Ahrensmord 2 -  - E-Book

Ahrensmord 2 E-Book

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Das Böse kehrt zurück … Was geschieht in den Wäldern rund um Ahrensburg? Dort verschwinden plötzlich Menschen, während am Bredenbeker Teich jemand auftaucht – allerdings leider tot! Dort wird die Leiche eines Hamburger Projektentwicklers gefunden. Und als ob das nicht genug ist, geschieht auch noch ein Mord in der Schlosskirche. Ein letzter Fall für Kommissar Mahlow, den er unbedingt lösen möchte. Lernen Sie Ahrensburg auf den Spuren der Täter, Opfer und Ermittler ganz neu und spannend kennen. Beiträge von: Bernhard Behrendsen, Jörg Dierkes, Fritz Eickenscheidt, Gerald Gräf, Dietrich von Horn, Christian Kraus, Nils Meyer-Selbach, Silke Möller, Finn Moryson, Henry Riedl, Marlis und Philipp Schwanenberg

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Seitenzahl: 432

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Die Erzählungen spielen hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comIllustration Stadtplan: Andi WolffHerausgeberfoto: Thommy Willkowei FotografieeISBN 978-3-8271-9780-1

Nils Meyer-Selbach (Hrsg.)Ahrensmord 2Stormarner Kriminalgeschichten

Vorwort

Die große Welt findet im Kleinen statt. Das gilt für die Politik, die Kunst und selbstverständlich auch fürs Verbrechen.

Im Zweifel geschehen Mord, Totschlag und andere Fiesheiten nicht irgendwo in der Ferne, sondern direkt vor der eigenen Haustür.

Zum Beispiel in Ahrensburg.

Natürlich gibt es auch die Mörder, die schießend, würgend oder giftspritzend eine Spur der Verwüstung durch halb Europa oder die USA ziehen. Es gibt die Täter, die ihre Opfer im Stile altaztekischer Riten zur Schau stellen und damit hochspezialisierten Zielfahndern des BKA oder des FBI schier unlösbare Rätsel aufgeben. Es gibt die schießwütigen Mafia-Killer, die eigenhändig ganze Friedhöfe füllen und denen nur ein ebenso schießwütiger (und zugleich kugelsicherer) Hardcore Cop beikommt ...

... Aber sind wir einmal ehrlich, diese finsteren Gestalten sind doch eigentlich harmlos. Zumindest im Vergleich zu der netten Dame von gegenüber, die ihre Enkel mit selbst gestrickten Pullovern verwöhnt, in der VHS seit Jahren Senioren-Turnen belegt und ganz nebenbei ihren griesgrämigen Ehemann vergiftet, weil er einfach nicht mehr der nette Mann von früher ist.

Oder denken wir an den Briefmarkensammler vom örtlichen Philatelistenverein, der seinen langjährigen Rivalen um die Ecke bringt – nicht wegen der millionenteuren Blauen Mauritius, sondern wegen der Helmut-Kohl-Gedenkmarke von 2012. Oder sehen wir uns den hilfsbereiten Nachbarsjungen an, der seine Freunde ständig zum Grillen einlädt – nur dass uns mit einem mulmigen Gefühl auffällt, dass immer mehr Hunde und Katzen aus unserer Straße verschwinden. Und das Mädchen von gegenüber haben wir auch schon lange nicht mehr gesehen ...

Es steht fest: Das Grauen wohnt nicht immer in einer US-Großstadt, auch nicht in Venedig und nicht einmal im schwedischen Ystad – es wohnt im Zweifel mit uns im selben Haus. Oder zumindest in derselben Straße oder im selben Ort.

Was uns zu Ahrensburg zurückbringt. Auch dieser zweite Band der „Ahrensmorde“ zeigt, dass das scheinbar so harmlose Örtchen in Stormarn in Wahrheit voller vergnüglicher, überraschender, finsterer und amüsanter Verbrechen steckt. Auch dieses Mal werden die Geschichten dem gerecht, was gute Crime-Storys sein sollten: ein Brennglas, durch das wir das Selbstverständliche, das Vertraute, das Alltägliche in neuem Licht sehen.

In diesem Sinne wünsche ich den Leserinnen und Lesern mörderischen Spaß auf den folgenden Seiten. So viel kann ich verraten: Die vielen Storys sind voller Abgründe und Hochgenuss, sind bitter und süß, sind kitzelnd und zwickend. Ein echtes Krimi-Vergnügen!

Henrik Siebold

Krimiautor

Bernhard Behrendsen Mahlows letzter Fall

Irgendwo im Kreis Stormarn, Schleswig-Holstein

Der Mord in der Cottage Sauna im letzten Herbst hatte mich mit einem Mal zurück in die Gegenwart katapultiert.

Ahrensburg war über Nacht nicht mehr die unschuldige Kleinstadt mit freundlichen Menschen in freundlichen Vorgärten, ruhigen Wohnvierteln und ausgedehnten Grünflächen vor den Toren Hamburgs.

Die Großstadt an der Elbe, in die viele der unbescholtenen Ahrensburger täglich pendelten, hatte mich offensichtlich vermisst, ihre kriminellen Krakenarme über die Stadtgrenzen hinaus ausgestreckt und mich ganz plötzlich wieder in ihren Fängen.

Das Gefühl, dass die echte Kriminalität nunmehr endgültig auch hier angekommen war, ließ mich nicht mehr los und noch weniger gut schlafen.

Die Boulevardpresse hatte ihr Übriges dazu beigetragen und sich nach der schnellen Aufklärung des Falls mit reißerischen Schlagzeilen auf den Titelseiten überschlagen.

„Spezialist aus Hamburg klärt Mordfall im Alleingang!“, „Kübelmörder gefasst!“ und schlimmer noch: „Alles klar, Herr Kommissar?“, lauteten die Headlines der Tageszeitungen, mit denen meine Kollegen mich auf den Fluren der Dienststelle die Tage danach aufgezogen hatten.

Mein Gott, wie ich dieses ganze Theater hasste.

Kollege Klein, mit dem mich vorher schon keine Männerfreundschaft verbunden hatte, strafte mich seitdem mit eisiger Verachtung und schnitt mich, wo er konnte. Und das nur, weil er einfach nicht darüber hinwegkam, dass ich, statt ihm, den ersten Mordfall in Ahrensburg seit mehr als einem Jahrzehnt aufgeklärt und ihn gleichzeitig zum Gespött seiner Kollegen gemacht hatte.

Sollte er doch, das war es mir wert gewesen, und ich kam gut damit zurecht.

Womit ich jedoch überhaupt nicht zurechtkam, war der plötzliche Rummel um meine Person.

Egal ob an der Kasse im Supermarkt, an meiner Lieblingstanke oder auf der Straße, überall wurde ich jetzt von wildfremden Menschen angesprochen. Alle Welt erkannte mich nur anhand eines schlechten Fotos auf der Titelseite dieses Boulevardblattes mit den vier Buchstaben.

Schuld daran war diese sensationslüsterne Polizeireporterin, die mir seitdem an den Hacken klebte. Stella Claussen!

Ausgestattet mit einer Penetranz, die jeden Klinkenputzer vor Neid erblassen ließ, schnüffelte sie mir hinterher, nirgendwo war ich mehr vor ihr sicher. Woher sie das verdammte Foto hatte, blieb ihr Geheimnis. Ich erinnerte mich nur, dass ich mich vor Jahren mal bereit erklärt hatte, zwecks einer Gegenüberstellung ein Foto von mir machen zu lassen, auf dem ich aussah, wie ein Knastbruder aus Santa Fu.

Ich schwor mir, dem Mistkerl von Polizeifotograf eine ganz persönliche Nachhilfestunde in Sachen Privatsphäre zu erteilen, sollte ich ihn in die Finger bekommen.

Und zu allem Übel stand jetzt auch noch das turnusmäßige PE, das polizeiliche Einsatztraining, an.

Gemeinschaftliches Schießen mit den Kollegen der Wache auf der Schießanlage in Lübeck.

Wichtig, sicher. Notwendig, ganz bestimmt, aber bei einigen Kollegen beschlich mich eher das Gefühl, ich wäre bei Police Academy als bei einer Einheit der Schleswig-Holsteinischen Polizei.

