi Dommer - E-Book

Ahnungslos unter Erleuchteten E-Book

Willi Dommer

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Beschreibung

Willi fühlt sich wohl in der kleinen Stadt im nördlichen Ruhrgebiet, wo er als Redakteur bei einer Tageszeitung arbeitet. Er hat einen großen Freundeskreis, kennt Hinz und Kunz und genießt die Kneipenabende mit Dortmunder Bier und skurrilen Erlebnissen. Doch nachdem er beim Geburtstag des Stadtdirektors in Jeans und Turnschuhen erschienen ist, will man ihn loswerden. Er schreibt Unmengen von Bewerbungen, bis er schließlich bei einer esoterischen Zeitschrift in Freiburg unterkommt. Ihm ist nicht einmal klar, was Esoterik überhaupt ist, aber er weiß, dass ein guter Journalist über alles schreiben kann: Bauausschuss, Fußball und Brieftaubenverein. Oder Selbsterkenntnis, Spiritualität, Sinn des Lebens und Überwindung des Egos. Also liest er sich ein, lernt Meditationstechniken und besucht einen Kurs nach dem anderen. Fast 20 Jahre später weiß er immer noch nicht, was das vielzitierte "Selbst" ist - ganz zu schweigen vom "Höheren Selbst". Dennoch hält er durch, bis das Verleger- Ehepaar das "Höhere Selbst" in Gestalt eines zahlungskräftigen Investors erkennt. Nach dessen Willen soll aus der Zeitschrift ein Wellness-Magazin werden. Es wird investiert wie nie zuvor, doch immer mehr langjährige Abonnenten bestellen die Zeitschrift ab, weil sie ihnen zu oberflächlich geworden ist. Letzten Endes ist die Insolvenz nicht zu vermeiden und 60 Mitarbeiter stehen auf der Straße.

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Zu behaupten, die Handlung dieses Buches sei frei erfunden,

wäre glatt gelogen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen

Personen sind natürlich durchaus beabsichtigt.

Wenn Sie sich in einer der Figuren, die auf den folgenden Seiten

vorgestellt werden, zu erkennen glauben, aber vollkommen falsch

dargestellt fühlen, denken Sie mal über diesen Satz von Oscar Wilde

nach: »Nur die Oberflächlichen erkennen sich selbst.«

Und für mich, den Autor gilt die Unschuldsvermutung und dass

man die Welt immer nur mit den eigenen Augen sehen kann.

»Wer kein festes Ziel hat, kann sich nicht verlaufen.«

Botschaft der Tarotkarte »Der Narr«

Inhalt

Vorwort: Das kalifornische Narrenschiff

Ich danke

Jeans und Turnschuhe

Du bist doch Soziologe

Alternative Lieder zur Klampfe

Scheißegal, ob du Huhn bist

Kabbala-Kosmetik und yogisches Fliegen

Das neue Zeitalter

Alles Leser unserer Zeitung

Die Beamten im Rathaus – ratlos

Rein rituell – versteht sich

Träumen mit ätherischen Ölen

Bussi hier – Bussi da

Esoterisches Birchermüsli

Zu viel Peperoni, zu viel Bier

Der Sinn des Lebens

Kopflastig ohne Ende

Schön, dass du kommst

Hasse mal ’ne CD?

So viel zum Thema Achtsamkeit

Der Ententanz der Großen Mutter

Feuerkugeln aus dem Nichts

Szenen einer Ehe

Ein einziges Chaos

And then came the evil

Kanal-Arbeiter und Sternenkinder

Außerdem ist gleich Feierabend

Guten Tag, hier spricht Gott

Ein hoffnungsloser Fall

Der Extremdruide

Keine Mucken!

So ein Sauladen – das geht nicht

Zeitgemäß und unumgänglich

Epilog

Vorwort: Das kalifornische Narrenschiff

Von Wolf-Dieter Storl

Was Willi Dommer über seine Zeit in der Redaktion eines ehemals führenden deutschsprachigen Esoterikverlags erzählt, hat mich immer wieder zum Lachen gebracht. Der Text ist flüssig und bildhaft – Willi ist schließlich auch begabter Musiker und Maler; das färbt auf seine Schreibweise ab.

