Auf Du und Du mit dem König der Diebe - Willi Dommer - E-Book

Auf Du und Du mit dem König der Diebe E-Book

Willi Dommer

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Beschreibung

In einer prekären Lebenssituation heuert Willi Dommer notgedrungen bei einem bundesweit bekannten Paketzusteller an. Sehr früh wird ihm die fragwürdige Lage als "Scheinselbständiger" zum Problem: Auslieferung mit eigenem PKW, Tanken und Reparatur auf eigene Rechnung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine Sozialversicherung, Knebelverträge, die schnell in die Armut führen können. Als kommunikativer, wissbegieriger Mensch führt der ansonsten gebeutelte Bote immer wieder Gespräche mit Kunden und Anwohnern und erfährt viel Interessantes über heimatkundliche Begebenheiten, Kunst und Kultur, die örtliche Sagenwelt, aber auch skurrile Geschichten aus seinem Auslieferungsgebiet im Südschwarzwald. Tipps und Anregungen für Feriengäste inklusive. Das hält ihn zunächst bei der Stange. Zweieinhalb Jahre hält Willi Dommer durch. Im Depot wird es zunehmend unerträglich: überstrenge Sicherheitskontrollen, Beanstandungen wegen Lappalien, Unterstellungen wegen angeblicher Unterschlagung, Androhung von Entlassungen, freche Bemerkungen der Depotbetreiber ("Ihr amen Schlucker"). Etliche Boten werden vor Gericht gezogen und bekommen durchweg Recht. Dazu vierstellige Nachforderungen des Finanzamts trotz geringer Einkünfte. Der Autor wagt den Absprung, lernt für den Taxischein und kündigt. 600 Euro werden ihm vom letzten "Lohn" einbehalten. Wegen angeblichen Sendungsverlusts ... Den Gang zum Gericht spart er sich, denn vor ihm liegt ja nicht das Nichts, sondern eine neue und hoffentlich angenehmere Phase seines Arbeitslebens.

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Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufälig und unbeabsichtigt.

Inhalt

Eine resolute Seniorin

Kaufen Se sich ’n Subaru Allrad!

Kaufleute, Reisende und Diebe

Vom Förderband ins Simonswälder Tal

Worum isch uns des total egal?

Auf der Uhrenstraße

Ins Dorf der Erfinder

Vom Unterlehmannsgrund zum Heidenkopf

Jesus am Fließband

»Geräucherte Entenbrust an Berglinsen«

Fränzi mit dem roten Halstuch

Nepomuk, der Brückenheilige

Der Wächter

Rendevouz mit »Dr. Nille«

Altkatholische

SI-Check mit Rinderle

In flagranti mit Poseidon

Rappenfelsen und Brennersloch

Krisenstimmung

Abgetaucht in den Teich

Unterschlagung und wildes Feuer

Der Stationenweg

Anhang

Literatur

Eine resolute Seniorin

Mist! Schon wieder keine Klingel. Typisch für hiesige Bauernhöfe. Ich klopfe an die Türscheibe und warte. Lange tut sich nichts im Emmler-Hof. Als ich die Türklinke herunterdrücken will, höre ich schlurfende Schritte auf dem Hausflur. Sepp, Bauer im Ruhestand, reißt die Tür auf, mustert mich von oben bis unten. »Wa will’sch?« fragt er schroff, sieht die Tüte vom Witt-Versand und die dunkelblaue Uniform mit dem geflügelten Merkur-Logistik-Logo und stellt unwirsch fest: »Hob nix bestellt.«

»Is doch für Deine Schwester«, kläre ich ihn auf. Sepp deutet wortlos mit dem Daumen auf die Tür hinter sich und verschwindet nach links in die Stube, wo der Fernseher hektisch vor sich hin flimmert. Offenbar die montagmorgendliche Wiederholung von »Verstehen Sie Spaß?« oder »Musikantenstadl«.

Emma hantiert – als ich zaghaft eintrete – in der Küche mit diversen Töpfen auf dem Herd, schnappt sich aber sogleich die hingehaltene Tüte von Witt/Weiden und reißt sie ungeduldig auf. »Jetzt bin ich aber mal g’schponne«, grollt sie, »ob’s diesmal s’Richtig‹ isch«, und blickt mich geradezu strafend an. Schon wuselt sie wieder um den Herd herum. »Sepp!« ruft sie herrisch, »jetzt kumm endlich esse!« Sie trägt zwei oder drei Töpfe zum Tisch und platziert sie auf den bereitgelegten Untersetzern aus Bast. »Sepp!«

Ich lege den zur Unterschrift vorbereiteten Scanner mitsamt Stift auf die Resopalplatte und weiß: So schnell komme ich hier nicht heraus. Sepp hat sich unterdessen brav vor seinen leeren Teller gehockt, während Emma hastig ein hellblaues Baumwollnachthemd aus der Tüte zieht. Sie hält es an ihre Vorderseite, schaut daran herunter und ruft erbost: »Des isch ja wieder nit durchknöpft! Jetzt sagen’er dene mol, dass ich e Durchknöpftes bruch. Ich kumm doch nägschde Woch‹ ins Kronkehus. Da kann ich doch so ebbis nit bruche.«

Ich ziehe verlegen die Schultern nach oben. Was soll ich dazu sagen? Wie soll ich erklären, dass ich nicht bei Witt angestellt bin und demzufolge auch keine Verbindung zu deren Bestellabteilung habe? Schließlich transportiere ich doch nur bestellte Versandhausware zum Kunden. Indes wartet Emma auch gar nicht auf irgendeine Erklärung meinerseits.