Zum Glück hatte ich wenigstens die gemeinschaftliche Fahrt im Mannschaftsbus abbiegen können und war nun schlecht gelaunt mit meinem geliebten Ford Granada auf dem Ostring in Richtung A 1 unterwegs, als mir dieses aufgemotzte Mercedes Coupé mit getönten Scheiben und Hamburger Kennzeichen im Rückspiegel auffiel. Mattmetallic lackiert und mit einer ganz bestimmt nicht zugelassenen Sportauspuffanlage ausgestattet, war es der Inbegriff eines Ludenfahrzeugs. Und es schien mich zu verfolgen. Es beschlich mich das ungute Gefühl, ich könnte geradewegs in eine brenzlige Situation geraten, und meinem Instinkt folgend gab ich Gas.

Okay, mein alter Ford war zwar mit einem Sechszylinder ausgestattet, aber dem merkte man seine fast zweihunderttausend gefahrenen Kilometer mittlerweile auch an. Beim schnellen Gasgeben entwickelte die Maschine eine Qualmwolke, die James Bonds Aston Martin zur Ehre gereicht hätte.

Leider gab es beim TÜV keine Cineasten, und die Prüfer waren da ganz anderer Meinung. Ich hatte deshalb schon ein halbes Vermögen in die notwendigen Reparaturen stecken müssen.

Eine Vertragswerkstatt konnte ich mir nicht leisten, deswegen war mein Wagen regelmäßiger Gast in „Kalle’s & Thommy’s Schrauberbude“, einer kleinen privaten Autowerkstatt im Gewerbegebiet Beimoor Süd.

Kalle und Thommy Borchers, zwei Brüder aus der Siedlung Am Hagen, waren begnadete Kfz-Schlosser und verstanden ihr Handwerk, aber mit dem Finanziellen hatten sie es nicht so. Rechnungen waren verpönt, und selbst eine einfache Zweckform-Quittung von den beiden zu bekommen war jedes Mal ein Kraftakt. Irgendwann hatte ich es dann schließlich aufgegeben, danach zu fragen. Der Wagen wurde gemacht, das Ergebnis vorgeführt, die Kohle in bar bezahlt, fertig!

Das war ja noch okay, aber die beiden ließen dort auch alle möglichen Leute an ihren eigenen Karren ’rumschrauben.

Oh Mann, hingen da Typen ab!

Die meisten waren verpeilte Möchtegern-Rennfahrer, bei denen PS und Potenz nicht nur zufällig mit P anfing, sondern unverrückbar miteinander verbunden zu sein schienen, und die ihre tiefergelegten, verbreiterten Blechdosen so verunstaltet hatten, das man ihnen zum Teil die Marke gar nicht mehr ansehen konnte. Ich fragte mich immer, was der TÜV wohl alles an solchen Karren zu beanstanden hatte, wenn den Prüfern schon die leicht bläuliche Abgasfahne meines Granadas nicht passte.

Aber auch Typen ganz anderen Kalibers lümmelten immer wieder in der Werkstatt herum. Solche, die mit ehrlicher Arbeit ganz bestimmt nix am Hut hatten. Lichtscheues Gesindel, wie ich immer zu sagen pflegte. Okay, vielleicht nicht die Art, die berufsmäßig schwerkriminell war, das nicht, aber schon welche, die es mit Recht und Ordnung nicht immer so genau nahmen. Egal, ich war ja nicht im Dezernat Wirtschaftsdelikte beschäftigt, mischte mich also nicht ein und hielt meine Klappe, wenn ich mal wieder einen Termin bei den Jungs hatte.

Auf dem verlängerten Ostring angekommen, stand die Tachonadel auf 140 km/h, die Kollegen der Verkehrsdirektion hätten sich gefreut, wenn ich jetzt in eine ihrer mobilen Gelddruckmaschinen gerast wäre. Die Ludenkarre hatte aufgeschlossen und klebte nun an meiner Stoßstange, mir war klar, dass ich die allein mit Geschwindigkeit nicht loswerden würde.

Kurz vor der Autobahn bremste ich meinen Wagen scharf herunter und zog nach rechts auf den Grünstreifen, zwei tiefe Furchen in der weichen Rabatte hinterlassend. Der Mercedes schoss an mir vorbei und verschwand röhrend über die Auffahrt zur A 1 in Richtung Hamburg.

„Verdammt“, fluchte ich vor mich hin. „Was war das denn jetzt?“

Ich nestelte eine Zigarette aus der Verpackung und steckte sie mir an.

Rauchend versuchte ich, meine Gedanken zu sortieren.

Es gab in meiner Hamburger Vergangenheit eine ganze Reihe von schweren Jungs, die mit mir noch ein Hühnchen zu rupfen hatten. Das hatte ich in den letzten Jahren fast verdrängt, aber dank der Presse war ich jetzt plötzlich bekannt wie ein bunter Hund, und der eine oder andere aus der Ahnengalerie der Hamburger Unterwelt schien mit mir jetzt „12 Uhr mittags“ spielen zu wollen.

Ich war aber nicht Gary Cooper, und an das Ende dieses Klassikers konnte ich mich auch nicht erinnern.

Die noch verbliebene Motivation, auf die Pappkameraden mit den Ringen auf Brust und Kopf zu schießen, war mir jetzt endgültig vergangen, und deshalb meldete ich mich über mein Diensthandy mit einer Ausrede bei dem verantwortlichen PE-Koordinator ab.

„Mahlow“, hörte ich ihn fluchen. „Das ist jetzt bereits das dritte Mal in Folge, dass Sie mit fadenscheinigen Ausreden eine Dienstanweisung missachten. Hören Sie, ich hab’ die Schnauze voll von Ihnen und werde eine Beschwerde über Sie an Ihre Dienststelle aufsetzen, ich lasse mich doch von Ihnen nicht verar ...“

Ich drückte den roten Hörer im Display des Telefons und beendete damit das Gespräch.

Sollte er doch!

Auf ein Disziplinarverfahren mehr oder weniger kam es schon lange nicht mehr an.

Durch mein Auftreten hatte ich zwar keinen leichten Stand auf der Dienststelle und eckte ständig bei meinem Vorgesetzten an, aber durch meine unorthodoxe Ermittlungsarbeit war ich gleichzeitig auch erfolgreich, und deshalb nahm ich mir manchmal einfach etwas mehr heraus als andere.

Auch das war dem Kollegen Klein schon lange ein Dorn im Auge.

Der hielt sich, im Gegensatz zu mir, grundsätzlich an sämtliche Dienstanweisungen, ob nun sinnig oder unsinnig. Noch etwas, was unsere Zusammenarbeit nicht gerade erleichterte.

*

Ahrensburg, Kreis Stormarn

Ich wendete den Wagen unerlaubterweise auf dem Zubringer zur Autobahn und fuhr zurück aufs Revier nach Ahrensburg.

Von dort aus rief ich meine ehemaligen Kollegen in Hamburg an, die sollten für mich eine Fahrzeughalterprüfung durchführen. Das hätte ich zwar auch selbst machen können, aber erstens waren der Polizeirechner und ich keine Freunde, und zweitens wollte ich erst einmal in Ruhe sondieren, wer es da auf mich abgesehen hatte, ohne das gleich an die große Glocke zu hängen.

Alle Halterabfragen mussten genehmigt werden, und ich hielt es im Moment für besser, dass nicht ich die Abfrage startete.

„Mattgrünmetallic, sagst du, Mahlow?“, hörte ich meinen Ex-Kollegen Karl Sperling am anderen Ende der Leitung fragen.

„Ganz genau, Karl“, bestätigte ich. „Mit ’ner Mordsauspuffanlage …“

„Das wird nicht registriert, wart’ ein’ Moment …“

Es war ein paar Sekunden still, dann sprach Sperling, den eigentlich alle nur „Schmitti“ nannten, weil er, wie einst Helmut Schmidt, beim Reden ständig über den spitzen Stein stolperte, weiter.

„Oha, Mahlow“, pfiff er durch die Zähne. „Da haste dir aber einen ganz besonderen Freund ausgesucht. Ullrich Krummschick, der hat aber so einiges auf’m Kerbholz, mein lieber Kollege …“

„Danke Schmitti, ich kenn’ den Kerl. Ich dachte, der säße noch ein …“

„Nee, nee, wegen guter Führung vorzeitig entlassen, ist jetzt ein paar Monate raus aus’m Vollzug.“

„Und wie kann der sich’n einhundertfünfzigtausend Euro teures Auto leisten?“

„Tja, Mahlow, das steht nun nicht in den Papieren …“

„Trotzdem danke, Karl, hast mir sehr geholfen. Und vergiss bitte, dass ich dich angerufen habe, okay?“

„Alles klar, Mahlow, aber pass auf dich auf!“

„Kennst mich doch …“

Ich legte auf.

Ullrich Krummschick, genannt der „schicke Ulli“, war eine Kiezgröße, die ich vor Jahren, zu Zeiten, als teure Luxuslimousinen reihenweise geklaut und nach Russland verschoben wurden, wegen Hehlerei im großen Stil in den Knast gebracht hatte.

