Albenerbe - Carmilla DeWinter - E-Book

Albenerbe E-Book

Carmilla DeWinter

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Beschreibung

"Wenn du für deinen Partner alles zurückgelassen hast, was du kennst ... wer bist du dann eigentlich?" Eigentlich schäkert Tankred nur mit dem Gestaltwandler Marron, um herauszufinden, wie wichtig er seinem Gefährten Alea ist. Denn Aleas Familie lehnt ihn ab und zu allem Überfluss gerät er in ein Netz aus Intrigen, weil der Fürst seiner neuen Heimat nach einem magischen Anschlag im Sterben liegt. Welche Rolle spielt der gutaussehende Marron dabei? Zahlreiche Geheimnisse umgeben ihn und könnten Tankred zum Verhängnis werden.

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Carmilla DeWinter

Albenerbe

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Adrian Bercea – ABE – shutterstock.com

© Laurin Rinder – shutterstock.com

© Volodymyr Burdiak – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-011-9

ISBN 978-3-96089-012-6 (epub)

Inhalt:

„Wenn du für deinen Partner alles zurückgelassen hast, was du kennst ... wer bist du dann eigentlich?“

Eigentlich schäkert Tankred nur mit dem Gestaltwandler Marron, um herauszufinden, wie wichtig er seinem Gefährten Alea ist.

Denn Aleas Familie lehnt ihn ab und zu allem Überfluss gerät er in ein Netz aus Intrigen, weil der Fürst seiner neuen Heimat nach einem magischen Anschlag im Sterben liegt. Welche Rolle spielt der gutaussehende Marron dabei? Zahlreiche Geheimnisse umgeben ihn und könnten Tankred zum Verhängnis werden.

Dafür, dass die Pilum Tankreds letzte Gelegenheit war, Purpurea vor dem Winter zu erreichen, enttäuschte ihr Äußeres aus verwittertem Holz und einer Kruste aus Seepocken an der Wasserlinie.

Als Frachter ohne Segel benötigte sie zauberbegabte Menschen in der Besatzung, die sie antreiben konnten. Tatsächlich lehnten an der Reling zwei Magier, ein kurzer dicker in einem dunklen Mantel und ein großer dünner in einer blauen Robe, an deren Ärmeln Silberstickerei glänzte. Sie beobachteten, wie ein weniger begabter Mann die Bemalung am Bug ausbesserte. Dort schützte ein übergroßes Auge das Gefährt vor dem Bösen Blick.

Tankred atmete tief durch, prüfte noch einmal, ob seine Haare ordentlich zusammengebunden waren, und löste sich aus dem Schatten einiger Fässer.

„Guten Abend, Signori. Ist Kapitän Colonio zu sprechen?“

Der kleinere der beiden Magier wandte sich Tankred zu und zuckte mit der Nase. „Der bin ich. Was willst du?“

Keine höfliche Anrede für Tankred, der zwar mehr Macht zur Verfügung hatte, dafür aber kein Geld für schöne Kleider. Sein Mantel franste am Saum aus und war sowieso nie gefärbt gewesen, und in seine löchrigen Stiefel drang nur deswegen kaum Wasser, weil er in besseren Zeiten ein Amulett dagegen am Schaft befestigt hatte. Obwohl er jetzt endlich eigenes Geld verdiente, brauchte er dieses für wichtigere Dinge: Essen, Unterkunft und hoffentlich eine Schiffsreise.

Er hakte die Daumen in den Gürtel. „Meine Begleiter und ich suchen eine Passage nach Purpurea.“

„Ich hätte noch Platz für Leute, die die Überfahrt bezahlen können.“ Dann zuckte Colonio zusammen, weil der dünne Magier ihn anstieß und ihm etwas ins Ohr wisperte.

„Komm ein bisschen näher.“

Obwohl er jetzt den Kopf in den Nacken legen musste, um die beiden anzusehen, tat Tankred wie gebeten. Bei genauer Betrachtung erwies sich die Silberstickerei an den Ärmeln des dünnen Magiers als eine Ansammlung friedländischer Runen, die keinen Sinn ergab.

„Ein Ausländer“, zählte Colonio an den Fingern auf, „blonde lange Haare, kleidet sich wie ein Bettler.“

Worauf wollte der Kapitän hinaus? Trotz des flauen Gefühls in seinem Magen hob Tankred die Mundwinkel, in der Hoffnung, dass es als Entschuldigung verstanden würde.

„Tu nicht so leutselig. Du bist doch der Perverse, der sich von dem tätowierten Aquilenen und seiner Familie aushalten lässt.“

Aber … Tankred öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Wieso erreichten die Gerüchte sogar Menschen, die sich erst seit zwei Tagen in der Stadt aufhielten? Wieso unterschlugen sie, dass er als Heiler arbeitete? Mittlerweile bekam er sogar Geld dafür. „Mein Name ist Tankred.“ Zu leise, also Schultern straffen und durchatmen. „Und was ich mit Alea Sidero im Bett treibe, geht euch nichts an.“

„Mag sein. Solche wie dich will ich trotzdem nicht auf meinem Schiff haben.“

„Aber …“

Mit einer herrischen Geste befahl Colonio ihm, den Mund zu halten.

Wenn er wenigstens angeführt hätte, dass er keine unverheirateten Frauen mit Kindern an Bord haben wollte – darauf hätten sich die Leute daheim in Friedlant berufen – dann hätte Tankred die Ablehnung zumindest ansatzweise verstanden, aber weder hier noch daheim noch auf Purpurea war es Männern verboten, sich vögeln zu lassen. Schlecht angesehen vielleicht, aber nicht verboten.

Der dünne Magier griente ihn an, in Tankreds Hinterkopf ätzte sein ehemaliger Vormund, dass Alea solche Gespräche aber besser führen konnte.

Mochten die Druden sie alle holen!

Das bedeutete noch drei weitere Monate in billigen Gasthöfen, sich mit zwei anderen Erwachsenen und einem Kleinkind ein Bett teilen müssen, denn in spätestens einer Woche würde es auf dem Bittermeer stürmisch. Im Spätherbst wagten sich deswegen nur sehr verzweifelte oder habgierige Menschen außer Sichtweite der Küsten.

Doch wenn Tankred hier noch länger blieb, nützte das ausschließlich diesem schadenfrohen Klappergestell. „Dann noch einen guten Abend.“ Er drehte sich um und trat hoch erhobenen Hauptes den Rückzug an.

„Wenn du es richtig angestellt hättest“, setzte der Magier an, dessen kratzige Stimme zu seiner Figur passte, „hätte uns der Aquilene sein Delicium vielleicht zum Spielen ausgeliehen.“

Delicium. Lustsklave. Wut loderte in Tankreds Bauch. Als sei er eine Sache, über die irgendwer beliebig verfügen könnte. Ohne seine Hände zu benutzen rief er einen Blitz, zielte nach der lächerlichen Silberstickerei am linken Ärmel der Robe.

