Albenbrut - Carmilla DeWinter - E-Book

Albenbrut E-Book

Carmilla DeWinter

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Beschreibung

Dem jungen Schwarzmagier Alea unterläuft bei einem Auftrag ein fataler Fehler – eine Heilerin stirbt. Alea lässt sich festnehmen, um seinem dunklen Meister Orso zu entkommen. Unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen wird er beim Sonnenorden zwangsverpflichtet, der magischen Elitetruppe des Königs von Friedlant. Die Mitglieder des Sonnenordens betrachten Alea und seine Fähigkeiten jedoch mit Misstrauen. Nur der junge Tankred ist fasziniert. Ihm gelingt es, ein Loch in die Mauern zu brechen, die Alea um sich errichtet hat. Gegen alle Regeln des Ordens verlieben die beiden sich und planen ihre Flucht. Doch Orso hat seinen Plan, die Herrschaft über Friedlant zu übernehmen, nicht aufgegeben. Und dafür braucht er Alea.

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Seitenzahl: 812

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carmilla DeWinter

Albenbrut

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2022

Printausgabe: 2024

Für alle Belange rund um den Verlag

http://www.deadsoft.de

[email protected]

Querenbergstr. 26

D-49497 Mettingen

© the author

Umschlaggestaltung: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com/

© Thi Thao Lan – shutterstock.com

© Franck Boston – shutterstock.com

Content Notes am Ende des Romans oder unter:

http://carmilladewinter.com/trigger/

1. Auflage der überarbeiteten Gesamtausgabe

ISBN 978-3-96089-758-3

ISBN 978-3-96089-562-6 (ebook)

Inhalt:

Dem jungen Schwarzmagier Alea unterläuft bei einem Auftrag ein fataler Fehler – eine Heilerin stirbt. Alea lässt sich festnehmen, um seinem dunklen Meister Orso zu entkommen. Unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen wird er beim Sonnenorden zwangsverpflichtet, der magischen Elitetruppe des Königs von Friedlant. Die Mitglieder des Sonnenordens betrachten Alea und seine Fähigkeiten jedoch mit Misstrauen. Nur der junge Tankred ist fasziniert. Ihm gelingt es, ein Loch in die Mauern zu brechen, die Alea um sich errichtet hat. Gegen alle Regeln des Ordens verlieben die beiden sich und planen ihre Flucht.

Doch Orso hat seinen Plan, die Herrschaft über Friedlant zu übernehmen, nicht aufgegeben. Und dafür braucht er Alea.

Teil 1

Treueschwur

UNTER DER GROSSEN Kiefer im Bürgergarten roch es bei gutem Wetter nach zu Hause.

Das war Unsinn, natürlich, denn Alea hatte keine einzige Erinnerung an das namenlose Dorf im Süden, in dem er geboren war. Meister Orso hatte ihn von seinen armen Eltern gekauft, als er gerade entwöhnt war.

Zumindest behauptete der Meister das.

Alea setzte sich verbotenerweise auf den von Nadeln bedeckten Boden und ließ die Sonne auf seine schwarze Kapuze brennen. Später würde der Meister die Trödelei bestrafen, aber die Ruhe hier war eine Ohrfeige wert.

Trippelnde Schritte näherten sich über den Kiesweg und hielten in geringer Entfernung an.

Alea öffnete die Augen. Ein kleiner Junge, dessen blonde Locken in alle Richtungen abstanden, starrte ihn an.

„Bist du krank?“, fragte der Junge.

„Nein“, sagte Alea.

„Was ist das dann für ein Mal in deinem Gesicht?“

„Das ist eine Tätowierung.“ Ein Zeichen, das Alea einmal nachts im Traum gesehen hatte; eine senkrecht verlaufende Zickzacklinie, vielleicht auch eine Schlange, wie das Tier des centerrischen Heilergottes.

„Was ist eine Tätt-oh-wie-rum?“

Wie erklärte man eine freiwillige Verunstaltung einem Kind? Alea runzelte die Stirn. Und sollte er das überhaupt, denn die Frage nach dem Warum würde nicht ausbleiben.

„Friedrich!“

Der Kleine zuckte zusammen. „Hier!“

Keuchend fegte eine Frau mit rotem Kopf und gerafften Röcken um eine Hecke. „Da bist du, du Lausbub. Du sollst nicht einfach davonlaufen, hörst du?“

Ob ihrer strengen Blicke fühlte Alea die Anspannung in seine Schultern zurückkehren, doch der Junge setzte nur einen Hundeblick auf und nickte.

„Gut. Wenn du noch mal ausreißt, muss ich es deinen Eltern sagen.“ Sie streckte ihre Hand aus.

Der Junge rannte zu ihr, nahm die Hand und grinste zu ihr hoch, offensichtlich ohne die geringste Furcht vor einer Backpfeife.

„Na also. Ich hoffe, er hat Euch nicht gestört“, wandte sie sich an Alea.

„Nicht im Geringsten“, log er.

Sie lächelte dünn, bestimmt war er ihr unheimlich, und zog den kleinen Jungen davon. Das Kind schien nicht eingeschüchtert und begann zu erzählen, von Tätt-oh-wie-rummen und allerlei mehr.

Alea starrte den beiden hinterher. So viel wie dieses Kind hatte er noch nie am Stück gesprochen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Das Erste, was er überhaupt je gelernt hatte, war, den Mund zu halten.

Es hatte einige Zeit gebraucht, aber irgendwann im letzten Jahr hatte Alea begriffen, dass er nicht nur ein Rad ab, sondern einen vollständigen Achsbruch hatte.

Meister Orso hatte jedoch heute anscheinend anderes zu tun, als sich um Aleas Pünktlichkeit zu kümmern; er war aus, deshalb nahm Alea ein Schwert und übte im Hof, bis er Hunger bekam.

Erst kurz vor Sonnenuntergang fiel die Tür ins Schloss, und Meister Orso polterte die Treppe hinauf, als seien die Bretter Feinde, die es zu zerquetschen galt.

Schlechte Laune heute.

Ach was. Schlechtere Laune.

„Alea!“

Alea rannte die Treppen hoch ins Studierzimmer.

„Meister.“ Er verneigte sich tief.

„Wir haben Schwierigkeiten.“

„Meister?“

Meister Orso ging auf und ab, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt, sein grauer Mantel schleifte über die glatten Holzbohlen, und Alea widerstand der Versuchung, laut zu zählen. Es brauchte immer fünf Runden, bis der Meister sich beruhigt hatte.

„Unsere Verbindung ins Schloss hat ihr Gewissen wiederentdeckt.“ Der Meister hielt inne, um die kleine Eisentruhe auf seinem Schreibtisch anzustarren, in der sich angeblich die Beweise für seinen Thronanspruch befanden. „Du wirst Brünn daran erinnern, dass sie an eine Familie zu denken hat. Ich habe herumgehört, heute Abend wird sie in der Stadt ihre Schwester besuchen. Auf dem Rückweg wirst du sie abpassen und ihr ein paar Drohungen ins Ohr flüstern. Und keine Zaubereien. Sie darf nicht wissen, wie viele es von uns gibt.“

Eine echte Aufgabe, nicht die ewigen Botengänge und Spitzeleien. Etwas, das Aleas Kenntnissen würdig war. „Es wird mir eine Ehre sein, Meister.“

„Sieh besser zu, dass du mir Ehre machst. Keine Magie, auch wenn sie sich wehrt. Und sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Nichts, was sie meinem Bruder zutragen könnte, hörst du?“

Alea wollte mit den Augen rollen. Wie alt war er denn? „Ja, Meister.“

Der Meister scheuchte ihn mit einer Handbewegung hinaus; die Audienz war beendet.

Selbstverständlich hätte Alea Brünn irgendwo in der Stadt abfangen können – sie nahm immer den gleichen Weg – aber das war langweilig.

Die Strecke aus der Stadt zum Schloss stellte bei Dunkelheit jedoch eine gewisse Herausforderung dar, weil dann die Tore geschlossen waren. So musste Alea über die Stadtmauer klettern, den steilen Fußpfad zur Festung hinauf und dort wieder zwei Mauern überwinden, bis er den Rosengarten erreichte. Der Weg zum Dienstboteneingang führte quer hindurch, und Brünn nahm immer die Hintertür, obwohl sie gewiss keine Dienstbotin war.

Um diese Zeit war nicht mehr viel los im Schloss. Durch die hohen Fenster zur Terrasse hin drang noch Licht, doch nur ein Pärchen stand draußen und genoss einen der letzten lauen Sommerabende. Den Garten selbst erhellten einige Leuchtkugeln an den wichtigen Pfaden.

Alea gab sich trotzdem Mühe, leise zu sein; er würde ohnehin schon lange genug warten müssen. Im Rosengarten stellte er sich in einen der dunklen Seitengänge und richtete sich auf eine Stunde gepflegten Stumpfsinns ein.

Eine Ewigkeit verging, in der er von einem Fuß auf den anderen trat.

Jedes Mal, wenn Schritte sich näherten, war er bereit, zuzuschlagen, aber er musste einige kichernde Dienstmädchen, zwei betrunkene Küchenhilfen und noch ein paar mehr abwarten, bis Brünn auftauchte. Ihre Heilerinnen-Aura näherte sich gemächlich, und Alea hatte gute Lust, sie zu schieben.

Als sie endlich an seinem Versteck vorbeikam, trat er nach draußen, wand einen Arm von hinten um ihre Schultern und schlug ihr die andere Hand vor den Mund.

Sie keuchte, ein feuchtwarmer Lufthauch traf seine Haut.

„Heilerin Brünn … vielleicht wisst Ihr, weshalb ich hier bin?“, flüsterte er.

Sie schüttelte den Kopf, wand sich mit unerwarteter Kraft, und verhinderte so, dass Alea einfach Meister Orsos Botschaft ausrichten konnte.

Alea verstärkte seinen Griff auf sie. Dumm, dass er ihr den Mund zuhalten musste, statt einfach einen Kreis ziehen zu können.

