AHRENSMORD -  - E-Book

AHRENSMORD E-Book

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Stumme Schreie, die niemand hört, heimliche Schatten in der Nacht … Was geht da vor in Ahrensburg? Die beschauliche Stadt wird zum Schauplatz von Morden, Verbrechen und Intrigen. 22 Autorinnen und Autoren im Alter von 9 bis 96 Jahren, die alle im Kreis Stormarn zu Hause sind, lassen ihrer Fantasie freien Lauf und dabei die Schlossstadt in spannenden Geschichten erzittern. Lernen Sie Ahrensburg ganz neu und vollkommen anders kennen, und tauchen Sie ein in die Welt von Kriminellen, Polizisten, Fahndern und privaten Ermittlern. Mit Beiträgen von: Bernhard Behrendsen, Jörg Dierkes, Fritz Eickenscheidt, Petra Emmrich, Heidrun Florczik, Gerald Gräf, Dietrich von Horn, Thomas Jüttner, Christian Kraus, Emma u. Mia Meyer-Selbach, Nils Meyer-Selbach, Silke Möller, Finn Moryson, Henry Riedl, Sybille Röhrl, Karin Schattmann, Marlis u. Philipp Schwanenberg, Magda Sorour, Klaus E. Spieldenner, Jens Westermann

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Seitenzahl: 390

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Die Erzählungen spielen hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com und Nils Meyer-SelbachFoto Schloss Ahrensburg: Mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Schloss AhrensburgHerausgeberfoto: Thommy Willkowei FotografieIllustration Stadtplan: Andi WolffEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8427-6

Nils Meyer-Selbach (Hrsg.)AhrensmordStormarner Kriminalgeschichten

Vorwort von Andreas Winkelmann

„Ich hingegen werde mich hingebungsvoll selbst gemachten kleinsten Delikatessen widmen, die ihm bestimmt den Atem stocken lassen.“Zitat aus Silke Möllers „Friedas Häkelclub“

Und hier sind sie, liebe Leserinnen und Leser, die selbst gemachten kleinen Delikatessen aus Ahrensburg, die Ihnen den Atem stocken lassen werden. Denn wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel führen sie Sie immer tiefer hinein in die finstren Abgründe menschlicher Seelen. Zubereitet von wahren Kennern, von Menschen aus Ihrer Mitte, die wissen, wohin sie schauen müssen, enthalten sie alle Zutaten, die man in einer kleinen Stadt wie Ahrensburg erwarten darf. Ich weiß, wovon ich spreche, bin ich doch selbst in kleinen Orten aufgewachsen, die bei einem ersten, oberflächlichen Blick Frieden und Harmonie ausstrahlen. Doch kratzt man den Zuckerguss vom süßen Selbstgebackenen, kommt darunter eine Mischung zum Vorschein, die oft genug tödlich ist.

Lokalkolorit ist dabei nichts anderes als ein Synonym für „Das Verbrechen vor der eigenen Haustür“.

Wir wissen es doch alle; unter Nachbarn, Verwandten, Bekannten, der Familie finden sich die besten, abstrusesten, verrücktesten Motive für kriminelles Verhalten in allerlei Ausprägung.

Und so müssen Sie Ihren Blick auch nicht auf die weite Welt richten, nicht nach Hollywood und in die USA, nein, behalten Sie besser die Nachbarn im Auge, die Arbeitskollegen, die Verwandten, die Menschen, die Ihnen tagtäglich in Ahrensburg und dem Kreis Stormarn begegnen.

Hier versteckt sich das wahre Böse!

In kleinen, selbst gemachten Häppchen, die Ihnen den Atem rauben werden, und wenn Sie es merken, ist es längst zu spät.

Spannende Unterhaltung wünscht Ihnen

Andreas Winkelmann

Krimiautor

Vorwort von Eckart Boege

Wenn man sich als Bürgermeister von Ahrensburg eins nicht wünscht, dann ist es mehr Kriminalität in der Stadt. Es sei denn natürlich, Morde und andere Verbrechen finden nicht in der realen Welt statt, sondern als fiktionale Kriminalfälle.

Für dieses Buch hat der Initiator und Herausgeber Nils Meyer-Selbach 22 Autorinnen und Autoren im Alter von 9 bis 96 Jahren zusammengebracht, deren Geschichten eine Gemeinsamkeit haben: Sie spielen in Ahrensburg – oft an Orten, die vielen Besuchern und Einwohnern Ahrensburgs gut bekannt sind. Neben etablierten Krimiautoren aus der näheren Umgebung haben viele Neu- und Jungautoren zu diesem Buch beigetragen. Ich bin sehr gespannt: Welche Verbrechen gilt es aufzuklären, wie gehen die Ermittler vor, welche Spur führt in die Irre – und wo genau in Ahrensburg sind die Protagonisten unterwegs?

In dieser Form sind Kriminalfälle in unserer Schlossstadt willkommen, und es freut mich sehr, dass nun auch Ahrensburg einen Platz auf der Krimi-Landkarte findet.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Lektüre – und falls Sie unsere schöne Stadt noch nicht kennen, besuchen Sie doch einmal die Originalschauplätze der Geschichten.

Eckart Boege

Bürgermeister der Stadt Ahrensburg

Bernhard Behrendsen Mord in der Cottage SaunaEine Hommage an Philip Marlowe

Es war mal wieder einer dieser verdammten Tage, an dem eigentlich schon alles schiefgegangen war. Ein Tag, der mir obendrein auch noch den restlichen Abend gründlich vermiesen sollte.

Erst hatte ich mir morgens im Auto mit einem Kaffee vom Kiosk mein einziges bügelfreies Hemd versaut, nur weil ich wegen eines senilen Fußgängers scharf bremsen musste, dann hatte ich mich mit diesem überkorrekten Lehrbuchbullen und Kollegen Harry Klein mal wieder heftig über meine Ermittlungsmethoden gestritten, und zu guter Letzt hat mir dann noch irgend so ’ne hysterische Helikoptermutter mit fettem SUV auf dem Supermarktparkplatz laut pöbelnd die Antenne meines geliebten Ford Granada abgebrochen. Und das nur, weil ich für ein paar Minuten auf einem der fünf freien Mutter-und-Kind-­Parkplätze gestanden hatte, um eben meine Tiefkühlpizza für den Abend einzukaufen.

Verdammt, das war jetzt schon die dritte Antenne innerhalb des letzten halben Jahres, und nun regnete es obendrein auch noch Bindfäden.

Ich war nur noch genervt und freute mich auf etwas Entspannung mit ein paar späten Saunagängen in der Cottage Sauna.

20:37 Uhr

Ich wohnte gleich um die Ecke und wäre normalerweise zu Fuß gegangen, aber in Anbetracht des stürmischen und nassen Herbstwetters war ich mit mir übereingekommen, es wäre wohl besser, den Wagen zu nehmen.

Einen Parkplatz hatte ich nur noch ganz am äußersten Ende der Parkfläche gefunden, das beliebte Freizeitbad auf der anderen Straßenseite musste ziemlich voll sein, folgerte ich kriminalistisch.

Mit schnellen Schritten umkurvte ich die größten Pfützen, um meine teuren italienischen Schuhe mit den Ledersohlen nicht zu ruinieren, und stand schließlich an der Fußgängerampel. Ich drückte den Ampelknopf und wartete auf Grün. Wie immer, wenn es in Strömen gießt, passierte eine Weile lang gar nichts, und ich begann schließlich, auf dem Ampelknopf nach dem grünen Männchen zu morsen. Eine Reihe von Autos war bereits an mir vorbeigefahren, bis dann das letzte, ein aufgemotzter Golf III, so dicht an mir vorbeischoss, dass ich von oben bis unten durch das Regenwasser aus einem dieser tiefen Schlaglöcher, die immer an Fußübergängen entstehen, nass gespritzt wurde.