Der Magier jaulte auf.

Tankred winkte zum Abschied und verdrückte sich ins nachmittägliche Getümmel des Hafens.

In einer leeren Gasse hieb er einige Male auf eine Mauer ein, was seinem Drang, mehr zu zerstören als ein Kleidungsstück, aber kaum abhalf. War es zu viel von den Göttern verlangt, einfach irgendwo bleiben zu können, wo sie nicht von der Hand in den Mund leben mussten? Als Tankred im Sommer versprochen hatte, Aleas Vergangenheit hinterherzureisen, hatte er nicht mit so vielen Schwierigkeiten gerechnet.

Glücklicherweise hatte er heute durch reinen Zufall im Hospital von der Pilum gehört und war gleich hingegangen, statt seinem Liebsten und Guntrun davon zu erzählen. Auf diese Weise würden sie nicht von dieser Niederlage erfahren.

Und weil die Kleine heute immer noch gelben Schleim hustete, kaum Luft bekam und deswegen ihrer aller Nachtruhe störte, musste er sich nicht einmal bemühen, seine schlechte Laune zu verbergen.

Kurz nach Sonnenaufgang am nächsten Morgen schob er das Windspiel aus getrockneten Habichtfüßen zur Seite und betrat das Zimmer seines ersten Patienten. Obwohl niemand die Klauen mit einem Zaubersiegel versehen hatte, kribbelte Magie über Tankreds Haut, in seinem Nacken stellten sich die Haare auf, als wollten sie wegrennen.

„Morgen, Selim“, zwang er sich zu einem fröhlichen Tonfall. „Doch wieder ich.“ Selbst schuld, wenn er sich von manchen seiner Schützlinge schon verabschiedet hatte.

Der Angesprochene reagierte nicht, wie immer. Allein die Schwarzkopfmöwe, die am Fußende des Bettes saß, blinzelte Tankred an, bevor sie fortfuhr, Selim zu betrachten wie eine unglücklich Verliebte. Irgendwie hatte es dieser Diener eines Seidenhändlers geschafft, seinen Geist auf Reisen zu schicken und in dieser Möwe einzusperren.

Nur wenn Tankred danach Ausschau hielt, spürte er den spinnwebdünnen Faden aus gelbem Licht, der die beiden verband. Ein Ausläufer von Selims ohnehin blasser Aura. Bislang waren jedoch alle Versuche fehlgeschlagen, diese Aura aus der Möwe zurückzulocken.

Was hatte Selims Dienstherr über die Unfähigkeit westlicher Heiler geflucht.

„Ich werde dir wahrscheinlich erhalten bleiben, bis ihr abreist“, plauderte Tankred weiter, als er Selim dazu brachte, aufzustehen und zum Abort zu schlurfen. Ob der die Ablenkung zu schätzen wusste, blieb dahingestellt. „Ich hoffe, die Schamanen wissen, wie man dir helfen kann.“ Denn dem Seidenhändler waren nicht viel mehr als die Habichtfüße eingefallen, um den Schutz von Selims Stammestotem herbeizurufen.

Die Möwe flatterte die kurze Strecke und landete ungeschickt auf Tankreds Schulter. Als ihre Federn seine Wange streiften, bekam er von dem missratenen Zauber Gänsehaut. Brr. Aber besser eine Arbeit als unterbezahlter Heiler als gar keine.

Nachdem Selim sich erleichtert hatte, ließ er sich an den winzigen Tisch unter dem Fenster bugsieren, das ebenfalls ein Ornament aus Klauen erhalten hatte. „Jedenfalls“, fuhr Tankred fort, „wollte uns der Frachter aus Purpurea nicht mitnehmen.“ Er warf einen Blick aus dem Fenster, weil man von hier aus den Anlegeplatz sehen konnte. Augenblick.

Laut Mariana, deren Mann Colonio Holz verkauft hatte, hätte die Pilum mit der Flut vor zwei Stunden auslaufen sollen. Doch da lag sie, hinter einem Segler von den Roseninseln.

Hoffentlich war Colonio irgendetwas in die Quere gekommen.

Die Möwe hackte nach Tankred und rief ihn zurück an die Arbeit. Richtig. Bett neu beziehen, Essen holen: Brei für Selim und rohen Fisch für den Vogel.

Nach seiner Runde in den Einzelzimmern im oberen Stockwerk stieg Tankred ins Erdgeschoss, um sich bei Mariana, Heilerin dritten Grades und Leiterin der Tagschicht, zu erkundigen, ob es neue Anweisungen gab. Nur, falls sie ihn heute ausnahmsweise doch als echten Heiler brauchte und nicht als Menschen, der mit den hoffnungslosen Fällen gut zurechtkam. Hier in Divitania schoben sie solche Krankheiten auf den Bösen Blick oder eine Verhexung statt auf Drudenbisse, standen der Angelegenheit aber genauso hilflos gegenüber. Leute, die Platz hatten, sperrten hier wie daheim Verrückte eben weg, und die anderen brachten sie ins Hospital.

Dabei waren die sogenannten hoffnungslosen Fälle zumeist gar nicht so hoffnungslos. Vorausgesetzt, man hörte ihnen zu.

Allerdings verriet Marianas Aura, dass sie sich nicht in ihrem Arbeitszimmer aufhielt, sondern in der Leichenhalle. Eine Rückfrage bei der Schatzmeisterin ergab, dass Fischer an der Mole einen Toten gefunden hatten, und dass man stören durfte.

Wie immer war es in der Halle im Keller so kalt, dass der Atem Wolken bildete. Mariana kam trotzdem mit einem schmucklosen ungefärbten Kleid aus, über dem sie eine Schürze voller Flecken trug, deren Ursprung Tankred nicht kennen wollte. Die meisten Heilerinnen und Pflegerinnen hier kleideten sich genauso billig, denn das Hospital konnte es sich nicht leisten, seinen Angestellten Arbeitskleidung zur Verfügung zu stellen, abhängig von Spenden, wie es war.

Insgesamt ergab sich ein eintöniges Bild im Vergleich zu den sattgrünen Heilerroben daheim.

Den einzigen Hinweis auf Marianas etwas besseres Einkommen – und ihren reichen Ehemann – stellte die Tatsache dar, dass sie ihre Locken unter einem feinen Netz auftürmte, statt sie unter einem praktischeren Kopftuch zu verbergen.

Der Tote selbst … Die Fische hatten die Leiche bereits bis zur Unkenntlichkeit angeknabbert, aber Tankred war die blaue Robe mit der lächerlichen Silberstickerei zu gut in Erinnerung.

