Albenherz - Carmilla DeWinter - E-Book

Albenherz E-Book

Carmilla DeWinter

0,0

Beschreibung

Nach einem Schiffbruch im letzten Herbst erinnert sich Cassius weder an seinen richtigen Namen noch an seine Herkunft. Trotzdem schlägt er sich erfolgreich als Gladiator durch und genießt sein neues Leben. Doch dann entkommt er nur knapp einem Mordversuch durch eine Zauberin. Der ebenso geheimnisvolle wie attraktive Magier Marron beschützt ihn. Da Cassius sich in seinem früheren Leben Feinde gemacht hat, bietet ihm Marron ein Geschäft an: Er wird dafür sorgen, dass Cassius sein Gedächtnis wiedererlangt. Im Gegenzug soll dieser Marron helfen, dessen Mutter zu befreien, die als politische Geisel festgehalten wird - und an deren Entführung Cassius angeblich beteiligt war. Halb aus schlechtem Gewissen, halb aus Begehren stimmt er zu.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 344

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Carmilla DeWinter

Albenherz

Die verschwiegenen Täler

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2018

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Dean Drobot – shutterstock.com

© Rostislav Stach – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-230-4

ISBN 978-3-96089-231-1 (epub)

Inhalt

Nach einem Schiffbruch im letzten Herbst erinnert sich Cassius weder an seinen richtigen Namen noch an seine Herkunft. Trotzdem schlägt er sich erfolgreich als Gladiator durch und genießt sein neues Leben. Doch dann entkommt er nur knapp einem Mordversuch durch eine Zauberin. Der ebenso geheimnisvolle wie attraktive Magier Marron beschützt ihn. Da Cassius sich in seinem früheren Leben Feinde gemacht hat, bietet ihm Marron ein Geschäft an: Er wird dafür sorgen, dass Cassius sein Gedächtnis wiedererlangt. Im Gegenzug soll dieser Marron helfen, dessen Mutter zu befreien, die als politische Geisel festgehalten wird - und an deren Entführung Cassius angeblich beteiligt war. Halb aus schlechtem Gewissen, halb aus Begehren stimmt er zu.

Cassius lag im Sand, spürte die Klinge seines Gegners im Nacken und bereute, heute Morgen aufgestanden zu sein. Vom Rand des Übungsplatzes hallte der Applaus von etwa zwei Dutzend Leuten herüber.

Die Niederlage, die ihm sein Kollege gerade zugefügt hatte, war ein gefundenes Fressen für die Buchmacher, zumal Cassius nicht einmal mit seinem links geführten Schwert den Hauch einer Chance gehabt hatte. Falls er übermorgen den Kampf in der Arena entgegen der Wetten gewann, könnte sich das hier als eine nette Einkommensquelle erweisen.

Allerdings … die Spätsommerluft brannte wie Feuer in seinen Lungen, er schwitzte wie ein Minensklave und sehnte sich nach seinem Bett, obwohl er erst vor zwei Stunden unter den Laken hervorgekrochen war. Eher unwahrscheinlich, dass er bis dahin die letzten Reste seiner Gelbsucht loswurde.

Die Lemures sollten alle glutäugigen Seemänner in der Luft zerreißen und den nichtsnutzigen Heiler am Hafen gleich mit. Wozu bezahlte der Fürst denn diese Leute, wenn sie nicht mal eine verfluchte Hepatitis fanden, die irgendwelche Ausländer einschleppten?

„Cassius!“, brüllte der Lanista. „Beweg endlich deinen selbstmitleidigen Arsch vom Platz!“

Verglichen mit den Verwünschungen, die er in den letzten zwei Wochen benutzt hatte, um seiner Enttäuschung Luft zu machen, war Cassius’ Arbeitgeber heute recht höflich. Besser, ihn nicht weiter zu reizen.

Also stemmte Cassius sich hoch, sammelte das Langschwert ein und schleppte sich zur Absperrung, wo sein Gegner schon lehnte und irgendetwas mit einer der Buchmacherinnen flüsterte.

Die Suche nach einem freundlichen oder wenigstens mitfühlenden Gesicht erwies sich als unnütz – offenbar herrschte die Meinung vor, dass er selbst schuld an dieser Schmach war.

Gesenkten Blickes schlurfte er an dem Holzgeländer entlang, das den Übungsplatz begrenzte. Nur sein Stolz verhinderte, dass er sich daran festhielt.