Willi ist Zeuge jener Zeit – den 80er und 90er Jahren –, als das kalifornische Narrenschiff am geistigen Gestade Europas vor Anker ging. Auf einmal wimmelte es vor lauter Erleuchteten, spirituellen Meistern, Weisen Frauen, verkörperten Engelwesen, Indigo-Kindern, Außerirdischen, Aura-Lesern, Schamanen, Avataren, liebevollen Tarot-Hexen und Walk-In-Seelen, den körperlichen Fahrzeugen höherdimensionaler Wesen.

Mir war diese New-Age-Spiritualität nichts Neues. Ich wuchs nämlich im amerikanischen Mittelwesten auf. Nicht nur für hinterwäldlerische Farmer, die dort zuhause waren, sondern ganz allgemein galt Kalifornien als weird, als sonderbarer, schräg und verquer. Unkonventionelle Persönlichkeiten, die sich in den anderen Staaten nicht an ein konventionelles Leben anpassen konnten, zogen in den Erdbebenstaat am Rande des Pazifiks. Die Einwanderer aus der Alten Welt, die Amerika besiedelten, mussten ihre kulturellen Wurzeln weitgehend kappen. Diejenigen jedoch, die es schließlich nach Kalifornien verschlug, waren doppelt entwurzelt. Keine Traditionen, Konventionen oder herkömmliche Religionen hielten sie zurück. Sie konnten jedem Wahnsinn, jeder Illusion nachgehen. Nichts war da, was sie bremste.

Kalifornien entwickelte sich sozusagen zum brodelnde Kessel Kalis, der Göttin des Wahns und der Zerstörung. Wie frische Lava quellen aus dem Kessel ununterbrochen Verrücktheiten aller Art, Blendwerk, Verzauberungen und Gaukelbilder hervor und nehmen Besitz von den wurzellosen Menschenseelen. Es fing ja schon mit dem Goldrausch 1848 an, als Hunderttausende nach Kalifornien zogen; vor allem Katzengold, Narrengold (fool’s gold) fanden sie, aber nur wenig echtes Gold. Und dann später kam die Illusionsmaschine Hollywood in Gang. Donald Duck, Mickey Maus, Hells Angels, Fast Food (McDonalds, Burger King, Taco Bell), John Wayne, Barbie Dolls, Haight-Ashbury, Hippies und Flower-Power, Drive-In Restaurants, Beach Boys und Surfer Girls, Charlie Mansons, die Kirche Satans, Cyber-Reality, Silicon Valley, Cruise-Missile-Technology, Ufo-Wahn und vieles mehr nahmen in Kalifornien Gestalt an… und dann schwebte auf rosa Wolken die New Age- und Esoterikwelle herein, die Wassermann-Zeitalter-Besessenheit, kosmische Spiritualität, Neo-Schamanismus. Wie ein spiritueller Tsunami überflutete, in den 60er Jahren, der schillernde Wahn den Mittelwesten, dagegen half auch die Bibel nicht mehr. Und schließlich erreichte der Wahnsinn Europa. Volle Pulle. Der esoterische Verlag, den Willi beschreibt, war eine der Pforten, durch die das kalifornische New Age hineinwaberte und unsere Kultur für immer veränderte.

Ich kannte Willi von damals; er lektorierte meine, oft in hanebüchenem Deutsch geschriebenen Beiträge für die Zeitschrift. Auch viele der schillernden Charaktere, die in diesem Buch erscheinen, sind mir damals begegnet. Willi übertreibt nicht. Er schreibt wie es war.

Ich danke

Juliane Molitor für ihre Anregungen und Korrekturen;

Gert Geisler, der mich letztendlich doch nicht rausgeworfen hat;

Marianne Heithausen, meiner Freundin in bewegten, bierseligen Waltroper Zeiten;

Cordula Nowak, meiner Therapeutin, die mir geholfen hat, die »Szenen einer Ehe« weitgehend unbeschadet zu überstehen;

Wolf-Dieter Storl, der mir gezeigt hat, dass man auch in vergeistigten Kreisen die Bodenhaftung nicht verlieren muss;

Jan-Erik Sigdell für seine unermüdlichen Versuche, mir Einblick in »hypothetische frühere Leben« zu gewähren, und

Christamaria Hehmann, die mir rasante Steilvorlagen für meine Schilderung des geistigen Niedergangs einer Zeitschrift geliefert hat.

Sie alle sind nicht für eventuelle Fehler im Buch verantwortlich, für die ich als Autor die gesamte Verantwortung zähneknirschend selber tragen muss.