Eine schattenhafte Bewegung vor seinem inneren Auge ließ ihn tief einatmen. Gleich würde es wehtun.

Brünn stampfte ihm mit ihrem Holzschuh auf die Zehen und biss gleichzeitig in seine Hand.

Alea zischte, zerrte sie in die Schatten, und wirbelte sie herum. Versuchte den Schmerz nicht zu beachten, als der letzte Rest Haut sich von seiner Handfläche löste und warmes Blut floss. Mit dem Rücken schob er Brünn in die Hecke und nahm seine Hand nicht weg, obwohl die Heilerin würgende Geräusche machte, vielleicht, weil ihr das Blut nicht schmeckte.

„Für solche Spielchen werde ich nicht bezahlt“, sagte er.

Ihre Aura verschwand, und eine Vorahnung ereilte Alea mit ungewohnter Klarheit.

Zornige blaue Augen starrten ihn aus einem Gewirr von strähnigen blonden Haaren an; eine kurze Klinge zeichnete silberne Bögen in die Luft.

Dieser hier wird dich töten, sagte ihm die Vorahnung, wenn du jetzt nicht stillhältst.

Alea blinzelte.

Brünn rammte ihm ihr Knie in den Schritt.

Er taumelte zwei Schritte zurück und beugte sich vornüber. Rang um Luft, versuchte, den Schmerz davonzuschieben, bis er Zeit hatte, sich darum zu kümmern, denn Brünn wob mit den ausholenden Gesten einer Anfängerin ein Netz aus Zauberkraft.

Sie durften Alea nicht schnappen. Der Meister würde ihn umbringen.

Alea bewegte seine rechte Hand in Brünns Richtung. Nur ein bisschen Feuerwerk zur Ablenkung.

Der Gang flackerte in grellem Licht, Brünn keuchte wieder, Alea hörte sie auf den Weg fallen.

Offenbar hatte sie sich überanstrengt. Gut. Nachher konnte Alea sie aufwecken und Meister Orsos Botschaft weitergeben.

Irgendwann bekam er die Schmerzen in den Griff, richtete sich auf und humpelte zu ihr. Sie atmete, aber mitten durch ihren Bauch hatte der Blitz ein Loch gebrannt. Es roch nach verbranntem Fleisch.

Alea schluckte bittere Galle und sah ihr Gesicht an, so blass in der Nacht, und das Blut um ihren Mund, als sei sie die Dunkle Herrin selbst.

Ihre Augen schienen bis in den hintersten Winkel seines Kopfes zu blicken, ihr Ausdruck wurde weicher, friedlicher, sie blinzelte, und Alea hatte das Gefühl, als wäre ihm soeben vergeben worden.

Dann holte ihn die Wirklichkeit ein, der Gestank und die Ermahnungen des Meisters.

Alea drehte sich um und hinkte davon, obwohl er ihren Blick in seinem Rücken fühlte, der versprach, dass es ihm besser ergehen würde, wenn er blieb.

Meister Orso musste gespürt haben, dass etwas schiefgegangen war, denn er erwartete Alea in der Eingangshalle.

Alea warf sich auf die Knie und lehnte sich nach vorn, bis seine Stirn den kühlen Boden berührte, in einer Geste größtmöglicher Unterwerfung. Immer noch diese nutzlose Hoffnung, den Meister besänftigen zu können.

„Was ist geschehen?“ Der Meister klang fast besorgt.

„Sie wusste sich zu wehren, Meister. Sie gab mir eine verwirrende Vision ein und wollte mich fesseln. Ich habe versucht, sie daran zu hindern und meine Kraft unterschätzt. Sie ist tot. Bitte vergebt mir, Meister.“

Der Meister blieb einen Moment lang vollkommen still, doch es wäre unklug gewesen, ihn anzusehen.

„Es war eine sehr einfache Aufgabe. Du hättest gar nicht lange genug brauchen dürfen, um dich so zurichten zu lassen. Außerdem habe ich nie Macht an ihr gespürt, die ausgereicht hätte, eine Vision zu fälschen.“

Alea hatte schon geahnt, dass der Meister die Lüge nicht glauben würde, aber immerhin fragte er nicht, was Alea gesehen hatte.

„Du wirst deine Strafe erhalten, und dann dafür sorgen, dass dein Fehler die geringstmöglichen Auswirkungen hat.“

„Ja, Meister.“

„Gut.“

Der Schlag traf Alea wie eine plötzliche Windböe und ließ ihn über den Boden gleiten, bis er an die Wand stieß. Das war ungewöhnlich sanft, und Alea rollte sich ein, in Erwartung des Restes, doch zunächst herrschte grausame Ruhe.

Schließlich kam der Meister näher, kniete neben Alea hin, und legte ihm eine Hand auf den Kopf. In Alea zerbrach etwas, obwohl er längst nur noch aus Scherben bestand, denn wie oft hatte er sich so eine Geste als Anerkennung gewünscht?

„Ich kenne mehr Wege, dir wehzutun, als du dir vorstellen kannst.“

Ja, das begriff Alea auch gerade. Orsos Daumen strich über Aleas Stirn, und er musste all seine Kraft aufwenden, um sich nicht in die Berührung zu lehnen.

„Sieh zu, dass ich mich das nächste Mal auf dich verlassen kann, sonst suche ich mir einen neuen Lehrling.“

Diese Drohung war neu, aber jetzt deswegen Angst zu haben, wäre Verschwendung. Lieber biss Alea die Zähne zusammen und wappnete sich.

Irgendwann war es vorbei.

Alea lag auf dem Boden, auf den kalten Schieferfliesen. Der Stein fühlte sich gut an auf seiner heißen Haut. Er blinzelte seine Hand an und wunderte sich, dass sie nicht verkohlt war; er hätte schwören können, dass alle Haut heruntergebrannt war, aber sie blutete nur ein wenig, da, wo Brünn ihn gebissen hatte.

Alea schloss die Augen. Nur ein bisschen Ruhe.

xxx

Im Schloss stand an jeder Ecke ein Wachposten, misstrauisch jeden beäugend, der vorbeiging – selbst Tankred und Ingfried blieben nicht ausgenommen, obwohl der Sonnenorden sonst mit Ehrfurcht behandelt wurde.

Tankred hatte ein flaues Gefühl im Magen, das nichts mit seinem heruntergeschlungenen Frühstück zu tun hatte. Was auch immer da geschehen war, ein Übel, über das der Bote nichts gewusst hatte, es würde zumindest die Welt auf den Kopf stellen.

Der Rosengarten war mit ein paar Schranken abgeriegelt, und im Hauptgang wimmelte es von Leuten. Wachen in Blau und Gold, den Farben des Königs; tuschelnde Dienstboten, zwei Heiler in grüner Tracht und drei Godinnen der Dunklen Herrin in Schwarz.

Tankred und Ingfried hielten an der Schranke, Ingfried winkte einen Wächter herbei. „Ritter Ingfried und mein Mündel, der Knappe Tankred. Wir wurden vom Hauptmann hergebeten.“

Der Blick des Wächters huschte über ihre gelben Mäntel, suchte die goldene Borte an Ingfrieds und den silbernen Streifen für Knappen an Tankreds. „Ich gehe ihn holen, ehrwürdige Herren. Wartet hier, bitte.“

Der Wächter eilte davon und kam schließlich mit dem Hauptmann zurück, einem stämmigen Mann mit einem vor Aufregung roten Gesicht. Als einziger Wächter trug der Hauptmann statt eines Helms eine lederne Kappe, an deren Krempe eine schmale blaue Feder wippte.

„Ehrwürdige Herren. Ich bin Dietmar von Dreiberg. Vielen Dank, dass Ihr so schnell erschienen seid.“

„Wie es unsere Pflicht ist“, sagte Ingfried milde. „Auch wenn Todesfälle nicht unser eigentliches Aufgabengebiet sind.“

Tankred unterdrückte ein Lächeln. Angestammtes Aufgabengebiet oder nicht, Ingfrieds Begeisterung für rätselhafte Verbrechen dämpfte das keineswegs.

Von Dreiberg hingegen verzog den Mund. „Wir haben Euch nicht gerufen, weil uns fähige Ermittler fehlen. Wenn Ihr mir folgen wollt?“ Er hob die Schranke für sie und führte sie den Hauptgang entlang. „Einer meiner Wächter hat die Leiche heute gefunden, kurz vor Sonnenaufgang, auf einem der zwei üblichen Rundgänge, die wir hier nachts machen. Er hat zunächst einen Heiler aus dem Schloss gerufen, aber der konnte nur noch den Tod feststellen.“

Der Haufen Schaulustiger wich beim Anblick von Ingfrieds und Tankreds gelben Mänteln zurück. Ein paar machten erleichterte Gesichter.

Am Boden lag eine Frau in grünen Gewändern, mit einem Handabdruck auf ihrem Gesicht, Blut wahrscheinlich, und mehr davon an ihrer linken Schulter. Getötet haben musste die Heilerin die etwa faustgroße Wunde in ihrem Bauch, schwarz versengt an den Rändern; wenn man nahe genug heranging, konnte man den Kiesweg durch das Loch hindurchsehen. Tankred schluckte und hoffte, dass sein Frühstück dort bleiben würde, wo es sich im Augenblick befand. Ganz gleich, wie viele Leichen er besichtigte, der Würgereiz wurde nicht besser.

Ingfried warf ihm einen warnenden Blick zu.

Tankred entfernte sich einen Schritt und hob das Kinn.

„Dies hier war die Heilerin der Königin. Brünn“, erklärte von Dreiberg leise. „Wie Ihr seht, ist sie mit Zauberei getötet worden. Offensichtlich gibt es einen Schwarzkünstler in der Stadt.“

Obwohl Tankred der Letzte war, der etwas dagegen hätte unternehmen können, fühlte er sich schuldig. Er biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden.