Während sie weiterhin mit den unfähigen Leuten von Witt hadert, hat ihr Bruder sich wieder wortlos in die gute Stube verzogen. Sein Teller ist in der ganzen Aufregung seiner Schwester leer geblieben, und die Bestellproblematik geht ihm nun mal am Allerwertesten vorbei. Wieberkram …

Ich habe mich mittlerweile durchgerungen, das Päckle unter »Annahme verweigert« zu verbuchen. Dann verdiene ich zwar keinen müden Cent daran, verliere aber weniger Zeit und spare mir langwierige Erklärungen über das korrekte Ausfüllen des Retourenscheins. Zukleben muss Emma die Tüte mit dem verschmähten Inhalt aber schon. Und das ist nicht minder zeitaufwändig: Schere suchen, nach dem Klebeband kramen, den Anfang desselben suchen, umständlich losknibbeln und währenddessen den Bruder erneut lauthals an den Esstisch beordern. »Sepp! Wo bliebsch au? ’s Esse wird doch kalt!«

Während die resolute Seniorin den Kampf mit Tesafilm und unsachgemäß aufgerissener Tüte wieder aufnimmt, hockt sich Bruder Sepp abermals vor seinen leeren Teller und harrt der Dinge, die da partout nicht kommen wollen.

Mich drängt es danach, dieser eher befremdlichen Variante familiären Zusammenlebens zu entfleuchen. Ja, ich verspreche sogar, bei den Tranfunzeln von Witt/Weiden gehörig auf den Putz zu klopfen. Endlich ist die Tüte notdürftig verklebt, ich schnappe sie und verabschiede mich – auch von Sepp, der längst wieder mit knurrendem Magen in der Stube vor dem Bildschirm sitzt.

›Irgendwie ganz schön skurril‹, denke ich, ›aber vielleicht doch eine ganz eigene Art von Familienidyll‹.

Eine längere Phase der Arbeitslosigkeit, der misslungene Versuch, mich als freiberuflicher Journalist durchzuschlagen, und das Wiedererlangen der Fahrerlaubnis nach neunmonatigem alkoholbedingten Entzug derselben haben mich dazu bewogen, als Bote bei der »Merkur Logistik Gruppe« anzuheuern. Als freier Journalist konnte ich meinen Lebensunterhalt leider nicht bestreiten, und Hartz IV lag mir fern.

»Merkur«, habe ich gedacht, »das passt ja irgendwie: Der Götterbote des antiken Rom, Beschützer der Kaufleute, Reisenden und Diebe.« Der sonnennächste Planet steht für Kommunikation, für die Verbreitung von Informationen, für Verbindung zwischen den Menschen. In der Astrologie ist Merkur der Herrscher des Zeichens »Zwillinge«; und just in diesem Zeichen bin ich geboren. So erscheint ihm das »Merkurische«, wie es in dem Buch »Das senkrechte Weltbild« erläutert wird, überaus sympathisch: »Die schnelle, verbindende Aktivität an der Oberfläche«, schreiben Nikolaus Klein und Rüdiger Dahlke, »ist seine Domäne, und hier ist er unübertroffen. Der Verkehr ist sein Herrschaftsbereich, sowohl auf den Straßen und Wegen, als auch zwischen den Menschen. Das oberflächliche Miteinanderverkehren der Menschen mit all den Verstellungen und Gebärden, gesellschaftlichen Rücksichten, Vorsichten und Nachsichten, all das, was da nicht tief und vielleicht nicht ganz ehrlich, aber auch nicht böswillig falsch ist, in all dem ist Merkur zu Hause.« Sogar mit der darin enthaltenen Kritik an meiner mangelnden Tiefe, meiner Oberflächlichkeit kann ich bestens leben. Und so habe ich mich auf ein Stellenangebot in dem kostenlosen Anzeigenblatt »Thuja« als Merkur-Paketbote beworben.