Als hätte die ewig hungrige See Tankreds böse Wünsche gehört.

Obwohl er in den letzten zwei Jahren mehr Tote und Kranke gewaschen hatte, als seine düstersten Ahnungen ihn hatten vermuten lassen, kostete es ihn Überwindung, neben Mariana zu treten. Er zupfte einen der vollgesogenen Ärmel glatt, sodass der Strang wahllos aneinandergereihter friedländischer Runen zum Vorschein kam: HTRAEFDSA. Der Rest verschwand unter dem Loch, das Tankreds Blitz verursacht hatte. Aus dem Stoff tropfte Wasser, deswegen roch der tote Mann vor allem nach Salz und Tang.

„Das ist der Magier von der Pilum.“

„Hm.“ Mariana sah nicht auf, während sie den Toten mit Zauberei untersuchte. „Wasser im Magen und in der Lunge. Ist ertrunken. Wieso erkennst du ihn, obwohl er kein Gesicht mehr hat?“

„Sein Schneider kann kein Friedländisch, außerdem hat er mich beleidigt.“ Tankred deutete auf das Loch.

Jetzt schaute Mariana ihn an, und zwar so lange, bis ihm trotz der Kühlzauber heiß wurde. Aber wenigstens ließ sie unausgesprochen, dass es Kapitän Colonio nicht zu verdenken sei, wenn er keinen Perversen auf seinem Schiff dulden wollte.

„Der Kapitän hat ihn heute früh als vermisst melden lassen – ist von einem vorzeitigen Besäufnis anlässlich der Tempestalia nicht zurückgekehrt. Spricht nicht für seine anderen beiden Männer, dass sie ihren Magier verlegt haben, hm? Eins von dem Bettelpack soll zur Hafenmeisterei laufen. Es gibt einen Denar, sobald ein Beamter oder Colonio hier eintrifft. Wenn dann sonst niemand deine Hilfe braucht, kannst du dich weiter deinen Patienten widmen.“

Also tat Tankred wie geheißen. Auf dem Platz vor dem Eingang lungerten wie immer etwa zwei Dutzend Kinder herum, die in Lumpen gekleidet waren. Kaum magiebegabter Nachwuchs von ebensolchen Eltern, die noch schlechter bezahlt wurden als Tankred, sofern sie überhaupt eine Arbeit fanden.

Die meisten der Kinder verdienten sich das Geld mit Betteln, andere als Diebe. Alle hofften, dass um diese Zeit im Hospital Essensreste vom Frühstück anfielen, die verschenkt würden. Tankred winkte nach einem Mädchen, das ihm ein paar Mal bis zum Gasthaus gefolgt war wie ein junger Hund, wurde aber gleich von der gesamten Meute umlagert. Am Ende rannte etwa die Hälfte von ihnen los, so schnell ihre dünnen Beine sie trugen. Ein Denar, das waren zwei Laib Brot und ungeahnter Reichtum für diese Kinder. Tankred bekam als Pfleger vier Denare am Tag, also knapp einen halben pro Stunde, obwohl Mariana ihm eine Urkunde ausgestellt hatte, die ihn als Heiler ersten Grades auswies.

Zugegeben, daheim erhielten Heiler im Vergleich viel weniger Geld, dafür mussten sie aber auch weder Miete bezahlen noch Essen kaufen. Kein Wunder, dass die Pfleger hier alle keine Familie hatten.

Einige Augenblicke sah Tankred dem Haufen nach. Daheim kostete es nichts, die Kinder zur Schule zu schicken, und es kostete auch nichts, sich von einem Heiler ein Amulett gegen unerwünschten Nachwuchs machen zu lassen. Doch der König von Divitania zog sich offenbar lieber Leute, die nicht einmal genug Geld hatten, keine Kinder zu bekommen.

Nach einem Blick in den Saal für die Neuaufnahmen – niemand für ihn – schaute Tankred nach Selim, der sich von allein in sein Bett begeben hatte. Doch auf dem Weg zu seiner nächsten Patientin hielt eine Pflegerin ihn auf.

„Mariana will dich sprechen. Wegen des Ertrunkenen.“

Um den Untersuchungstisch in der Leichenhalle drängten sich neben Mariana Kapitän Colonio und zwei Männer, wahrscheinlich seine verbliebenen Besatzungsmitglieder. Außerdem lehnte an der Wand ein Zauberer mit wilden braunen Locken. Sein Hemd hatte bauschige Ärmel, wie es gerade in Arraine Mode war, dem nördlichen Nachbarn von Divitania. Bemerkenswerter noch war seine Aura, denn die schimmerte silbern, etwas, das Tankred nur aus Büchern kannte. Ein von Colonio beauftragter Ermittler oder ein unabhängiger Heiler?

Kaum erblickte der Kapitän Tankred, plusterte er sich zu voller Größe auf. „Du! Du perverso hast ihn ins Wasser gestoßen!“

Tankred blinzelte und wünschte sich, eine einzelne Braue heben zu können wie sein Liebster. Über diesen Vorwurf lohnte es sich nicht einmal zu lachen. „Wann soll das gewesen sein?“

„Gestern Nacht.“

Ach, wenn die Götter Tankred doch die Zeit gegeben hätten spazieren zu gehen, dann hätte er vielleicht auch Zeit gehabt zu schlafen. „Mindestens drei Leute können bezeugen, dass mein Mündel krank ist und ich mich um sie kümmern musste.“

Colonios linke Oberlippe zuckte. „Der Vater ist sich wohl zu schade dafür.“

„Der Vater“, Tankred dehnte das Wort, das immer noch so seltsam schmeckte, „kann Kugelblitze werfen, ist aber ein so schlechter Heiler, dass er nicht einmal seinen eigenen Zahnschmerzen abzuhelfen weiß.“ Dem Allvater sei Dank, dass Alea mit einer Gesundheit wie ein Pferd und noch besserem Beißwerkzeug ausgestattet war. Vor allem war er nicht Torgards Vater, sondern hatte ihr nur seinen Nachnamen ausgeliehen, aber das ging den Rest der Welt überhaupt nichts an.

Wenn auch Colonio nicht beeindruckt schien, hatten wenigstens seine zwei Angestellten und der Lockenkopf aus Arraine bei der Erwähnung von Kugelblitzen aufgemerkt, und sie offenbar als die unterschwellige Drohung begriffen, als die Tankred sie gemeint hatte. Nicht, dass Tankred keine Kugelblitze konnte, aber er sah dabei nicht so gefährlich aus.

Mariana räusperte sich. „Wenn ich das recht verstehe, Kapitän, dann werdet Ihr von einer Anklage absehen?“

Colonio grunzte.