Ingfried zuckte nur mit der Nase und schien vom Vorwurf des Hauptmanns nicht weiter beeindruckt. „Möge die Dunkle Herrin ihr gnädig sein.“

Tankred murmelte ihm die Worte nach.

Wie immer machte Ingfried eine Schau daraus, seine langen Haare zurückzubinden, die Handschuhe auszuziehen und die Ärmel hochzukrempeln. Dann ging er neben dem Leichnam in die Hocke, begutachtete zunächst das Loch. „Das hier ist von so starker Hitze versengt worden, dass es nicht geblutet hat. Ich gehe von einem Blitz aus.“

Tankred suchte die Hecken ringsum ab. „Ein paar Blätter da drüben sind schwarz.“

Ingfried drehte den Kopf, um es sich anzusehen. „Da muss man sehr genau hinschauen. Also war es gut gezielt. Jemand mit großer Macht hat sie sich zum Opfer erwählt.“

Einige ihrer nicht begabten Zuschauer machten Zeichen gegen böse Einflüsse.

„Nun denn.“ Ingfried griff der Toten ans Kinn, ruckelte, aber es ließ sich nicht bewegen. „Sie liegt hier schon eine Weile. Ihr Gesicht ist unversehrt, ich gehe davon aus, dass dieses Blut nicht ihr eigenes ist. Ein Heiler, bitte?“

Ein junger Mann trat vor, dessen Gesicht fast die gleiche Farbe hatte wie seine grüne Robe. Immerhin einer hier mochte Leichen genauso wenig wie Tankred.

„Ich habe einen Verdacht“, sagte Ingfried. „Wenn Ihr ihr bitte den Mund öffnen wollt?“

Der Heiler knetete für einen Augenblick seine Hände, ging dann aber neben Ingfried in die Hocke und griff nach Brünns Kiefer. Tankred sah den Zauber im magischen Feld leuchten, und schon klappte der Mund auf.

Ingfried langte nach einem Fetzen, der zwischen rotbraun verfärbten Schneidezähnen hing, und zog.

Brr. Tankred schluckte. Der Heiler schüttelte sich.

„Das hier ist ein Stück Haut“, stellte Ingfried fest, nachdem er seinen Fund ausgiebig betrachtet hatte. „Vermutlich von einer Handfläche. Man kann die Linien sehen.“

„Sie hat den Angreifer gebissen?“, fragte der Hauptmann.

„Das glaube ich. Und seht Euch die Spuren an. Eine linke Hand. Hier der Daumen“, er zeigte auf den obersten der blutigen Fingerabdrücke. „Wahrscheinlich ist der Mörder Linkshänder.“

„Albenbrut“, flüsterte irgendwer.

Tankred rollte mit den Augen. Einer dieser Ewiggestrigen, die glaubten, dass die Linkshänder von den Alben auserwählt waren, Unruhe zu stiften.

„Albenbrut hin oder her.“ Ingfried stand auf und schüttelte den Hautfetzen von seiner Hand. „Wissen wir, was Brünn hier im Garten tat?“

„Sie hat sich nach Vorschrift bei der Wache am inneren Tor ab- und zurückgemeldet“, sagte von Dreiberg. „Sie wollte ihre Schwester in der Stadt besuchen, die hat vor einer Woche ihr erstes Kind geboren.“

„Ihre Schwester“, wiederholte Ingfried dumpf.

Tankred verkniff sich eine ähnlich ungläubige Bemerkung– kein Begabter in Friedlant kannte seine Familie. Durfte sie nicht kennen.

Von Dreiberg trat von einem Fuß auf den anderen, als sei es seine Schuld, dass gegen die Gesetze verstoßen worden war.

„Bitte …“, sagte der Heiler, der noch immer neben der Leiche hockte. „Die Schwester ist ein gleicher Zwilling. Keiner wusste, dass sie hierher heiraten würde, und es war Zufall, dass sie Brünn traf, als die noch in der Stadt tätig war.“

Ingfried nickte. „Ein äußerst unglücklicher Zufall, will ich meinen. Wussten Eure Oberen davon?“

Der Heiler zuckte die Schultern. „Sie sagte, es sei genehmigt.“

„Diese Schwester werden wir als Nächstes sprechen müssen. Aber zurück zur Tat. Brünn kam von der Stadt her.“ Ingfried nahm Tankred bei den Schultern und schob ihn in die Mitte des Hauptweges. „Gesetzt den Fall, ich wollte jemanden überraschen, dann ist dieser Gang hier ein gutes Versteck, weil die Hecken mehr als mannshoch wachsen und sehr dicht sind. Ein Schatten würde nicht auffallen.“ Er machte einen Schritt hinter Tankred. „Wenn ich mein Opfer nur töten wollte, könnte ich das von hier aus mit einer Keule, jeder anderen Waffe oder Zauberei bequem tun. Warum also das Blut in ihrem Gesicht?“

Tankred zuckte zusammen, als Ingfried ihn mit rechts umklammerte und seine linke Hand vor Tankreds Mund schweben ließ. Um das alte Blut an Ingfrieds Fingern nicht sehen zu müssen, drehte er den Kopf weg.

„Er – oder sie“, fuhr Ingfried mit seinem Vortrag fort, „hat sich Brünn von hinten gegriffen. Sie hat ihn gebissen, und daraus entspann sich ein Zweikampf. Als Heilerin wird sie zumindest gewusst haben, sich zu verteidigen.“

„Das ist alles schön und gut“, brummelte von Dreiberg. „Aber damit finden wir den Mörder auch nicht.“

Endlich ließ Ingfried Tankred los. „Wir wissen, dass der Mörder etwas wollte, außer Brünn zu töten. Falls Letzteres überhaupt beabsichtigt war.“

„Wie auch immer. Ich hoffe, Ihr habt ein paar verdächtige Ausländer unter Beobachtung.“

Tatsächlich hatten die meisten umliegenden Länder zaubereibegabte Herrscher, so, wie es vor dem Großen Erbfolgekrieg auch in Friedlant gewesen war. Hier jedoch dienten die Zauberer dem König, nachdem sie das Land fast vernichtet hatten, und alle, die glaubten, dass Zauberer zum Herrschen bestimmt waren, wurden als Schwarzkünstler bezeichnet. Manchmal schaffte es einer über die Grenze, aber noch nie hatte man von einem gehört, der ins Schloss gelangt war.

In Tankreds Nacken krabbelte es wie von Käfern. Er hätte Angst haben sollen, aber die Käfer erinnerten ihn an eine andere Art Aufregung, so wie die, wenn er mit Ansgar gesprochen hatte, bis er sich seine Schwärmerei ausgeredet hatte.

„Um den Täter zu finden, müssen wir wissen, warum er Brünn überhaupt angegriffen hat“, riss Ingfried Tankred aus seinen Erinnerungen. „Wir brauchen eine Liste von allen, denen sie etwas anvertraut haben könnte.“

Die Liste war zunächst recht kurz. Ingfried wollte die Königin und die anderen Heiler im Schloss befragen, während er Tankred und von Dreiberg in die Stadt schickte, um der Schwester die schlechte Nachricht zu überbringen und sie zu vernehmen.

Zurück im Schloss setzten sie sich im Dienstzimmer des Hauptmanns zusammen.

„Brünn war ein sehr einsamer Mensch.“ Ingfried tippte mit einem Griffel auf die Wachstafel, auf der er die bisherigen Ergebnisse festgehalten hatte. „Alle hier im Schloss mochten sie, aber kaum jemand wusste, was in ihr vorging. Keiner hat in den letzten Wochen irgendetwas bemerkt. Freunde hatte sie kaum. Ich habe nur einen einzigen Hinweis, nämlich die Seherin Liv, eine Godin der Erdmutter.“

„Die haben wir auch, ihre Schwester wusste aber den Namen nicht“, sagte Tankred. „Außerdem scheint sie öfter den Kräuterhändler am Kühmarkt aufgesucht zu haben.“

Ingfried entließ den Hauptmann, und dirigierte sie zunächst zum Kloster der Erdmutter in der Stadtmitte. So, wie Ingfried aus einem Eintopf immer die ungeliebte Rote Bete zuerst pickte.

Die Godinnen und Junggodinnen, die in den Kräutergärten arbeiteten, warfen ihnen neugierige Blicke zu – in den Klostergebäuden selbst waren keine Männer zugelassen, und so bekamen sie gewöhnlich nur welche zu sehen, wenn sie im Heiligtum beteten oder Wache hatten. Angesichts dieses Daseins, beschränkt auf ein Kloster, quadratisch, in einem quadratischen Garten mit quadratischen Beeten, war Tankred froh, dass der alte Berthold sich durchgesetzt und Tankred zum Sonnenorden geschickt hatte.

Am inneren Eingang warteten Tankred und Ingfried, bis endlich ihre Nachricht die Seherin Liv erreicht hatte und sie aus der Tür schlüpfte.

Sie war sehr klein und so zierlich, dass sie fast in ihrer braunen Tracht verschwand. „Ritter Ingfried. Knappe Tankred. Wenn Ihr mir folgen wollt.“

Liv führte sie zu einer stillen Ecke des Gartens, wo hinter einer Berberitzenhecke zwei Bänke über Eck standen.

„Vielleicht wollt Ihr Euch setzen.“ Sie machte eine vage Geste in Richtung der Sitzgelegenheit. Ingfried tat wie gebeten, er winkte Tankred neben sich, und Liv sank auf die andere Bank.

„Ich habe gesehen, dass Ihr kommt. Brünn ist tot, nicht wahr? Der Geist mit dem Siegel im Gesicht hat sie getötet.“ Sie runzelte die Stirn, als ärgerte sie ihr mangelndes Wissen mehr als der gewaltsame Tod einer Bekannten. „Ich glaube nicht, dass es Absicht war.“

„Wir auch nicht“, sagte Ingfried. „Dieser Geist hat mit ihr gekämpft. Könnt Ihr uns irgendetwas über ihn sagen? Kannte Brünn ihn?“

„Nein. Mehr habe ich nicht gesehen, und er weiß, wie er nicht gefunden wird. Ein echter Schwarzkünstler.“ Sie sah Tankred in die Augen, als wüsste sie um seine Vorahnungen, und so senkte er den Blick. „Er ist wie unbeschriebenes Pergament für mich.“

„Könntet Ihr ihn finden, oder wenigstens dieses Siegel aufmalen?“, fragte Ingfried.