Sollte der jetzt Rache an mir nehmen wollen? Aber warum benahm er sich dann so auffällig? Da gab es doch ganz andere, stillere Möglichkeiten …

Ganz plötzlich meldete sich knurrend mein Magen und erinnerte mich daran, dass ich ihm seit heute Morgen außer einem schwarzen Kaffee und einem pappigen Brötchen von der Tanke noch nichts Gutes getan hatte, und so beschloss ich, bei meinem Freund Serhat Yilmaz mal wieder auf einen Döner vorbeizuschauen.

Sein Emir Palace war eine von mehreren Döner-Buden im Zentrum von Ahrensburg, die alle gleich aussahen, die gleichen Gerichte anboten und die sich alle in der Hand von Familienclans befanden. Das Essen war wirklich lecker, aber diesem leicht schmuddeligen Imbiss den pompösen Namen Emir Palace zu geben grenzte beinahe schon an Majestätsbeleidigung. Mit einem Palast hatte diese kleine anatolische Drehspießbude nun so gar nichts gemein.

Dennoch, Serhats Essen war gut, und meiner Meinung nach machte er die mit Abstand besten Börek diesseits des Bosporus.

Ich parkte den Granada an der Klaus-Groth-Straße, stieg aus und war erst ein paar Meter die Große Straße hinuntergegangen, als mich erneut das Gefühl beschlich, ich würde verfolgt werden.

Ich blieb stehen und drehte mich um. In kurzem Abstand folgte mir erneut so eine aufgemotzte Karre, aber als der Fahrer sah, dass ich mich umdrehte, gab er Gas. Der Wagen, ein schwerer Bugatti, röhrte an mir vorbei und verschwand mit quietschenden Reifen nach links in die Lohe.

Ich riss die Tür zum Emir Palace auf und wäre fast mit Serhats Lieferjungen zusammengestoßen.

„Ey’ Alter, passt du auf …“, beschwerte der sich noch und war im nächsten Moment mit seiner Thermobox durch die Tür verschwunden.

Serhat stand hinter dem Tresen und sah mich mit großen Augen an.

„Mahlow, was ist dir hinterher…?“, radebrechte er. „Hast du Ärger gleich mitgebracht, hä? Siehst du aus wie von Teufel gejagt ...“

Ich sah den freundlichen Alten an, und mein Puls ging wieder runter.

„Alles okay, Serhat, gib’ mir’n Bier und mach’n Döner fertig …“

„Mit alles – wie imma?“

„Wie immer, Serhat.“

„Geht klar, Chef, hast du Problem? Kannst du reden mit mir, weißt du, nä …“

Ich hatte keine Lust, mich mit Serhat über diese merkwürdigen Begegnungen zu unterhalten, setzte mich schweigend an den langen Tisch vor dem Fenster, mit dem Rücken zum Tresen, und blickte hinaus.

Wer hinter diesem offensichtlichen Posing steckte, hatte ich schon herausgefunden, aber was bezweckte der schicke Ulli damit? Mir Angst einzujagen? Wozu? Ich grübelte und kam nicht weiter. Was kam, war Serhat mit einer Riesenportion Döner.

„Weißt du Mahlow, Nachdenken is’ nich’ gut für leeres Magen, sorg’ ich mich für dich …“

Ich blickte in seine wässrigen Augen.

„Bist’n guter Kerl, Serhat, weißt du das?“

„Weiß ich das doch, Mahlow. Afiyet olsun ...“

Der Döner beruhigte zwar meinen Magen, aber nicht mein Gemüt. Irgendetwas war hier im Busche, und ich wusste nicht was.

Warum, verdammt, stellten sich die Kerle mir gegenüber so offen zur Schau? Ich sah darin einfach keinen Sinn. Es war zum Verrücktwerden.

Ich spülte eben den letzten Bissen des Döners mit einem großen Schluck Bier aus der Dose herunter, als die Tür zum Imbiss aufging.

Ich blickte kurz nach rechts auf und verschluckte mich heftig.

„Hallihallo, Kommissar Mahlow“, trällerte mir diese Crime-Scene-Klette Claussen entgegen.

„Was haben Sie denn für merkwürdige Bekannte? Sind Sie wieder auf heißer Spur unterwegs und jemandem dabei auf die Füße getreten?“

„Verschwinden Sie, Claussen, hören Sie? Ich möchte in Ruhe essen und habe kein Bedürfnis, mit Ihnen zu reden, verstanden?“

Claussen konterte umgehend. „He, Moment mal, Herr Kommissar, die Leser haben ein Anrecht auf …“

„Worauf?“, unterbrach ich sie barsch. „Auf reißerische Schlagzeilen und schlecht recherchierte Halbwahrheiten? Hören Sie doch auf, Ihr Geschmiere mit Journalismus zu vergleichen! Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe!“

„Und was war das da eben draußen auf der Straße?“, konterte sie schnippisch. „Und heute Nachmittag auf dem Ostring? Kommen Sie, Mahlow, da ist doch ’n dickes Ding im Gange, das spür’ ich doch, nun haben Sie sich nicht so, nur ein’ kleinen Tipp …“

„Raus, Claussen! Verschwinde endlich! Serhat, kannst du bitte von deinem Hausrecht Gebrauch machen und diese Nervensäge rausschmeißen?“

Claussen schnaubte mich an. „Okay, okay, ich geh’ ja schon, Mahlow, aber ich bleib’ dran, so leicht werden Sie mich nicht los …“

Die Tür knallte zu, und es war wieder Ruhe im Laden.

„Alter ..., Mahlow ..., Aziz Kadin hat sich Haare auf Zähne, hä?“

Ich musste trotz der Situation lachen. „Das kannst du laut sagen, Serhat.“

Ich stand auf und drückte ihm einen Zehner in die Hand. „Stimmt so …“

Draußen auf dem Gehweg lehnte ich mich an einen Laternenmast und steckte mir die nächste Zigarette an. Ich dachte über Claussens Worte nach und versuchte, die merkwürdigen Vorkommnisse des Tages einzusortieren. ‚Da ist ein dickes Ding in Gange‘, hatte sie gemeint, und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war auch ich der Meinung, dass es sich um gezielte Aktionen handelte.

Was mir fehlte, war der Grund dafür.

Mittlerweile war es dunkel geworden, und es hatte angefangen, leicht zu regnen. Die Straßenlaterne warf ein diffuses Licht auf den Gehweg, irgendwie hatte das Ganze was von einem Film Noir. Ich machte mich auf den Weg zurück zu meinem Auto. Es waren kaum noch Fußgänger unterwegs, aber bei jedem einzelnen, der mir entgegenkam, wechselte ich die Straßenseite. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber diese Drohgebärden zeigten offensichtlich doch Wirkung.

Am Wagen angekommen, traute ich meinen Augen kaum. In der Frontscheibe steckte ein Granitpflasterstein. Einer dieser kleinen Sorte, mit denen die Stadt bereits mehrere Parkwege hatte hübsch pflastern lassen. Mein Puls ging hoch, und ich sah mich um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

„Verdammt!“, platzte es aus mir heraus. „Verdammte Schweinerei, das kann doch wohl nicht wahr sein!“

Wütend packte ich den handlichen Granitwürfel und wollte ihn gerade in die angrenzende Grünanlage schleudern, als ich einen gefalteten Zettel unter dem Scheibenwischer der Beifahrerseite entdeckte.

Ich zog ihn hinter dem Wischerblatt heraus, entfaltete das feuchte Papier und las den Wisch.

,Das ist nur eine Warnung, Mahlow! Aber wenn du uns in die Quere kommst, bist du tot!‘

Außer diesem einen unheilvollen Satz war das Blatt leer!

Verdammt, dachte ich, wem sollte ich nicht in die Quere kommen und wobei? Ich hatte keinen blassen Schimmer, worum es hier ging.

,... bist du tot!‘

Mir wurde heiß und kalt. Mit zittrigen Händen öffnete ich die Wagentür und ließ mich auf den Fahrersitz fallen. Ich wartete einen Moment, steckte dann den Schlüssel ins Zündschloss, drehte ihn und startete den Motor. Die Detonation der Autobombe, die ich schon fast panisch erwartete, blieb aus.

Ich fuhr nach Hause, schlich mich in meine kleine Wohnung und schloss mich ein, ohne irgendwo Licht zu machen.