„Ich habe die Wertsachen hier. Wollt Ihr nachschauen, ob noch alles da ist?“

Schweigend wühlte Colonio durch den Geldbeutel, betrachtete zwei Ringe und eine Goldkette mit einem Medaillon. „Wie viel für die Sterbeurkunde und einen Sarg, in dem er nicht anfängt zu stinken? Seine Witwe wird ihn im Familiengrab bestatten wollen.“

Hatte der Kapitän ernstlich vor, die Überfahrt nach Purpurea alleine zu wagen? Als einziger Mann, der das Schiff überhaupt steuern konnte?

Nachdem Mariana sich mit Colonio auf einen Preis geeinigt hatte, winkte dieser seinen Männern und verkündete, dass sie gegen Mittag zurückkehren würden.

Tankred schlenderte ihnen hinterher. „Verzeihung, Kapitän?“

Auf dem Vorplatz baute sich Colonio auf wie ein Preiskämpfer, der vor Kraft nicht mehr laufen konnte, die Hände locker zu Fäusten geballt. „Was willst du triefende Hundemöse?“

Immerhin, zwar eine Beleidigung, die Tankreds vermeintliche Rolle in seiner Beziehung zu Alea angriff, aber wenigstens war sie einfallsreich. Er straffte die Schultern und überredete seine Aura dazu, sich ein paar Stacheln wachsen zu lassen. Als ein Hinweis, dass er mit seinen langen Haaren und seiner Liebe zu einem Mann zwar einen unterwürfigen Eindruck erweckte, es aber trotzdem mit Colonio, seiner Besatzung und dem versammelten Talent der anwesenden Heiler aufnehmen konnte.

„Ich dachte nur, dass wir beide etwas haben, das der andere brauchen kann. In drei Tagen beginnt der Procelloso.“ So hieß der elfte Monat auf Centerrisch, nach den Herbststürmen. „Ohne Magier wärt Ihr aber mindestens acht Tage auf See.“

Colonio verschränkte die Arme. „Du bietest dich und deinen Herrn an?“

Es lohnte sich nicht, sich aufzuregen, dennoch musste sich Tankred zwingen, seinen Kiefer zu entspannen. „Wir vier bekommen die Überfahrt nach Purpurea kostenlos.“

„Ich zahle keinen Lohn, und eure Verpflegung bringt ihr selbst mit.“

Wollte wohl nicht am gleichen Tisch mit ihnen essen oder seinem Smutje nicht zumuten, für Tucken zu kochen. Aber Verpflegung für einige Tage war günstiger, als aufs nächste Frühjahr zu warten oder auf dem Festland nach Süden weiterzureisen. „Abgemacht.“ Tankred lächelte und hielt dem Kapitän die Hand entgegen.

Der betrachtete erst sehr lange die Hand, dann Tankreds Hals, an dem wie immer ein sichtbarer Knutschfleck prangte.

„Und keine perversen Umtriebe auf meinem Schiff.“

„Einverstanden.“ Zumindest nicht da, wo Colonio sie sehen konnte, denn Alea hatte eine starke Meinung über derlei Vorschriften, nämlich die, dass die Leute sie sich sonst wohin schieben konnten.

Colonio spuckte in seine Pranke und schlug endlich ein. „Heute Abend bei Sonnenuntergang könnt ihr an Bord kommen.“

„Ja, Kapitän.“

Wieder grunzte Colonio und winkte seinen Männern, dass sie ihm folgten.

Ja, ja. Tankred würde ihn nicht weiter mit seiner Verdrehtheit stören. Außerdem musste er sowieso bei Mariana seine sofortige Kündigung einreichen, hoffen, dass er Geld für die angefangene Woche Arbeit bekam, und dann seinen Mitreisenden Bescheid geben.

Unter dem Porticus wartete der Lockenschopf aus Arraine.

„Kann ich Euch weiterhelfen?“, fragte Tankred.

„Oh.“ Ein breites Lächeln. Der Fremde lehnte sich mit einer fließenden Bewegung an die Wand, als lade er Tankred ein, ihn nach Herzenslust anzustarren. Er war mittelgroß, schmal wie ein Eilbote, die engen Hosen verrieten wohlgeformte Waden. Goldbraune Augen standen leicht schräg in einem Gesicht, dessen olivfarbener Teint weder von Bartwuchs noch von Makeln gestört wurde. Seine Korkenzieherlocken verdeckten seine Ohren und waren somit etwas zu lang für den hiesigen Geschmack. Obwohl er nach arrainesischer Mode gekleidet war, verzichtete er auf die zugehörige Filzkappe – wahrscheinlich sperrten sich seine Haare, genau wie Aleas, gegen jede Sorte Hut.

Das Lächeln wurde noch ein wenig breiter. Der Fremde schenkte Tankred einen Blick durch seine dichten Wimpern und machte sich nun seinerseits die Mühe, ihn von oben bis unten zu mustern. Dann leckte er sich über die Lippen wie eine Katze, die plante, den Singvogel aus dem Käfig zu stehlen.

Verdiente Tankred, so bewundert zu werden? Er rieb über den Knutschfleck und sah zu Boden. Seine Wangen glühten. Wenn Alea ihn so ansah, mochte sich das erklären, aber die letzten hungrigen Monate hatten ihre Spuren hinterlassen. Außerdem hatte er seit zwei Nächten nicht mehr richtig geschlafen, um seine Augen spannte die Haut.

Der Fremde schnalzte mit der Zunge, als missfiele ihm, was in Tankreds Kopf vorging. „Ihr habt mir schon geholfen, Heiler …?“

„Tankred.“

„Tankred.“ Auf die erste Silbe setzte der Fremde einen Nasal und betonte die zweite, obwohl er bisher akzentfrei gesprochen hatte. „Ein schöner Name, Ihr macht ihm alle Ehre. Ich bin Henri Marron.“

Schön? Mittlerweile musste Tankred einem Leuchtturm Konkurrenz machen. Alea bedachte ihn nie mit derart süßen Nichtigkeiten. „Inwiefern habe ich Euch geholfen? Monsieur?“

„Nette Menschen dürfen mich Marron nennen. Ich muss dringend für Geschäfte nach Purpurea. Die Pilum ist der schnellste Weg.“

„Dabei hättet Ihr beim Kapitän anheuern können, statt eine Passage zu kaufen.“

„Ich?“ Marron lachte, entblößte dabei seine Kehle. „Lasst Euch nicht von meiner Aura täuschen. Meine Künste, was das Bewegen von Gegenständen oder auch Kugelblitze angeht, sind äußerst beschränkt. Aber wenn Ihr einen Siegelzauber braucht – einen Schalldämpfer, zum Beispiel – dürft Ihr Euch jederzeit an mich wenden.“

Marron hatte genau zugehört, trotzdem passte der Vorschlag nicht zu den Schwierigkeiten. Lieber wurde Tankred jede Stunde geweckt, als Torgard ihrem Husten und dem Fieber zu überlassen. „Ich denke, das bekomme ich auch alleine hin.“

„Ihr könnt mit Sicherheit fast alles, was Ihr Euch vornehmt.“ Noch so ein Lächeln mit Schlafzimmerblick. „Wie auch immer. Ich schulde Euch einen Gefallen, dafür, dass Ihr meine Reise so beschleunigt habt. Für den Fall, dass in Purpurea doch Schwierigkeiten auf Euch warten.“

Tankred nickte. Was sollte er auch sonst tun?