Ich konnte mir das dämliche Grinsen des spätpubertierenden Pickelgesichts hinter dem Steuer bildlich vorstellen und fluchte dem Wagen lauthals hinterher.

Hoffentlich hatte das Schlagloch eine fiese Kerbe in der Alufelge der Karre hinterlassen. Ich zumindest hatte jetzt die Nase endgültig voll, erklärte die Ampel für defekt und rannte zwischen einer größeren Fahrzeug­lücke über die Straße.

„Was für ein lausiges Wetter“, fluchte ich vor mich hin und schob mir meinen Hut zum Schutz gegen den von vorn prasselnden Regen noch tiefer ins Gesicht.

Der Wind pfiff aus Richtung des Schlosses durch den Mühlenredder, und ich zog die Schultern hoch. Die Beleuchtung entlang des Weges war spartanisch, darüber hatten sich schon viele Ahrensburger bei der Stadt beschwert. Im Sommer ein wunderbarer, kühler, von Büschen und Bäumen gesäumter Weg zum Schlosspark, mieden die meisten Fußgänger den Weg im Herbst und Winter.

Zu dunkel und zu schlecht einzusehen, befanden sie, und so war es für mich auch kein Wunder, dass mir hier niemand entgegenkam.

Nur noch wenige Schritte trennten mich von der Sauna­anlage, als ich die Eingangstür knallen hörte. Darüber wird Kowalski sich bestimmt nicht gefreut haben, dachte ich noch.

Klaus Kowalski war der Pächter der Cottage Sauna und ein unbedingter Freund der leisen Töne.

In seiner Sauna wurde kein Lärm gemacht, nicht mal laut geredet, auch nicht im Glasgarten, der den Cottage Pub mit dem Saunabereich verband.

20:43 Uhr

Eine Sekunde später rannte mich ein kräftiger Kerl über den Haufen, der mich im Dunkeln offensichtlich nicht gesehen hatte. Wir beide strauchelten, ich verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Der andere rappelte sich wieder hoch und verschwand hinter mir in der Dunkelheit.

„Was zum Teufel war das denn?“, fluchte ich erneut. Mein ständiges Fluchen war auch so etwas, worüber ich mit Klein beinahe täglich in Streit geriet.

Ich richtete mich auf, wischte mir grob den schlammigen Boden vom Trenchcoat und klopfte meinen Hut aus, bevor ich ihn wieder aufsetzte.

Die wenigen Schritte zum Eingang des Saunagebäudes nahm ich im Sprint und öffnete die Tür.

An der Rezeption war niemand, aber das war nicht ungewöhnlich.

Zu später Stunde, zumindest unter der Woche, war Kowalski in der Regel allein in der Sauna, seine Angestellten schickte er normalerweise gegen acht Uhr abends nach Hause.

Die Sauna lebte wohl größtenteils vom Wochenendgeschäft, denn die Clubs, die sich hier regelmäßig unterhalb der Woche zum gemeinschaftlichen Saunieren trafen, lasteten das Geschäft bestimmt nicht aus.

Heute war, wie jeden Donnerstag nach halb neun, kein Club mehr da und die Sauna normalerweise bis auf ganz wenige Gäste leer. Das war auch der Grund, warum ich an solchen Abenden in die Sauna ging. Ich konnte diese meist schwabbelbäuchigen, selbst ernannten Gesundheitsapostel und deren oberflächliches Gerede nicht ertragen und genoss die Saunagänge lieber allein, oder bestenfalls mit meinem Freund Jim Beam, der mich ab und an heimlich in der Tasche meines Saunakilts begleitete.

Ich schlug die Rezeptionsklingel. Einmal. Nichts. Ich wiederholte das Klingeln, energischer.

Spätestens jetzt wäre Kowalski eigentlich nach vorn gekommen, um sich darüber zu beschweren.

Der kam nicht.

Ich langte über den Tresen, drückte den elektrischen Türöffner und öffnete den Sperrbügel zu den Umkleiden.

„Kowalski?“ Keine Antwort, es blieb still. Ich ging durch die Ankleiden weiter in den Cottage Pub, wo jetzt normalerweise der eine oder andere späte Gast saß. Der Pub und der Glasgarten waren leer.

Außer dem Plätschern des Innenbeckens war nichts zu hören, die Sauna war leer. Aber wo war Kowalski?

Mir wurde heiß, aber das war nicht der Situation geschuldet, dazu war ich zu abgeklärt.

Die Temperatur in dem Gebäude betrug in der Regel angenehme 26 °C, ausreichend für aufgeheizte Saunagänger sowie für die in Badetücher oder Bademäntel gehüllten Gäste, die den Ruhebereich zwischen den Saunagängen genossen.

Ich aber stand mit Trenchcoat, hochgeklapptem Kragen und Hut vor den Eingängen zu den Saunaräumen und kam mir irgendwie fehl am Platz vor.

„Kowalski?“, rief ich wieder. „Kowalski?“

Ich öffnete eine Saunatür nach der anderen, alle Saunen waren leer.

Im Duschbereich lief Wasser aus einem der Duschköpfe, und ich blickte hinein.

Kowalski lag blutüberströmt in der Ecke unter der halb herausgerissenen Halterung des Eiswasserkübels. Der massive Holzeimer war offensichtlich die Tatwaffe, denn dieser steckte noch blutig auf seinem Kopf.

Kowalski stöhnte leise, also lebte er zumindest noch. Ich kniete mich zu ihm hinunter und zog vorsichtig den Holzkübel von seinem Kopf.

Oh Mann, er war übel zugerichtet. Der Täter hatte ihm den Schädel eingeschlagen, ein Wunder, dass er noch lebte. Ich rief mit meinem Diensttelefon Polizei und Notarztwagen und versorgte Kowalski, so gut es mein abgenutztes Erste-Hilfe-Wissen eben hergab.

„Wer war das, Kowalski?“, flüsterte ich in sein Ohr, aus dem Blut floss, das bereits langsam gerann. „Konntest du den Kerl erkennen?“

Kowalski öffnete eines der zugeschwollenen Augen angestrengt zu einem kleinen Schlitz und versuchte zu antworten. „Be…kannter…“, röchelte er. „… von … früh… er…“

„Und weiter?“, bohrte ich. „Sein Name …?“

„… Club …“

Das war’s dann! Kowalski war tot, und ich hatte plötzlich den nächsten Fall an den Hacken.

Erst jetzt bemerkte ich, dass immer noch Wasser lief, und drehte den Hahn zu. Eine gespenstische Stille machte sich breit. Ich nahm eine Zigarette aus meinem Etui und steckte sie mir noch im Duschbereich an. Dass in der Sauna Rauchverbot herrschte, war jetzt auch egal, Kowalski konnte sich ja nicht mehr darüber beschweren, und die nächsten Tage würde hier sowieso kein Saunagast anwesend sein.

Ich zog den Trenchcoat aus, setzte mich auf eine Holzbank am Pool und wartete, Zigarette rauchend, auf Verstärkung.

21:38 Uhr

Meine Kollegen der Polizeistation Ahrensburg waren nach wenigen Minuten am Tatort, zusammen mit dem Notarzt, der, wie nicht anders zu vermuten war, nur noch den Tod Kowalskis feststellen konnte. Das hätte ich ihm auch gleich sagen können.

Die Uniformierten sperrten den Duschbereich ab und riefen anschließend die Spurensicherung.