Auf halbem Weg zum Ausgang griff eine zarte Hand nach seinem Unterarm. Sie gehörte zu einer äußerst kurvenreichen Frau, die ein Kleid aus zwei so transparenten Lagen grünen Stoffes trug, dass ihre dunklere Brustbinde durchschien. Ihre schwarzen Locken fielen trotz des warmem Wetters ungebändigt über ihre Schultern, ein schwerer Blütenduft umwaberte sie.

„Verzeihung.“ Sie verzog die vollen Lippen zu einem Lächeln. „Cassius? Ich bin Eusebia Iobanidis.“

„Und?“ Wer auch immer diesem Sklavenkind aus Iobaneh einen göttergefälligen Lebenswandel gewünscht hatte – das Kleid bewies, dass sie ihrem Vornamen zum Trotz alles andere als maßzuhalten gedachte.

„Ich hätte etwas Geschäftliches zu besprechen.“

Er hob die Brauen.

„Gehen wir ein Stück?“

Obwohl er keine Lust auf Geschäftliches hatte, nickte Cassius, denn in seiner Lage würde es seinem Ruf nützen, wenn er in Gegenwart einer schönen Frau gesehen würde. Er duckte sich unter der Latte hindurch und fing dabei den Blick des Schmieds ein. Alea Sidero grinste schief, als durchschaute er Cassius’ Beweggründe und wäre nicht einverstanden mit dem Versteckspiel.

Eusebia folgte Cassius zu seinem Bündel, das er an einem der wenigen schattigen Plätze lagerte. Während sie mit verschränkten Armen und beeindruckendem Schmollmund wartete, wühlte er seine Wasserflasche heraus und trank in kleinen Schlucken.

„Worum geht es?“, fragte er, sobald er sich nicht mehr ganz so ausgetrocknet fühlte.

„Ich komme im Auftrag der Lanista der Goldenen Gladiatorenkaserne in Aquilium.“

Oha. Die Leiterin einer der berühmtesten Truppen in ganz Centerre war auf ihn aufmerksam geworden? In der ehemaligen Hauptstadt gab es noch drei Kasernen – Gold, Silber und Schwarz. Äußerst renommiert. Außerdem lebten in Aquilium-Stadt angeblich dreihunderttausend Menschen – fast so viele wie auf der ganzen Insel hier. Dementsprechend waren die Wetteinsätze höher.

„Ihr wollt mich abwerben?“

Mit einer Geste bestätigte sie, dass er richtig geraten hatte. „Wie oft habt Ihr hier auf Purpurea Gelegenheit, Euch mit Kämpfern zu messen, die nicht von der Insel stammen? Zwei, drei Mal im Jahr?“

Er brummte unverbindlich. Die Truppe aus der Serentà war seit dem Frühjahr angekündigt, davor hatten sich zwei Haufen vom südlichen Festland blicken lassen.

„Sobald Euch die frischen Gegner ausgehen, schrumpfen die Einnahmen“, erklärte sie das Offensichtliche. „Meine Lanista würde Euch garantieren, dass Ihr mindestens vier Mal im Jahr auswärts kämpfen könnt. Sie wäre bereit, Euch hier auszulösen …“

„Ich denke darüber nach.“ Eine Lüge, um das Gespräch zu vertagen. Cassius würde in seinem Leben nie mehr einen Fuß auf ein Boot, Schiff oder sonstiges Wasserfahrzeug setzen.

Eusebia sah ihn schief an. „Das heißt, dass ich mit Eurem Lanista sprechen darf?“

„Fragt mich nach den Terminalia“, sagte er. „Ich muss mich auf meinen Kampf vorbereiten. Ich habe jetzt keine Zeit, mich um so etwas zu kümmern.“

„Selbstverständlich.“

„Auf Wiedersehen“, fügte er hinzu, da sie keine Anstalten machte, sich zu entfernen.

Ihre Brauen schossen nach oben. Offenbar war sie nicht gewohnt, dass Männer auf die Aussicht verzichten wollten, die sie bot.

Hätte er ihr mehr schmeicheln sollen? Obwohl sie nicht hässlich war und er Gerüchte über eine mögliche Abwerbung gut brauchen konnte, wollte er sie unter keinen Umständen auf ein Geschäft hoffen lassen.