Befreit tanke ich die frische Luft des Sommerbergs, der sonnenreicheren Hangseite des Haslachtals. Meine Tour führt mich nun weiter talaufwärts durch die »hintere Hasle«, vorbei an der Firma Franz Kaltenbach – »Werkzeug- und Formenbau« –, am Schwanenhof, durch den engen »Pfefferstich«, am Loch- und Brennerhaldenhof vorüber fast bis zum »G’fäll« hinauf. Führe ich von hier aus weiter und hätte einen Schlüssel für die unvermeidliche Schranke dabei, so käme ich zum 1155 Meter hohen Rohrhardsberg mit der Schwedenschanze. Im Jahre 1634 sollen dort die Simonswälder der von Triberg heranrückenden schwedischen Soldateska eine schmachvolle Niederlage bereitet haben. »Im April 1703 war die Rohrhardsberger Schanze wieder besetzt, da die Franzosen in den Breisgau eingefallen waren«, berichtet Bertram Jenisch in seiner »Geschichte von Simonswald». Bereits im August des darauffolgenden Jahres beschreibt ein gewisser Feldmarschall von Tüningen die Anlage als »beinahe zerstört und vom Feind verbrannt«.

Viele Simonswälder zieht es immer wieder geradezu magisch auf den Rohrhardsberg – wenn auch nicht zu den historischen Schanzanlagen, sondern zum »Schänzle«, dem urigen Berggasthof. Solche Extremsportler überwinden die achteinhalb Kilometer und den Höhenunterschied von 700 Metern in knapp zwei Stunden zu Fuß, was durchaus für die gehörige Attraktivität des Etablissements spricht. Der Wirt bediene in Tracht, erklärt der »Kenke-Sigi«, einer der treuesten Stammgäste, und das ganze Mobiliar sei aus Holz geschnitzt. »Richtig urig halt«, resümiert er. Und so treten die wandernden Zecher den Heimweg nicht selten erst weit nach Einbruch der Dunkelheit an. Dabei soll es hier oben durchaus nicht immer mit rechten Dingen zugegangen sein. Alte Geschichten berichten von der »G’fällroten«, einer Hexe, die in den hiesigen Wäldern herumgegeistert sein soll. Ihre Jagdhunde, so habe ich in den von Willi Thoma gesammelten »Elztäler Sagen« gelesen, seien zwar nicht gegen Kugeln gefeit gewesen wie ihre Herrin; getötet werden konnten sie aber dennoch nicht. Als Jäger eines Tages die Hunde der G’fällroten erwischten, hängten sie die Tiere an einer Tanne auf – in der Annahme, deren Herrin werde schon kommen und sie holen. Drei Tage lauerten sie dort auf die Hexe. Erst als die Hunde eingegangen waren und zu stinken anfingen, gingen sie fort. Und schon kam die G’fällrote, schnitt ihre Hunde vom Baum ab, und diese waren prompt wieder lebendig. Gleich darauf will man die drei wieder miteinander wildern gesehen haben …

Im Bunde mit dem Leibhaftigen soll die G’fällhofbäuerin gewesen sein. Sie habe mal die Knechte zum Essen gerufen, heißt es, und dann ihrer schwarzen Katze befohlen, Knöpfle zu machen. Die seien sogar heiß und gar gewesen. Eines Tages habe ein Knecht geweihtes Schwarzbrot darüber gestreut, und die Knöpfle seien nur noch lauter Katzendreck gewesen.

Der Stockburger-Bernd aus dem unteren Kilpen oder Kilpachtal, dem einstigen Aufstieg vom Breisgau in Richtung Furtwangen und Villingen-Schwenningen, ist als Kind hier oben aufgewachsen. Er erinnert sich noch an den G’fäll-Ludwig. Zwei seiner Geschwister waren Anfang des vorigen Jahrhunderts schwer erkrankt. Mag sein, es war die Schwindsucht. Heute würde man von Tuberkulose sprechen. Als es mit der Schwester zu Ende ging, war der G’fällhof zugeschneit, und die Eltern konnten nicht ins Tal hinab. Als das Kind dann gestorben war, gab es auch keine Möglichkeit, den Leichnam zum Kirchhof hinunter zu bringen. Also vergrub man das tote Mädchen derweil im Schnee, um den Verwesungsprozess zu verlangsamen. Schließlich konnte die Beerdigung dann doch stattfinden. Doch als die Eltern vom »Lieche-Esse« (Leichenschmaus) heimkamen, war der kleinere Bruder, der sich ebenfalls infiziert hatte, seiner Schwester bereits in den Tod gefolgt …

Einmal im Jahr zieht es etliche Haslicher nicht nur auf’s Schänzle, sondern darüber hinaus sogar bis nach Triberg – und zwar zu Fuß. Es sind auch nicht Gasthäuser und deren Getränkekarten, die sie zu derartigen Strapazen bewegen, sondern ein Gelübde: Vor etwa 200 Jahren, im Jahre 1806, überschwemmte und verwüstete ein katastrophales Hochwasser die untere Hasle bis hin zum Gasthof »Krone-Post«. Da schworen die Bewohner des Simonswälder Seitentals: Einmal im Jahr, am Samstag nach Christi Himmelfahrt, laufen wir zu Fuß zum Rohrhardsberg hinauf und von dort weiter nach Triberg, wo wir dann beten und bitten, dass solch ein Unglück nie wieder über uns hereinbricht. Von der Schwedenschanze an wird der Rosenkranz gebetet – von der Hasle bis zum Rohrhardsberg ist der Aufstieg nämlich selbst zum Beten zu steil. Da haben die Wallfahrenden genug mit dem Schnaufen zu tun.