„Dann will ich Euch nicht weiter aufhalten. Wir sehen uns heute Abend auf der Pilum.“

Damit stieß Marron sich von der Wand ab und spazierte mit wiegenden Hüften davon.

Tankred schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Wenn Marron diese Spielchen in Aleas Beisein trieb, dann würde er die Reise vielleicht nicht überleben.

Aber jetzt hieß es zunächst, Mariana die schlechte Nachricht zu überbringen.

Den toten Magier hatte Mariana mittlerweile in einen Sarg aus Holz mit zahlreichen Beschlägen gehoben, die sie mit Siegeln gegen Verwesung versah.

„Colonio nimmt uns doch mit“, sagte Tankred.

Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. „Du willst dich diesem Menschen ausliefern?“

Was für eine Frage. Er zuckte mit den Schultern zum Zeichen, dass er diesbezüglich keine Vorahnungen hatte. „Wenn er rechtzeitig zu Hause ankommen will, ist er uns genauso ausgeliefert.“

In einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, hob sie die Mundwinkel. „Wie wahr. Ich verpacke diesen hier und zahle dir dann deinen Lohn für die letzten Tage. Vielleicht möchtest du dich von deinen Patienten verabschieden. Und eine Liste mit Dingen schreiben, die wir bei ihnen beachten müssen.“ Sie winkte in Richtung des Schreibpultes in der Ecke.

Als Tankred eine ordentliche Übergabe zustande gebracht hatte, erreichte die Sonne ihren höchsten Punkt. Jetzt hieß es, die anderen zu verständigen. Weil das Gasthaus näher lag, machte er zuerst einen Abstecher dorthin.

Guntrun und die Kleine fand er auf dem Zimmer, wo sie auf dem Boden zu Mittag aßen – beziehungsweise versuchte Guntrun, Torgard dazu zu bewegen, zu essen, statt ihr Brot zu zerrupfen und ausgewählte Stücke in Flammen aufgehen zu lassen. Die Dielen hatten ein paar Rußflecken mehr als heute Morgen, soweit das bei der derzeitigen Anzahl überhaupt noch zu beurteilen war.

Glücklicherweise hatten Alea, Tankred und die Wirtsfamilie das gesamte Zimmer mit Brandschutzsiegeln und allen anderen Schutzzaubern durchtränkt, die ihnen eingefallen waren. Trotzdem brauchten Eineinhalbjährige mit starker magischer Begabung zu ihren besten Zeiten in jedem wachen Augenblick Betreuung. Wie hatten Tankreds Eltern das ausgehalten, bevor sie ihn weggeben mussten?

Jedenfalls wurde Guntrun von Tag zu Tag blasser und nahm versehentlich versengte Haare mittlerweile nicht mehr mit einem Lachen hin. Allerdings war sie noch nicht so weit, deswegen ein Kopftuch zu tragen wie eine verheiratete Frau daheim in Friedlant. Obwohl es hierzulande keine Frisurenvorschriften für Frauen gab, entwickelte sie einen gewissen Stolz darauf, dass sie ihren vor den Göttern angetrauten Ehemann verlassen hatte und weigerte sich, ihre blonde Mähne zu bändigen.

„Wurdest du entlassen?“, fragte Guntrun.

„Danke für dein Vertrauen.“

Sie streckte ihm die Zunge heraus.

„Ich habe eine Passage nach Purpurea für uns ergattert. Heute Abend müssen wir am Hafen sein.“

Guntrun quietschte. Dann stand sie auf und fiel ihm um den Hals. „Den Göttern sei Dank. Bekommen wir zwei Kabinen? Ich will endlich mal wieder alleine mit dem Rotzlöffel da in einem Bett schlafen. Oder ganz alleine.“ Sie zwinkerte ihm zu, damit er verstand, dass sie zu solchen Anlässen weder alleine zu sein noch zu schlafen gedachte.

Sogenannter Rotzlöffel zog sich an Tankreds Hose auf die Füße und streckte einen Arm aus. „Ed! None.“

„Ich weiß nicht.“ Wie gebeten hob Tankred Torgard hoch, setzte sich aufs Bett, um sie zu knuddeln, und erklärte so lange, was er mit Colonio ausgehandelt hatte.

„Also gut.“ Guntrun ging auf und ab. „Vorräte für vier Tage. Wie viel Geld haben wir und was brauchen wir?“

„Wieso fragst du mich das?“

Sie winkte ab. „Entschuldige. Hab mal wieder vergessen, dass der König euer Blutglas beschlagnahmt hat.“

Tankred rieb sich das Ohrläppchen, wo der Widerstand des leeren Stichkanals daran erinnerte, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der Alea seine Gedanken hatte lesen können. Und andersherum. Nicht, dass er seinen Liebsten deswegen besser verstanden hatte.

„Am besten holst du so schnell wie möglich unseren Haushofmeister, damit wir einkaufen und packen können.“

„Das hatte ich vor. Kind, ich muss los.“ Er gab Torgard einen Kuss auf den Scheitel und überredete sie dann, von seinem Schoß zu krabbeln.

Mit dem Gespür eines wahren Gläubigen hatte Alea einen Schmied gefunden, der nicht nur bereit war, einen Ausländer ohne Ausbildungsurkunde einzustellen, sondern auch an etwas arbeitete, wofür die meisten Leute ihn für verrückt hielten.

Nägel mit Gewinde, die man irgendwo hineindrehte wie einen Korkenzieher? Wer brauchte so etwas?

Als Tankred die Werkstatt betrat, wartete Alea schon mit verschränkten Armen auf ihn. Der Schmied hingegen brütete über einigen Zeichnungen. Die beiden hätte man für Geschwister halten können – kurz, mit breiten Schultern und schwarzen Locken, aber Alea besaß neben der Tätowierung im Gesicht noch den hübscheren Hintern.

Tankreds Lächeln erwiderte sein Liebster jedoch nur mit einem hochgezogenen Mundwinkel.