Weil sie sich immer noch nicht rührte, wischte er das Schwert mit einem ölgetränkten Lappen ab, bevor er es zurück in die Scheide beförderte. Alea hatte genug Zauber an beidem gewirkt, um es gegen fast jeden unerwünschten Zugriff zu schützen, deshalb konnte es an der Wand lehnen bleiben, während Cassius diesem aufdringlichen Wesen auswich.

Der Schmied würde ihn retten, obwohl er sich gerade mit einem anderen jungen Mann unterhielt: mittelgroß, schmal, mit raspelkurzen, braunen Haaren und Augen, die im Gegenlicht golden schimmerten. Ziemlich genau Cassius’ Beuteschema, auch wenn der Fremde seine Figur unter loser Kleidung nach nordischer Art verbarg.

Leider – oder glücklicherweise – verabschiedete der sich schon wieder. Er drückte Aleas Unterarm, eine seltsam vertrauliche Geste für den Schmied. Die beiden gäben ein hübsches Paar aus einem guten und einem bösen Geist ab. Einer größer und zerbrechlich scheinend, passend dazu eine Aura, die unwirklich lichtgrau schimmerte, der andere kurz und muskulös, unter dessen Oberfläche die Magie brodelte wie das rachsüchtige Herz eines Vulkans.

Der Fremde schenkte Cassius ein strahlendes Lächeln.

Es erwischte ihn wie ein Schlag vor das Brustbein. Der andere war bei Licht noch schöner als …

Cassius blieb stehen. Schöner als was? Wer? Dieses Gesicht kam ihm bekannt vor, obwohl er es noch nie zuvor gesehen hatte. Andererseits – seine Erinnerung reichte gerade einmal elf Monate zurück, insofern musste er mit derlei Behauptungen vorsichtig sein.

Trotzdem. Ein seltsamer Sog ging von dem Fremden aus, der die Daumen in seinen Gürtel hakte und davonschlenderte. Um den Schaulustigen nicht zu viel Grund zu Lästereien zu bieten, zwang Cassius sich, den Blick abzuwenden, und suchte nach Alea.

„Du hast auch nichts dazugelernt“, bemerkte der aus zwei Schritt Entfernung. Hatte sich angeschlichen, wie so oft.

„Nicht jeder von uns kann oder will so langweilig wie du sein.“ Der Schmied war verheiratet, im Alter von zwanzig, wenn andere gerade einmal anfingen, sich auszutoben. Cassius hatte geschätzte zehn Jahre mehr auf dem Buckel und allein die Vorstellung verursachte Fluchtgedanken. Auswärtige hielten Alea gelegentlich für Cassius’ jüngeren, zu klein geratenen Bruder, aber außer einer Schwäche für Klingen und Männer hatten sie nichts gemeinsam.

Eins jedoch musste er Alea und seinem Tankred lassen: Die beiden waren das einzige verheiratete Paar aus zwei Männern auf dieser Insel und wahrscheinlich sogar in ganz Centerre. Ein „Ihr könnt uns mal“ an alle, die für sie nur Beleidigungen übrig hatten.

„Wenn du mit Marron anbandelst, ist dir ein unangenehmes Gegenteil von Langeweile sicher“, sagte Alea, anstatt wie üblich die Vorzüge des Erwachsenseins zu betonen. „Er hat versucht, mich über dich auszufragen. Wo du wohnst, ob du dich mittlerweile an deine Vergangenheit erinnerst. Das verheißt Ärger.“

Trotz des mahnenden Tonfalls bekam Cassius bei dieser Drohung keine Gänsehaut. „Ich hätte lieber mit ihm Ärger als mit dieser Schmeißfliege da.“ Er nickte in Richtung von Eusebia, die nunmehr neben dem Lanista an der Absperrung lehnte.

„Ja?“

„Eine Eusebia aus Aquilium, von den Goldenen. Soll mich abwerben.“

Alea zuckte mit der Nase. „Die hatte noch nie in ihrem Leben eine Waffe in der Hand. Wenn überhaupt, ist diese Honigfliegenfalle auf Giftmorde spezialisiert.“

„Vielleicht die Geliebte der Lanista dort.“

„Gehört es zum guten Ton, einen Gladiator direkt nach einem Kampf wegen so einer Sache anzusprechen? Es sei denn, man reicht ihm Wasser und ein Handtuch.“

„Hmm.“ Ja, das war reichlich merkwürdig. Aber zurück zu dem Fremden. „Woher weiß dein Bekannter, dass ich mein Gedächtnis verloren habe?“