Für gewöhnlich machen sich je nach Gesundheitszustand 20 bis 30 Leute zu Fuß auf den beschwerlichen Weg. Alles in allem kommen meistens 80 bis 100 Personen zusammen. Ältere Haslicher fahren nämlich mit dem Bus nach Triberg. So hat jeder die Möglichkeit, das Gelübde zu erfüllen. Irgendwann hat man mal gemeint, sich die Wallfahrt schenken zu können und daheim im »warmen Nescht« zu bleiben. Da habe sich die Hochwasser-Katastrophe wiederholt – schlimmer noch als beim ersten Mal. Seitdem pilgern die Haslicher wieder alljährlich nach Triberg. 2006 liefen sie zum 200. Mal. Wegen des Jubiläums machten sich über 100 Menschen auf den Weg – traditionsgemäß um fünf Uhr in der Früh, gewappnet mit Laternen. Den ganzen Tag regnete es. Die Wanderer kamen schon völlig durchnässt auf dem Rohrhardsberg an. Gegen halb neun begann dann die Messe am Zielort. Zum Abschluss der Pilgerfahrt begleitet der Triberger Pfarrer die Heimkehrer stets zwei Kilometer in Richtung Schonach – Kreuz und Fahnen vorneweg, getragen von Ministranten.

Kaufen Se sich ’n Subaru Allrad!

Ich muss aber weder nach Triberg noch ins Schänzle auf dem Rohrhardsberg. Zum Biertrinken ist es ja auch noch zu früh. »Wasserkraft Volk« heißt das Ziel. Das sind etwa zehn Kilometer auf kurvenreicher Strecke durch den Wald bis auf eine Höhe von knapp 900 Metern. Zwar gibt es eine Filiale der Firma unten in Bleibach, die – vor allem im zuweilen schneereichen Winter – ungleich bequemer anzufahren wäre. Doch die Gattin des Chefs besteht darauf, dass Boten ihr Gefährt zum G’fäll hinauf quälen, zum einstigen »Gernhansenhof«.

Hierhin ist der damalige Physikstudent Manfred Volk in den 70er Jahren gezogen. Nicht nur sein Vater, ein Maschinenbauer, hielt ihn für verrückt, als er in 820 Metern Höhe in einem Bauernhaus ohne Strom begann, ein Wasserkraftwerk zu bauen – aus der festen Überzeugung heraus, dass Wasser die wichtigste regenerative Energiequelle sei. Volk hatte zunächst alte Wasserräder im Elztal repariert, entwickelte dann seine erste Durchströmturbine und hat inzwischen mehrere hundert kleine und mittelgroße Wasserkraftwerke in über 30 Ländern Afrikas, Asiens und Osteuropas montiert. Nachdem die erste Werkstatt im ehemaligen Kuhstall zu klein geworden war, eröffnete der Firmengründer vier Stunden vor dem Jahreswechsel 2000 seine »Zukunftswerkstatt« im Bleibacher Ortsteil Stollen.

Gleich am ersten Arbeitstag bei der Logistik-Gruppe, als mich der Kollege Arthur in die Regeln und Kniffe der Paketauslieferung einweihte, war es mir eingeschärft worden: »Gib die Päckle für Frau Volk bloß nicht beim Werk in Bleibach ab!« Das hatte ihm sein Lehrmeister auf der ersten gemeinsamen Schulungstour eingebleut. »Das gibt einen Heiden-Ärger. Die Arbeiter reißen die Tüten sofort auf, wenn sie auf dem Scanner unterschrieben haben.«

Schon nach wenigen Arbeitstagen haben mich allerdings Zweifel beschlichen. Habe ich doch mal meine Nase ins fast schon alpin gelegene Werk auf dem G’fäll gesteckt, weil die Hausherrin daheim im aufgemotzten Berghof nicht aufzufinden war. Mein Eindruck: Das sind ja Fachkräfte, Techniker – keine hergelaufenen Hilfsarbeiter. Und die sollen etwa nicht kapieren, dass man private Lieferungen an die Gattin ihres Chefs nicht einfach rabiat aufreißt? Kaum glaubhaft …

Ich wittere gänzlich andere Beweggründe der »Chefin«. Meiner Meinung nach betreibt sie eine Art Machtspielchen; findet es einfach toll, geringverdienende Menschen hier oben antanzen zu lassen: Post-, Paket- und Zeitungsboten – Handlanger jedweder Art. Dem Briefträger kann es egal sein. Er bekommt Stundenlohn, und seine Betriebskosten trägt die Deutsche Post AG. Doch als Merkur-Bote bin ich scheinselbständig und muss selbst für den Treibstoff aufkommen. Auch für die außergewöhnliche Abnutzung der Reifen und Bremsbeläge. Das interessiert die Herrin indes nicht die Bohne. Als ich kurz vor Einbruch meines ersten Winters in diesem Job frage, ob ich die bestellte Ware bei Eis und Schnee nicht vielleicht doch im Bleibacher Werk im Tal abgeben könne, erwidert die Domina barsch: »Untersteh’n Sie sich. Kaufen Se sich doch ’n Subaru Allrad! Haben wir auch.«

Genaugenommen eine Frechheit.