„Verzeiht bitte die Störung, Meister. Ich muss kurz mit Alea reden.“

Der wartete nicht auf eine Erlaubnis, sondern hakte sich wortlos bei Tankred unter. Gemeinsam schlenderten sie auf die Gasse, in der es von Hammerschlägen und Sägen hallte, bis Alea anhielt und einen Kreis gegen Zuhörer zog.

„Haben sie dich entlassen?“

Warum schlug Alea ihm nicht gleich mit der Faust in den Magen. „Nicht du auch noch.“

Sein Liebster hob eine Braue.

„Guntrun hatte die gleiche Befürchtung.“ Als trauten sie ihm nicht zu, seine verfluchte Anstellung zu behalten.

„Ich hatte eine Ahnung, aber ich wusste nicht, ob es gute Neuigkeiten sind“, sagte Alea.

Das musste wohl als Entschuldigung genügen. Tankred strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. „Heute Nacht ist der Magier eines purpureischen Schiffs ertrunken. Wir dürfen umsonst mitfahren, wenn wir dem Kapitän helfen. Aber Verpflegung müssen wir selbst mitbringen, weil er mich nicht mag. Er erwartet uns bei Sonnenuntergang.“

Alea blinzelte. „Wir können morgen abreisen?“

„Wir können morgen abreisen.“ Tankred grinste.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich mich bei dir für den Mord bedanken.“ Alea packte Tankred, zog ihn zu sich hinunter und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „In spätestens einer Stunde bin ich da zum Packen.“

Kopfschüttelnd sah Tankred ihm hinterher und verrieb den Rußfleck auf seiner rechten Wange. Wie gut, dass sein Liebster nicht ahnte, wie gern er für den Mord verantwortlich sein wollte.

xxx

Ein Sirren in dem Beutel an ihrem Gürtel riss Felina aus ihren Gedanken über die Kopfgröße von Säuglingen. Die Tochter der Köchin erwartete ihr erstes Kind, das sollte eine Mütze bekommen.

Sie legte die Nadeln mit der ersten Reihe Maschen beiseite und wühlte den Sprechspiegel heraus. Was wohl Marron umtrieb, dass er sie tagsüber störte?

Als sie an den Rahmen klopfte, um die Verbindung zu bestätigen, strahlte er ihr entgegen. „Maman!“

So hatte er sie seit Monaten nicht mehr genannt, weil ihm die Anrede schon vor Jahren kindisch erschienen war und ihm nur noch selten herausrutschte. Meistens aber nicht, weil er glücklich war. Im Grunde genommen hatte sie ihn auch seit Jahren nicht mehr so glücklich erlebt. Sie lächelte zurück. „Marron.“

„Stell dir vor, was passiert ist …“, und dann sprudelte eine Geschichte aus ihm heraus von einem ertrunkenen Magier und wie er geglaubt hatte, dass er doch nach Purpurea schwimmen musste, was aber seiner zuverlässigen Herbergswirtin die Bücher durcheinander gebracht hätte. Dann erging er sich ausführlich über einen friedländischen Heiler namens Tankred, der ihm den Tag gerettet hatte. „Er lebt mit einem Mann zusammen, Maman!“ Kurz wurde sein Blick abwesend. „Hättest du gedacht, dass irgendwer auf so etwas stolz sein kann? Die Leute beleidigen ihn, weil er lange Haare hat“, Marron zeigte etwas über Schulterlänge, „und sie all diesen Blödsinn über Männer glauben, die sich wie Frauen kleiden. Aber er verdreht jedes Mal nur die Augen und sonnt sich in dem Wissen, dass er mit einem Fingerschnippen ein ganzes Stadtviertel zerstören könnte, wenn er wollte.“ Ein Seufzen, beinahe erkannte sie Sterne in seinem Blick.

Ach, die Ahnen mochten ihrem Marron beistehen. Er himmelte diesen Tankred an und hatte es noch gar nicht bemerkt. Und wie immer hatte er sich jemanden ausgesucht, der es ihm nicht danken würde. „Du kannst kein ganzes Stadtviertel zerstören.“

Marron schob das Kinn vor. „Nicht so schnell wie er, meinst du.“

Sie neigte den Kopf, denn auch Siegelzauber entfalteten Sprengkraft, wenn man sie ließ. Aber trotzdem – er konnte es sich nicht leisten, dadurch oder aus anderen Gründen aufzufallen.

Sollte sie ihn weiter schwärmen lassen? Nie wusste sie, wie sie auf derlei Eröffnungen reagieren sollte, und als Mutter war sie ohnehin die falsche Person dafür. Aber er hatte ja sonst niemanden. Keinen Freund, keine Freundin, der er sich anvertrauen konnte. Seine Halbschwestern hätten vielleicht mit ihm über hübsche junge Männer gequietscht, doch Ferdinand hielt die beiden sorgsam von ihrem ältesten Bruder fern, unter dem Vorwand, dass sie irgendwann – bald – an andere Fürstenhöfe heiraten würden und dort niemand von Marron wissen durfte.

„Mutter? Wieso schaust du, als hätte ich traurige Neuigkeiten?“

Sie lächelte in der Hoffnung, dass er wie immer nicht sah, wie ihr Herz in noch kleinere Teile brach. „Verzeih. Ich sorge mich ein wenig, dass du dir die Haare wachsen lassen willst. Du hast ja niemanden, der dich beschützen –“

„Das ist doch gerade, was ich sage, Maman.“ Seine Augen leuchteten. „Dass er keinen Beschützer braucht, egal, wie er aussieht. Und dass – ach, ich weiß nicht.“ Ein schiefes Lächeln. „Dass man eigentlich keinen Beschützer brauchen sollte?“

Oh, sie verstand zu gut, was er meinte. „Noch leben wir nicht in einer solchen Welt.“

Er stützte das Kinn auf eine Hand, der Spiegel wackelte, sodass sie einen Blick auf grobe, ungebleichte Laken und die Holzwand hinter ihm erhaschte. „Noch nicht.“

„Kind.“ Bei den Ahnen. „Weder in meiner noch in deiner Lebenszeit wird sich die Welt so sehr verändern.“

Wieder seufzte er, diesmal resigniert statt träumerisch. „Du hast recht. Ich …“ Er schüttelte den Kopf.

Mit siebzehn war er nicht so schwärmerisch gewesen wie jetzt, was bedeutete, dass dieser Tankred allein durch seine Anwesenheit noch gefährlicher war, als sie geglaubt hatte. Doch eine Ermahnung, dem Fremdling nicht zu nahe zu kommen, würde ihr nur übelgenommen. „Lade dir nicht mehr auf, als du tragen kannst“, sagte sie stattdessen. „Es muss reichen, dass du für das Wohlergehen Divitanias mitverantwortlich bist. Die Welt wiegt zu schwer für einen Einzelnen.“

„Hmm.“

Sie wollte ihm durch die Locken wuscheln.