Jeans und Turnschuhe

Du meine Scheiße! Ein Brief von Adelheid, der Verlegerin. Zugeklebt und persönlich adressiert. Das verheißt nichts Gutes. Hochgradig alarmiert reiße ich den Umschlag auf und kann mir ein gewisses Fingerzittern nicht verkneifen.

Sehr geehrter Herr Dr. Dommer!

Wie ich von einem sehr prominenten Waltroper erfahre, sind Sie zum Geburtstag des Stadtdirektors in Jeans und Turnschuhen erschienen.

Einem Akademiker dürfte ich eigentlich nicht sagen müssen, was jeder junge Volontär weiß: Bei offiziellen Anlässen und Feierlichkeiten, wozu u.a. Schützenfeste gehören, sind ein dunkler Anzug, zumindest aber Krawatte und Jackett zu tragen, was auch Ihrem Alter angemessen wäre.

Der seriöse Bürger fragt sich bei Ihrem Anblick, ob Sie unterbezahlt sind, nicht wissen, was sich gehört, oder für eine Alternativgruppe demonstrieren wollen. Das dient weder dem Ansehen der Zeitung noch der Knüpfung persönlicher Kontakte, die für einen Redakteur unerlässlich sind.

Da Jeans nicht billiger sind als eine normale Garderobe, sollten Sie sich sehr bald nach einer anderen Aufmachung umsehen. Schließlich werden Sie in wenigen Wochen Redakteur.

Mit freundlichen Grüßen

Zeitungshaus Becker

Adelheid Becker

Mich trifft der Schlag. Und gleich darauf noch einer. Der erste geboren aus akuter Existenzangst, der zweite in Form eines Lachanfalls. »Ihrem Alter angemessen?« Was soll denn das heißen? Anfang 30 ist doch kein Alter. Nun gut – da ist der Bierbauch … aber mit dem wurde ich ja schon geboren. Falten sind bei mir so gut wie gar nicht zu sehen. Was Brille und Bart nicht verdecken, glätten die Pausbacken.

Ich trinke mein Bier auf, stelle die leere Flasche zu den anderen ins Schreibtischfach hinter das Odol-Fläschchen, stecke den Brief von Adelheid in die abgewetzte Jeansjacke, schließe die Redaktion ab und mache mich auf den Weg zu Stromberg, meiner Stammkneipe – im rückwärtigen Bereich eine Art Feinschmeckerlokal mit separatem Eingang, vorne eine urige Dorfkneipe mit anheimelnder Holztheke, sechs Barhockern mit schmiedeeisernen Füßen, Spielautomaten, Stammtisch und Tante Else am Zapfhahn. Die hagere alte Dame, Mutter des Wirts, hat ein feines Gespür für das Wohl ihrer Gäste entwickelt. Taxiert sie einen Gast als Bauarbeiter, beschert sie ihm einen wesentlich üppiger bestückten Teller als beispielsweise einem offensichtlichen Büromenschen. Und ihre überaus variable Mischung aus westfälischem Platt und Kohlenpott-Quasi-Hochdeutsch richtet sie jeweils danach aus, ob der Gast »von hier« oder Auswärtiger ist.

»Nahmd, Tante Else.«

»Nahmd Dokter. Wie isset?«

»Och, wie sollet sein.«

»Pilsken wie immer?«

»Jau, Tante Else.«

Ich bekleide in den Reihen der Auswärtigen eine Sonderstellung: zwar zugereist, aber immerhin aus einer Stadt, die noch als entfernte Nachbarschaft akzeptiert wird. Außerdem bin ich »Reporter« bei der Heimatzeitung, der »Waltroper«, und demzufolge hin und wieder ganz brauchbar – sei es, man möchte ein Gerücht verbreiten, sei es, um eventuelle Neuigkeiten schon einen Tag früher zu erfahren.

Aus dem Bedürfnis heraus, die Ungeheuerlichkeit von Adelheids Brief inklusive der ihm innewohnenden Komik mit anderen zu teilen – vielleicht sogar Verbündete zu rekrutieren –, hocke ich mich auf den Hocker neben Horst Woytyla, seines Zeichens Leiter des Bauamts. Der hört sich alles an, krault seinen Vollbart, wiegt den roten Kopf bedächtig hin und her und sagt überaus bedeutungsvoll, was er immer sagt: »Ja-ja, das ist alles ungeheuer vielschichtig und verzahnt.«

Jenseits von ihm genießt einer der beiden örtlichen Staranwälte seine vorabendliche Tulpe, eine spezielle Art des Dortmunder Biers in bauchigem Glas. Ich rezitiere die Highlights aus dem Brief der Verlegerin, erziele auch diverse Lacherfolge.