Nach einen schlaflosen Nacht, in der ich mir die unterschiedlichsten Gründe für diese Drohung zigmal durch den Kopf hatte gehen lassen, beschloss ich, zum Frontalangriff überzugehen. Ich durfte mich von diesen Kriminellen nicht unterkriegen lassen und rief erneut meine Ex-Kollegen in Hamburg an, diesmal wollte ich den Wohnort von Krummschick wissen.

Dem unbekannten Kollegen am Telefon erzählte ich irgendeine Geschichte und bekam, was ich wollte.

Interessant!

Krummschick wohnte im teuren Villenviertel von Volksdorf, keine zehn Minuten von Ahrensburg entfernt. Ein Ex-Knacki mit teurem Sportwagen und Millionenvilla? Da war doch was oberfaul. Und um das herauszufinden, musste ich dem Kerl auf die Pelle rücken.

Als Allererstes jedoch musste ich meinem Granada eine neue Frontscheibe verpassen lassen.

Der Regen der letzten Nacht hatte bereits kleine Wasserlachen auf der Innenraumverkleidung aus braunem Alcantara hinterlassen, und bevor auch noch der Veloursteppich nass wurde, war Eile geboten. Das sollten lieber Fachleute machen, und so besorgte ich mir aus den Gelben Seiten die Adresse der nächsten Carglass-Filiale. Es war zwar eine Ausgabe aus den Neunzigern, die ich unter einem Stapel von alten Zeitschriften wiederfa+nd, aber ganz zufällig gab es die dort beworbene Filiale in Wandsbek nach fast dreißig Jahren noch immer, wie ich bei der Terminvereinbarung mit dem netten Mädchen von der Hotline feststellen konnte.

Besser noch, die Filiale war nicht weit entfernt von Volksdorf und Krummschicks Anwesen. Ich konnte also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, und so fuhr ich los.

*

Hamburgs Osten

Im Autoradio dudelte Werbung. „... Carglass repariert, Carglass tauscht aus …“ Mist, jetzt hatte ich neben einer kaputten Frontscheibe auch noch einen Ohrwurm im Ohr und ertappte mich dabei, die Version aus meinem letzten Urlaub in Frankreich zu intonieren. „... Carglass répare, Carglass remplace …“ Mon dieu Mahlow, wie lange war das wohl schon her? Ich versuchte mich zu erinnern, als plötzlich derselbe aufgemotzte, mattgrüne Mercedes von gestern links neben mir auf der zweispurigen Straße auftauchte. Der Typ auf der Beifahrerseite ließ nur ganz kurz eine Pistole aufblitzen, und der Wagen schoss wieder davon. Ich trat so abrupt auf die Bremse, dass die Reifen quietschten und der Fahrer hinter mir gleichzeitig ein Hupkonzert startete. Mann, der Typ musste gerade vom ADAC-Sicherheitsfahrtraining gekommen sein, ansonsten hätte mein Wagen zu der kaputten Frontscheibe jetzt auch eine eingedrückte Heckpartie gehabt. Ich blickte in den Rückspiegel und konnte dem Fahrer von den Lippen ablesen, was er mir gerade so alles verbal an den Kopf warf. Ich hatte Verständnis, beschwichtigte mit beiden Armen und deutete ihm an vorbeizufahren. Das tat er dann auch. Auf gleicher Höhe zeigte er mir noch die typische Scheibenwischergeste, und auch die gestand ich ihm zu.

Die nächste Drohgebärde!

Was zum Teufel bezweckten die Kerle damit?

Auf einmal hatte ich keine Angst mehr, nein, ich war wütend! Scheiße, Krummschick konnte sich warm anziehen.

Ich packte das Lenkrad fest an, trat aufs Gaspedal, und mein alter Granada machte, blauen Qualm ausstoßend, einen Satz nach vorn.

Binnen wenigen Minuten war ich in Volksdorf angekommen, stellte meinen Wagen vorsichtshalber einige Straßen von Krummschicks Villa entfernt ab und ging den Rest zu Fuß.

Links und rechts entlang der Straße reihten sich protzige Anwesen, herrschaftliche Villen und extravagante Architektenhäuser aneinander. Eines hatten sie alle gemeinsam: mindestens drei Parkplätze auf dem Grundstück und zwei davon belegt mit Luxuskarren.

Krummschicks Palast jedoch, gelegen ganz am Ende einer ruhigen Sackgasse am Rande eines kleinen Wäldchens, toppte das ganze Ensemble noch. Hinter einem hohen, schmiedeeisernen Zaun mit opulent verziertem Tor zeigte sich eine herrschaftliche Patriziervilla in ihrer ganzen Pracht. Die Zufahrt war gekiest, und vor der geschwungenen Freitreppe stand die mattgrüne Ludenkarre, die auf Krummschicks Namen zugelassen war.

Ein Namensschild hingegen konnte ich nirgendwo entdecken, aber als ich auf den monströsen Klingelknopf aus poliertem Messing drückte, hörte ich über mir den Motor einer beweglichen Überwachungskamera surren und im gleichen Moment eine Stimme aus der Gegensprechanlage.

„Sä wönschen?“, kam es sehr vornehm aus dem Lautsprecher.

Oha, der Mistkerl hatte sogar einen Butler.

„Mahlow, Heinz Mahlow, Kripo Ahrensburg. Ich möchte mit Herrn Krummschick sprechen.“

„Momänt …“

Gott, war der Kerl vornehm.

„... Härr Krummschick ist nicht zu sprächen …“

Jetzt platzte mir der Kragen.

„Hören Sie“, schnauzte ich in das Mikrofon der Gegensprechanlage. „Sie machen mir jetzt sofort das Tor auf, oder …“

„Oder was?“, unterbrach mich eine gefühllose Stimme, die ich sofort als die Stimme des schicken Ulli identifizierte. „Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?“

„Es heißt Durchsuchungsbeschluss, Krummschick“, ließ ich mich nicht einschüchtern. „Das müssten Sie doch mittlerweile wissen! Und außerdem“, hängte ich noch an, „will ich nur mit Ihnen reden.“

Stille.

„Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten. Sieh zu, dass du hier wegkommst ... Herr Mahlow. Sonst hetze ich meine Hunde auf dich!“

So schnell wollte ich jedoch nicht aufgeben.

„Warum verfolgen Sie mich, Krummschick?“, wollte ich wissen. „Und warum bedrohen Sie mich so offensichtlich? Sie können sich doch an einer Hand abzählen, dass ich Sie im Handumdrehen als Halter dieses testosterongeladenen Froschmobils ausfindig machen würde. Also, was wollen Sie von mir?“

Wiederum Stille.

„Wer bedroht dich denn, hä? Man wird ja wohl mit einem Bekannten aus alten Zeiten ein kleines Späßchen machen dürfen, oder?“

„Das Drohen mit einer Pistole und die mutwillige Zerstörung von fremdem Eigentum sind keine Späßchen, Krummschick!“

Bei dem Gedanken an die Frontscheibe meines Granadas ging mein Puls schon wieder hoch.

„Drohen mit einer Pistole! Dass ich nicht lache, das war doch bloß ein Feuerzeug, was du aber auch immer gleich siehst …“ Jetzt lachte er hämisch. „Nix hab’ ich gemacht, nix, was man gegen mich verwenden könnte, und nun verschwinde endlich!“

Mir war klar, dass ich hier nicht weiterkommen würde. Krummschick und seine Scheißkarre standen auf der einen Seite des Zauns und ich auf der anderen.

„Wo haben Sie eigentlich die ganze Kohle her, um sich das hier alles leisten zu können?“, versuchte ich es noch mal. „Beim Tütenkleben im Knast haben Sie die Knete doch bestimmt nicht zusammenbekommen.“

Eine Antwort darauf wartete ich gar nicht erst ab, sondern drehte mich um und ging.

Krummschick beobachtete mich ganz sicher aus einem der zahllosen Fenster, das sagte mir nicht nur mein polizeilicher Spürsinn, sondern auch mein Bauchgefühl.

‚Da ist ein dickes Ding in Gange‘, hörte ich diese Klette von Sensationsreporterin wieder in meinem inneren Ohr. Und diesmal war ich überzeugt, sie hatte recht damit.

Ich beeilte mich, zurück zu meinem Wagen zu kommen, und rauchte eine schnelle Zigarette auf dem Weg dorthin. Von dort aus brauchte ich keine zehn Minuten bis in die Werkstatt – ohne Navi und ohne Falkatlas, der ohnehin verklebt unter dem Beifahrersitz lag, weil ich ihn zu oft als Ablage für ein schnelles Stück Pizza, einen triefenden Döner oder sabschigen Burger während der Fahrt missbraucht hatte.