„Danke. Ich sollte Vater schreiben, dass ich eine Passage ergattert habe, nicht wahr?“

„Wenn du es so mit ihm besprochen hast.“

„Du kennst ihn doch.“

Oh ja. Sie beide kannten Ferdinand zur Genüge.

Ehe Aurelia das Geschirr vom Mittagessen zum Spülstein getragen hatte, summte der Sprechspiegel schon wieder. Ein tieferer Ton diesmal, der Ferdinand ankündigte. Hätte er sich nicht eine andere Tageszeit aussuchen können? Abends, zum Beispiel. Die Abende auf Aiguescur nahmen wie langweilige Balladen kein Ende, wenn Marron unterwegs war.

Trotzdem holte sie den Spiegel heraus und lächelte für den Vater ihres Sohnes. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Aurelia und die Köchin sich über den Abwasch beugten und so taten, als lauschten sie nicht. Wahrscheinlich lohnte es sich, obwohl sie nur das hören konnten, was Felina sagte.

„Geliebte. Du isst in der Küche?“ Er selbst hatte sich in sein Arbeitszimmer im Schloss zurückgezogen, sofern die Bücherwand im Hintergrund sie nicht trog.

Sie zuckte mit den Achseln. „Für mich allein lohnt es sich kaum, den Saal zu heizen und das Tafelleinen zu waschen, findest du nicht?“ Selbst wenn Felina sie dazu einlud, weigerten sich Aurelia und die Köchin beharrlich, dort zu essen, als befürchteten sie, dass Ferdinand es riechen konnte, wenn jemand sich über seinen Stand erhob.

Außerdem hasste sie den Saal. Oh, er war hell und freundlich eingerichtet – mit Möbeln aus Buchenholz und den selbst bestickten Wandbehängen an den Wänden. Aber in den achtundzwanzig Jahren hier hatte sie viele Wandbehänge bestickt, die sie allesamt nur daran erinnerten, dass sie Aiguescur nie mehr verlassen würde.

„Enric ist abgereist?“

Deswegen also meldete sich Ferdinand. „Marron hat Aiguescur gestern Morgen verlassen. Wie du befohlen hast.“ Im Blick ihres Sohnes hatte sie gelesen, wie sehr es ihn schmerzte, den Ausbau seines geliebten Weins schon wieder jemand anderem überlassen zu müssen. Auch wenn er das über diesem Tankred vergessen zu haben schien.

„Hmm.“ Ferdinand strich sich über den sorgfältig gestutzten Bart.

„Unser Sohn tut immer das, was du befiehlst.“ Obwohl Ferdinand es nicht einmal schaffte, ihn beim Zweitnamen zu nennen, so wie er es sich wünschte.

Wieder dieses nachdenkliche Summen.

Oh, sie wollte ihn ohrfeigen. Stattdessen krallte sie die Nägel ihrer freien Hand in die Tischplatte. „Er würde für ein Lob von dir in den Rachen eines Ungeheuers springen, das weißt du genau.“

Ferdinand hob die Brauen. „Für dich würde er das tun.“

Beklagte er sich, dass Marron ihn nicht genug liebte? Ausgerechnet er? Sie kniff die Augen zusammen. „Ich würde ihn nicht um so etwas bitten. Es reicht, dass er fast jedes Mal mit dem Wurmstich heimkommt und ich ihn heilen muss, findest du nicht?“ Das immerhin konnte sie heilen, wenn es auch seiner Einsamkeit nicht abhalf.

„Du hängst zu sehr an ihm.“

Felina hieb auf den Tisch. „Bei den Ahnen. Er ist unser Sohn. Wieso sorgst du dich nicht um seine Gesundheit?“

Ein winziges Zucken seiner Oberlippe verriet, dass sie nun auch für ihn undeutlich sprach. Was, wie er glaubte, immer der Fall war, sobald sie sich zu sehr über Kleinigkeiten aufregte. Dabei wollte sie ihn hören, wenn er ohne Zungenspitze in einer fremden Sprache reden musste.

„Enric ist erwachsen und kann sich selbst darum kümmern. Es schadet ihm, ihn zu hätscheln.“

„Bei dem, was er tut, wenn er nicht hier ist, kann er ein wenig Hätschelei brauchen.“ Wie immer drückte der Gedanke auf ihre Augen, wollte ihr Tränen abringen, die sie nicht mehr hatte. Ihr süßer Junge und all diese Männer, die er nicht liebte, und die etwas Besseres verdienten, selbst wenn sie gegen Divitania arbeiteten. „Und jetzt sag mir, ob du nur mit mir redest, um zu kontrollieren, dass er abgereist ist, oder ob es noch einen Grund gibt, warum ich mich schon wieder mit dir streiten muss.“

Das letzte Mal war vor drei Tagen gewesen, und sie war es so leid. Immer die gleiche Aussicht aus den vergitterten Fenstern, so schön sie auch war, auf den toten Flussarm, der Aiguescur umwand, die Weinberge und das Dorf dazu. Jeden Tag zwecklose Handarbeiten und immer die gleichen Dinge, über die sie sich mit ihrem ehemaligen Geliebten stritt.

Ferdinand seufzte, als hätte er nicht mit diesem Gespräch gerechnet, als erfordere es unglaublichen Langmut von ihm. „Ist das Wetter bei euch auch so grau wie hier?“

„Du weißt genau, dass ich so oder so nicht hinaus könnte.“ Nur an warmen Tagen im Sommer nahm sie ihre Arbeit mit in den Garten, wenn die Reben an der Laube genug Blätter hatten, um sie vor allen Blicken zu verbergen.

„Bitte erinnere dich, dass du darauf bestehst, deine Anwesenheit hier geheim zu halten.“

Sie wischte den Einwand mit einer Geste hinweg. Einerseits war sie sicherer so, andererseits – wenn er damals ihren Bedenken gelauscht hätte, dann wären sie beide heute vielleicht glücklicher. Aber am Ende war es einfacher gewesen, den Liebesschwüren eines gutaussehenden Siebzehnjährigen nachzugeben, und dafür verachtete sie sich noch heute.

„Felina …“ Er schüttelte den Kopf, als sei sie ein ungezogenes Kind. „Das schlechte Wetter hat mich erinnert, dass ich einen grünen Mantel vermisse. Wärst du so gütig, in meinem Zimmer nachsehen zu lassen, ob er dort in der Truhe liegt?“

Andere hätten wenigstens so getan, als führten sie das Gespräch um ihretwillen. „Wenn du wissen willst, wo dein Mantel steckt, dann frag mich heute Abend danach.“

Ein Kupfertopf knallte auf den Boden und rollte einige Schritte.