Aber ihr Mann ist keinen Deut anders drauf. Monate später quäle ich mich mit einer kleinen Versandtüte zum Gernhansenhof hinauf. Hin und zurück 22 Minuten. Oben sagt der Volk beim Anblick der Tüte: »Lohnt sich ja gar nicht.« Auf den Lippen liegt mir: »Ha-ha. Wer brockt mir das denn ein?« Aber was schluckt man nicht alles herunter?

Hochgradig grollend und hadernd rolle ich wieder abwärts und registriere kaum den beeindruckenden Ausblick auf das tief unten liegende Haslachtal, zum Beispiel vom 800-Meter-Punkt aus. Dort ragt links von der schmalen Straße, direkt am Abgrund neben einem stählernen Strommasten und einer Aussichtsbank für Wanderer, ein mächtiges Holzkreuz empor.

Ihr Berge und Hügel

Lese ich beiderseits des Gekreuzigten,

Preiset den Herrn.

Ich trete näher und entziffere die Inschrift auf dem schmalen Stamm des Kruzifixes.

Zum Gedenken

an unseren

Pflegesohn

Robert

Kukula

1915 – 1941

Gestiftet von

Katharina

und Josef

Schätzle

1967

Erneuert von

Rosa Dorer

2003

Die Stifterin Johanna Schätzle und ihr Ehemann Josef haben Anfang des vergangenen Jahrhunderts im sogenannten »Bärenhisle« gewohnt, einem mittlerweile mehr oder weniger verfallenen Gebäude, schräg gegenüber dem Gernhansenhof, dem jetzigen Domizil der Wasserkraft-Familie Volk. Die Schätzles waren kinderlos geblieben, und deshalb nahmen sie den Robert Kukula und seine Schwester als Pflegekinder bei sich auf. Robert wurde in den 40er Jahren zur Wehrmacht eingezogen und fiel 1941 im Zweiten Weltkrieg.

Im Lauf der Jahre haben Wind und Wetter dem Kreuz gehörig zugesetzt. Katharina Schätzle siedelte nach dem Tod ihres Mannes ins vordere Haslachtal, ins ehemalige Rathaus des bis 1970 eigenständigen Ortsteils Haslachsimonswald über. Ihre dortige Nachbarin Rosa Dorer ließ auf Bitten der alten Frau das Kreuz im Jahre 2003 von dem Zimmermann Helmut Tritschler restaurieren.

Ich mache mich auf die Abfahrt ins Tal, passiere nach etlichen Kilometern das ehemalige Haslacher Rathaus, die Kirche St. Sebastian, biege in die Kirchstraße ein und wende mich zwischen den Gasthäusern »Krone-Post« und »Hirschen« nach links auf die L 173, die in diesem Ortsteil Talstraße heißt.

Kaufleute, Reisende und Diebe

Mischa Waschke, der feiste, kahlköpfige Betreiber des Merkur-Depots in Vörstetten, hat mich nach einem ersten Bewerbungs-Telefonat sogar daheim in Simonswald aufgesucht. Auf der Terrasse des Gasthauses »Zum grünen Baum« habe ich ihm ein großes Spezi spendiert. Ich habe mich noch gewundert, dass alles so schnell ging: In drei Tagen könne ich anfangen, Simonswald und Gütenbach – das sei mein Bezirk; zuvor eine Scanner-Schulung im Rahmen einer Orientierungsfahrt mit einem versierten Kollegen, dann selbständiges Arbeiten mit eigenem PKW – damals noch ein Ford Sierra Turnier –, einen Euro fünfzehn pro ausgeliefertem oder abgeholtem Päckchen; 40 Cent für Kataloge, 20 für Briefe. Benzinkosten, eventuelle Reparaturen und sämtliche Versicherungsbeiträge sind indes meine Sache – und nicht vergessen: umgehend ein Gewerbe als Kraftfahrer/Kleintransporte anmelden.

»Gütenbach – kriegt man da im Winter nicht Wahnsinnsschwierigkeiten mit dem Fahren?« frage ich. Der Kahlrasierte winkt beschwichtigend ab. Dort seien die Straßen bei Eis und Schnee wesentlich besser geräumt als unten im Tal in Simonswald.

»Und da kommt man über die Runden?« habe ich vorsichtig gefragt. Das liege ganz an einem selbst. Er habe einen Fahrer, der es gut und gerne auf 2000 bis 2500 Euro pro Monat bringe. »Hört sich gut an«, gebe ich zu – wohl wissend, dass der überaus beleibte, kurzhalsige, fast haarlose Mittdreißiger mir viel erzählen kann und auch muss, wenn er Bedarf an Fahrern hat. Ich sage zu und stehe nach drei Tagen im Depot in Vörstetten auf der Matte.