Die Scheibe war natürlich nicht vorrätig und musste erst bestellt werden, fahren aber konnte ich so natürlich auch nicht mehr.

„Sorry, das wird sicherlich ein paar Tage dauern“, bemitleidete mich der höfliche junge Mann mit einstudiertem Text hinter dem Tresen der Reparaturannahme. „Wir rufen Sie an, wenn der Wagen fertig ist.“ Warum eigentlich stand da jetzt nicht das nette Mädelchen vom Telefon heute Morgen und lächelte mich süß an? Die hätte meine Laune vielleicht noch etwas heben können. Aber so ergab ich mich in mein Schicksal und nahm den Schlüssel, den mir der Vorzeigejunge über den Tresen reichte.

„Es ist auch ein Ford“, versuchte er mich noch aufzumuntern. „Steht hinter der Halle. HH-KA 900, ist der einzige dort.“

Bei dem Nummernschild hätte ich eigentlich gleich stutzig werden müssen!

Hinter der Halle stand ein Ford KA.

Nicht dass ich jetzt etwas gegen Kleinfahrzeuge gehabt hätte, das nicht, aber diese rollenden Keksdosen passten einfach so gar nicht in mein Verständnis von einem richtigen Automobil.

Und nur weil es vier Räder hatte und ein Lenkrad, war es noch lange kein Auto, das hatten Bobby-Cars nämlich auch.

Egal, Jammern half nichts, immerhin blieb ich mobil – dachte ich.

Aber was war das denn?

Ich saß in einer überdachten Zündkerze mit Schaltgetriebe!

So etwas hatte ich seit mindestens zwei Jahrzehnten nicht mehr gefahren, mein Granada und auch seine Vorgänger waren allesamt Automatikwagen gewesen. Mist, tiefer hätte ich nicht mehr sinken können. Nicht nur, dass ich in dieses „Auto“ nur mit einem Schuhanzieher reinkam, nein, jetzt würde ich auch noch hoppelnd wie ein Kaninchen nach Ahrensburg zurückfahren.

Ich konnte nur auf „grüne Welle“ und wenig Verkehr aus Wandsbek hoffen.

Zum Glück hatte mich niemand beobachtet, während ich versuchte, die ersten zwei Meter vorwärtszukommen, und dabei zehnmal den Motor abwürgte. Nach den ersten fünf Anfahrversuchen hatte ich schließlich festgestellt, dass die Handbremse angezogen war, die anderen fünf Male hatte ich einfach die Kupplung springen lassen. Mit den paar Handvoll PS unter der Haube war da natürlich nichts zu machen, aber immerhin, nach rund zwanzig Minuten Fahrübungen auf dem Hof traute ich mich endlich in den Hamburger Verkehr.

*

Ahrensburg, Kreis Stormarn

Ohne echte Zwischenfälle und nur weitere zwanzig Minuten später stellte ich den Leihwagen schweißgebadet vor dem Revier ab.

Ich wollte eigentlich noch etwas zu Krummschicks Verbindungen zur Hamburger Unterwelt recherchieren, lief aber auf dem Weg ins Büro Kollege Klein über den Weg.

„Wie sehen Sie denn aus, Mahlow?“, er betrachte mich von oben bis unten. „Wieder mal einen Mordfall in einer Sauna untersucht, diesmal bei laufendem Betrieb?“

„Sehr witzig, Klein, sehr witzig! Kümmern Sie sich um Ihren Scheiß …“

„Bin schon weg, Mahlow ... ach übrigens …“, hängte er süffisant an. „Wohlrath will Sie sehen. Heute noch. Viel Spaß dann …“ Kopfschüttelnd schob er ab.

Der Chef?

Ich ahnte Böses. Der PE Schleifer hatte seine Drohung wahr gemacht und mich beim Dienststellenleiter angeschwärzt.

Okay, auf so ein Gespräch hatte ich im Moment überhaupt keine Lust, drehte auf der Stelle um und ging den Weg zu Fuß nach Hause. In dieses Leihgefährt, so hatte ich für mich beschlossen, würde ich nur wieder einsteigen, wenn es um Leben oder Tod gehen würde.

Zu Hause angekommen, machte ich es mir auf dem Sofa vor dem Fernseher bequem. Mit einer Flasche Bier aus dem Kühlschrank und einer passenden Pizza aus dem Tiefkühlschrank wollte ich versuchen, die Ereignisse der letzten zwei Tage noch mal zu rekapitulieren und zu bewerten. Krummschick versuchte mich einzuschüchtern, klar, aber warum? Und warum auf so merkwürdige Art und Weise?

Die Gedanken kreisten durch mein Gehirn, aber wo immer ich auch ansetzte, nichts ergab einen Sinn.

„Guten Abend, hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Im Studio begrüßt Sie …“

Plötzlich klingelte mein Diensthandy. Der Rufton kopierte das durchdringende „Ring Ring“ dieser schwarzen Bakelit-Telefone, die in jedem alten Hitchcock-Film mitspielten, wo es nur Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß, aber keine Grauzone gab, in der ich mich offensichtlich verrannt hatte.

Zusätzlich hatte ich das Telefon so eingestellt, dass es mit jedem Klingeln lauter wurde. Die Nummer im Display kannte ich nicht, aber an ein Ignorieren war nicht zu denken, und deshalb nahm ich das Gespräch an, wenn auch leicht genervt.

„Ja!“, knarzte ich eine Nuance zu forsch ins Telefon. Manchmal reichte das schon, um ein Gespräch zu beenden, bevor es begann, weil der Anrufende verstört gleich wieder auflegte.

„Sind Sie das, Kommissar Mahlow?“, hörte ich eine leise Frauenstimme aus dem Handy.

„Sind Sie das ...?“, jetzt schwang schon ein leichter Anflug von Panik in der Stimme mit.

„Ja, wer denn sonst, verdammt?“, entgegnete ich schroff. „Und wer sind Sie?“

„Ich bin’s, Stella Claussen, Sie wissen schon …, die Journalistin …“

„Was wollen Sie von mir? Ich hab’ Ihnen doch oft genug gesagt, dass Sie mich in Ruhe lassen sollen! Und woher haben Sie überhaupt meine Mobilnummer?“

„Von Ihrem …, ach, das ist doch völlig egal ...“, entgegnete sie jetzt fast schon trotzig. „Mahlow, ich sitze hier ziemlich in der Klemme und brauche dringend Hilfe …“

„Und? Was haben Sie diesmal angestellt?“, frotzelte ich genervt. „Jemandem genauso hinterhergeschnüffelt wie mir?“

„Das kann ich Ihnen jetzt gerade nicht erklären“, flüsterte sie nun kleinlaut.

„Und warum rufen Sie nicht einfach die Polizei?“

„Ich bin hier in der Autoschrauberbude von diesen beiden Brüdern. Nachdem Sie heute bei Krummschick in Volksdorf abgeblitzt sind, hab’ ich mich an ihn gehängt und …“

Ich dachte, ich höre nicht richtig. „Sie sind wo?“

„Im Industriegebiet Beimoor Süd, hören Sie, Mahlow, hier ist gerade ’ne ganz große Nummer am Laufen, Krummschick ist hier, und es ist jetzt bereits der zweite Autotransporter vorgefahren, beide mit osteuropäischen Kennzeichen, und hier in der Werkstatt wimmelt es von zwielichtigen Typen …“

„Sie sind in die Werkstatt von Kalle und Thommy eingebrochen?“ Ich konnte es nicht fassen.

„Eingebrochen stimmt nicht“, entrüstete sich diese Möchtegern-Miss-Marple jetzt auch noch. „Das Tor war auf, und ich hab’ mich hineingeschlich…“

„Und wo genau sind Sie jetzt?“

„Im Lagerraum. Hören Sie, Mahlow, es sieht so aus, als ob hier Autos ausgeschlachtet und umgebaut werden, das ganze Lager ist voller gebrauchter Autoteile und …“

Das Gespräch brach plötzlich ab.

„Claussen? ... He, Frau Claussen, hören Sie mich …?“

Ein Blick auf das Display bestätigte mir, dass das Gespräch beendet worden war.

Ich wählte die Nummer per Rückruf.

Die Verbindung kam nicht zustande. Ich hörte nur ein monotones „tut, tut, tut“, und wenn an der Geschichte etwas dran sein sollte, dann war Stella Claussen soeben vermutlich in ziemliche Schwierigkeiten geraten.

Was sollte ich tun?

Und mit einem Mal wurde mir alles klar.