„Das könnte er in jeder beliebigen Taverne erfahren haben. Du solltest dich lieber fragen, warum Marron dem Klatsch nicht traut.“

Oh. „Das gerade war Tankreds Verehrer?“

Alea hob eine Braue. Obwohl er seinen Liebsten oft mit ihrem letztjährigen Abenteuer aufzog, hatte er nie erwähnt, dass Marron umwerfend gut aussah. Einerseits wollte Cassius herausfinden, was dieser Mann unter seinen Kleidern verbarg, andererseits … „Du meinst, dass er etwas über meine Vergangenheit weiß?“

„Es ist sein Beruf, Dinge zu wissen, die ihn nichts angehen.“

Zugegeben. Cassius senkte die Stimme. „Was zum Henker will ein Spion mit mir?“

„Frag mich was Leichteres. Aber mit ein bisschen Pech hast du zwei davon am Hals.“

Also gut. Aber Eusebia fiel wenigstens auf und war überhaupt nicht magisch begabt, im Gegensatz zu Marron. „Wie überaus beruhigend.“

Alea lachte auf. „Pass auf dich auf, ja? Anscheinend hat dein Erfolg in der Arena ein paar schlafende Drachen aus deinem mysteriösen Vorleben geweckt.“

Mit dem Ellenbogen schob Cassius ihn zur Seite. „Jawohl, Herr Papa.“

Manchmal war es äußerst praktisch, zu groß für Kopfnüsse zu sein.

Am Nachmittag verlor Cassius zwei weitere Übungsrunden und überzeugte den Lanista, dass er nicht vorhatte, Eusebias Angebot anzunehmen.

Gegen Abend tauchte Aleas Tankred auf und sammelte den Schmied ein, während alle, die sich angestrengt hatten, im privaten Dampfbad der Kaserne erst schwitzten und sich dann vom Lanista durchwalken ließen. Statt danach mit den anderen einen Absacker in der Taverne um die Ecke zu nehmen, kaufte Cassius sich ein Abendessen in der besten Garküche der Stadt und ging heim.

Weil er im oberen Stockwerk lebte, hatte er eine kleine Terrasse, auf der eine Liege und ein Orangenbäumchen im Topf Platz hatten.

Nach dem abendlichen Opfer für die Götter und die guten Geister des Hauses wägte er seine Erschöpfung gegen das Wetter ab. Schließlich machte er es sich mit einem Becher Rotwein draußen bequem, wie noch einige andere Erwachsene der Umgebung. Die Witwe von gegenüber prostete ihm stumm zu, während unten seine Mieter und andere Eltern mehr oder weniger vergeblich nach ihren Kindern riefen.

Die abendliche Brise, die vom Meer her kam, sorgte endlich für angenehme Temperaturen. Hier im Talkessel südlich der Arena staute sich die Hitze zwischen den Häusern noch schlimmer als anderswo in der Stadt.

Irgendwann würde Cassius sich eine Villa an einem der Hänge außerhalb leisten können, immerhin hatten die Gewinne von acht Monaten für dieses Haus hier gereicht. Aleas Großmutter besaß Weinberge, von der konnte er sicher welche pachten. Ein Ruhestand als Bauer und mit besserer Aussicht, das würde auch ohne Eusebias Geld gehen.

xxx

In Gestalt eines Leoparden lungerte Marron auf dem Dach eines Hauses gegenüber der Kaserne herum. Wenn Alea ihm nicht sagen wollte, wo der Gladiator wohnte, musste er es eben selbst herausfinden. Gewiss hätte er auch zugeben können, wie verzweifelt er war, nachdem alle anderen Spuren im Nichts geendet hatten, aber das musste dieses eifersüchtige Rabenaas von einem Schmied nicht wissen. Dass Cassius Marrons Nähe nicht suchte, war ebenfalls hinderlich, bewies aber, dass dieser den Albenzauber vom letzten Herbst schadlos überstanden hatte. Anscheinend erkannte er Marron gar nicht wieder. Demnach ließen die Ahnen doch manchmal Nachsicht vor Recht walten.

Irgendwann schlenderte Tankred die Straße herauf, genau zu dem Zeitpunkt, als Alea den Übungshof verließ. Der Schmied bekam einen Kuss auf die Wange, sie hakten sich unter, unterhielten sich flüsternd. War es sehr vermessen, sich einen großzügigen und zuverlässigen Mann wie Tankred zu wünschen?