8.30 Uhr – sprich: in aller Herrgottsfrühe. Eine große Halle mit Regalen auf Rollen an den Längswänden, daran Pappschilder mit den jeweiligen Auslieferungsbezirken: Kirchzarten-Buchenbach-Oberried, Waldkirch-Kollnau-Suggental, Freiburg, Winden-Gutach-Bleibach, Elzach-Biederbach-Prechtal, Schonach-Schönwald, Furtwangen, Triberg-Hornberg, Freiamt-Eichstetten-Endingen-Wyhl, Denzlingen-Buchholz-Suggental, March-Vörstetten, St. Peter-St. Märgen-Stegen-Breitnau-Glottertal, Emmendingern-Wasser-Sexau und eben Simonswald-Gütenbach. In der Mitte steht längs ein vorsintflutliches Förderband – eisern, schwer und arg verbogen; zwei Männer wuchten pausenlos Pakete aus einem geräumigen Anhänger aufs Band, zwei andere scannen unter Gepiepse die neue Ware, und etwa 20 bis 30 Botinnen, Boten, Fahrerinnen und Fahrer nehmen beiderseits des Bandes die Pakete an sich, scannen sie und versorgen sie mehr oder weniger hurtig in den entsprechenden Regalen.

Ich begebe mich ins Büro im Hochparterre, stelle mich vor und übergebe einer ebenso kleinen wie umfangreichen Frau Kromer, ihres Zeichens Speditionskauffrau, meine Gewerbeanmeldung. Mir ist klar: Von nun an bin ich ein »Scheinselbständiger«, denn ich erhalte meine Aufträge nur von einem einzigen Auftraggeber, dem ich auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin. Ich muss sogar mein eigenes Arbeitsgerät zur Verfügung stellen: meinen Privatwagen. Mir – und nur mir – obliegt es, für dessen Einsatzbereitschaft zu sorgen, also zu tanken und nötige Reparaturen ausführen zu lassen, und zwar über Nacht, denn ein Ersatzmann für mich am folgenden Tag würde gnadenlos in Rechnung gestellt. Solange ich hier arbeite, darf ich partout nicht krank werden, denn Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist hier ein Fremdwort. Der Auftraggeber zahlt ja auch keine Sozialversicherungsbeiträge. Für alle Fälle leiste ich weiter meine Beiträge zur Künstlersozialkasse, der ich in meiner Zeit als freier Journalist beigetreten bin. Im Alter von 50 Jahren darf man ruhig mal den einen oder anderen Gedanken an die »drohende« Mini-Rente oder eine altersbedingte Krankheit im Hinterkopf haben. Beiträge zur Berufsgenossenschaft gehen natürlich auch auf meine Rechnung.

Ich habe mich vertraglich verpflichtet, die mir anvertraute Ware termingerecht beim Kunden abzuliefern – komme was wolle. Welche Probleme dabei auftreten können, ist mir erst viel später klar geworden. Scheinselbständigkeit ist eigentlich eine verbotene Geschäftsbeziehung, doch eine Anzeige ist gleichzeitig auch eine Selbstanzeige – und was bleibt mir übrig, wenn ich hier meinen Lebensunterhalt verdienen will?

Unten in der Halle zeigt Mischa mir meinen »Logistic Instructor« Arthur: schwarzer Schnäuzer, beachtliche Wampe über dem engen Hosenbund und glatte, volle, tiefschwarze Haare, akkurat seitengescheitelt. Wir begrüßen uns siezend, Arthur erklärt mir sein System bei der Sortierung ankommender Pakete in den Regalen. Ich nicke wissend; schließlich wohne ich seit 25 Jahren in dieser Gegend. Sogleich springe ich betont eifrig zwischen Laufband und Regal hin und her, sortiere Pappkartons und Tüten ein. Als ein Anhänger, ein Sprinter und ein 7,5-Tonner entladen sind, beendet Arthur seine Kaffeepause, holt den Scanner aus dem Büro, erläutert mir grob dessen Funktionsweise und lässt mich machen: Man richtet das Gerät auf den Strichcode des Päckchens, drückt auf eine seitlich angebrachte Taste, es ertönt ein Piepston, und die Ware ist registriert. So erkennt dann das Gerät die Ware und den Kunden mitsamt Adresse wieder, wenn man den Code später beim Ausliefern abermals einscannt. Und die Kontrolleure in den oberen Rängen der Logistik-Gruppe wissen exakt, wann und wo der Bote ein Paket ausgeliefert hat oder in welchem Stadium eine Ware eventuell abhanden gekommen ist. Lückenlose Kontrolle. Betrug oder Diebstahl kaum möglich. Ich kann Merkur nicht bescheißen. Die Logistik-Gruppe mich allerdings schon, wie ich später merke.