»Schützenfeste, offizielle Anlässe, dass ich nicht lache«, meint der Jurist glucksend. »Da würde ich weißgott keinen Anzug anziehen, wenn neben mir ein Schützenbruder sich die grüne Uniform mit sämtlichen Orden vollreihert … ha-ha …«

»Und ausgerechnet der Stadtdirektor«, ruft der Klempnermeister Stromberg aus der zweiten Reihe. »Weiß’e noch beim Schützenfest vor zwei Jahren? Wie der Theo nachts mit offenem Hosenstall und heraushängendem Hemdzipfel die Tanzkapelle dirigiert hat?«

»Das mit der Demonstration für eine Alternativgruppe ist ja vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen«, wirft Horst Woytyla ein, immerhin ein strammer Sozialdemokrat.

Und Tante Else, die eben mal wieder mit halbem Ohr zugehört hat, bestätigt: »Jau, de Dokter is’n Grüner. Dat hebb wi lang wisst. Macht ja nix.«

»Der doch nicht«, protestiert Erich Täger. Der grüne Ratsherr hat mittlerweile auch sein erstes Feierabendbier beordert. »Der Willi hat doch Schiss vor seiner Chefin. Der dreht doch sein Fähnlein nach dem Wind. Liberal. Kein Rückgrat.«

»Jetz mach aber mal halblang, Erich«, fällt ihm der Klempnermeister ins Wort. »Der Willi schleppt doch tagtäglich eure angeblichen Umweltskandale in der Redaktion an und setzt sich damit andauernd in die Nesseln.«

Der dicke Paul Schäfer, mein Kollege, beugt sich zu seinem mehr oder weniger Untergebenen hinab und raunt ihm ins Ohr: »Übrigens Doktor, ist ja ganz lustig, der Brief. Aber ich würd’ das hier nicht unbedingt an die große Glocke hängen. Der sehr prominente Waltroper hat seine Ohren überall. Du würd’s dich wundern. Mach nich alles noch schlimmer.«

Wahrscheinlich hat er ja recht, denke ich. Bei soviel Prominenz am Tresen. Wär’ schon seltsam, wenn da nichts durchsickert.

Du bist doch Soziologe

Meine allumfassende Vertrauensseligkeit wird mir noch das Genick brechen«, denke ich am folgenden Morgen. Um das Schlimmste abzuwenden, wanke ich ebenso angeschlagen wie brav zum örtlichen Herrenausstatter und lasse mir ein dunkles Jackett samt Hemd, Schlips und farblich unauffälliger Hose mit Bügelfalten verpassen. Für Schützenfeste viel zu schade.

»Na Doktor?« fragt der dicke Schäfer geradezu genüsslich, als er gegen halb elf in die Redaktion poltert. »Ha’m wa wenigstens heute mal ’ne Idee für’n Artikel?«

Scheiße. Is nich. Vielleicht sind gestern Abend bei Stromberg irgendwelche Neuigkeiten zur Sprache gekommen, dürften aber aufgrund meines desolaten Zustands gnadenlos an mir abgeglitten sein. Wenn einer sich was notiert hat, dann Schäfer.

»Na ja, keine Panik«, beruhigt der mich. »Ich hab den Wahnsinnshammer für dich.« Heute Abend gehe in der Stadthalle der traditionelle Königsball der Schützen über die Bühne. Und da sei schon im Vorfeld durchgesickert, dass es in der Halle rieche wie auf dem Bahnhofspissoir. »Die Schützen sind schon unheimlich sauer. Recherchier das mal, Doc.«

Kann nicht schlecht sein, denke ich, sich bei den Grünröcken einen Stein im Brett zu sichern. Immerhin größtenteils Geschäftsleute und Honoratioren.

Stinksauer sind die Schützen – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, schreibe ich am nächsten Morgen. Schließlich trägt es nicht gerade zur feierlichen Stimmung eines Königsballs bei, wenn unangenehme Gerüche aus dem WC im Keller bis ins Foyer der Stadthalle hinaufdringen

Bloß nicht wieder in die Nesseln setzen, sage ich mir und füge vorsorglich hinzu: Freilich sind die Schützen keine Kinder von Traurigkeit, und die flotten Rhythmen der Kapelle trugen ebenfalls zum Gelingen des Abends bei.