Krummschick war ganz offensichtlich wieder in illegale Geschäfte verwickelt und nutzte dafür die Schrauberbude dieser unterbelichteten Borchersbrüder. Als er erfuhr, dass ich meinen Wagen dort reparieren lasse, befürchtete er wohl, ich sei ihm auf der Spur, und deshalb versuchte er, mich einzuschüchtern.

Scheiße, warum musste diese Claussen da nur ihre Nase reinstecken? Die Jungs waren gefährlich, und die Sache schien aus dem Ruder gelaufen zu sein.

Ich griff mir meine Waffe, das Diensthandy und die Autoschlüssel vom Regal im Flur, schnappte im Rausgehen mein Jackett und knallte die Wohnungstür zu.

Von der Wohnung zum Revier, wo ich diese Blechdose von KA geparkt hatte, war es gut ein Kilometer zu Fuß, den ich in knapp zehn Minuten zurücklegte. Der Amtsarzt der Polizei, der mich regelmäßig durchcheckte, wäre begeistert gewesen.

Ich öffnete die unverschlossene Fahrertür und schwang mich hinters Lenkrad.

Kupplung treten, Zündschlüssel drehen und anfahren war fast eins. Wozu der Mensch doch fähig ist, wenn es drauf ankommt!

Ohne auf den Verkehr zu achten, bog ich auf die Straße An der Reitbahn ein und versuchte aus der rollenden Nähmaschine herauszuholen, was drin war. Schildkröten sind schneller, fluchte ich in Gedanken.

Nach knapp drei Minuten kreuzte ich, die rote Ampel missachtend, den Ostring. Zum Glück war kaum Verkehr, eigentlich ungewöhnlich, denn so spät war es noch nicht.

*

Gewerbegebiet Beimoor Süd, Kreis Stormarn

Weitere drei Minuten später war ich vor Ort.

Den KA ließ ich bei Famila Tank stehen, zog die P6 aus meinem Holster und lief gebückt, wie im Krimi, Deckung suchend, die letzten Meter zu Fuß.

Die Werkstatt befand sich ganz am Rande des Gewerbegebiets, und ich sah von Weitem, was die Claussen mir bereits am Telefon gesagt hatte. Vor dem offenen Tor standen zwei Autotransporter, und eine paar finstere Typen waren dabei, teure Luxuskarren aufzuladen. Nicht die Sorte auffällige, froschgrüne PS-Schleuder à la Krummschick, die dort ebenfalls stand, sondern ausschließlich Großlimousinen, vermutlich alle jenseits der Hunderttausend-Euro-Marke.

Und so wie die Typen aussahen und sich gaben, war das Ganze aber so was von kriminell!

Ich schlich noch etwas näher heran und erkannte zumindest zwei der Typen wieder. Das waren dieselben Kerle, denen ich schon vor einigen Monaten in Verbindung mit dem Sauna-Mord im Stormarner Eck begegnet war.

„Davay, davay Oleg, bystreye davay!“, kommandierte der eine jetzt seinen Kumpanen.

Kein Zweifel, das waren dieselben üblen Kerle.

Scheiße, die Sache wurde mir jetzt zu heiß, ich musste Verstärkung anfordern.

Ich schlich mich ein paar Meter zurück und wählte die Mobilnummer meines Dienststellenleiters.

„Mahlow!“, fuhr der mich an, als ich mich meldete. „Verdammt, Sie sollten sich doch bei mir melden! Ich habe heute …“

„Und ich habe jetzt keine Zeit für Standpauken, Chef“, unterbrach ich ihn forsch. „Ich benötige dringend Verstärkung. Ich bin hier im Gewerbegebiet Beimoor …“, in wenigen Sätzen schilderte ich ihm die Lage.

„Und diese Reporterin? … Claussen? ... befindet sich in der Gewalt der Kerle?“

„Ich weiß es nicht, der Telefonkontakt brach plötzlich ab und …“

„Okay, Mahlow“, unterbrach mich Wohlrath. „Sie bewegen sich keinen Zentimeter von der Stelle, bis das SEK da ist! Das ist eine Dienstanweisung! Haben Sie mich verstanden, Mahlow? “

„Ja, Chef!“, antwortete ich zerknirscht und beendete das Gespräch.

Nur wenige Augenblicke später jedoch setzte ich mich über die Dienstanweisung hinweg und schlich mich wieder dichter an den Ort des Geschehens heran.

Ich hatte Deckung hinter mehreren Müllcontainern gefunden und konnte von dort aus gut beobachten. Vor der Werkstatt waren die beiden Russen weiter mit der Verladung der Nobelkarossen beschäftigt, zwei weitere Kerle standen bewaffnet mit laufverkürzten Schrotflinten an den vorderen Ecken des Gebäudes und sicherten die ganze Aktion.

Das anrückende SEK würde hier schon von Weitem entdeckt werden, zumal die Jungs ja gerne in Wildwest- Manier auftraten.

Vier Mann plus Krummschick, der sich in der Werkstatt aufhalten musste. Mindestens.

Und wenn die Borchersbrüder auch noch in diese Geschichte verwickelt waren, dann mindestens sieben.

Auch wenn ich das den beiden einfältigen Bastelbrüdern nicht zutraute und eher vermutete, die hatten von der ganzen Sache, die hier ablief, überhaupt keinen blassen Schimmer, ausschließen konnte ich es nicht, und Vorsicht war ja bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.

Claussen befand sich in dem Gebäude, und ich wusste nicht, ob sie bereits entdeckt worden war oder nicht. Ich musste da rein und sie suchen. Wenn erst die Verstärkung eintreffen würde, könnte die Sache aus dem Ruder laufen und sich eine Schießerei wie in einem billigen amerikanischen Actionfilm entwickeln. Viel Zeit blieb mir nicht. Auch wenn ich diese durchgeknallte Karla Kolumna nicht ausstehen konnte, ich war Polizist, und meine Aufgabe war es, Schaden von Menschen abzuwenden.

Ich überlegte, ob es einen weiteren Eingang gab. Von vorne konnte ich nicht rein, das wäre Selbstmord gewesen, unbemerkt würde ich an den bewaffneten Kerlen nicht vorbeikommen.

Plötzlich trat Krummschick ins Freie.

Er telefonierte lautstark und gestikulierte dabei.

Ich konnte dem Gespräch zwar nur bruchstückweise folgen, aber ganz offensichtlich hatte er Stress mit seinem Gesprächspartner wegen der Bezahlung der Fahrzeuge.

„Hör mir zu, Pavlov“, hörte ich ihn fluchen. „ ... nicht abgesprochen! ... Nein! ... bei Abholung ... lade wieder ab ... mir scheißegal!“

Mann, war der Kerl wütend.

Aber solange er mit diesem Problem beschäftigt war, konnte er sich nicht um die Claussen kümmern.

Vielleicht hatte ich Glück, und sie war bis jetzt unentdeckt geblieben und hatte nur aus Vorsicht ihr Telefon ausgeschaltet. Oder die Borchersbengels waren bei ihr.

Egal, ich musste es versuchen.

Ich sah auf meine Armbanduhr. Seit meinem Anruf bei Wohlrath waren fünfzehn Minuten vergangen, und ich überlegte, wie viel Zeit mir noch bliebe, bis das Rollkommando hier eintreffen würde.

Aus Kiel mobilisiert, würde die Anfahrt bestenfalls eine Stunde dauern, aus Eutin nur knapp weniger. Ich hatte aber keine Ahnung, wie lange sich die Aktion hier noch hinziehen würde.

Im besten Falle wären die Autotransporter und mit ihnen auch die Ganoven über alle Berge, bevor das Blaulichtgewitter über das Gewerbegebiet hereinbrechen würde, im schlechtesten Falle ... daran wollte ich gar nicht denken.

Ich beschloss, es allein und auf eigene Faust zu probieren, verließ meine Deckung und schlich mich, einen großen Bogen machend, von hinten an das Gebäude heran.

Ich konnte auf der Rückseite keine bewaffneten Aufpasser ausmachen und arbeitete mich langsam und vorsichtig weiter an das Gebäude heran.

An der Rückwand entdeckte ich eine stabile Metalltür und stellte mir das Innere der Werkstatt vor. Es musste sich um eine Tür zum Lager handeln, vielleicht ein Notausgang.

Ich drückte die Klinke vorsichtig herunter und zog am Griff.

Mist, verschlossen! Es wäre auch zu schön gewesen.

Ich versuchte es ein weiteres Mal, aber die Tür ließ sich nicht öffnen.

Claussen hatte am Telefon geflüstert, sie hätte sich im Lager versteckt. Hinter dem vergitterten Fenster neben der Tür war kein Licht. Entweder sie war nicht mehr dort, oder man hatte sie tatsächlich bis jetzt nicht entdeckt.