Vom Förderband ins Simonswälder Tal

Ich bringe den Scanner zum Auslesen ins Büro und erhalte nach geraumer Zeit die ausgedruckte Orientierungsliste mit allen auszuliefernden Waren, geordnet nach Parzellen, die in ihrer Abfolge in etwa der optimalen Route des Boten entspricht. 62-01 bis 62-06 ist Simonswald, 62-10 bis 62-13 Gütenbach. Derart ausgestattet, machen wir uns auf den Weg ins Simonswälder Tal. Arthur fährt, ich eile mit Paket und Scanner zur jeweiligen Haustür, liefere aus, lasse den Kunden auf dem Display des Scanners eine Unterschrift leisten, haste wieder zurück auf den Beifahrersitz und gebe in den Scanner ein, wer das Päckchen entgegengenommen hat: KS für Kunde selbst, EM für Ehemann, SW für Schwester plus deren Namen, Schwager oder Schwägerin plus deren Namen, SM für Schwiegermutter plus deren Namen oder aber – falls beim Kunden niemand daheim ist – den Namen und die Hausnummer des Nachbarn, der so freundlich war, die Ware anzunehmen.

»Der langgestreckte, mehrkernige Ort Simonswald umfasst nahezu die gesamte gut besiedelbare Talfläche entlang der Wilden Gutach«, ist in »Wikipedia«, der freien Internet-Enzyklopädie zu lesen. »Deren Tal wird teilweise als Simonswälder Tal bezeichnet. Es mündet bei Gutach im Breisgau in das Tal der Elz. Von hier verläuft die Hauptstraße des Ortes in südöstlicher Richtung über 17 Kilometer aufwärts in Richtung Gütenbach und Furtwangen.« Simonswald liegt größtenteils im Talgrund auf etwa 300 Metern über Normalnull. Nach Nordosten und Südwesten zweigen vom Haupttal zahlreiche, teils besiedelte Nebentäler ab: Ettersbach, Haslach, Griesbach, Nonnenbach, Kilpen, Saulache, Zweribach, Herrengarten … In Obersimonswald wird das Tal enger und steigt in Richtung Südosten auf die Schwarzwaldhöhen. Die Gemarkung des Ortsteils Obersimonswald erstreckt sich fast bis zum Gipfel des Brend auf 1150 Metern über dem Meeresspiegel.«

Gegenüber Lehrmeister Arthur versuche ich mit meiner Ortskenntnis zu prahlen. Schließlich wohne ich seit geraumer Zeit in Simonswald und bin mit einer Eingeborenen verheiratet. Schon beim ersten Kunden, im Gasthof »Adler« am Ortseingang, ergibt sich die Chance, Arthur gegenüber den Insider heraushängen zu lassen: Das ist Sigi, der Getti – sprich: Patenonkel –meiner Frau Sonja, erkläre ich, was den Kollegen indes nicht sonderlich zu interessieren scheint. Wenige Straßen weiter, im Herrengraben bei der Imkerei Fritz Hug, versuche ich es erneut: »Hier ist übrigens die Schwester meiner Frau, also meine Schwägerin Andrea verheiratet!« Arthur reagiert nicht die Bohne. In erster Linie will er früh mit der Tour fertig werden. Deshalb spart sich der anzulernende Paketbote auch jedwede Erklärung über die Kapelle auf der steil ansteigenden, lichten Anhöhe hinter der schwippschwägerlichen Imkerei. Keine Perlen vor die Säue, sagt er sich.

Eine Sage aus frühester Zeit berichtet nämlich, dass unter dem Hügel, dem sogenannten »Kopfrain«, eine Kirche verborgen sei und dass einmal ein Hahn herbeikommen werde, der die Spitze freischarren werde. »Eine merkwürdige Sage, deren Sinn kaum zu verstehen ist«, vermerkt Willi Thoma in seinem Buch über »Elztäler Sagen«. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Berg mit Reben bepflanzt gewesen. »Es blieb unserer Zeit vorbehalten«, so der Waldkircher Sagensammler, »den Kern dieser Sage, dass nämlich auf dem Berg eine Kirche oder eine Kapelle stehen würde, Wirklichkeit werden zu lassen.«

Der Eigentümer des Kopfrains, Großvater meines Schwippschwagers Fritz, war 1918 während des Ersten Weltkriegs in den Kämpfen bei Reims schwer verwundet worden. Unter Aufbietung aller Kräfte konnte Andreas Hug sich noch bis zum Verbandsplatz schleppen. In dieser ausweglos erscheinenden Lage tat er ein Gelöbnis: Sollte ihm die Rettung aus dieser furchtbaren Situation und eine glückliche Heimkehr beschieden sein, so werde er auf der Höhe des Kopfrains eine Kapelle bauen. Und so geschah es. Etliche Trauungen sind schon vor dem kleinen Altar vollzogen worden, den Andreas Hug mit der Laubsäge aus dem Holz eines Kirschbaums gearbeitet hat, der zuvor auf dem Kopfrain stand. Und heute noch wird einmal im Jahr eine Messe in der Kapelle gelesen. Auf dem Kapellendach, vor dem kleinen Glockentürmchen sitzt übrigens sinnigerweise ein Hahn.