Eine ausnehmend dumme Frage an eine Seherin, denn diese Auskunft hätte sie ihnen schon längst gegeben, wenn sie sie gewusst hätte. Tankred warf ihr ein entschuldigendes Lächeln zu.

Immerhin sorgte dies dafür, dass Liv nicht nur verachtungsvoll die Nase rümpfte. „Nein.“

Ingfried seufzte. Er hatte nie viel Geduld mit Sehern und noch weniger Verständnis. „Wisst Ihr, warum irgendwer Brünn etwas Böses wollte?“

Liv zog einen Mundwinkel hoch. „Sie ist da in eine Sache geraten. In der Stadt hat sie einen Heiler aus Centerre getroffen, der sich um die Gauner kümmert.“ Wieder bekam sie diesen abwesenden Blick. „Ihn kann ich nicht sehen, er trübt mein inneres Auge. Es ist nicht auszuschließen, dass er Brünn etwas beigebracht hat, das sie nicht wissen sollte.“

Jetzt hatten sie es schon mit zwei Schwarzkünstlern zu tun – Grund genug, sich zu fürchten, wären da nicht die Käfer in Tankreds Nacken gewesen. Er rieb sich den Hals, aber natürlich gingen sie davon nicht weg.

„Also gut“, sagte Ingfried. „Falls Ihr noch etwas seht, oder Euch noch etwas einfällt, das uns weiterhelfen könnte, sendet bitte einen Boten zu unserem Kloster oder zum Hauptmann der Schlosswache.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Liv. „Ich begleite Euch hinaus.“

Sie folgten der Seherin gemessenen Schrittes durch den Garten. Plötzlich blieb sie stehen; Ingfried trat sie fast.

„Seherin?“, fragte er, aber es half nichts, sie schwankte, ihr Blick ging in die Ferne.

Tankred griff nach Ingfrieds Ärmel. „Sie hat ein Gesicht.“ Hier half nur abwarten.

Einen Augenblick später schüttelte Liv den Kopf und drehte sich zu ihnen um. „Ich soll Euch sagen, dass ein guter Jäger seine Beute nicht verfolgen muss, sondern warten kann, bis sie zu ihm kommt.“

Ingfried hob die Brauen. „Deswegen baut man Hochsitze.“

Liv zeigte ihre Zähne wie eine missgelaunte Katze und wirbelte herum. Die Spannung in ihren Schultern verriet, dass sie Ingfried so schnell wie möglich loswerden wollte.

Tankred konnte es ihr nicht verübeln.

Draußen folgte er Ingfried, der schweigsam und schneller als sonst unterwegs war, durch das Gewirr von Gässchen der Innenstadt zum Kühmarkt. Der Kräuterhändler besaß dort ein dreistöckiges Eckhaus – offensichtlich lief das Geschäft gut – doch eine reiche Quelle an Auskünften war er trotzdem nicht.

„Rätsel über Rätsel“, sagte Ingfried, nachdem sie die Duftschwaden des Ladens hinter sich gelassen hatten. „Was haben wir gelernt?“

Tankred versuchte, die Hinweise zu sortieren. „Es gibt oder gab zwei Schwarzkünstler in der Stadt. Einer ist ein älterer Ausländer, der andere hat ein Siegel im Gesicht, was immer das heißt. Außerdem hatte Heilerin Brünn irgendetwas vor, von dem sie niemandem erzählt hat. Was schließen lässt, dass es nicht erlaubt war.“

Ingfried nickte. „Wir müssen ihre Gemächer durchsuchen, und dann werden wir uns mit einer Falle beschäftigen. Es ist ja nicht so, als wäre Livs Rat keine altbekannte Jägerweisheit.“

Tankred zog den Kopf zwischen die Schultern. Besser, er erwähnte seine Ahnungen nicht.

Von Dreiberg war nicht begeistert, dass sie in Brünns Räumen herumschnüffeln wollten. Tankred schlug schließlich vor, zur Verbrennung ein Opfer zu bringen, damit die Tote nicht beleidigt wäre und gewiss zur Dunklen Herrin eingehen würde. Damit war der Hauptmann besänftigt, auch wenn Tankred den Eindruck hatte, dass Ingfried liebend gerne eine verächtliche Bemerkung über Aberglauben gemacht hätte.

Brünns Wohnung hatte zwei Zimmer. Die Stube war einfach eingerichtet, mit zwei Sesseln und einem niedrigen Tisch auf einem Teppich vor dem Kamin. Ein Regal mit fünf Büchern. Auf einem zweiten Regalboden befanden sich die üblichen magischen Gerätschaften, die jeder Zauberkundige im Laufe seiner Lehrzeit ansammelte: ein Tonkelch, ein Dolch, eine Räucherschale, Töpfe mit Räucherwerk, bunte Kerzen, außerdem ein großes Tongefäß voller Fingerabdrücke aus dem roten Ocker, den man für manche Siegel brauchte. Ein mannshoher Stab, wie er Zauberern der höheren Ränge erlaubt war, lehnte in der Ecke daneben.

Ingfried blieb stehen, um die Bücher zu begutachten. „Sieh du dir das andere Zimmer an“, befahl er.

Das Schlafzimmer war karg, mit einer schmucklosen Truhe für Bettwäsche und einer für Brünns Hemden und Roben zum Wechseln. Unter dem Bett fand Tankred ein Paar Fellstiefel und abgelaufene Holzüberschuhe.

Ein Blick in den winzigen Waschraum förderte keine möglichen Verstecke zutage, unter der Matratze befand sich ebenfalls nichts, deswegen nahm Tankred sich die Truhen vor.

Mit der Kleineren stimmte etwas nicht; der Boden lag nicht tief genug. Er zog sie von der Wand weg und schüttelte den Kopf über Brünns Einfallsreichtum. Es gab ein flaches Schubfach, das sogar mit zwei Ringen zum Öffnen versehen war; kein echtes Geheimfach also, vielmehr hatte Brünn den Deckel der Truhe abgebaut und an der Vorderseite befestigt, sodass die ursprüngliche Hinterseite nach vorne zeigte. Bei genauerem Hinsehen konnte man die Löcher erkennen, die die Nägel der Scharniere hinterlassen hatten. Einfach, aber genug, um neugieriges Gesinde abzuhalten. Und mehr war ja nicht nötig gewesen, als Brünn noch gelebt hatte.

„Ingfried“, sagte Tankred. „Ich habe etwas gefunden.“

In der Stube wurde etwas Schweres zurück auf das Regal gestellt. Es sah dem Ritter ähnlich, dass er dem Anschein nicht traute.

Ingfried untersuchte die Truhe und zog endlich die Schublade auf. Sie enthielt einige dicht beschriebene Blätter.

„Unter dem Teppich in der Stube wäre Platz für einen Kreis.“ Ingfried setzte sich auf das Bett und blätterte durch den Stapel Pergament. Mit jeder Seite wurde sein Gesicht finsterer. Nur knapp widerstand Tankred der Versuchung, über die Schulter mitzulesen.

Schließlich reichte Ingfried Tankred die Aufzeichnungen und schritt hinüber in die Stube, wo er die Möbel herumrückte.

Tankred blinzelte das erste Blatt an. Da war der Eid der Heiler aufgezeichnet – ein Schwur, nur das Beste für die Kranken zu tun, ihre Not nicht auszunutzen, und Weiteres, was die Heilkunst betraf. Dazu kamen die Dinge, die von allen erwachsenen Zauberern in Friedlant gefordert wurden: ihre Kräfte nicht zu missbrauchen, begabte Kinder der Obrigkeit zu melden, damit sie ausgebildet werden konnten, Keuschheit, Armut, Gehorsam dem König gegenüber.

Der Eid der Heiler war ein bindender Eid, wie jeder Eid, den ein erwachsener Zauberer zu schwören hatte – ein Eidbruch würde von den Göttern bestraft. Tankred war einmal bei der Beisetzung eines Ritters gewesen, der von innen her verblutet war, weil er seinen bindenden Eid, den Ritterschwur, gebrochen hatte. Damals hatte Tankred sich mit der vielen Zeit getröstet, die bis zu seinem Schwurtag noch vergehen würde, doch mittlerweile war seine Galgenfrist auf ein Jahr und zwanzig Tage geschrumpft.

Der Rest von Brünns Aufzeichnungen las sich vordergründig wie eine Abhandlung über den Eid der Heiler, aber … sie hatte versucht, den Eid aufzuheben. Tankred starrte die Wand an, ihm schwindelte, als stünde er vor einem Abgrund, angesichts der Kühnheit allein des Gedankens.

Kein Wunder, dass Brünn niemandem etwas erzählt hatte. Es wurde einfach angenommen, dass alle sich fügten und den Eid gern schworen. Oder hinterher gern dienten.

Tankred schüttelte den Kopf, um die Zweifel loszuwerden, und ging hinüber in die Stube. Ohne den Teppich waren hier und da auf den Fliesen verwischte rötliche Linien zu sehen. Ingfried hockte daneben auf dem Boden. „Was hältst du von ihrem kleinen Aufsatz?“ Offenbar hatte Brünns Vorhaben ihn ebenfalls aus der Fassung gebracht.

„Sie wollte den Eid aufheben. Sie war wohl sehr unzufrieden mit ihrem Los.“

„Allein der Wunsch wäre Grund genug gewesen, sie einzusperren.“ Stirnrunzelnd rieb Ingfried an den Farbresten herum. „Es wird ein Rätsel bleiben, warum sie nicht zu einem anderen Heiler gegangen ist.“

Tankred nickte. Das wäre das Nächstliegende gewesen, doch anscheinend hatte Brünn nicht vom Gegenteil überzeugt werden wollen. Vielleicht hatte sie Angst gehabt, dass die Seelenheiler es schaffen würden. Vielleicht war sie sich sicher gewesen, dass sie es schaffen würden.