Ich setzte alles auf eine Karte und klopfte, die P6 im Anschlag, an die Tür.

„Claussen, sind Sie da drinnen?“

„Sind Sie das, Herr Mahlow?“, hörte ich eine Stimme hinter der Tür flüstern.

„Ja, ich bin es, können Sie die Tür von innen öffnen?“

Ich hörte es erst leise klacken, dann wurde die Türklinke heruntergedrückt und die Tür öffnete sich einen Spalt.

„Kommen Sie raus, Claussen“, flüsterte ich. „Ich bring’ Sie in Sicherheit, sind Sie okay?“

In was für eine verrückte Situation war ich bloß reingeraten. Gestern noch hätte ich diese Frau am liebsten umgebracht, und jetzt rettete ich ihr vermutlich das Leben.

„Sind die Borchersjungs auch dabei?“, flüsterte ich.

„Wie?“

„Ob Kalle und Thommy Borchers auch an dieser Sache beteiligt sind, Mensch! Ich muss wissen, wie viele Typen dabei sind.“

„Nein, nein“, schüttelte sie verneinend den Kopf. „Die habe ich hier nicht gesehen, aber ...“

„Na, wen haben wir denn da?“, hörte ich die noch immer unangenehme Stimme Krummschicks plötzlich neben mir.

„Der Herr Kommissar und die Schnüffeltante von der Klatschpresse! Na, wenn das man nicht eine Überraschung ist.“

Verdammt, schoss es mir durch den Kopf.

Ich hatte einen Moment lang nicht aufgepasst, und nun saßen wir richtig in der Klemme.

„Schnüffeltante, komm raus da und dann Hände hoch, alle beide!“, herrschte Krummschick uns an.

„Und du, Herr Kommissar, ziehst jetzt erst mal ganz langsam deine Waffe aus dem Holster. Aber ganz langsam, wenn ich bitten darf.“

Mit Krummschick war nicht zu spaßen.

Das war ein ganz skrupelloser Krimineller, und ich wollte ihm keinen Grund geben, sich hier und jetzt an mir zu rächen.

Trotzdem, ich musste versuchen, die Situation zu deeskalieren.

„Lassen Sie die Frau aus dem Spiel, Krummschick. Die hat nichts …“

„Schnauze, Mahlow“, unterbrach er mich barsch. „Halt die Schnauze und rück deine Knarre raus! Los jetzt, her damit, aber vorsichtig, wenn ich bitten darf …“

„Herr Krummschick“, mischte sich jetzt diese unbedarfte Pressetante ein. „Sie haben doch keine Chance, Mann …“

„Halten Sie die Klappe, Claussen“, zischte ich sie an. „Halten Sie doch einfach mal Ihre verdammte Klappe!“

Sie sah mich beleidigt an.

„So ist’s richtig, Mahlow, ich kann diese Schnüffeltante auch nicht leiden. Also Frau ..., ähh …, Claussen, wenn Sie also die Freundlichkeit besäßen, Ihr verdammtes Mundwerk zu halten …“

Ich hatte diesen Moment der Unaufmerksamkeit Krummschicks genutzt, meine Waffe gezogen und abgedrückt. Der Knall zerriss die Stille, und im gleichen Moment spürte ich einen heftigen Schlag in meiner linken Schulter, der meinen Körper nach hinten riss.

Auch Krummschick hatte abgedrückt. Und er hatte getroffen, wie auch ich.

Er fiel nach hinten, blieb regungslos auf dem Rücken liegen, und im gleichen Moment brach die Hölle im Gewerbegebiet los.

Von überall hörte ich plötzlich Polizeisirenen näher kommen und sah das zuckende Blitzen von Blaulichtern durch die Dunkelheit.

Die Klatschtante begann hysterisch zu kreischen, und bevor ich bewusstlos zusammensackte, hörte ich weitere Schüsse fallen …

Das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, dass ich auf einer Trage in einem Rettungswagen lag und von einer jungen, attraktiven Notärztin versorgt wurde.

„Können Sie mich hören, Herr Mahlow?“

Ich versuchte zu antworten, brachte aber keinen Ton heraus und blinzelte sie nur an.

„Alles halb so wild, wir kriegen Sie wieder hin, Herr Kommissar, ist’n glatter Durchschuss, keine Sorge, das wird wieder …“

*

Station A.313, Universitätsklinikum, Lübeck

Als ich das nächste Mal erwachte, war es helllichter Tag.

Meine Schulter schmerzte erstaunlicherweise nur leicht, und ich hatte Durst.

„Verdammt“, dachte ich, „jetzt hat es dich also doch noch erwischt, Mahlow…“

Ich versuchte, den Kopf nach links zu drehen und zur Seite zu blicken.

Das funktionierte.

Das Gleiche zur anderen Seite. Ging auch.

Soweit ich es erkennen konnte, lag ich in einem Intensivbehandlungszimmer eines Krankenhauses und hing an Drähten und Schläuchen, die alle mit den dazugehörigen Geräten verbunden waren.

Ich wurde mutiger und wollte den Kopf heben, aber die Schwerkraft ließ es nicht zu.

„Guten Tag, Herr Mahlow“, hörte ich eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund. „Willkommen auf Station A.313 der Uniklinik Lübeck. Ich bin Dr. Inken Sanders-Thomé, die behandelnde Ärztin. Wie geht es Ihnen?“

Ich öffnete erneut die Augen und blickte der Ärztin, die sich jetzt leicht über mich gebeugt hatte, ins Gesicht.

„Lübeck?“, fragte ich schwerfällig, denn meine Zunge klebte am Gaumen. Die Ärztin nickte.

„Sie haben großes Glück gehabt, Herr Mahlow. Erinnern Sie sich, was passiert ist?“

Ich nickte schwach.

„Das Projektil hat Ihre Schulter glatt durchschlagen, keine Verletzungen größerer Blutgefäße und auch keine Knochenverletzungen, wie gesagt, Sie hatten großes Glück …“

„Wasser?“, fragte ich jetzt. „Kann ich einen Schluck Wasser bekommen …?“

Die Ärztin reichte mir einen Becher an, und ich nahm einen Schluck.

„Danke“, sagte ich. „Was ist mit …“, die Ärztin unterbrach mich. „Nicht zu viel sprechen, Herr Kommissar, ruhen Sie sich erst einmal aus…“

Ich nickte müde und schlief mit dem guten Gefühl ein, noch mal glücklich davongekommen zu sein.

„Hallihallo, Herr Kommissar“, hörte ich entfernt die Stimme dieser Reporterin, die mir dieses ganze Schlamassel erst eingebrockt hatte.

Ich weiß nicht, wie lange ich erneut geschlafen hatte, in meinem Kopf dröhnte es, und ich hatte das Gefühl, der Schädel würde gleich zerspringen.

Ich wollte rebellieren, aber es ging nicht. Verdammt, die mussten mich hier auf Station ganz schön mit Medikamenten stillgestellt haben. Wie zum Teufel kam diese Frau in mein Zimmer?

Ich war mir sicher, dass das Pflegepersonal nichts davon wusste.

„Ich wollte doch sehen, wie es meinem Lebensretter geht. Hier Herr Kommissar, sehen Sie …“

Sie hielt mir die Tageszeitung vor die Nase.

„Kommissar sprengt internationale Autoschieberbande“, konnte ich trotz Dröhnschädels mit zusammengekniffenen Augen lesen, die Schriftgröße der Schlagzeile hätte auf jeder Plakatwand gewirkt.

„Unsere Story, Herr Kommissar! Auf der Titelseite! Sehen Sie doch, mit Foto!“

Ich versuchte zu antworten. „Verschwinden Sie, Claussen, raus aus meinem Zim…“ Weiter kam ich nicht, denn im nächsten Moment ging die Tür auf, und Frau Doktor übernahm prompt das Zepter.

„Wer sind Sie denn?“, hörte ich ihre Stimme, in der ein skalpellscharfer Unterton mitschwang. „Und wer hat Sie hier überhaupt reingelassen?“

„Bin schon weg“, flötete die aufdringliche Sensationsreporterin. „Wenn es Ihnen besser geht, machen wir ein Exklusivinterview, ja?“

„Raus hier“, fuhr ihr Frau Doktor … wie hieß sie bloß noch gleich, ins Wort. „Raus hier, oder ich rufe die Polizei!“

Claussen rauschte ab, ließ aber die Tageszeitung auf meinem Schränkchen zurück.