Anders als in den meisten Kriminalfilmen war der Kommissar diesmal vor ihnen am Tatort, was mir die Arbeit zwar nicht leichter machen würde, aber eine gewisse Genugtuung bereitete. Diese schrägen Typen, die in schlechtem Criminal-Minds-Stil nach Hinweisen und Spuren suchten, waren mir immer zuwider, spätestens dann, wenn sie anfingen zu schlussfolgern und den Profis die Arbeit erschwerten. Warum zur Hölle konnten die sich nicht einfach auf ihre Aufgaben beschränken?

Mein Kollege Klein war da anders gepolt. Der hörte sich sehr gerne Tatortanalysen und Schlussfolgerungen an, so, wie es einem heutzutage auf der Polizeischule beigebracht wird. Auch über diesen Punkt eckten wir regelmäßig an.

Klein stand abseits mit dem Notarzt zusammen und redete mit ihm. Entweder hatte er mich nicht gesehen, oder er ignorierte mich einfach. Kein Wunder, heute waren wir beide ja auch ziemlich heftig aneinandergeraten.

Ich wollte gute Miene zum bösen Spiel machen und ging zu den beiden rüber.

„Na Harry, gibt’s bereits Erkenntnisse?“, fragte ich in der freundlichsten Tonart, die ich unter diesen Umständen hinbekam. Er blickte mich missmutig an. „Was machen Sie denn hier, Mahlow? Ich habe Bereitschaft. Nicht Sie!“ Er wandte sich wieder dem Arzt zu. „Ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand gegen den Schädel war also ausschlaggebend für den Tod des Mannes, richtig?“

„Stimmt“, pflichtete ihm der Mediziner bei.

„Tatzeit?“, wollte Klein wissen.

„So zwischen Viertel nach acht und halb neun“, mischte ich mich ein.

Klein blickte mich erstaunt an. „Woher ...?“

„Ich hab’ ihn gefunden, kurz nachdem ich knapp vor der Eingangstür mit dem mutmaßlichen Täter zusammengestoßen bin!“

„Sie haben den Täter gesehen?“

„Zusammengestoßen“, sagte ich. „Sehen oder gar erkennen kann man ja bei dieser Funzelbeleuchtung da draußen so gut wie gar nichts!“

„Und? Haben Sie wenigstens gleich eine Ringfahndung ausgelöst?“

„Nach wem denn?“, fragte ich jetzt süffisant. „Nach einem Phantom, von dem es keine Beschreibung gibt? Jetzt machen Sie mal halblang, Klein! Das wäre reine Zeitverschwendung!“

„Ach ja?“

Da war er wieder, dieser Ton, der mich regelmäßig auf die Palme brachte. Warum nur in aller Welt musste Klein immer den Kriminalen aus dem Lehrbuch geben?

„Hören Sie, Klein. Es ging rasend schnell. Ein Zusammenstoß im Dunkeln, und weg war der Kerl …“

„Aha, aber dass es ein Mann war, das haben Sie schon gesehen, was?“

„Nun hören Sie doch auf, Mann, ’ne Frau rennt mich nicht einfach über den Haufen, es sei denn, sie wär’ ’ne Schwergewichtsboxerin!“

Die Lust, Klein über die letzten Worte Kowalskis zu informieren, war mir jetzt zunächst vergangen. Kowalski hatte von einem Bekannten von früher gesprochen …und von einem Club. Ich beschloss deshalb, dieser Spur zunächst einfach allein zu folgen. Das lag mir sowieso mehr.

22:27 Uhr

In den Clubs und Nachtbars der Umgebung kannte ich mich aus. Es waren ohnehin nur eine Handvoll in dieser Kleinstadt, ganz anders als in Hamburg, wo ich vor hundert Jahren mal hergekommen war. Den meisten davon traute ich irgendwelche kriminellen Hintergründe oder Verbindungen einfach nicht zu, und so machte ich mich auf in die Nacht, den wenigen noch verbliebenen Spelunken, die infrage kamen, einen Besuch abzustatten.

Der erste Club, den ich ansteuerte, war die Pink Pussy Bar, die von Heinz Pedersen, einem ehemaligen Türsteher von St. Pauli, geführt wurde.

Der Kerl hatte mehr auf dem Kerbholz als alle Kleinganoven aus Ahrensburg zusammengenommen, und deshalb beschloss ich, hier mit meinen Ermittlungen zu beginnen.

Ich parkte meinen Wagen im Halteverbot einer kleinen Seitenstraße in der Nähe des Clubs und spurtete durch den immer noch starken Regen bis hin zur schweren Eingangstür des Etablissements und klopfte an. Ein kleiner Schlitz wurde aufgezogen, ich wurde kurz gemustert, und gleich darauf ging die Tür auf.

Ein fetter, glatzköpfiger Hüne mit einem Tattoo auf dem Schädel stand vor mir.

„Du bist ’n Bulle, das riech’ ich gegen Wind! Was willst du hier?“

Das Schoßhündchen musste neu sein, er kannte mich nicht.

Ich blieb ganz cool, tastete aber vorsorglich nach meiner Dienstwaffe im Schulterholster.

„Ist Pedersen da?“

Heinz Pedersen, genannt „Pitbull“ Pedersen, kannte ich bereits aus meiner Hamburger Zeit, als er noch als zweitklassiger Boxer und Türsteher sein Geld im Rotlichtmilieu von St. Pauli verdiente.

Der Hüne nickte in Richtung des Tresens. „Dahinten inner Ecke.“

Ich schlenderte betont langsam durch den Club und scannte dabei die Gäste in den schweren Clubsesseln. Alles Kerle, insgesamt nicht mehr als eine Handvoll, und alle sahen sie aus wie Staubsaugervertreter auf der Durchreise. An der Stange bewegte sich eine gelangweilte Stripperin zu einem geleierten „Black Velvet“ vom Band, die anderen Girls saßen am Tresen und warteten auf den Feierabend.

Am Ende der Bar in einem VIP-Rondell aus rotem Lackleder saß Pedersen und amüsierte sich mit einer platinblonden, nur spärlich bekleideten Schönheit, die genau in Pedersens Beuteschema passte. Als er mich sah, stieß er das Mädchen von sich und winkte mich zu sich. Die Kleine schob schmollend ab.

„Mahlow“, begrüßte er mich mit breitem Hamburger Slang. „Was treibt dich denn hierher in mein Etablissemeng? Bissu dienstlich hier, oder willst’ dich amüsier’n?“ Er schnippte mit dem Finger in Richtung des Tresens. „Antonio, bring dem Hauptkommissar ’n Herrengedeck hier rüber.“

Und mich grinste er an: „Bist eingeladen, Herr Kommissar …“

Antonio kam mit Bier und Korn und stellte das Tablett vor mir ab. Ich kippte den Kurzen und nahm einen langen Zug aus dem Glas.

„Es gab einen Mord heute Abend“, antwortete ich schließlich. „Das Opfer ist Klaus Kowalski.“

„Der Typ vonne Sauna?“ Pedersen blickte erstaunt. „Und wie kann ich dir dabei helfen?“

„Kowalski flüsterte, kurz bevor er starb, noch das Wort ,Club‘. Ich dachte, du wüsstest vielleicht, ob hier irgendwer Streit mit Kowalski hatte, bist doch sonst immer so gut informiert.“

Pedersen kniff die Augen zusammen. „Mach mal halblang, Mahlow! Seit ich von ’n Kiez wech bin, hab ich mir nix mehr zuschulden kommen lassen. Das kann ich mir als Geschäftsmann gar nicht mehr leisten. Ich kenn’ kein’, der mit dem Typ Streit hadde. So, und nu muss ich arbeiten. Den Weg raus kennst’ ja, ist der gleiche wie rein!“

Das war ein Rauswurf!