Ein versöhnlicher Schlenker, aber die übelriechende Katze war nun mal aus dem Sack.

Was Kollege Schäfer mir natürlich nicht erzählt hatte: Der Stadthallenwirt, der sich ziemlich angepinkelt gefühlt haben musste, ist eine der einflussreichsten Gestalten im örtlichen SPD-Vorstand. Hat Schäfer mich gezielt ins offene Messer rennen lassen?

»Jetzt werd’ mal nicht gleich zum Paranoiker«, wehrt der Dicke ab. »Aber was ganz anderes: Du bist doch Soziologe.« Ich erinnere mich dunkel.

»Da hätt’ ich was für dich. Echter Sozialfall. Da gibt’s ’ne Frau mit sechs Kindern, die aus ihrer Wohnung musste. Die steht jetzt sozusagen mit Möbeln und Anhang auf der Straße. Schreib dir mal die Adresse auf: Susi Reiter …«

Ich habe sowieso kein anderes Thema auf Lager, raffe mein soziales Gewissen, Kamera und Blitz zusammen, gebe mein journalistisches Berufsethos hinzu und mache mich auf den Weg zu der Frau, die mir bereitwillig ihre herzzerreißende Geschichte erzählt: Robert und Karl-Heinz, die ältesten Söhne, hatten eine Bergmannslehre begonnen, und so war die neunköpfige Familie in einer Zechensiedlung untergekommen. Als die beiden Azubis den Arbeitgeber wechselten, erlosch kurzerhand das Wohnrecht, und die Kündigung flatterte ins Haus. Jetzt soll die Frau mit Ehemann und fünf Kindern in eine städtische Notunterkunft einziehen.

»Mit der Adresse«, so Susi, »haben wir überhaupt keine Chance mehr, eine richtige Wohnung zu finden. Was soll ich machen? Ich kann meine Kinder doch nicht abschaffen.«

Möbel und Teppiche rotten nun in einem Keller bei ihrem ältesten Sohn vor sich hin. Die Familie haust an drei verschiedenen Orten, Ehemann Fritz hat sich bei seiner Mutter einquartiert.

»Wir sind 25 Jahre verheiratet«, sagt Susi, »aber ich seh’ schon, wie meine Ehe in die Brüche geht.« Und dann bringe ich in meinem sozial engagierten Artikel das Wahnsinnszitat: Jetzt müsste man bloß noch mit dem Trinken anfangen … Aber den Gefallen tu ich denen nicht.

Der dicke Schäfer hatte schon so komisch gegrinst, als ich ihm den Ausspruch vorlas, aber nichts weiter gesagt. Das Ausmaß meiner Blauäugigkeit sollte mir erst am nächsten Tag bewusst werden. Nahezu unentwegt klingelt es an der Redaktionstür. Manche rufen sogar durch das auf Kipp stehende Fenster. Oder melden sich telefonisch. Der Grundtenor:

»Was habt Ihr denn da wieder verzapft?«

»Sag mal, seid Ihr noch ganz sauber?«

Und immer wieder Gelächter.

»Susi Reiter … Jetzt müsste man noch mit dem Trinken anfangen … Ich lach mich krank. Die säuft doch sogar ihren Mann in Nullkommanix unter’n Tisch. Und das will was heißen!«

»Die Susi kannste doch für ’n Pils und ’n Kurzen auf’m Küchentisch poppen.«

Peinlich, denke ich. Wieder mal voll reingetappt. Wenn da mal nichts zur Verlegerin durchsickert.

Kurz vor Mittag klingelt das Telefon zum x-ten Mal. Schäfer hebt ab und drückt den Mithörknopf. Hans Freitag ist dran, der Stadtkämmerer höchstpersönlich. Ob wir denn nicht die Auffassung der Stadtverwaltung in dieser sensiblen Angelegenheit hätten einholen können.

»Wo ist denn eigentlich der Doktor?«

Ich winke hektisch ab. Nicht zu sprechen.