Kapelle auf dem Kopfrain

Das hätte den Arthur vermutlich kaum interessiert. Ein ganz klein wenig stärker beeindruckt mag er womöglich weiter oben im Tal gewesen sein. Da wollen wir im Dorfkern nach links in die Sonnengasse einbiegen und müssen prompt vor einer Baustelle stoppen. »Kein Problem«, sage ich und lotse den Kollegen zwanzig Meter weiter talaufwärts über den Höflehof. Franz, der »Hefle-Bur«, ist hinter dem Haus mit irgendetwas beschäftigt. Er begrüßt mich und will von den Boten spaßeshalber Maut kassieren. Dabei stellt sich heraus, dass er und Arthur sich entfernt kennen. Der Hefle-Franz ist nämlich Schlagzeuger bei der »Heibihni-Musik«, einer überaus locker musizierenden Formation, bestehend aus ehemaligen und nach wie vor aktiven Mitliedern der »Trachtenkapelle Simonswald«. Die könnten durchaus mal im »Batzenhisle«, einem Ortsteil Waldkirchs, gastiert haben, wo Arthur wohnt.

Zügig bewegen sich die Boten nun in Richtung Obersimonswald: Durch die enge »Brennerkurve« beim Unteren Felsen, wo bis vor einigen Jahren noch eine Aral-Tankstelle betrieben wurde, vorüber an der Bildhauerei Schonhardt. Der Junior Martin, genannt »der Schnitzer«, hat vor Jahren eine ins Dorf integrierte Ausstellung, den sogenannten »Simonswälder Skulpturenweg« initiiert, von dem heute leider nichts mehr zu sehen ist (siehe den Artikel »Kunst unter hohen Tannen« im Anhang). Die Gemeindeverwaltung wollte halt nicht in Kunstwerke investieren –Bezug zum Dorf hin oder her. Weiter geht es, am Oberen Felsen vorbei und zum »Talerhof« im Ibendörfle. Reni, die Tochter des Hauses, ist eine ehemalige Klassenkameradin meiner Frau und unsere beste Freundin. Wie so oft hat sie etwas bei Sportscheck bestellt. Arthur fällt nicht auf, dass an der Hausfront eine hölzerne »Odal-Rune« angebracht ist. Kaum zwei Meter vom großen christlichen Kruzifix entfernt, prangt das alte heidnisch-germanischeZeichen, das in der Blut-und-Boden-Zeit zum Symbol des »Reichsnährstandes« deklariert wurde. Einer Inschrift der Landesbauernschaft Baden ist zu entnehmen, dass die Familie Schwer bereits seit 1705 auf dem Hof ansässig ist. Der 2006 verstorbene »Taler-Karle« wurde häufig zu den umliegenden Bauernhöfen gerufen, um Hautkrankheiten beim Vieh zu kurieren. Niemand wusste so recht, was dabei im Stall vor sich ging. Wollte auch keiner wissen, sonst wirke der Zauber nicht, heißt es.

Viele munkeln etwas vom »Siebten Buch Mosis«. Erste magische Rezeptbücher dieses Titels tauchten im 18. Jahrhundert auf und wurden mit Untertiteln wie »500 erprobte und entschleierte Geheimnisse, Mittel und Ratschläge aus dem Gebiete Haus- und Landwirtschaft« immer wieder neu aufgelegt. Bei diesen Sammlungen magischer Hausrezepte soll es sich um das geheime Wissen jenes Mannes handeln, der laut Altem Testament das Volk Israel aus Ägypten geführt haben und dabei den Pharao und seine Priester mithilfe von Zaubermitteln ausgetrickst haben soll. Aber solche Behauptungen waren lediglich wohlfeile Werbesprüche,Verkaufsargumente. 1956 wurde das Buch verboten und der damalige Verleger Ferdinand Masuch wegen Betruges und Verstoßes gegen das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten verurteilt. Anlass war – laut Wikipedia – ein Hausmittel aus dem Buch, das Syphilispatienten empfahl, sich bis zum Hals in Pferdemist einzugraben und die Krankheit auf diese Weise »auszuschwitzen«.

Es muss sich bei den Behandlungen des »Taler-Bur« Karl um eine Art »Besprechen« oder »Wegsprechen« mit ein wenig Magie gehandelt haben, das übrigens auch bei Menschen wirkt. Viele sind auf diesem Wege schon Warzen und wildes Fleisch losgeworden.

Karl scheint von seiner Mutter in die Geheimnisse des Heilens eingeweiht worden zu sein. Denn Ende der 80er Jahre erzählte seine Schwester Maria, die auf den oberen Nonnenbachhof geheiratet hatte, dem Redakteur des Gütenbacher Heimatblättles, Hans-Peter Wehrle, folgende Geschichte.

»Meine Schwester hatte einen schweren Fahrradunfall. Sie wurde mit dem Rettungshubschrauber nach Freiburg gebracht. Neben vielen Knochenbrüchen hatte sie Hirnblutungen, die in einem Zeitraum von