„Sollten Sie unbedingt lesen, Herr Kommissar, ist echt noch spannender als die Realität …“

*

Wochen später…

Polizeirevier Ahrensburg, Kreis Stormarn

Die Zeit im Krankenhaus hatte mir die Augen geöffnet.

Ich redete mir zunächst noch ein, dass der Polizeidienst nicht mehr der war, den ich vor vielen Jahren kennengelernt hatte. Aber ganz ehrlich betrachtet, war ich eigentlich nur zu alt dafür geworden. Ich hatte verdammtes Glück gehabt, würde ich das ein zweites Mal auch haben?

Krummschick hatte die Schießerei nicht überlebt, und deshalb hatte ich jetzt zusätzlich auch noch ein internes Ermittlungsverfahren an den Hacken. Die Presse feierte mich zwar, auch durch Zutun dieser Klette Claussen, die immer noch auf ihr Exklusivinterview wartete, aber von Wohlrath und Klein konnte ich wohl keine Unterstützung erwarten.

Ich hatte mich abends in mein Büro geschlichen, saß am Schreibtisch und ging ein letztes Mal, illegal, weil suspendiert, die Akte durch.

Kalle und Thommy Borchers hatten von der ganzen Aktion tatsächlich nichts gewusst, aber seit dieser Geschichte war ihre Schrauberbude in aller Munde, und die Jungs konnten sich vor Aufträgen kaum retten. Fernsehteams belagerten das Gelände, und die beiden Jungs gaben sich alle Mühe, genau die coolen Gangstertypen zu sein, die sie eigentlich gar nicht waren.

Ich hingegen hatte meine Entscheidung längst gefällt.

Ich schloss die Akte, legte Dienstmarke und Entlassungsgesuch oben auf, löschte das Licht der Schreibtischlampe, stand auf und ging.

Jörg Dierkes Unruhe im Kirchenmilieu

Prolog

12. Februar 2022, 23:40 Uhr, in der Schlosskirche

In der Schlosskirche herrschte gespenstische Stille. Das schlichte Gebäude, das im Stil der späten Backsteingotik erbaut worden war und sich in unmittelbarer Nähe des Ahrensburger Schlosses befand, hatte sich nach Beendigung des Nachtgottesdienstes vor einer halben Stunde rasch geleert. Allein der Pastor hielt sich im Inneren auf. Er saß niedergeschlagen in einer der Logen, die sich rechts und links vom Altar befanden, und starrte auf den Taufengel, der vor dem Altar hing. Doch der konnte seine Sorgen auch nicht lindern. Es war zum Verzweifeln.

Der Pastor war dermaßen tief in seine Gedanken versunken, dass er gar nicht hörte, wie jemand die Kirche durch das Haupttor betrat. Als die Person plötzlich vor ihm stand, zuckte er in seinem Logensitz vor Schreck zusammen, denn sein Gegenüber richtete ohne Vorwarnung eine Pistole auf ihn und sagte mit verächtlicher Stimme: „Du Idiot!“ Dann traf ein einziger lauter Schuss, der durch die Stille des denkmalgeschützten Gebäudes hallte, den Pastor mitten ins Herz, zerfetzte die Herzkammer. Sein Kopf kippte nach hinten gegen die Wand der Loge, Blut floss aus seinem Mund. Sekunden später hauchte er seinen letzten Atem aus.

Kapitel 1

01. März 2022, im Zentrum von Ahrensburg

Mein Handy klingelte, auf dem Display stand Unbekannt. Ich wischte über das grüne Annahme-Symbol, um das Gespräch anzunehmen. „Fabian Ahrens, Privatdetektiv!“

Am anderen Ende meldete sich eine tiefe Stimme. „Hier spricht Dr. Günes. Hallo, Herr Ahrens!“

Ich brauchte einen kurzen Moment, um den Namen einzuordnen. Doch dann erinnerte ich mich daran, wie ich vor drei Jahren die Todesumstände des Ketchup-Unternehmers Hagen Bloch aufgeklärt hatte und so Dr. Günes’ Mandanten vor einer langen Haftstrafe bewahrt hatte. Erfreut antwortete ich: „Moin, Dr. Günes! Wie schön, von Ihnen zu hören!“

„Passt es gerade bei Ihnen?“, fragte der Rechtsanwalt, der sein schniekes Büro im Zentrum von Ahrensburg hatte.

„Ich bin auf Beobachtungsposten, ganz in der Nähe Ihres Büros – Verdacht auf Ehebruch!“, erklärte ich belustigt. „Das Schäferstündchen scheint aber noch anzudauern. Von daher passt es.“

Der Rechtsanwalt lachte. „Immer diese Treulosigkeit!“

In seiner flapsigen Bemerkung steckte viel Wahrheit. Meine Aufträge bestanden hauptsächlich darin, etwaigen Seitensprüngen auf die Schliche zu kommen. Offensichtlich nahm man es in Ahrensburg mit der Treue nicht so genau.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich in der Hoffnung, einen spannenden Auftrag zu ergattern.

„Ich brauche Ihre Hilfe“, kam der Advokat gleich auf den Punkt. „Kristin Klein, meine Mandantin, sitzt in Untersuchungshaft.“

„Oha!“, rutschte es mir heraus, denn die fünfundzwanzigjährige Frau stand unter dringendem Tatverdacht, Lutz Behrens, Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Ahrensburg, vor zweieinhalb Wochen in der Schlosskirche erschossen zu haben. Der Mordfall elektrisierte ganz Norddeutschland.

Halbherzig schob ich hinterher: „Für die Aufklärung des Mordes ist die Kriminalpolizei zuständig.“

„Ja, schon, aber es wird meines Erachtens einseitig zu Lasten meiner Mandantin ermittelt. Ich möchte mehr über die Hintergründe erfahren, die zu der Ermordung des Pastors geführt haben. Mich interessiert jedes Detail. Tauchen Sie ein in das Umfeld der Kirchengemeinde Ahrensburg.“

„Frau Klein hat den Mord gestanden“, gab ich zu bedenken.

„Ja, aber unter Drogeneinfluss!“

Ich stutzte, diese Information war neu für mich. Kurz herrschte Schweigen in der Leitung, dann fragte er mich: „Nun, nehmen Sie den Auftrag an?“

„Der Fall ist zu spannend, um Nein zu sagen“, erklärte ich spontan.

„Sehr schön, dann sind wir uns ja einig. Bezüglich Ihres Honorars wenden Sie sich bitte an mein Büro. Zwei Dinge noch. Nähere Informationen zur Kirchengemeinde Ahrensburg kann Ihnen Elisabeth Jakobs geben, auch vor dem Hintergrund, dass die Kirchengemeinde seit einem Jahr mit manchen Problemen zu kämpfen hat. Die alte Dame weiß, dass ich Sie engagiere. Sie ist seit zig Jahrzehnten in der Kirchengemeinde tätig. Lange Zeit hat sie das Kirchenbüro geleitet. Heute ist sie Mitglied im Kirchengemeinderat. Und über Kristin Klein erzähle ich Ihnen etwas, allerdings erst morgen. Ich habe in einer Stunde einen Gerichtstermin.“

Daraufhin beendeten wir das Gespräch. Ich freute mich riesig. Endlich durfte ich wieder in einem spektakulären Kriminalfall ermitteln.

Kapitel 2

02. März 2022, im Detektivbüro

Es war erst acht Uhr morgens. Gewöhnlich schlief ich um diese Zeit so tief und fest wie ein Murmeltier. Doch heute hielt ich mich schon in meinem Büro auf, Elisabeth Jakobs hatte sich für heute Morgen angekündigt. Das Zwei-Zimmer-Büro, das Jacky und ich uns teilten, befand sich in der Nähe des Ahrensburger Hauptbahnhofs. Jacky war meine Sekretärin und rechte Hand und mit ihren achtundzwanzig Jahren nur fünf Jahre jünger als ich.

Ich warf einen letzten Blick auf die Notizen, die ich mir gestern Abend über Lutz Behrens gemacht hatte. Er war fünfzig, Witwer und eine attraktive Erscheinung gewesen. Seine Frau Heidi war schon vor zehn Jahren verstorben. Ihre Ehe war kinderlos geblieben.

Ein paar Augenblicke später traf Frau Jakobs ein. Nachdem wir uns einander kurz vorgestellt hatten, setzten wir uns in die Besprechungsecke meines Zimmers. Jacky bereitete mir einen extra starken Espresso zu, während die alte Dame es bei einem Glas Wasser beließ.

Schnell kamen wir auf die Kirchengemeinde Ahrensburg zu sprechen. Ich sagte: „Dr. Günes hat von Problemen im Umfeld Ihrer Kirchengemeinde gesprochen.“