Aber wer würde sich schon auf Dauer mit einem wie Marron abgeben, dessen Seele einem alten Stiefel glich, auf dem ein Hund herumgekaut hatte? Benutzt, löchrig und voll fremdem Sabber.

Die Gladiatorentruppe erschien etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang, teilweise noch mit feucht glänzenden Haaren. Selbst von seiner Warte aus roch Marron das Massageöl mit Minze und Rosmarin.

Cassius löste sich von der Gruppe und schlenderte nach Westen, Richtung Stadttor. Die anderen strömten in die Taverne zwei Häuser weiter, als hätte jemand Marrons Bitte gehört.

Er stand auf, streckte sich und machte sich an die Verfolgung. Fast ein Jahr Arbeit, das jetzt endlich Früchte tragen würde. Ein Jahr in billigen Absteigen, immer auf der Suche nach der nächsten losen Zunge, gekrönt von einem Einbruch ins Schloss in Bellolca. Das Diebesgut, ein Amulett, das so poetisch wie unpassend zu seiner Form „Kelch der Quellhüterin“ hieß, wartete in einem Beutel an seinem Gürtel und schien sein letztes Opfer geradezu zu wittern.

Kurz vor dem Stadttor gingen Marron die Dächer aus. Er landete in einer Gasse, verwandelte sich zurück in seine zweibeinige Form und schlich dem Gladiator hinterher.

Glücklicherweise war das Tor nicht bewacht, da die zusammengewachsenen Vorstädte um die Arena herum eine eigene Mauer besaßen.

Cassius duckte sich in den niedrigen Eingang einer Garküche. So blieb Marron nichts anderes übrig, als auf ihn zu warten. Allerdings ließ eine Wolke aus Rosenduft ihn von der schattigen Gasse zurückprallen, in der er sich gerne versteckt hätte.

Aber da stand niemand. Er schüttelte den Kopf und beschloss, ein paar Häuser weiter Deckung zu suchen.

Nach einer knappen halben Stunde schlenderte Cassius an ihm vorbei, umgeben von Bratendunst. Marron wollte ihn schon weiter beschatten, da trieb die Wolke aus Rosenduft an ihm vorbei. Er schnupperte. Rosen und etwas Erdigeres – eine Frau? Wieso war sie unsichtbar?

Er schloss die Augen und tastete nunmehr ausschließlich mit seinen magischen Sinnen nach dem Ursprung des Geruchs.

Da war nichts.

Doch. Ein Knoten, und darum herum leuchtete alles ein wenig heller. Das hatte Marron schon einmal gespürt. Letztes Jahr, von Tankred. Nur, dass er diesen nachher wenigstens noch hatte sehen können.

Kein ganz ungefährliches Kunststück.

Bevor Marron Cassius weiter verfolgte, musste er herausfinden, wer noch hinter ihm her war.

xxx

In den nächsten beiden Tagen ließen sich weder Eusebia noch Marron auf dem Übungshof blicken. Cassius’ Heilerin – eine, die etwas von ihrem Fach verstand und entsprechend Geld verlangte – gelang es, die letzten Reste der Krankheit aus seinem Körper zu vertreiben. Tatsächlich nahm sie ihren Beruf äußerst ernst, deshalb musste er sie eine Viertelstunde lang beschwatzen, damit sie die ungesunde Gesichtsfarbe in Ruhe ließ.

Um seine Fortschritte nicht preiszugeben, verweigerte Cassius außerdem jeden weiteren Zweikampf. Sowohl der Lanista als auch die anderen Gladiatoren begriffen natürlich, was er vorhatte, hielten sich aber mit Kommentaren zurück.

Diesmal konnte es ihnen auch wirklich gleichgültig sein. Bei Kämpfen, in denen es gegen die Kaserne von Thalesia ging, Antinoùms Zwillingsstadt, gebot es der Anstand, nicht zu viel zu schummeln, aber gegen auswärtige Herausforderer war fast alles erlaubt. Zwar erhielt er laut Gesetz einen geringen Anteil an den Einsätzen, ob er nun gewann oder verlor. Wenn er aber entgegen der allgemeinen Ansichten gewann und daher von den Auszahlungen Geld übrig blieb, wurde dieses unter ihm, seinem Lanista und dem Buchmacher aufgeteilt.

An den Nachmittagen zeigten sich die Herausforderer aus der Serentà mit Schaukämpfen auf dem Forum. Auch Cassius ging einmal hin, um seinen Gegner zu begutachten, der ihm mit dem Langschwert gegenüberstehen würde.