Ein Zwicken in seinem Hinterkopf warnte ihn. Zu viele verbotene Überlegungen heute. Außerdem durften sowieso nur ausgewählte, besonders zuverlässige Leute lernen, wie man Gedanken beeinflusste. „Wenigstens wissen wir jetzt, warum sie mit Schwarzkünstlern Umgang hatte.“

Ingfried ließ Brünns Siegel sein und erhob sich mit knackenden Knien. „Es hilft uns aber nicht, den Mörder zu finden. Alles, was hier ist, hat sie selbst geschrieben oder hergestellt.“

Selbstverständlich hatte Ingfried schon eine Idee, aber er nahm seine Aufgabe als Lehrer ernst, also dachte Tankred laut weiter. „Die Seherin sagte, man könnte dem Täter eine Falle stellen. Was ist, wenn wir so tun, als wüsste die Seherin, wie er aussieht? Oder … tun wir so, als sei Liv verschwunden. Ich möchte wetten, er kommt zumindest in ihre Zelle und sucht nach Hinweisen.“

Ingfried musterte Tankred, als sei er überrascht. „Das hatte ich mir auch schon überlegt.“

Tankred straffte die Schultern. So eine Bemerkung durfte man bei Ingfried als echtes Lob werten.

Sie legten von Dreiberg die verschiedenen Möglichkeiten bei einem Imbiss aus Brot, Käse und Obst dar.

„Euer Vorschlag klingt vernünftig, ehrwürdiger Ritter. Ich werde herumerzählen, dass eine Godin der Erdmutter den Mörder gesehen hat.“

Ingfried nickte.

„Seine Königliche Hoheit wünscht, über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten zu werden. Er ließ mich außerdem wissen, dass er den Schwarzkünstler lieber lebendig als tot hätte.“

„Selbstverständlich muss er noch befragt werden“, sagte Ingfried.

Tankred zuckte mit der Nase. Das konnte unmöglich so einfach sein, wie es klang.

Zuerst suchten sie noch einmal das Kloster der Erdmutter auf und beschwatzten die wachhabende Godin so lange, bis diese Liv holte und Tankred mit ihr sprechen ließ. Ingfried wartete einen Steinwurf entfernt, sodass er gerade noch mithören konnte.

„Das ging schnell.“ Liv lächelte. „Was genau soll ich tun?“

Tankred erklärte es.

Ihr Lächeln wurde breiter. „Ich werde packen und mich gegen Abend für einige Zeit zurückziehen.“

„Wir benötigen noch das Einverständnis von –“

„Lasst die Hochgodinnen meine Sorge sein.“

Und das war es.

Draußen verzog Ingfried das Gesicht. „Die junge Frau hat sich wieder einmal als außerordentlich auskunftsfreudig erwiesen.“

Tankred duckte sich. „Wenigstens glaubt sie, dass wir Erfolg haben werden.“

„Wie beruhigend.“ Ingfried zog die Brauen zusammen. „Sie weiß etwas über den Mann mit dem Zeichen im Gesicht, das sie uns vorsätzlich verschweigt.“

„Vielleicht weiß sie auch nur, dass wir jemanden fangen werden, mit dem wir nicht rechnen?“, versuchte Tankred seinen flatternden Magen in Worte zu fassen.

Ingfried schnaubte. „Ich bin jedenfalls nicht geneigt, eine Überraschung in Form eines Toten in Kauf zu nehmen. Die Jarle sollen uns mit allem ausstatten, was das Zeughaus hergibt.“

In seinem Leben war Tankred erst drei Mal im Kleinen Saal gewesen. Das erste Mal, als die Versammlung der Jarle ihn vor seinem Knappeneid geprüft hatte, das zweite Mal zu einem Festessen, als Eginhard, einer von Ingfrieds ehemaligen Knappen, zum Jarl ernannt worden war. Und letztes Jahr, nachdem Ingfried und er geholfen hatten, ein Nest Seeräuber auszuheben.

Der Kleine Saal war ein quadratischer Raum im obersten Stock des Turmbaus. Nach Osten, Süden und Westen hatte er große Rundbogenfenster mit Scheiben aus Buntglas, die die Geschichte des Ordens zeigten: König Walthari und seine sieben Söhne, den Großen Erbfolgekrieg, Fredegunds Berufung durch die Lichte Herrin, ihren Sieg, die zehn unbescholtenen Zauberer, die sie auswählte, um das Reich zu schützen.

An schönen Tagen wie heute fiel das Sonnenlicht durch die Fenster, und sie spiegelten sich in dem glatten, dunklen Holzboden.

In der Mitte des Kleinen Saals stand ein gewaltiger runder Tisch, an dem die Ehrwürdige Rätin und die zwei Dutzend Jarle saßen. Zwei davon waren ehemalige Mündel von Ingfried; mächtige, fähige Zauberer, deren Erfolg Ingfried Tankred häufig genug unter die Nase rieb, besonders Eginhards, mit seinen vierunddreißig der jüngste Jarl seit hundert Jahren.

Immerhin hatte man auch Ingfried keinen Stuhl angeboten.

„Ihr hattet also die Eingebung, die Seherin Liv als Köder zu benutzen, Knappe Tankred?“

Tankred riss sich aus der Betrachtung von Eginhards Mantel. „Ja, Ehrwürdige Rätin.“

Die Ehrwürdige Rätin, Adele, lächelte ihn an. „Eine gute Wahl. Das Kloster der Erdmutter ist überschaubar und bietet wenig Fluchtmöglichkeiten. Die Versammlung wird jetzt einen Trupp zusammenstellen und sich in der Wahl der Waffen beraten. Ritter Ingfried, ich denke, Ihr brennt darauf, beteiligt zu sein.“

Ingfried senkte den Blick. „Wie könnte es anders sein, Ehrwürdige Rätin?“

„Und Euer Mündel? Haltet Ihr ihn für fähig genug, mitzukommen?“

Tankred wagte nicht, Ingfried oder irgendjemanden anzusehen.

„Es wäre eine wichtige Erfahrung für ihn“, sagte Ingfried.

So klang eine wahrhaft begeisterte Empfehlung, wenn selbst der eigene Vormund einer solchen Frage lieber auswich. Tankred ließ die Schultern hängen.

Die Ehrwürdige Rätin summte. „Ich erwarte Euch beide in zwei Stunden in meinem Arbeitszimmer, um die Einzelheiten zu besprechen.“

xxx

Du wirst dafür sorgen, dass dein Fehler die geringstmöglichen Auswirkungen hat, hatte Meister Orso gesagt.

Alea kniete seit einer Stunde auf dem Fliesenboden des Arbeitszimmers in einem Kreis, der sein inneres Auge schärfen sollte, doch in dem magischen Gewirr, das die vielen Zauberer in Königstein spannen, war es unmöglich, mehr als zufällige Muster zu erkennen. Mit dem Belauschen von Gesprächen auf den Gassen hatte er mehr erreicht.

Seit mittags verbreitete sich ein Gerücht, dass eine Godin der Erdmutter wüsste, wie der Mörder aussah. Zwar hatte es die Todesart der Heilerin Brünn nicht auf die Gassen geschafft, wohl aber, dass sie tot war, und der Schuldige verletzt entkommen konnte. Zudem war ein Gespann aus Ritter und Knappe vom Sonnenorden heute wie aufgescheuchte Hühner durch die Stadt gehetzt.

Die Königstreuen waren Alea auf den Fersen, aber er konnte unmöglich erkennen, was sie vorhatten.

„Alea!“

Er zuckte zusammen. So viel zu einem geschärften Blick, wenn er schon Meister Orso auf der Treppe nicht bemerkte.

„Meister?“ Alea senkte den Kopf.

Der Meister blieb hinter Alea stehen. „Was tust du hier? Du hast einen Auftrag.“

„Aber …“ Alea hatte Fieber; die Bisswunde hatte sich entzündet, obwohl er sie mit Branntwein gespült hatte; er humpelte, und seine Lendengegend war vollständig grün und blau. Das Einzige, was ihn heute wachgehalten hatte, war die Angst vor genau diesem Verhör.

„Du solltest deine Kräfte zunächst darauf verwenden, dich wieder herzustellen, und dann herausfinden, was diese Godin weiß.“

„Ja, Meister.“

„Manchmal hätte ich gerne einen Lehrling, dem ich nicht alles vorkauen muss.“

„Ja, Meister.“

Meister Orso rauschte nach draußen, und Alea sah ihm nach. „Das ist ungerecht“,wollte er sagen. Er durfte nicht einmal tagsüber ohne Erlaubnis das Haus verlassen, während sich andere Jungen in seinem Alter nachts in den Schenken herumtrieben. Der Meister war wegen der geringsten Kleinigkeit hinter Alea her, wegen seiner Schlafenszeiten, wofür er sein mickriges Taschengeld ausgab, ob er genug Gemüse gegessen hatte, wie viel er mit dem Schwert übte, statt seine magischen Fähigkeiten zu schärfen. Abgesehen davon vergaß er gerne, dass Alea ein miserabler Heiler war.

„Manchmal“, wollte Alea sagen, „wäre ich lieber beim hinterwäldlerischsten Schmied in der Lehre als bei Euch.“

Alternativ könnte er einfach die Wunde weiter schwären lassen, bis er eine Blutvergiftung bekam und es für jede Hilfe zu spät war. Es würde wehtun, aber danach hätte er wenigstens seine Ruhe.

Vermutlich würde sich der Meister aber nicht so lange täuschen lassen.

Alea biss die Zähne zusammen und erhob sich.