Selbst Ferdinand zog den Kopf ein und schaute sich um.

„Verzeihung!“, rief Aurelia. Sie fischte nach dem Gefäß und begutachtete es. „Man erkennt kaum eine Delle, Herrin.“

„Ist schon gut.“ Felina wandte sich wieder Ferdinand zu. „Wie gesagt, du kannst dich heute Abend wieder melden.“

„Oder morgen, dann bist du mir vielleicht gewogener. Einen schönen Tag wünsche ich dir.“

Sie schnaubte und legte den Spiegel auf den Tisch, sodass Ferdinand nur noch Holz sehen würde. Keinen Atemzug später verklang das Summen, also steckte sie den Spiegel wieder ein und griff nach den Krücken.

„Wartet, Herrin, ich helfe Euch.“ Aurelia eilte herbei.

„Wenn du bitte die Tür öffnen würdest“, sagte sie. „Wieso verschwindet eigentlich immer genau der Schoner für diese Klinke?“

Die beiden Frauen flöteten Entschuldigungen, dass sie es auch nicht wussten, während Aurelia tat wie gebeten.

Diesmal fehlte auch der Überzieher für die Klinke auf der anderen Seite, also schob Felina die Tür mit einer der Krücken zu und begab sich zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Erst nach langen Auseinandersetzungen hatte sie Aurelia dazu bewegt, ihr eine Drehspindel, Nadeln und Wolle zu kaufen. Spinnen und Stricken, so hatte Aurelia gemeint, seien Arbeiten für arme Frauen, nicht für edle Damen.

In Felinas Heimat war das anders, da gab es nicht genug Leute, als dass irgendwer das Vorrecht hatte, überflüssige Dinge zu tun. Wandbehänge zu sticken war ein Luxus, den sich adlige Damen als Aussteuer für ihre Töchter leisteten. Doch Felina hatte keine Tochter und nur den einen Sohn, der niemals eine Braut ins Haus bringen würde.

Vor dem Unfall damals hatte sie Handschuhe für ihren Bruder gestrickt, passend zu dem Mantel, den sie für ihn gewebt hatte. Was wohl aus dem halbfertigen Stück geworden war?

Nutzlose Gedanken. Sie ließ sich auf der gepolsterten Fensterbank nieder, wo trübes Licht durch die Glasscheibe fiel, und versorgte das Siegel an dem Stein darunter mit Kraft, damit es sich aufwärmte. Dann nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Wenn sie die Mütze fertig hatte, brauchten sie neue Schoner für die Klinken der Küchentür, damit sich Felina an dem Eisen nicht die Hände verbrannte. Manchmal hatte sie den Verdacht, dass ihre Gesellschafterin die Stücke stahl, um ihr etwas zu tun zu geben.

Es dauerte einige Reihen länger als sonst, bis Aurelia erschien. Sie setzte ein Tablett mit einem Becher und einem Krug auf einer der Truhen ab. „Ich bringe Euch Weidenrindenaufguss, Herrin.“

Felina nickte. Wie erwartet.

„Ihr seid immer besonders ungeduldig, wenn der Stumpf schmerzt“, plapperte Aurelia, als wollte sie Ferdinand entschuldigen. „Die Wolken versprechen Regen, da lag die Vermutung nahe.“ Ihre Hand zuckte, als wollte sie das Knie des besagten Beines tätscheln, aber dann verzichtete sie auf die vertrauliche Geste. „Soll ich ihn später einreiben? Ich habe frisches Fingerhutöl gekauft.“

„Nein, danke.“ Eigentlich zogen nur die Muskeln in Felinas Schultern, wie so häufig. Entweder weil sie den Kopf für die Handarbeiten neigte, oder weil sie sich die hässlichsten Antworten auf Ferdinands Vorwürfe verbiss. „Aber wenn du ein Traubenkernkissen aufheizen würdest? Mein Nacken verträgt die Kälte so schlecht.“

„Selbstverständlich.“ Aurelia schenkte etwas von ihrem Gebräu in den Becher und stellte ihn in Felinas Reichweite. „Das hier hilft auch bei Kopfweh.“

Also gut. Der Geschmack von Weidenrinde ließ zu wünschen übrig, und diesmal hatte Aurelia es mit der Stärke wirklich übertrieben. Trotz eines Zusatzes von Honig wollten sogar Felinas Zähne vor der bitteren Flüssigkeit flüchten, aber sie schlürfte gehorsam den Aufguss, bis ihre Gesellschafterin das Zimmer verließ.

Als sie jedoch ihre Arbeit wieder aufnahm, wurde ihr schwindelig und die Fäden verschwammen vor ihren Augen. Außerdem musste sie gähnen.

Kündigte sich da eine Hemicrania an? Aber solche Anfälle hatte sie höchstens drei, vier Mal im Jahr. Der letzte lag noch keinen Monat zurück, passend zu ihrer letzten Blutung. Außerdem hätte sie sonst die Schemen sehen müssen.

Hatte Aurelia die Zutaten für ihr Gebräu verwechselt?

Gleichgültig. Felina legte ihre Arbeit beiseite, die beinernen Nadeln klapperten auf den Boden, weil sie den Korb verfehlte. Aber wenn sie sich hinunterbeugte, würde sie gewiss fallen. Jetzt musste sie schlafen, und danach konnte sie sich darum kümmern.

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Verehrter Herr Vater,

es wird Euch erleichtern, dass ich doch noch eine Schiffspassage von Divitania aus ergattert habe, daher werde ich Purpurea schneller erreichen als erhofft. Wenn die Götter uns hold sind, sollte es mir gelingen, die nötigen Geschäfte noch vor dem Winter zu tätigen, sodass Ihr Seiner Majestät zum Jahreswechsel gute Nachrichten bringen könnt.

Grüßt meine Frau Mutter von mir: Ich habe nicht vergessen, dass ich ihr Mitbringsel versprochen habe.

Euer ergebener Sohn,

Henri

Marron faltete den Brief zusammen und versiegelte ihn mit einem Klecks Wachs, drückte den Ring mit dem stilisierten M hinein, den er für diese Zwecke besaß. Selbstverständlich hatte er andere Mittel, seinen Vater von den Vorgängen zu unterrichten, aber mit seinem vorgeblichen Beruf wäre es zu seltsam gewesen, wenn er nicht geschrieben hätte.

Auf dem Weg hinaus verschloss er seine Kabine mit einem Zauber. An Deck lungerten jene beiden von Colonios Angestellten herum, die das Besäufnis gestern überlebt hatten: Der Smutje und der Zimmermann, der für Reparaturen aller Art zuständig war. Beide sahen äußerst mitgenommen aus.