»Unser Herr Akademiker ist unterwegs. Zu irgend so ’ner städtischen Notunterkunft. Hat nämlich seine neue Freundin da wohnen. Eine gewisse Susi …«

»Reiter, geborene Strich!« ruft der Kämmerer in den Hörer. Da habt Ihr euch ja wieder mal was geleistet. Die ist doch nicht nur für’s Saufen stadtbekannt. Die könn’ se doch für fünf Mark … aber was erzähl’ ich Ihnen, Schäfer.«

Ich bin längst in meinem Schreibtischstuhl versunken, höre noch diverse Ausdrücke für sexuelle Betätigungen, dazu Schäfers Gelächter und verhalte mich lieber still.

»Hätte der Doktor sich nicht vorher bei einem Kollegen erkundigen können?«

Ich suche Schäfers Blick.

»Hab ich echt nicht gewusst« sagt der.

»Kannste mir glauben, Willi.«

Grinst der Dicke immer noch latent? Oder leide ich langsam wirklich unter Verfolgungswahn?

Alternative Lieder zur Klampfe

Mittlerweile habe ich mich mit dem grünen Ratsherren Erich Täger angefreundet. Schließlich hatte auch ich gerne einen Informanten haben wollen. Der verschafft mir auch einige Themen. So etwa eine Geschichte aus dem Umweltbeirat.

Da wurde lang und breit darüber diskutiert, ob Bauer Stratschulte drei angeblich gemeingefährliche Platanen auf seinem Grund und Boden abholzen dürfe – in Anbetracht der Waltroper Baumschutzsatzung durchaus kein leichtes Unterfangen. Die Debatte zieht sich in die Länge. Als es einem Ratsherren, Nachbar von Stratschulte, zu bunt wird, steht der auf, meldet sich zu Wort und informiert die Beiratsmitglieder dahingehend, dass die fraglichen Bäume ja schon längst am Boden liegen. Er habe sich den Quatsch jetzt lange genug angehört. Und außerdem: In ’ner Viertelstunde würde Borussia Dortmund gegen Manchester United übertragen.

Ich hatte prompt meine Chance gewittert, endlich mal eine Glosse zu schreiben.

Darf ein Baum ungestraft mit Ästen um sich werfen?

heißt das Werk. Untertitel:

Motorsäge war schneller als der Umweltbeirat

Textprobe:

Und siehe da, die Herren brauchen gar nicht lange zu diskutieren, ob der Antragsteller die drei Platanen nun fällen darf oder nicht und wie viele neue Bäume als Ersatz zu pflanzen sind. Konnte doch jemand mit der freudigen Nachricht aufwarten, dass Herr Stratschulte jenen Flegeln von Bäumen längst den verdienten Garaus gemacht habe. Vielleicht hatten ihm die Beiratsherren leid getan, die womöglich bei allem Für und Wider auf die Champions League hätten verzichten müssen.

Politisch-beruflich ergänzen wir uns immer besser. So gelangen diverse Umweltskandale via Erich an mein Ohr und finden ihren Niederschlag in der Waltroper Zeitung.

Auch an diversen Theken kommen wir beide uns näher und werden schließlich regelrecht Freunde – zumal Erich mir den Lohnsteuerjahresausgleich macht – getreu dem Buch »1000 ganz legale Steuertricks«. Honoriert wird Tägers Dienstleistung jeweils mit einem neuen Kleidungsstück, das er zum betreffenden Zeitpunkt auch stets bitter nötig hat. Sein Äußeres scheint ihm ziemlich egal zu sein.

An irgendeinem Abend, in irgendeinem Lokal entwickeln wir beide eine hirnverbrannte Idee: Wir treten als Gesangsduo auf. Das gab’s noch nie: der Ratsherr und der Lokalredakteur. Das Repertoire: alte deutsche Schlager. Drafi Deutscher und so. Nimmt doch sowieso keiner ernst. Und dann stellen sich zwei Personen des öffentlichen Lebens da hin und singen den ultimativen Schwachsinn:

Shake hands, shake hands,

dein Herz liebt einen ander’n.

Shake hands, shake hands,

auf Wiederseh’n, good-bye.

Oder:

Cinderella Baby, Mädchen aus dem Märchenland, uh-uh, uh-uh,

Cinderella Baby, komm und gib mir deine Hand

Nachts träum’ ich von dir im Mondenschein

Doch am Tag, da bin ich so alla-hein.

Das macht Spaß und tut keinem weh – außer vielleicht den Ohren. Denn für Liebhaber des Wohlklangs ohne Ecken und Kanten dürfte die Performance von Erich & Willi kaum ein Genuss gewesen sein.