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Das Arbeitszimmer der Ehrwürdigen Rätin enthielt unglaublich viele Bücher. Sie standen zu Dutzenden in den Bücherschränken an der Wand, stapelten sich zusammen mit losen Schriftstücken auf den Stühlen für Besucher und dem Schreibtisch – was so gar nicht zu Adeles Erscheinung passen wollte.

Sie war etwas größer als Tankred und drahtig, mit wasserhellen Augen und schneeweißem Haar, das sie immer zu einem strengen Witwenknoten aufsteckte. Dazu nahm sie sich heraus, keinen gelben Waffenrock zu tragen, sondern einen blendend weißen. Zusammen mit ihrem violetten Mantel ergab sich ein Bild, das Tankred immer an Geschichten über die Alben erinnerte.

„Guten Abend, Ingfried. Knappe Tankred. Setzt Euch doch.“ Sie deutete zu den Stühlen vor ihrem Schreibtisch, was Tankred als Erlaubnis nahm, zwei davon freizuräumen.

Sie selbst ließ sich in ihren Sessel sinken. „Die Ratsgodin, Mutter Edburg, hat mir gestattet, Männer mitzubringen. Vorausgesetzt, sie haben einen untadeligen Ruf.“

Tankred bemühte sich um eine bessere Haltung. Wenigstens die Ehrwürdige Rätin vertraute ihm.

„Bevor der Rest des Trupps eintrifft, wollte ich Euch mit unseren Waffen bekannt machen.“

Sie öffnete eine Schublade an ihrem Schreibtisch und entnahm ihr eine Holzschachtel. Darin war auf grauer Seide ein dunkler, ovaler Stein gebettet, etwa so groß wie ein kleiner Fingernagel, in Silber eingefasst. Die Ehrwürdige Rätin kippte das Kästchen ein wenig, der Stein fing das Licht und leuchtete in allen Farben des Feuers.

„Ein schwarzer Opal“, sagte Ingfried. „Das muss ein Vermögen gekostet haben.“

„Vermutlich. Diese Amulette sind aus einer älteren, dunkleren Zeit auf uns gekommen. Wir haben fünf davon. Später wird jeder von uns eines bei sich tragen.“

Schön und gut. „Entschuldigt, Ehrwürdige Rätin? Was tut dieses Amulett genau?“

„Alles zu seiner Zeit, Knappe. Diese Amulette sind, wie gesagt, sehr alt und dürfen keinesfalls leichtfertig verwendet werden.“ Sie ließ das Amulett in ihre andere Hand fallen, um ihnen die Rückseite zu zeigen. Es hatte vier kleine Haken, an jedem Kompasspunkt einen. „Das Amulett wird auf die Stirn gesetzt – da, wo das sogenannte dritte Auge ist. Dort krallt es sich fest und kann nur von dem entfernt werden, der es dort befestigt hat.“

Tankred runzelte die Stirn. Derartige Macht musste doch eine Bindung zwischen Opfer und Täter schaffen. War das förderlich?

„Das Amulett unterbindet jeglichen Zugriff des Gefangenen auf seine Zauberkräfte“, führte die Rätin weiter aus. „Aus Kerkern und Kreisen kann man ausbrechen. Einem solchen Amulett kann man nicht entfliehen. Und wie die Erfahrung zeigt, sind Zauberer, denen man ihre Macht nimmt, geradezu hilflos. Sie kommen nicht weit.“

Tankred tat der Schwarzkünstler jetzt schon leid.

„Das klingt sehr nach verbotener Kunst“, wandte Ingfried schließlich ein.

„Wir gehen davon aus, dass ein Blutopfer nötig war, ja.“ Die Ehrwürdige Rätin zuckte mit einer Schulter. „Da wir den Mörder befragen möchten, haben wir wenig andere Möglichkeiten.“

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Die bewaffneten Godinnen beäugten Alea misstrauisch, als er die Treppe zum Heiligtum der Erdmutter hinaufstieg, also kaufte er auf dem ersten Absatz von einem Händler für seine zwei letzten Silberkronen Weihrauchkörner.

„Du musst ganz schön verzweifelt sein“, sagte der Händler angesichts dieser größeren Ausgabe.

Alea zuckte mit den Achseln. Verzweiflung war eine kalte Klinge am Unterarm, ein langer Blick von einer hohen Mauer. Dieser Kerl hatte keine Ahnung.

Der Händler hob die Brauen, nahm die Unhöflichkeit aber hin. Er faltete den Weihrauch in eine Papiertüte und reichte sie Alea. „Ich hoffe, dass sie dich hört.“

In der Säulenvorhalle wusch Alea sich am Brunnen die Hände und trat dann durch einen der Torbögen ins äußere Heiligtum.

Drinnen war es so düster, dass alle Farben als Grautöne erschienen, nur neben den kleinen Opfertischen an den Wänden brannten Kerzen. Trotz der fortgeschrittenen Tageszeit kniete vor dem Altar für die Jungfrauen ein Mädchen mit langen Zöpfen, und zwei ärmlich gekleidete Greisinnen beteten in einer anderen Nische laut für einen Kranken.

Alea selbst suchte den Altar für Männer auf. Hier sollten Männer auf der Suche nach einer Ehefrau beten, oder solche, die einen Erben brauchten. Aleas Schwierigkeiten hatten hier nichts verloren; er hatte weder für Frauen noch für Kinder eine Verwendung, aber diese elende Seherin war nun einmal Godin der Erdmutter. Außerdem lagen die Bänke für die Bittsteller an einem der Durchgänge, die in den Klostergarten führten.

Die Godin, die die Tür bewachte, musterte Alea kurz und widmete sich dann einem losen Faden an ihrem braunen Waffenrock.

Eine Weile stand Alea da und betrachtete das Bild über dem Opfertisch. Ein blond gelockter junger Mann in einem altmodischen bodenlangen Festtagsstaat, an seiner Hand eine junge Frau mit weißem Schleier in einem hellblauen Kleid, die einen roten Apfel hielt. Ein Schwan folgte ihnen.

Auf dem Altar welkte ein Strauß Blumen; ein Brief und mehrere Räucherkegel kokelten vor sich hin. Zeichen, dass sich viele Männer ein solches Idyll wünschten, und eine Bestätigung, dass Alea immer davon ausgenommen bleiben würde.

Alea schüttete den Weihrauch dazu. Um irgendetwas sollte er bitten, wenn er schon ein Opfer brachte. Ein schneller Tod? Gnade? Oder wagte er, an eine Zukunft zu denken?

Alea schielte zu der Godin hinüber, die ihn immer noch nicht beachtete. Schließlich ging er trotz seines verletzten Zehs in die Hocke und starrte den Weihrauch an. „Falls mir irgendwer zuhört“, wisperte er. „Ich wäre gern Schmied.“ Er befahl einen kleinen Funken zu seinem Opfer und wartete, bis der bittersüße Duft an seine Nase stieg.

Um die Flausen zu vertreiben, schüttelte Alea den Kopf, zog sich auf die Sitzbank zurück und machte sich unbemerkbar.

Als die bewaffneten Godinnen Wachwechsel hatten, pünktlich zum Sonnenuntergang, verließen sowohl das Mädchen als auch die zwei alten Frauen das Heiligtum.

Eine Godin ging herum und löschte die Kerzen.

„Liv war nicht beim Abendessen“, flüsterte irgendwann eine in die Dunkelheit. „Denkt wohl, sie ist was Besseres, wo angeblich sogar der König sie sprechen will.“

„Du bist bloß neidisch, Albrun“, zischte eine andere zurück.

„Ich hab sie in der Wäscherei gesehen, und da meinte sie noch, wie sie sich auf die Pfefferfeigen freuen tät“, sagte eine dritte.

„Sieht ihr gar nicht ähnlich, die zu verpassen“, meinte die zweite. „Da hast du recht.“

Offenbar hieß die Seherin Liv, und die war verschwunden.

„Albrun, geh und schau, ob Liv in ihrer Kammer ist. Wenn nicht, dann musst du Mutter Edburg Bescheid geben.“

Albrun murmelte etwas vor sich hin, aber ihr Ringelpanzer klirrte, und keine zwei Augenblicke später stolzierte sie an Alea vorbei. Vor seinem inneren Auge glomm sie wie ein Feuer kurz vor dem Verlöschen; jemand mit so wenig Macht musste auf eine Seherin neidisch sein. Laut Meister Orso krankten die Klöster daran, dass sie nur Seher und den Ausschuss erhielten, den die Heiler und der Sonnenorden nicht brauchen konnten.

Alea stand auf und humpelte Albrun durch den dunklen Garten hinterher. An der großen Tür zum Kloster hielt eine weitere Godin Wacht.

„Wieso bist du nicht an deinem Platz, Albrun?“

„Irmengard glaubt, dass Liv verschwunden ist.“

Die Wächterin zog vor Verachtung die Nase hoch. „Schön wär’s.“ Sie öffnete die Türe.

Alea rannte los, schlüpfte hindurch, noch ehe sich Albrun überhaupt bewegt hatte. Drinnen lehnte er sich an die Wand; die Schmerzen zwangen ihn beinahe in die Knie, und er hielt sich den Mund zu, um keine Geräusche zu machen.

„Hast du das bemerkt?“, fragte Albrun.

„Was bemerkt? Jetzt geh schon.“

Alea wartete, bis Albrun vorbeirasselte und er ihr folgen konnte. Drei Treppen nach oben ging es, mit jeder wurde das magische Feld dicker.

Jemand außer Alea verbarg sich hier in den Schatten, vielleicht jemand vom Sonnenorden, und das Gerücht mit der Seherin war eine Falle.

Am Treppenabsatz blieb Alea stehen. Sicher eine Falle. Die Zellen der Godinnen hatten sehr schmale Fenster, durch die bestenfalls eine Katze passte; auch die Fenster zum Innenhof waren schmal und hoch. Wenn Alea von hier fliehen wollte, musste er über den Gang zur Treppe oder die Mauer sprengen und in den Garten springen. Kein leichtes Unterfangen mit einem kranken Fuß.