Wie ein schwarzer Leopard schob sich Alea neben ihn.

„Was für ein Lackaffe“, meinte er.

Cassius brummte seine Zustimmung. Der Bursche glich seine kleinere Reichweite mit Geschwindigkeit aus, schien allerdings etwas zu bemüht, gut auszusehen. Offensichtlich hatte er noch nie gegen jemanden verloren, der einen Kopf kürzer als er, aber vollkommen rücksichtslos war. Cassius dagegen war zu oft gegen Alea angetreten und danach vom Platz gehumpelt, um dem Schauwert noch viel Bedeutung beizumessen.

Aus unerfindlichen Gründen hing an der Wand zwischen den beiden Arbeitszimmern ein Spiegel. Leonardo nahm sein Barett mit der Feder ab, die ihn als Feldwebel auswies, und warf einen prüfenden Blick in die polierte Silberfläche. Einfache Soldaten mussten nicht jeden Tag bei einer Prinzessin vorstellig werden. Gestern hatte sie mit ihrem jüngeren Bruder in der Kaserne einige Übungskämpfe beobachtet, sich den Offizieren vorgestellt und sich auch von ihm die Hand küssen lassen. Was, beim Schicksal, hat ausgerechnet er getan, um aufzufallen?

Falls der Schreiber mit dem Aktenstapel es eitel fand, dass Leonardo prüfte, ob er sich ordentlich rasiert hatte, sagte er deswegen nichts, sondern ging weiter seines Weges.

An Leonardos Äußerem gab es nichts auszusetzen. Er strich sich durch die Haare, um den Abdruck zu entfernen, den die Kopfbedeckung hinterlassen hatte, dann klopfte er an die Tür.

„Herein“, rief die Prinzessin.

Also klemmte er sich das Barett unter den Arm und betrat das Schreibzimmer von Letizia Dōankhanōlu, der ältesten Enkelin der serentesischen Herzogin.

Sie war mittelgroß, trug ihre braunen Locken an diesem Tag in einer komplizierten Flechtfrisur und hatte sich die Lippen so kirschrot eingefärbt wie ihre Aura. Dummerweise hatte Leonardo eine Schwäche für Lippenrot, konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie es wäre, die Farbe zu verschmieren.

„Prinzessin“, sagte er und verneigte sich. „Ihr habt nach mir geschickt?“

„Leonardo Vepres Fausto.“ Ihr Blick maß ihn einmal vom Scheitel über seine Schultern bis zu seinen Oberschenkeln, um schließlich zu seinen Augen zurückzukehren. „Legt ab und setzt Euch.“

Anstatt zu dem Scherenstuhl vor ihrem Schreibtisch winkte sie ihn auf eine mit zahlreichen Kissen gepolsterte Fensterbank und schenkte ihm, ohne zu fragen, Traubenmost aus einem Krug in ein Glas. Reichte es ihm so, dass seine Fingerspitzen ihre streifen mussten.

Sein Herz setzte einen Schlag aus, als hätte er eine Treppenstufe verpasst. Weniger, weil er sie anziehend fand, sondern weil sie eine Prinzessin war und er der magisch minderbegabte Sohn eines Handwerkers. Dieses Spiel hier konnte sie unmöglich ernst meinen. Als sie sich neben ihn setzte, drapierte sie ihre weiten Röcke dabei halb auf seinen Oberschenkeln. Handelte es sich hierbei vielleicht um eine Prüfung, ob er sich in Gegenwart einer solchen Frau zu benehmen wusste?

„Meine Großmutter besteht darauf, dass ich mit einer Leibgarde reise. Um meine Position in der Familie zu unterstreichen.“ Ein dünnes Lächeln. „Ich habe unter der Voraussetzung nachgegeben, dass ich mir die Truppe selbst aussuchen darf.“

Er nickte. Offensichtlich hatte sie ihn in die engere Auswahl genommen, obwohl das wenig Sinn ergab.