Ich glaubte Pedersen. Der war zwar ’n harter Hund, aber er log nicht. Wenn der etwas gewusst hätte, dann hätte er es mir erzählt.

Ich verließ die Pink Pussy Bar, lief durch den strömenden Regen zurück zu meinem Wagen und setzte mich auf die Rückbank. Das machte ich immer so, wenn ich überlegen musste.

So viele Nachtclubs gab’s nicht in Ahrensburg, was aber, wenn es gar kein Nachtclub war, oder einer von außerhalb? Ich grübelte. Kowalski war irgendwie nicht der Typ gewesen, der in die Szene passte. Was für einen Club und welchen Bekannten von früher könnte er gemeint haben?

Okay, die Nacht war noch jung, und so entschied ich mich, auch den anderen einschlägigen Bars einen Besuch abzustatten.

22:43 Uhr

Ich quälte mich ungelenk über die Rückenlehne auf den Fahrersitz und startete den Wagen.

Mein nächstes Ziel war das Stormarner Eck, eine harmlos klingende, aber ziemlich heruntergekommene Kneipe mit üblem Publikum am Rande des Bahnhofsviertels.

Okay, hier sollte man sich um diese Uhrzeit besser nicht allein herumtreiben, aber ich war ja in Begleitung meiner SIG Sauer P6. Das gute Stück begleitete mich bereits seit Jahren, und bislang hatte ich mich erfolgreich gegen den Tausch mit der modernen Walther P99 Q gewehrt.

Die P6 war seit Jahren auch das einzig Weibliche, das mit mir in einem Bett schlafen durfte.

Ich parkte auf dem jetzt leeren Park-&-Ride-Parkplatz am Bahnhof, obwohl ich auf die andere Seite des Bahnhofs musste. Das war, sozusagen, meine Lebensversicherung, denn sollte ich im Stormarner Eck irgendwie Probleme bekommen, hätte ich entweder durch die Unterführung oder – wenn nötig – sogar direkt über die Gleise verschwinden können.

Die Kneipe hatte nicht umsonst einen miesen Ruf.

Wer hier das Sagen hatte, war unklar, man munkelte über Verbindung zur Russenmafia, über Geldwäsche, illegales Glücksspiel, Prostitution, das ganze Programm also, und Bullen waren hier nicht gern gesehen. Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube öffnete ich die Tür. Vielleicht lag es daran, dass ich seit heute Mittag nur einen Börek aus dem Emir Palace von Serhat Yilmaz gegessen hatte und Lütt und Lütt von ,Pitbull‘ Pedersen jetzt seine Wirkung zeigten, vielleicht war es aber auch mein Instinkt, der mir dieses Gefühl verpasste.

Egal, was es auch war, ich musste vorsichtig sein.

Der Raum war völlig verqualmt und dunkel. Ich musste unweigerlich an russischen Machorka-Tabak denken, von dem mein Opa, als er aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt war, immer erzählt hatte. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten. Ich blieb am Eingang stehen und verschaffte mir einen Überblick.

Der Laden war noch leerer als der Pink Pussy Club, und als man mich sah, verstummte die Unterhaltung der Männer abrupt.

„Geschlossene Veranstaltung“, zischte einer der Kerle mit auffällig russischem Dialekt. „Verpiss dich, Kumpel, bevor es hier ungemütlich für dich wird!“

„Sorry Leute, ich will euch nur ein paar Fragen stellen, keine Sorge, mehr nicht.“

Das ungute Gefühl in meiner Magengrube verstärkte sich.

„Bist ’n Schnüffler, was? Okay, was willst du?“

„Kennt ihr den Betreiber der Cottage Sauna? Kowalski? Klaus Kowalski?“

„Wieso?“, kam die Stimme aus dem Halbdunkel. „Ist was mit ihm?“

„Ja,“, erwiderte ich nun mutiger. „Er ist tot!“

„Und wer hat ihn tot gemacht?“

Unwillkürlich musste ich grinsen.

„Tot gemacht“ klang in diesem Zusammenhang irgendwie eigenartig.

„Das versuche ich ja herauszufinden. Könnt ihr mir irgendwas sagen, was mir weiterhelfen könnte?“

„Tovarishch, ich kenn’ den Typen, der hat hier früher am Bahnhof angeschafft. Ist aber schon ’ne Ewigkeit her. Irgendwann war er plötzlich verschwunden, und dann tauchte er eines Tages in der Sauna wieder auf. Das ist alles, was ich weiß, Schnüffler, okay? Und nu’ sieh zu, dass du Land gewinnst!“

Okay, das sollte mir reichen, bloß die Geduld der Typen nicht überstrapazieren.

Bis jetzt war schließlich alles gut gegangen, und das sollte möglichst auch so bleiben.

Ich ging langsam rückwärts zur Tür und behielt dabei den Raum im Auge.

„Spasibo, mein Freund, bin schon weg!“

23:19 Uhr

Draußen vor der Tür holte ich tief Luft.

Kowalski ein Stricher? Und wer konnte ein Motiv haben, ihn umzubringen? Stand der Mord überhaupt mit seiner Vergangenheit in Verbindung? Fragen über Fragen, ich musste irgendwie meinen Kopf klarkriegen, um in diesem Fall weiterzukommen.

Ich steckte mir eine Zigarette an und ging zurück zu meinem Wagen. Die beiden Läden waren sauber, da war ich mir sicher, aber gleichzeitig gingen mir die Ideen aus, wo ich noch weitersuchen sollte.

Ahrensburg war eine nette Stadt, kriminaltechnisch aber ein eher unbeschriebenes Blatt.

Klar, es gab die übliche Kleinkriminalität, wie Autodiebstahl, Einbruch, und andere kleinere Delikte wie Ladendiebstahl oder Handtaschenraub, aber Kapitalverbrechen wie Mord oder Totschlag existierten quasi nicht. Das letzte Tötungsdelikt lag Jahre zurück, das war ja auch der Grund gewesen, weshalb ich mich vor Jahren von Hamburg hierher hatte versetzen lassen.

Ich liebte diese verstaubte, leicht spießige Stadt, deren Bewohner sich mit Hingabe und über Jahre hinweg mit den Kommunalpolitikern wegen einer bunten Fiberglasplastik mit dem eigenartigen Titel Der Muschelläufer streiten konnten.

Ich setzte mich wieder hinter das Lenkrad meines Wagens, startete den Motor und fuhr einfach los. Beim Fahren kamen mir oftmals die besten Ideen, und ich konnte in Ruhe meine Gedanken sortieren. Das Nachtprogramm im Autoradio spielte Swingmusik der 40er-Jahre, meine Lieblingsmusik mit Frankieboy Sinatra, Cab Calloway und Fred Astaire, und ich kam langsam wieder runter.

Über drei Stunden fuhr ich kreuz und quer durch die leer gefegte nächtliche Innenstadt. Der Regen prasselte auf meine Windschutzscheibe, und die Wischerblätter hinterließen Schlieren, in denen sich die Lichter der Leuchtreklamen und Ampeln brachen. Okay, es war zwar nicht die große Stadt, die ich aus früheren Zeiten kannte, und die Straßen waren auch nicht so groß und lang, aber die bunten Lichter brachten Erinnerungen an den Kiez zurück.

Schließlich hatte ich auch meine letzte Zigarette aufgeraucht und warf die zerknüllte Packung in den Fußraum der Beifahrerseite. Da lagen schon mehrere davon herum, zusammen mit Kaffeebechern aus Pappe, und der Aschenbecher quoll auch über.

Ich müsste mal wieder sauber machen, dachte ich.

Und neue Zigaretten und ein heißer Kaffee würden mir jetzt auch guttun.