Noch konnte er umkehren. Orso war wenigstens ein bekanntes Übel.

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Tankred und der Rest der Truppe – die Rätin, die Jarle Eginhard und Tassilo, Ingfried – hatten kurz vor Sonnenuntergang ihre Plätze bezogen. Die Ratsgodin der Erdmutter, Edburg, hatte persönlich dafür gesorgt, dass Tankred und die anderen in den Schatten des Klosters verschwanden und nicht einmal die Godinnen sie bemerkten.

Eine halbe Stunde später stapfte eine bewaffnete Godin die Treppe herauf. Sie schlurfte bis zu Livs Kammer, klopfte, öffnete die Tür und steckte den Kopf hinein. „Liv? Wo steckst du Kuh?“

Wie nett die Umgangsformen hier doch waren.

Schließlich betrat die Godin das Zimmer, eine Schranktür quietschte. Dann kam sie wieder heraus. „Elende Seherinnen“, grummelte sie. „Denken immer, sie sind was Besseres und können machen, was ihnen gerade einfällt.“

Sie entfernte sich fluchend.

Das Klirren ihres Panzers war noch zu hören, als ein Schatten sich näherte. Tankred konnte gerade so über ihn hinwegsehen, er war schwarz gekleidet und hatte bemerkenswert breite Schultern; ein Mann, aber ein ziemlich kleiner Mann, der einen Fuß nachzog. Das musste Livs Geist mit dem Zeichen im Gesicht sein, denn dem Kräuterhändler wäre solch eine Statur an dem grauhaarigen Ausländer sicher nicht entgangen.

Der Schwarzkünstler war für Tankreds inneres Auge fast unsichtbar; wie eine Stecknadel auf dem Boden tauchte seine Aura nur auf, wenn man gerade nicht danach suchte. Der Eindringling blieb vor der Türe stehen, schien sich zu wappnen und betrat Livs Zelle.

„Umzingeln“, befahl Jarl Eginhard.

Ingfried lauerte rechts an der Wand, die Rätin ihm gegenüber, auf ihren Stab gestützt wie ein Wanderer, während die beiden Jarle ihre Zauberstäbe hielten wie Waffen. Da Tankred die schwächste Stelle war, musste er gegenüber der Tür stehen und das Fenster bewachen. Sein Herz rumpelte in seinem Brustkorb wie ein außer Kontrolle geratenes Fuhrwerk – gleich würde er wissen, was es mit seinen Ahnungen auf sich hatte.

„Bannkreis“, sagte die Ehrwürdige Rätin.

Tankred atmete tief durch und fütterte das entstehende Gebilde mit Macht. Sobald der Fremde den Kreis betrat, würde er darin festsitzen, bis alle tot waren, die den Bann gelegt hatten.

In der Zelle rumorte es, schließlich wurde die Tür aufgerissen und der Schwarzkünstler starrte sie an. Er hatte verbrannte Haut wie ein Bauer, unglaublich dunkle Augen, schwarze Stoppelhaare und tatsächlich eine Tätowierung, eine Zickzacklinie, die Tankred meinte, schon irgendwo gesehen zu haben. Sie verlief senkrecht über seine ganze linke Gesichtshälfte. Bei Tankreds Anblick legte der Fremde den Kopf schräg.

Tankred spannte sich an, denn natürlich gab er als Knappe das leichteste Ziel ab.

Mit einer lautlosen Bewegung zog der andere zwei Messer aus seinen Ärmeln und stürzte sich auf Ingfried.

Ingfried riss seine Hand hoch und beschwor ein Fangnetz. Die Klingen blieben darin stecken, eine Art Tauziehen entspann sich.

Die Ehrwürdige Rätin Adele hob ihren Stab und zog ihn dem Fremden über den Schädel.

Der stöhnte, ließ die Messer los und sank zu Boden.

„Das ist mir ein schöner Schwarzkünstler.“ Jarl Tassilo schüttelte den Kopf. „Läuft einfach so in einen Bannkreis und zaubert nicht mal.“

Blinzelnd versuchte Tankred zu begreifen, wie er den Messern entkommen war. Ingfried untersuchte selbige, die Rätin sah zufrieden aus wie eine Katze, die gerade den Ziervogel gefressen hatte, Tassilo redete wie ein Wasserfall, Eginhard hatte seinen eigenen Zauberstab im Anschlag, falls der Fremde sich rühren sollte.

Tankred holte das Amulett aus seinem Beutel und ging neben dem Schwarzkünstler in die Knie. Die Zacken der Tätowierung täuschten mehr Kanten vor, als das Gesicht darunter tatsächlich hatte. Irgendetwas sagte Tankred, dass der Schwarzkünstler so kurz war, weil er noch zu wachsen hatte.

Und damit hatte nun wirklich keiner von ihnen gerechnet.

Mit diesem Schwarzkünstler verbunden zu sein, machte Tankred keine Sorgen, also drückte er dem anderen das Amulett an die Stirn. Es setzte sich mit einem unheimlichen Schnappen fest.

„Ihr erholt Euch schnell von Überraschungen“, sagte die Rätin. Sie trat zu ihm und ging ebenfalls in die Hocke. „So ein junges Gesicht.“ Sie strich dem Schwarzkünstler über die verunstaltete Wange, Tankred erkannte einen einfachen Schlafzauber. „Er hat Fieber und ist auch sonst in kläglichem Zustand. Ein Knochenbruch, ein dicker Bluterguss. Eine eitrige Wunde.“ Sie runzelte die Stirn. „Wenn einer von unseren Rittern einen Knappen so herumlaufen ließe, würde ich ihm eigenhändig den Hals umdrehen. Jarl Tassilo, Mutter Edburg soll uns eine Trage zur Verfügung stellen. Tankred, lauft voraus zum Kloster. Wir brauchen Heiler Siegwald. Einen Mann, versteht Ihr?“

Heute hatte Heilerin Gisburg den Nachtdienst, deshalb musste Tankred Heiler Siegwald suchen. Er stöberte ihn im ansonsten verlassenen Speisesaal auf, wo er sich einen Krug Wein mit einigen Rittern teilte, und nicht erfreut war, gestört zu werden.

„Wer auch immer für den Unfug verantwortlich ist, kann sich auf ein paar Nachtdienste mit mir einstellen, verstanden?“

Die Ritter grinsten schadenfroh.

„Es ist keiner von uns –“

„Als wären die Herrn Ritter einen Deut besser.“

Das wischte dem Publikum das Grinsen vom Gesicht, aber Tankred hatte keine Zeit, sich darüber zu freuen. „Die Ehrwürdige Rätin hat einen Gefangenen gemacht. Wir glauben, dass er Heilerin Brünn getötet hat“, setzte er noch einmal an.

„Was?“ Siegwald plusterte sich auf. „Der gehört hingerichtet, nicht geheilt.“ Zustimmendes Nicken von den anderen. „Was glaubt die Rätin eigentlich –“

„Sie glaubt, dass es ein Unfall war. Und, na ja, wenn wir ihn nicht heilen, dann lebt er wohl nicht mehr lang genug, um befragt zu werden.“

Endlich schüttelte Siegwald den Kopf. „Wenn die Ehrwürdige Rätin meint. Du hilfst mir.“ Damit eilte er los, in einer Geschwindigkeit, die sein Schmerbauch eigentlich nicht zulassen sollte.

Seit ein paar Jahren erst hatte das Kloster ein eigenes kleines Kranken- und Siechenhaus. Siegwald sperrte eins der Einzelzimmer auf, wo gewöhnlich solche mit ansteckenden Krankheiten untergebracht wurden.

Auf Siegwalds Geheiß suchte Tankred im Vorratsraum das Gefäß mit den Blutegeln heraus, füllte Weingeist nach und holte aus dem Kühlkeller Beutel mit Eis. Als er zurückkehrte, standen die Ehrwürdige Rätin und Jarl Tassilo auf dem Flur.

Tankred grüßte und schlüpfte ins Krankenzimmer.

Jemand hatte den Gefangenen auf die Liege gehoben, Siegwald stand daneben und kämpfte gegen eine lederne Unterarmschiene, die eins der Messer beherbergt haben musste. Ingfried hatte sich in eine Ecke zurückgezogen; mit einem tiefen Stirnrunzeln betrachtete er den Heiler.

„Tankred. Den Beutel unter seinen Kopf. Und dann hilf mir.“ Siegwald funkelte in Ingfrieds Richtung. „Wenn Ihr nichts zu tun habt, außer die Entscheidung der Rätin zu missbilligen, könnt Ihr das woanders tun, Ritter.“

Ingfried verzog den Mund und stakste nach draußen.

„Na, wird’s bald“, schnappte Siegwald.

Also versorgte Tankred die Beule ihres Gefangenen mit Eis und fing dann bei den Stiefeln an. In beiden steckten Dolche mit geschwärzten Klingen.

„Macht insgesamt sechs“, stellte Siegwald fest. „Dort drüben hin.“ Er deutete mit dem Kinn in Richtung eines Ledergürtels auf dem Tisch.

Der Schwarzkünstler trug keine Socken; sein rechter Fuß war vorn blau und geschwollen, um den großen Zeh wand sich eine Binde. Tankred betrachtete den einladenden Bronzeton des Fußspanns, während er den fast abgelösten Nagel unter dem Verband freilegte.

„Wenn er kein Mörder wäre, würde ich ihn bemitleiden“, sagte Siegwald. „Du kannst hier Ordnung machen.“

Tankred riss sich aus seinem Tagtraum, sammelte das zerschnittene Wams ein, stopfte es in den Wäschekorb, für Putzlumpen, und stellte die Stiefel unter einen Stuhl. Währenddessen fluchte Siegwald vor sich hin, offenbar gefiel ihm nicht, was er sah.

Schließlich hob Tankred die Trage auf und lehnte sie draußen im Gang an die Wand.

Die Ehrwürdige Rätin wartete noch. „Wie geht es ihm?“

„Ich weiß nicht. Heiler Siegwald ist nicht sehr zufrieden.“

Sie nickte.