Das Repertoire fliegt den beiden quasi von selbst zu: Der »Mädchenschreck«, die deutsche Version des Del-Shannon-Klassikers »Runaway«, wird sozusagen die Zugnummer. Erich Täger repräsentiert den Mädchenschreck geradezu ideal – vor allem auch visuell: fettige Haare mit Zickzack-Seitenscheitel, ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter mit einem Anflug von Selbstironie, haarige Muttermale, großzügig mit dem Einmalrasierer umfahren, ein heillos verfilzter grauer Pullover mit Wollbüscheln zum Abzupfen, Bluejeans – eine Nummer zu groß –, die oberhalb der abgewetzten Schuhe Falten ohne Ende werfen, und schließlich ein speckig glänzender, einst olivgrüner Parka, der an den morschen Manschetten sein faseriges Innenleben freigibt.

Kaum ist die Zugnummer in alternativen Kreisen durchgesickert, kriegt der Ratsherr Ärger mit der weiblichen Fraktion seiner Partei, die wiederum den »Frauen für den Frieden« recht nah steht. Diese meinen nämlich, in dem Song, werde die verabscheuungswürdige Art eines brutalen Mannes, hilflose Mädchen zu terrorisieren, besungen und somit verherrlicht. Erich und ich müssen den Kritikerinnen erst mal erklären, dass es in diesem Lied um ein bemitleidenswertes, armes Schwein geht, das partout keine Frau mitkriegt und sich letztendlich fragt, ob er denn ein »Mädchenschreck« ist.

Jedenfalls ziehen wir unser Ding gnadenlos durch. Haben sogar an Sylvester zwei Engagements: eins bei Winnie Hothaus im freakig-alternativen »Posthorn« als Vorgruppe einer heimischen Rock-Formation namens »Pillemann Lustich« und gleich darauf einen Gig bei Stromberg als Pausenfüller für eine hektisch agierende Dixieland-Kapelle. Mittlerweile hatte sich ein junger wilder Schlagzeuger mit Morbus Bechterev zu uns gesellt und kurzerhand die »Schießbude« der Jazz-Combo annektiert. Entsetzt rauft sich der Dixie-Drummer die Haare: »Der haut mir ja mein ganzes Schlagzeug kaputt!«

Eine Woche später werde ich wieder mal zur Verlegerin zitiert. Wie es so ihre Art ist, lässt sie mich erst mal eine halbe Stunde im Flur warten. Als ich mich abgekühlt habe und gar nicht mehr weiß, was ich zu meiner Rechtfertigung – gegen welche Vorwürfe auch immer – hatte vorbringen wollen, geht die Tür auf, und eine monströse Dogge springt auf mich zu.

Nachdem ich psychisch wie physisch auf ein vertretbares Maß geschrumpft bin, werde ich an dem Hundetitan vorbeigebeten und stehe schließlich einer Verlegerin gegenüber, die sich wieder mal in strengem Dress und Reitstiefeln präsentiert, womöglich mit einer Gerte in der Hand – das kommt mir jedenfalls so vor. Ich werde genötigt, in das weiche Ledersofa einzusinken.

»Platz, Doktor!« meine ich zu hören und gehorche vorsichtshalber. Vielleicht habe ich noch die Hälfte der Argumente im Sinn, die ich zu meiner Verteidigung hatte vorbringen wollen, doch schon beansprucht die Riesendogge ihren Platz, nämlich just jenes Sofa, auf dem ich gerade weisungsgemäß hocke. Das tierische Monstrum überragt mich um einiges.

Ich öffne noch ansatzweise den Mund, da knurrt der sabbernde Gigant, die Domina lässt ihre Gerte schnalzen, und ich bin mir nicht ganz sicher: Gilt das meiner eventuell bevorstehenden Widerrede (»Kusch, Doktor«) oder irgendeiner Verhaltensanomalität aufseiten des Hundes?