Beides bekam ich um diese Uhrzeit nur noch an der Tanke.

Meine Lieblingstankstelle hatte rund um die Uhr geöffnet und war nicht weit entfernt.

Außerdem hatte ich von den nächtlichen Straßen Ahrensburgs jetzt auch genug gesehen, und viel weiter war ich mit meinen Gedankenspielen bislang auch nicht gekommen.

02:23 Uhr

Die Großtankstelle mit dem bunten Stern im Emblem war auch zu dieser Nachtzeit hell erleuchtet. Außer mir gab es keinen anderen Kunden auf dem gesamten Gelände, und zusammen mit dem Regen, der Dunkelheit herum und dem ungemütlichen Wind wirkte die Szenerie irgendwie trostlos. Ich parkte dicht an der Automatiktür zum Verkaufsraum, stieg aus und winkte dem Nachtkassierer durch die Scheibe zu.

Er erkannte mich und öffnete, entgegen den Vorschriften, die Tür. Obwohl ich nun schon so lange hierherkam, kannte ich seinen Namen nur von dem Plastikschild, das an seinem Diensthemd befestigt war.

„Wie immer?“, fragte er schläfrig.

„Wie immer, Kurt!“, antwortete ich.

„Geht los, gib’ mir ’ne Minute.“

Er warf mir meine Schachtel Zigaretten zu, nahm die gläserne Kanne von der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine und stellte sie zusammen mit einem Pappbecher vor mir auf dem Stehtisch ab.

„Bedien’ dich, Mahlow.“

Ich steckte mir erst eine Zigarette an und nahm dann einen großen Schluck von dem schwarzen Gebräu. So bitter, wie der Kaffee schmeckte, musste er schon seit Stunden auf der Platte gestanden haben.

„Scheiße Kurt, der ist ja scheußlich!“, beschwerte ich mich.

„Was erwartest du denn um diese Uhrzeit?“, antwortete Kurt und zuckte nur mit den Schultern. „Brauchst ihn ja nicht zu trinken! Sei froh, dass ich dich überhaupt reingelassen hab’.“

Egal wie der Kaffee auch schmeckte, er zeigte Wirkung. Mein Hirn kam langsam wieder in Gang, auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wie ich weitermachen sollte.

Ich rauchte noch eine zweite Zigarette und verließ dann schweigend den Shop.

„Kannst ruhig auch mal danke sagen, Mahlow“, rief Kurt mir hinterher.

03:05 Uhr

Irgendwie sagte mir mein Instinkt, dass ich noch mal zurück in die Sauna musste. Die Kollegen waren garantiert schon lange verschwunden, und ich konnte mich dort jetzt ungestört umsehen.

Von der Tankstelle bis zum Tatort waren es nur wenige Hundert Meter die Straße hinunter, und diesmal parkte ich auf dem leeren Parkplatz direkt am Mühlenredder.

Es hatte endlich aufgehört zu regnen, und als ich aus dem Auto ausstieg, war es unwirklich still. Beim Gehen hörte ich nichts außer den Sohlen meiner Schuhe, die leise auf dem Sandweg knirschten.

Die Sauna lag im Dunkeln.

Die Eingangstür war mit einem Polizeisiegel verschlossen, aber bei genauerem Hinsehen konnte ich erkennen, dass es mit einem scharfen Gegenstand gebrochen worden war. Ich schloss auf eine Rasierklinge oder ein Messer mit schlanker Klinge, so wie diese verbotenen Einhandmesser, mit denen sich halbstarke Möchtegernganoven gern als Gangsterrapper in den sozialen Netzwerken darstellen.

Meine innere Alarmsirene sprang augenblicklich an, und meine Hand griff in den Schulterholster. Die P6 in der Hand gab mir Sicherheit.

Vorsichtig öffnete ich die Tür.

Der Eingangsbereich war dunkel.

Ich lauschte hinein.

Es war nichts zu hören.

Mit gezogener Waffe schlüpfte ich durch die Tür und schloss sie so leise, wie ich konnte.

Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, und ich bewegte mich vorsichtig weiter.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch, das aus dem Büro hinter dem Tresen zu kommen schien.

Ich blieb stehen.

War da was gewesen?

Ja, ich hörte das Geräusch noch mal.

Es klang, als ob Schubladen aufgezogen und wieder zugeschoben wurden.

Da suchte doch jemand nach was.

Meine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, als ich mich um den Tresen herum anschlich.

Da war ein Lichtstrahl.

Schlank, scharf abgegrenzt, ein Lichtschwert, geworfen von einer kleinen Taschenlampe.

Von der Statur her könnte das der Kerl von vorhin sein.

Aber was suchte der jetzt hier?

Die alte Polizeiweisheit, dass der Täter immer zum Tatort zurückkehrt, schien sich auch hier zu bewahrheiten. Ich ging zum Angriff über.

„Hände hoch, Polizei“, rief ich den Typen an. Der zuckte nur kurz zusammen und erstarrte dann.

„Ganz langsam, mein Freund. Ich will deine Hände sehen, mach keinen Scheiß, ich hab’ die Waffe auf dich gerichtet!“

Dem Typ ging die Flatter. „Nicht schießen bitte, ich geb’ auf!“

Das schien ja ’ne einfache Sache zu werden, denn Schneid hatte der Typ keinen.

Ich schaltete das Licht ein.

Vor mir stand ein Kerl, der jetzt auch noch anfing zu heulen.

„Ich wollte das nicht!“, schluchzte er. „Ich wollte doch nur mit ihm reden, aber dann ist irgendwie alles schiefgegangen.“

Noch so jemand also, bei dem alles schiefgegangen war, willkommen im Club.

Aber was für ein Weichei! Erst jemanden umbringen und dann das große Flennen kriegen.

Was war bloß aus den Kriminellen von heute geworden? Die konnten doch nicht alle nur ’ne schlechte Kindheit gehabt haben.

„Wie heißt du?“, fragte ich das heulende Elend, nachdem ich es mit Handschellen an der Heizung angekettet hatte. Mit meiner Vermutung wegen des Polizeisiegels an der Eingangstür hatte ich übrigens recht, in seiner Hosentasche steckte ein Balisong, ein in Deutschland verbotenes Butterflymesser.

„Markmann, Siegfried Markmann“, schaffte er noch zu sagen, bevor er wieder losheulte.

Oh Mann, der Typ ging mir jetzt schon auf die Nerven.

„Und was suchst du hier um diese Zeit?“

Ich brauchte nicht mehr weiter zu fragen, denn jetzt sprudelte es aus dem Mann nur so heraus.

„Ich kenne Kowalski von früher. Ich wusste nicht, dass er diese Sauna betreibt. Ich bin nach einigen Jahren im Ausland wieder hierhergezogen und habe mich vor ein paar Monaten einer Saunagruppe angeschlossen. Die Schwitzbuben treffen sich hier einmal die Woche zum Saunieren. Kowalski hat mich gleich bei meinem ersten Besuch wiedererkannt. Scheiße Mann, ich bin schwul und war vor ewigen Jahren einer seiner Freier. Aber das ist doch schon so lange her. Heute lebe ich ein ganz normales Leben als Single, hab’ ’n guten Job, ’ne schöne Wohnung, Freunde …“

Markmann stockte kurz.