Tankred öffnete die Türe und steckte den Kopf ins Krankenzimmer, wo Siegwald, immer noch fluchend, an der linken Hand des Gefangenen herumtupfte.

„Braucht Ihr mich noch?“

„Nein.“

„Die Ehrwürdige Rätin –“

„Soll warten, wenn sie heute noch einen Bericht will.“

Für so einen Tonfall hätte Ingfried Tankred den Kopf abgerissen. Er schloss die Tür wieder und warf der Rätin einen Blick zu, um sich zu entschuldigen.

„Ist schon gut.“ Sie lächelte. „Wir alle wissen, dass Siegwald ein Hund ist, der viel bellt.“

Aber er wusste, was er tat, und tratschte nicht.

„Ihr solltet zu Bett gehen, Knappe.“

Tankred seufzte.

„Neugier werde ich Euch sicher nicht verübeln.“

„Ich – seit heute Morgen hatte ich ein seltsames Gefühl bei der Sache“, gab er schließlich zu.

Sie nickte. „Inwiefern?“

„Dass er wichtig ist, nicht nur, um den anderen Schwarzkünstler zu finden, sondern … für den Orden?“ Für Tankred. „Ich weiß nicht.“

Die Rätin summte eine Bestätigung. „Wir hatten überlegt, Euch die Bürde abzunehmen, die das Opalamulett bedeutet, aber keinen hat er so lange angesehen wie Euch. In Anbetracht dieser Tatsache wollte ich auf Eure Beteiligung nicht verzichten.“

Etwa eine Stunde später kam Siegwald aus dem Krankenzimmer.

„Er schläft“, sagte er. „Und da ich jetzt die Wunden ordentlich versorgt habe, sollte er morgen gegen Mittag aufwachen. Ich verordne einen Tag Bettruhe, wegen des Bruchs. Falls Ihr ihn in einer Zelle haben wollt, ist es besser, Ihr verlegt ihn gleich.“

Die Ehrwürdige Rätin nickte. „Ich werde das in die Wege leiten. Könnt Ihr mir sagen, wie alt er ist?“

„Hm. Er hat ungefähr noch so viel zu wachsen.“ Siegwald zeigte mit zwei Fingern einen Zoll. „Sechzehn, würde ich sagen. Bestenfalls siebzehn.“

„Also nicht volljährig.“

„Auf keinen Fall.“

Zu jung für den Scharfrichter, den Göttern sei Dank. Tankred lächelte.

Die Rätin spitzte die Lippen, als hätte ihr die Neuigkeit die Pläne durchkreuzt. „Ich sorge dafür, dass er in der nächsten halben Stunde abgeholt wird. Alles andere muss bis morgen warten. Knappe Tankred, wenn Ihr so lange noch Wache stehen würdet?“

ALEA SASS AUF der Pritsche und sah die grob behauenen Steine der Zellenwand an. Vor der Gittertür schmatzte der wachhabende Ritter. Schon seit Alea aufgewacht war, kaute der andere auf einem Stück Birkenpech mit Minze herum und starrte ihn an – vermutlich überlegte er sich gerade, wie er Alea am besten demütigen konnte.

Es war bloß eine Frage der Zeit, denn das Ding an Aleas Stirn verhinderte jeglichen Zugriff auf seine Zauberkräfte. Die Welt erschien flach und farblos, wie ein Gemälde in Grautönen – wegen des Steins konnte Alea weder sagen, welche Farbe die Aura des Ritters draußen hatte, noch, ob an seiner und den anderen Türen hier im Kerker Siegel hingen.

Unter gewöhnlichen Umständen hätte ihm das nicht einmal etwas ausgemacht – ohne seine elende Begabung hätte der Meister ihn nie aufgenommen – aber hier, gegen den Feind draußen, würden weder ein Holzsplitter von der Pritsche noch ein geschärfter Löffel etwas ausrichten.

Alea rollte mit den Schultern und widerstand der Versuchung, sich klein zu machen. Solche wie … solche konnten Angst riechen.

Wenn sie ihn nur hätten sterben lassen. Wenn er nur bedacht hätte, dass sie ihn für ein Verhör lebendig brauchten. Alea versuchte zu vergessen, dass irgendwer ihn ausgezogen hatte, und dass er am liebsten aus seiner Haut steigen wollte.

Nach endloser Zeit hörte er Schritte draußen. Vor der Gittertüre blieben seine Besucher stehen; ein unglaublich fetter Heiler, der sein grünes Gewand zu sprengen drohte, die Ehrwürdige Rätin höchstpersönlich, und einer der Jarle, die gestern dabei gewesen waren. Seine Haare wichen an den Schläfen zurück, waren aber noch braun – ziemlich jung für einen, der sich die violette Seidenborte am Mantelsaum verdient hatte.

Alea stand auf und neigte den Kopf zur Begrüßung.

„Heiler Siegwald wird nach dir sehen“, sagte die Rätin. „Danach habe ich ein paar Fragen an dich.“

Der wachhabende Ritter schloss die Tür auf, und der Heiler watschelte in die Zelle.

„Na, wie geht’s? Noch Schmerzen?“

Alea schüttelte den Kopf. Sein Schädel brummte ein bisschen, den Zeh konnte er nicht belasten, aber das war alles annehmbar und Meilen besser als gestern.

„Nicht? Schwindel, Übelkeit?“

Wieder schüttelte Alea den Kopf.

Der Heiler grunzte. „Gib mir deine Hand, der Biss hat geeitert.“

Nur keine Angst zeigen, also gehorchte Alea, ertrug die schwitzigen Finger, als der Heiler den Verband entfernte und eine Kruste so groß wie ein Gulden freilegte.

„Sieht gut aus.“ Der Heiler ließ Aleas Hand los und kramte in dem riesigen Beutel an seinem Gürtel, bis er ein verkorktes Salbengefäß zum Vorschein brachte. „Das hier zweimal täglich auftragen, damit es keine Narbe gibt.“

Alea hob eine Augenbraue. Das musste ein Witz sein. So lange würde er nicht mehr leben, dass er sich um Narben Gedanken machen musste.

Der Heiler schaute zurück. „Besser, wir rechnen mit allem, hm?“

Schließlich fesselte der Ritter Aleas Hände, und sie führten ihn zum Ende des Ganges in ein Zimmer, das nur einen quadratischen Tisch und zwei Stühle enthielt.

Auch dieser Raum hatte kein Fenster.

Der Ritter drückte Alea auf einen der Stühle und bezog hinter ihm Stellung. Die Ehrwürdige Rätin setzte sich ebenfalls, der Jarl verriegelte die Tür mit Zauberei.

Wenn sie Alea wirklich hätten einschüchtern wollen, hätten sie ihm die Hände hinter dem Rücken gebunden und ihn so gesetzt, dass er die Türe nicht sehen konnte.

„Wer bist du?“, fragte die Rätin.

Alea sah den Tisch an. Er war niemand. Er hatte keinen richtigen Namen, keinen Geburtsort, keine Eltern, und konnte auch über sein Alter nur Vermutungen anstellen. Was, wenn sie ihm nicht glaubten?

„Nicht einmal deinen Namen willst du mir verraten?“

Auf einen Blick von ihm hin lächelte sie.

„Bist du stumm?“

Alea senkte den Kopf und betrachtete das Seil, mit dem der Ritter ihn gefesselt hatte. Es war ein ziemlich guter Knoten. Alea kramte in seinem Gedächtnis nach dem Namen dafür und übte dann im Geist die anderen Knoten, an die er sich erinnerte.

Die Rätin seufzte.

Etwa eine halbe Stunde lang schwiegen sie ihn an, als hofften sie, dass ihm irgendwann die Stille zu drückend würde. Dumm, dass das ein Spiel war, das Alea noch nie verloren hatte.

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Drei Tage vergingen, ohne dass Tankred irgendetwas über den Gefangenen gehört hätte. Ingfried wusste nichts und schien zunehmend ungehalten über Tankreds Beteiligung; Eginhard schwieg sich aus.

Am Ardtag war Tankred drauf und dran, Heiler Siegwald deswegen zu belästigen. Eine Nachricht, dass die Ehrwürdige Rätin ihn zu sprechen wünschte, hielt ihn davon ab, sich lächerlich zu machen.

„Knappe Tankred. Setzt Euch“, sagte die Ehrwürdige Rätin, als er ihr Arbeitszimmer betrat.

Diesmal musste er keinen Stuhl freiräumen.

„Wollt Ihr, dass ich das Amulett entferne, Ehrwürdige Rätin?“

Sie seufzte. „Ich wünschte, es wäre so. Nein. Unser Gefangener redet weder mit mir noch mit den Jarlen oder Heiler Siegwald. Außerdem sieht er von Tag zu Tag schlechter aus. Ich habe die Wachen befragt, und keiner hat den Jungen schlafen sehen.“

Tankred blinzelte. Das war seltsam.

„Wir müssen unsere Herangehensweise ändern, denke ich. Ich möchte, dass Ihr den Gefangenen aufsucht. Vielleicht fühlt er sich von Euch weniger bedroht.“

Einerseits wollte Tankred grinsen, andererseits konnte er dieses Angebot nicht begreifen. „Aber ich bin nur ein Knappe, Ehrwürdige Rätin.“

Sie neigte den Kopf und musterte ihn. „Ich erwarte nicht, dass Ihr seine vollständige Lebensgeschichte und seine Verschwörungspläne aus ihm herausholt. Bringt ihn zum Sprechen, und wenn es nur über Nichtigkeiten ist. Über alles andere können wir später beraten, falls er sich weiter in meiner Gegenwart verstockt zeigen sollte.“

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Kurz nach einer Wachablösung kam ein Knappe und schickte den diensthabenden Ritter fort. Alea rieb sich die Augen – sie fühlten sich an, als hätte er sie mit Sand geschrubbt – und musterte den Neuankömmling.