Und während sie noch in ihren Reitstiefeln breitbeinig und drohend vor mir aufragt, habe ich eine Vision: Die Tür geht auf und Grupe, der Leiter der Kreisredaktion betritt den Raum. Die Verlegerin lässt prompt ihre Gerte fallen, tänzelt erstaunlich elegant auf Grupe zu, schlingt ihre Arme um seinen Nacken und gurrt »Norbert, mein Prinz …« Ich denke an den Boxer Norbert Grupe, der sich »Prinz von Homberg« nannte. Das gibt’s doch nicht! Die länglichen Narben im Gesicht des Kreisleiters deuten eher auf die einstige Mitgliedschaft in einer schlagenden Studentenverbindung hin als auf Boxverletzungen. Als die beiden sich erregt begrapschen, muss ich mich schütteln und rausche augenblicklich in die schnöde Wirklichkeit zurück.

Die Verlegerin blättert betont geistesabwesend in einer dicken Mappe, die offenbar alle meine Verfehlungen der letzten drei bis vierzehn Wochen dokumentiert. Und schon setzt es Watsch’n für die schlimmsten Ungeheuerlichkeiten des unartigen Angestellten.

»Sagen Sie mal, Herr Dommer, sympathisieren Sie eigentlich mit den Grünen?«

»Äh … ja … also …«

»Und entspricht es der Wahrheit, was ich da von einem sehr prominenten Waltroper erfahre: dass Sie mit einem Grünen öffentlich aufgetreten sind und alternative Lieder zur Klampfe gesungen haben?«

»Ja, Frau Becker, ich muss gestehen, ich habe mit einem grünen Ratsherrn alternative Lieder zur Gitarre gesungen. Mea culpa. Mea maxima culpa. Die Lieder waren entsetzlich alternativ. So alternativ, Frau Becker, dass Sie womöglich nicht mal imstande sind, die Alternativität dieser Lieder zu erkennen. Haben Sie vielleicht schon mal Drafi Deutschers Hit »Shake Fäuste« gehört? Oder wie wär’s mit »Rote Lippen soll man küssen« von Fidel Castro oder »Schön war die Zeit« von Daniel Cohn-Bendit oder »Bürgerschreck« von Jan-Carl Raspe?«

Das habe ich natürlich nicht gesagt. Solche Entgegnungen fallen mir erst auf der Heimfahrt im Auto ein.

Derweil hatte Adelheid schon zum Rundumschlag ausgeholt. Sie könne mir zwar nicht meine politische Einstellung diktieren, aber in der Zeitung dürfe die nicht zutage treten. Klo-Gestank hin oder her – aber die Spitze der SPD-Fraktion anzupinkeln, das sei eine Instinktlosigkeit sondergleichen. Die Betreffenden hätten bereits gedroht, die Waltroper Zeitung geschlossen abzubestellen.

»Wer’s glaubt«, denke ich, aber die Verlegerin ist längst nicht fertig.

»Und dann die herzige Geschichte über diese obdachlose Schnapsdrossel. Also wirklich, Dommer. Noch nie was von Recherche gehört? Sie machen doch nicht nur sich selbst lächerlich, sondern das gesamte Zeitungshaus.

Und dann dies. Ich darf Ihnen das mal vorlesen: An ihrem samstäglichen Stand in der Fußgängerzone verteilten die Mitarbeiter der Initiative gegen die Volkszählung Flugblätter, in denen zum Boykott der Befragung aufgerufen wird. Wer die Fragebögen nicht ausfüllen will, wird gebeten, den unausgefüllten Bogen am Stand der Initiative abzugeben, damit er der Altpapiersammlung zugeführt werden kann.

Also Herr Dommer. Abgesehen davon, dass die Angst vorm Großen Bruder ja wohl maßlos übertrieben ist … Was Sie da schreiben, ist ja geradezu eine Aufforderung zum Boykott der Volkszählung. Wir können uns doch nicht mit dem ganzen Gewicht unserer unabhängigen Zeitung hinter den Aufruf zur Behinderung einer amtlichen Maßnahme stellen.

Und dann diese Geschichte hier. Da haben Sie Verbindungsstudenten und ihre Alten Herren mit Türken verglichen. Sag’n ’se mal: Haben Sie denn überhaupt kein Feingefühl? Doktor!«

Jetzt sehe ich endlich meine Chance zur Verteidigung gekommen: »Aber die hatten doch so bunte, runde Käppchen auf …«

»Herr Dommer!« herrscht sie mich an. »Jetzt werd’n ’se mal nicht kindisch. Als Akademiker wissen Sie genau, was Tradition bedeutet, und außerdem: Die Alten Herren sind Richter, Ärzte, Professoren, Rechtsanwälte, Steuerberater …«