„Kowalski fing an, mich zu erpressen. Er drohte damit, meine Vergangenheit öffentlich zu machen, wenn ich nicht zahle. Stellen Sie sich das doch nur mal vor: Kleiner Schwuli in ’ner Männersauna. Das wär’ doch mein gesellschaftliches Ende gewesen. Erst waren es nur kleine Beträge, die er von mir forderte, aber dann wurde Kowalski immer gieriger. Meine Ersparnisse waren schnell abgeräumt, und deswegen wollte ich ihn gestern Abend zur Rede stellen. Ich habe ihm mit der Polizei gedroht, aber Kowalski hat nur gelacht. Dann geh’ doch, wenn du dich traust, hat er gesagt. Dann kannste aber auch gleich von hier verschwinden, dann bist du nämlich erledigt! Und dann lachte er nur noch. Da sind mir die Sicherungen durchgebrannt. Ich riss den Eiskübel von der Halterung und schlug zu. Ich wollte nur, dass er aufhört, verstehen Sie? Er sollte nur aufhören …“

„Und warum sind Sie noch mal zurückgekommen?“

„Kowalski hatte mir gesagt, er hätte Fotos von mir, von früher – in eindeutigen Situationen. Die wollte er den Männern vom Saunaclub zeigen, wenn ich zur Polizei gehe. Scheiße, ich brauchte doch diese Fotos …“

05:38 Uhr

Nachdem ich mir die Geschichte von Markmann zu Ende angehört hatte, wählte ich die Mobilnummer von Klein, der völlig verschlafen das Gespräch annahm. Ich erklärte ihm kurz die Situation und grinste dabei bis über beide Ohren, weil ich mir sein dämliches Gesicht so richtig vorstellen konnte.

Ich ließ Markmann, der überhaupt keine Anstalten machte zu fliehen, allein zurück und verließ die Sauna. Ich war einfach zu alt für nächtelange Ermittlungen geworden, und diese Nacht war schon viel zu lang gewesen.

Der Fall war gelöst, um den Rest konnte sich Klein jetzt gerne kümmern.

Ich wollte nur noch nach Hause, nach Hause ins Bett und mich ausschlafen.

Jörg Dierkes Die Ketchup-Brüder

Prolog

Ahrensburg, 11. Januar 2018, 03:20 Uhr im Schlosspark

Es war bitterkalt in dieser Nacht, und Schnee begann auf den Boden zu fallen. Innerhalb weniger Minuten war der Ahrensburger Schlosspark mit Schnee bedeckt. Er kniff die Augen gegen den Schnee zusammen. Seine Hände zitterten trotz der Handschuhe, doch das lag nicht an der Eiseskälte, denn er hielt eine Pistole in der Hand. Tränen kullerten seine Wangen herunter. Er flüsterte: „Ich liebe dich!“ Im selben Moment richtete er die Pistole auf den Mann, der mit dem Rücken zu ihm in zehn Meter Entfernung stand, und drückte ab. Einmal, zweimal, dreimal. Alle drei Schüsse trafen den Mann in den Rücken. Der kippte nach vorne in den Schnee und war auf der Stelle tot. Schnell war der Schnee rot getränkt. Er war entsetzt über seine Tat und glaubte, sich übergeben zu müssen. Dann rannte er davon.

Kapitel 1

Ahrensburg, 08. April 2019

Ich saß in meinem Büro und schaute nachdenklich auf meine Visitenkarte. Fabian Ahrens, Ihr Privatdetektiv in Ahrensburg – professionell und diskret las ich dort. Vor nunmehr drei Monaten hatte ich den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt, trotz meiner erst dreißig Jahre. Doch meine Auftragslage war miserabel, dafür passierte schlicht zu wenig in dieser verdammten Kleinstadt.

Mir gegenüber saß Jacky. Meine Sekretärin war gerade dabei, einen Briefumschlag zu öffnen. Hervor holte sie einen handgeschriebenen Brief und ein Bündel Fünfhunderteuroscheine. Als sie die Geldscheine gezählt hatte, sagte sie lapidar: „Fünftausend Euro!“

Ich bekam große Augen. „Gib mal her!“, bat ich Jacky, worauf sie mir Brief und Geld zuwarf.

Hastig überflog ich das Schreiben. Dann blickte ich Jacky an. „Hör mal, was hier steht!“ Ich fing an, den Brief vorzulesen. „Lieber Herr Ahrens, ich wende mich an Sie mit der Bitte, Ermittlungen anzustellen, die die Unschuld von Sören Bloch belegen. Er sitzt im Gefängnis ein, weil er seinen Bruder Hagen ermordet haben soll. Doch er ist nicht der Täter! Ihre Ergebnisse übergeben Sie bitte der Polizei. Betrachten Sie das beigelegte Geld als Anzahlung. Im Erfolgsfall erhalten Sie weitere 20.000 €. Mit herzlichen Grüßen Anonym.“

„Fabi, dein erster richtiger Fall!“, jubelte Jacky.

Mit der Aussicht auf so viel Geld nahm ich sogleich die Ermittlungen auf. Sorgsam betrachtete ich den Brief. Die Handschrift war schön und elegant, hier war zweifellos eine Frau am Werk gewesen.

„Kannst du dich an den Mordfall erinnern?“, fragte ich Jacky, die ihr ganzes Leben in Ahrensburg verbracht hatte, während ich erst seit kurzer Zeit hier wohnte.

„Na klar! War eine Riesensache. Du kennst doch PABLO Ketchup, oder?“

Ich nickte. „Der leckere Gewürzketchup aus Ahrensburg.“

„Der kürzlich verstorbene Paul Bloch war der Gründer des Ketchup-Unternehmens“, fuhr Jacky fort. „Er hat drei Söhne gehabt. Anfang letzten Jahres hat der jüngste Sohn den ältesten nachts im Schlosspark erschossen. Für diese Tat ist er zu lebenslanger Haft verurteilt worden.“

Weitergehende Informationen fand ich im Internet, das voll von Artikeln über Familie Bloch und den Brudermord war. Demnach war Hagen Bloch fünfzig Jahre alt gewesen, als er durch drei Schüsse in den Rücken getötet wurde. Am Tatort fand man ein Stofftaschentuch mit den Initialen SB. Es gehörte dem siebenunddreißigjährigen Sören Bloch, genauso wie die Tatwaffe, die in seiner Wohnung sichergestellt wurde. Als Verursacher der Schuhabdrücke am Tatort identifizierte die Polizei obendrein Schuhe, die sich in Sörens Besitz befanden. Und zu guter Letzt hatte der alleinstehende Halbbruder von Hagen und Frank kein Alibi für die Tatnacht.

Frank, der mittlere Sohn, war zwei Jahre jünger als der Ermordete. 2010 hatte Paul Bloch die Geschäftsführung der PABLO Ketchup GmbH an seine drei Söhne übergeben. In den Jahren danach stritten Hagen und Sören vehement um Macht und Einfluss im Unternehmen. Laut Staatsanwaltschaft eskalierte der Streit zwischen den beiden und führte schlussendlich zum Mord.

Mit Norman Potthoff gab es eine weitere Person, die in den Fokus der Polizei geraten war, wenn auch nur kurzzeitig. Hagen und Norman waren vier Jahre lang ein Paar gewesen, bevor Hagen die Beziehung wenige Monate vor seinem Tod beendete. Doch angesichts seines wasserdichten Alibis wurden die Ermittlungen gegen Norman wieder eingestellt.

Über den mittleren Sohn konnte ich nicht viel in Erfahrung bringen. Frank war mehr als zwanzig Jahre verheiratet. Er und seine Frau Anna hatten einen Sohn. Seit Hagens Tod und Sörens Verurteilung war Frank der alleinige Geschäftsführer der PABLO Ketchup GmbH.

Kapitel 2Lübeck/Ahrensburg, 10. April 2019

Zwei Tage später saß ich im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt Lübeck, als Sören Bloch und sein Anwalt Dr. Günes den Raum betraten. Jacky hatte diesen Termin kurzfristig vereinbart. Kurz musterte ich den Häftling. Mit seinen leuchtenden Augen und der drahtigen, hageren Figur wirkte er wie ein Naturbursche aus dem Outdoor-­Katalog.

Ich erzählte Sören und Dr. Günes von dem anonymen Brief. Die beiden horchten auf, offenbar schöpften sie Hoffnung. Gleich darauf stellte ich meine erste Frage: „Was für ein Typ war Hagen?“

„Hagen war rastlos und ehrgeizig“, erwiderte Sören. „Er hat viel gearbeitet, oft bis in die Nacht hinein. Zugleich war er ein sportlich aktiver und geselliger Mensch.“

„Klingt, als sei er beliebt gewesen“, hakte ich nach.

Sören schüttelte den Kopf. „Das war er sicherlich nicht. Hagen wurde schnell aufbrausend, wenn jemand eine andere Meinung hatte. Er musste ständig das letzte Wort haben.“

„Sie und Hagen hatten oft Auseinandersetzungen“, fügte ich hinzu.

Sören lachte verbittert auf. „Ja, wir waren wegen der Firma im Dauerclinch. Privat war unser Verhältnis etwas besser. Unsere Freundeskreise haben sich zum Teil überschnitten.“

„Und wie ist Ihr anderer Halbbruder?“, wollte ich wissen.

„Frank ist genau das Gegenteil von Hagen: Zurückhaltend, fast schüchtern. Er versucht, jedem Streit aus dem Weg zu gehen, und lebt dazu sehr zurückgezogen.“

Ich machte mir ein paar Notizen, bevor ich weiter fragte: „Was macht Ihre Schwägerin beruflich?“

„Anna ist Hausfrau und Mutter“, gab Sören zurück.

Danach kam ich noch einmal auf das Familienunternehmen zu sprechen. „Bitte schildern Sie mir kurz, wie innerhalb der Geschäftsführung Beschlüsse getroffen wurden, als Frank, Hagen und Sie sich noch die Leitung teilten.“

„Entscheidungen und Beschlüsse haben wir nach dem Mehrheitsprinzip getroffen“, erklärte Sören. „Das heißt, wenn mindestens zwei von uns derselben Auffassung waren, wurde es auch so gemacht.“

„Und wenn Sie und Hagen unterschiedlicher Ansicht waren, auf welche Seite schlug Frank sich dann meistens?“, bohrte ich nach.

Sören machte ein finsteres Gesicht. „In der Regel auf Hagens Seite. Somit war ich überstimmt. Ich hatte manchmal das Gefühl, Frank hat Angst vor Hagen.“

„Was wissen Sie über Norman Potthoff?“

„Norman ist ein lustiger Vogel.“ Sören lachte das erste Mal. „Ich mag ihn. Er gehört zu meinem erweiterten Bekanntenkreis. Hagen hat ihn auf einer meiner Partys kennengelernt.“

„Mal angenommen, Sie waren nicht der Täter. Dann muss Ihnen irgendjemand die Tat in die Schuhe geschoben haben. Die erdrückenden Beweise gegen Sie, sprich die Tatwaffe, das Stofftaschentuch und die Schuhe, lassen in dem Fall nur eine Schlussfolgerung zu: Diese Person hat sich in Ihrer Wohnung ausgekannt, und dafür kommen nur Angehörige sowie Freunde und Bekannte infrage.“

Sören schaute leicht resigniert. „Darüber zerbreche ich mir schon länger den Kopf. Die Anzahl der infrage kommenden Personen ist leider relativ hoch, ich habe häufig große Partys in meiner Wohnung veranstaltet.“

Am Ende versprach ich Sören und Dr. Günes, alles dafür zu tun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Am späten Nachmittag kam ich zurück nach Ahrensburg und suchte Norman Potthoff auf. Seine Wohnung lag im Zentrum, in der Großen Straße. Als er nach meinem Klingeln die Wohnungstür öffnete, stockte ich für einen kurzen Moment. Norman war knallbunt angezogen. Ich kam mir plötzlich ziemlich spießig vor in meiner Bluejeans.

Ich erklärte den Grund meines Besuchs, woraufhin Norman mich in seine elegante, mit viel Plüsch eingerichtete Penthouse-Wohnung bat. Im Wohnzimmer ließ ich mich in ein Sofa mit gefühlt tausend Kissen fallen.

Da Norman mich von Anfang an duzte, tat ich es ihm gleich, als ich mit der Befragung begann. „Wann genau hat Hagen eure Beziehung beendet?“

„Du bist aber direkt, mein Hase“ lachte Norman, nur um im gleichen Moment traurig mit dem Kopf zu schütteln. „Auf den Tag genau drei Monate vor seiner Ermordung. Beides war für mich ein Schock. Hagen war meine große Liebe, musst du wissen.“

„Hat Hagen sich in den Monaten vor der Trennung anders verhalten als sonst?“

Norman überlegte einen Augenblick. „Ja, ein bisschen merkwürdig war Hagen zu der Zeit schon. Er wirkte abwesend und wollte ständig seine Ruhe haben. Und das Handballspielen hat er aufgegeben, ohne einen Grund zu nennen. Handball war immer seine große Leidenschaft, er hat bei den Alten Herren vom ATSV gespielt.“

Ich wechselte das Thema. „Wovon lebst du?“, fragte ich ungeniert.

„Herrje, von Luft und Liebe“, antworte Norman und legte eine theatralische Pause ein. „Ich habe vor einem Jahr geerbt. Von Hagen, wenn du es genau wissen willst. Ich war selbst ziemlich überrascht von der Erbschaft.“

Ich war erstaunt, dass Norman so offen zu mir war. Entweder hatte er nichts zu verbergen, oder aber er wiegte sich angesichts seines Alibis in Sicherheit.

Bald darauf machte ich mich auf den Weg zu Frank Bloch, ich wollte seine Sicht der Dinge erfahren. Gegen acht Uhr abends stand ich vor seinem Anwesen im Villen-Viertel von Ahrensburg. Nach mehrmaligem Klingeln meldete Frank sich über die Außensprechanlage. Als ich ihm erklärte, dass ich den Mord an seinem Bruder untersuche, unterbrach er mich schroff: „Der Fall ist abgeschlossen. Ich sehe daher keine Notwendigkeit, mit Ihnen zu reden. Auf Wiedersehen.“

Ich hatte nicht erwartet, so brüsk abgewiesen zu werden. Enttäuscht setzte ich mich ins Auto, schnappte mir das Smartphone und fand im Internet heraus, dass Hagens ehemalige Handball-Mannschaft gerade Training hatte. Spontan beschloss ich vorbeizufahren.

Dort verwickelte ich den Trainer in ein Gespräch und fragte ihn ganz beiläufig, warum Hagen so plötzlich mit dem Handballspielen aufgehört hatte.

Seine Antwort ließ mich aufhorchen, denn er sagte: „Die gesamte Mannschaft war total überrascht darüber. Hagen meinte lediglich, sein Körper halte die Strapazen nicht mehr aus. Zuvor hatte er hin und wieder über Schmerzen geklagt, daran kann ich mich noch erinnern.“

Die weiteren Informationen des Trainers waren weniger interessant, sodass ich mich kurz danach verabschiedete.

Kapitel 3Ahrensburg, 11./12. April 2019

Am nächsten Morgen rief ich im Lübecker Gefängnis an. Ich hatte Glück und durfte mit Sören sprechen. So erfuhr ich, dass die gesamte Familie Bloch über Jahrzehnte vom gleichen Hausarzt, dem Internisten Dr. Klein, betreut wurde.

Anschließend fuhr ich ins Büro, wo Jacky Neuigkeiten für mich hatte. „Ich habe gestern zufällig einen Bekannten getroffen, der bei PABLO arbeitet“, erklärte sie. „Er glaubt, Frank ist mit der Leitung des Unternehmens überfordert. In der Belegschaft munkelt man, dass er ein Alkoholproblem hat. Und seine Frau soll sogar in der Klapse gewesen sein.“

Ich nickte zufrieden angesichts dieser Informationen. Dann wechselte ich das Thema. „Ich habe eine heikle Aufgabe für dich, liebe Jacky. Deine Freundin Conny arbeitet doch als Arzthelferin bei Dr. Klein. Frag sie bitte mal, ob Hagen Bloch schwerer erkrankt war, speziell in dem Jahr vor seinem Tod.“

Kurzerhand verabredete Jacky sich mit Conny zum Mittagstisch. Gegen dreizehn Uhr kam Jacky ganz aufgeregt zurück. „Stell dir vor“, platzte es aus ihr heraus. „Hagen Bloch war unheilbar krank, zum Zeitpunkt seiner Ermordung hätte er nur noch ein paar Monate zu leben gehabt. Conny hat sich erst geziert, doch dann hat sie es mir verraten.“

Ich war sprachlos, aber nur kurz. „Was hat er denn gehabt?“

„Prostatakrebs“, antwortete Jacky. „Er muss unter Bewegungsstörungen und ziemlichen Schmerzen gelitten haben.“

„Aha, das erklärt womöglich das Ende seiner aktiven Handball-Zeit sowie die Trennung von Norman“, folgerte ich.

Ich rief Norman an, fragte ihn, ob er von der Krankheit seines Ex-Freundes gewusst hatte. Doch Norman war sehr überrascht und verneinte die Frage. Sören und sein Rechtsanwalt antworteten in der gleichen Weise. Dr. Günes ergänzte, dass damals bei der Obduktion der Leiche nichts dergleichen festgestellt worden sei. Wer wusste von der Krankheit, fragte ich mich. Und überhaupt, was hatte diese Krankheit mit dem Mord zu tun?

Am Abend legte ich mich früh ins Bett. Doch meine Gedanken kreisten unentwegt um den Mordfall. Ich spürte, dass ich mich intensiver mit Frank Bloch beschäftigen musste. Da mir nichts Besseres einfiel, beschloss ich, ihn und seine Frau ab morgen zu beschatten.

In aller Frühe brachten Jacky und ich uns in der Nähe der Bloch-Villa in Stellung. Wir hatten uns die Observation aufgeteilt. Jacky war für Frank zuständig, ich für Anna.

Die verließ gegen elf Uhr vormittags das Haus und ging zu Fuß in Richtung Zentrum. Ich folgte ihr unauffällig. In der Hagener Allee betrat sie erst einen Feinkostladen, dann eine Buchhandlung. Anschließend suchte sie einen Supermarkt im City Center auf, den sie eine halbe Stunde später mit einer vollen Einkaufstasche unter dem Arm verließ. Im Vorbeigehen ließ sie – wohl absichtlich – ihren Einkaufszettel auf den Boden fallen. Ich hob ihn instinktiv auf und warf einen Blick darauf. Sogleich zuckte ich zusammen. Es gab keinen Zweifel, der Einkaufszettel und der anonyme Brief waren in derselben Handschrift geschrieben. Danach fuhr Anna mit dem Taxi zurück zur Villa, die sie an diesem Tag auch nicht mehr verließ.

Gegen einundzwanzig Uhr trafen Jacky und ich uns im Büro und tauschten unsere Beobachtungen aus. Jackys Bericht fiel recht knapp aus. Frank war am Morgen direkt zur Arbeit gefahren und hatte die Firma erst gegen neunzehn Uhr wieder verlassen, um nach Hause zu fahren. Dort blieb er für den Rest des Abends.

„Wenn Anna die Verfasserin des anonymen Briefes ist, dann weiß sie auch, wer der Mörder ist“, sagte ich.

„Am besten, wir befragen Anna selbst“, schlug Jacky darauf vor.

Ich wiegte den Kopf hin und her. „Anna möchte aus irgendeinem Grund anonym bleiben. Also besser, wir finden den Mörder ohne ihre Hilfe.“

„Wer kommt denn als Mörder in Betracht?“ Jacky blickte mich an und gab die Antwort gleich mit. „Anna lebt sehr zurückgezogen und kennt zugleich den Mörder. Es erscheint nicht ganz abwegig, dass sie selbst den Mord begangen hat, oder ihr Mann, oder beide zusammen.“

„Denkbar, immerhin kannten sich die beiden aus in Sörens Wohnung“, ergänzte ich. „Dessen Waffe, Schuhe und Taschentuch hätten sie also durchaus entwenden können.“ Angestrengt grübelte ich nach, schließlich fügte ich hinzu: „Möglicherweise wussten Frank und Anna von der unheilbaren Krankheit.“

„Jemand, der davon Kenntnis hatte, hätte Hagen niemals erschossen“, bemerkte Jacky zu Recht.

Dann plötzlich erinnerte ich mich an das Gespräch im Gefängnis. „Moment mal!“, sagte ich lauter als beabsichtigt. „Laut Sören hatte Frank sichtlich Angst vor Hagen. Er war immer nur darauf bedacht, es seinem Bruder recht zu machen.“

Jacky klatschte aufgeregt in die Hände. „Ja, das könnte es sein, Fabi! Frank hat seinen Bruder auf dessen eigenen Wunsch hin erschossen.“

„Bliebe die Frage, warum Hagen erschossen werden wollte.“

„Wahrscheinlich ertrug er die Schmerzen nicht länger“, meinte Jacky. „Oder dahinter steckt ein Versicherungsbetrug.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube vielmehr, Hagen hat seine eigene Ermordung geplant, um auf diese Weise Sören aus dem Weg zu räumen. Bestimmt hat er befürchtet, sein Halbbruder könnte der neue mächtige Mann bei PABLO werden.“

Dies war reine Spekulation, mir fehlten schlicht die Beweise. Doch ich hatte einen Plan, auch wenn er gefährlich war.

Kapitel 4Ahrensburg, 15. April 2019

Am Morgen schrieb ich einen Brief an Frank Bloch und gab ihn bei PABLO Ketchup am Werkstor ab. Darin stand, dass ich ihn heute Abend um dreiundzwanzig Uhr im Schlosspark erwarten würde. Als Treffpunkt gab ich den steinernen Löwen an der Zugangsbrücke zum Schloss vor. Zugleich prahlte ich damit, dass ich die wahren Umstände des Mordes an seinem Bruder kennen würde – ich wollte nur sichergehen, dass er auch wirklich kam.

Kurz nachdem ich pünktlich am steinernen Löwen eingetroffen war, tauchte Frank aus dem Dunkeln auf. Er blieb zwei Meter vor mir stehen. Ängstlich blickte er sich um, dann fragte er mich leise: „Was wollen Sie von mir?“

„Ihr Halbbruder sitzt unschuldig im Gefängnis“, erklärte ich mit fester Stimme.

„Er wurde rechtskräftig verurteilt“, erwiderte Frank, ohne mich anzuschauen.

„Sie haben Ihren Bruder umgebracht“, sagte ich frei heraus. Ich wollte ihn provozieren, nervös machen.

Frank blieb jedoch gelassener, als ich erwartet hatte. „Das glauben Sie doch selbst nicht“, entgegnete er schlicht.

„Sie wussten von seiner tödlichen Krankheit“, setzte ich nach.

Im selben Moment sah man Frank seine Überraschung an. „Na und, das bedeutet gar nichts“, erklärte er nach einer kurzen Pause. Es sollte gleichgültig klingen. Doch seine Stimme verriet mehr, als er offenbaren wollte.