„Ihr und Eure Männer seid mir gestern durch vornehme Zurückhaltung aufgefallen.“

Hieß, sie hatte seine ganze Einheit im Auge? Zugegeben, er hatte sich, im Gegensatz zu den höheren Rängen, ihr gegenüber nicht mit Schmeicheleien überschlagen und den anderen einen Vortrag über ordentliches Benehmen gehalten, sobald er gewusst hatte, wer zu Besuch kommen würde. „Aber …“ Sie waren alle nicht besonders magisch begabt. „Wir wären von wenig Nutzen für Eure Sicherheit.“

Die Prinzessin hob die Brauen. „Die Aufgabe einer Leibgarde ist es, zu beeindrucken. Und Ihr …“ Ihre Hand landete auf seinem Knie, wanderte höher. Er konnte nicht mehr schlucken, so trocken war sein Mund. Sie lehnte sich näher, schnurrte in sein Ohr. „Ihr seid äußerst beeindruckend, Leonardo.“

Um seine Stimme zu schmieren, nahm er einen Schluck von dem viel zu süßen, neuen Wein. „Seid Ihr sicher?“ Wäre ihre Hand nicht da gewesen, wo sie war, hätte er sich für den atemlosen Ton geschämt.

„Oh ja. Wenn Ihr Euch jetzt, hier bewährt, könnt Ihr im Schloss wohnen und müsst auf Jahre hinaus nicht mehr in den zugigen Kasernen an der Grenze leben.“

Über die Hitze in seinem Unterleib hinweg versuchte er zu denken. Offenbar suchte die Prinzessin einen diskreten, talentierten Bettgefährten, und Leonardo war so diskret, dass sie nicht herausgefunden hatte, dass er in neunzehn von zwanzig Fällen Männer bevorzugte. Die zusätzliche Geheimniskrämerei und die bessere Unterbringung musste er nicht lange gegeneinander abwägen.

Er holte so tief Luft, wie es sein Zustand erlaubte. Versuchte ein zweideutiges Lächeln. „Vielleicht solltet Ihr die Türe abschließen und die Vorhänge zuziehen. Ein Schallschutzzauber ist gewiss auch angebracht.“

Sie lächelte, benutzte ihre magische Begabung, um den Vorschlägen nachzukommen. „Versprecht nichts, was Ihr nicht halten könnt.“

Am Vorabend der Spiele waren alle Gladiatoren entsprechend der jahrtausendealten Tradition vom Fürsten zu einem Essen eingeladen. Früher hatte es sich dabei um eine Art Henkersmahlzeit gehandelt. Viel zu oft hatten Kämpfer in der Arena ein frühes Ende gefunden, genau wie die zum Tode Verurteilten, die zu solchen Gelegenheiten hingerichtet wurden.

Mittlerweile waren die Menschen etwas weniger blutrünstig. Sie kamen, um die Duelle zu sehen, die gefochten wurden, bis zum ersten Mal Blut floss. Sobald es an den eigentlichen Zweck der Veranstaltung ging – die Hinrichtungen – hielten sie ihren Kindern lieber die Augen zu.

Weil alle am nächsten Tag einen klaren Kopf brauchten, handelte es sich um eine recht ruhige Angelegenheit, die früh begann und bei der der Wein grundsätzlich mit Wasser verdünnt wurde. Wie immer war der Fürst selbst anwesend. An die Liegen um seinen Tisch hatte er die Lanistae mit deren Begleitungen gebeten. Die Lanista aus Thalesia hatte ihren neuen Liebhaber mitgebracht, Cassius’ Arbeitgeber seine Frau und der aus Bellolca in der Serentà eine Schönheit mit braunem Haar, die in Sachen magischer Begabung mit dem Fürsten konkurrieren konnte. Ungewöhnlich. Lanistae waren oft ehemalige Gladiatoren – ein Berufszweig, in dem Zauberei unter Strafe verboten war und der daher vor allem wenig begabte Menschen anzog. Leute wie Cassius eben, die bestenfalls ein Feuer durch Willenskraft entzünden konnten. Wie der Lanista aus Bellolca sich eine so mächtige Zauberin geangelt hatte, die außerdem noch zu hübsch war, um nach unten zu heiraten, wussten die Götter. Vielleicht hatten es ihr seine Schultern angetan, die verdienten, ausführlich bewundert zu werden.

Wie es sich gehörte, machte Cassius ihnen vor dem ersten Gang seine Aufwartung und ließ sich außerdem seinem Gegner vorstellen.

Die Zauberin aus Bellolca schien von ihm fasziniert. Im Laufe des Abends spürte er oft genug ihren Blick in seinem Nacken. Wenn er sich nach ihr umdrehte, hob sie die Brauen.

Als die Bediensteten den Nachtisch abtrugen, schlenderte sie mit schwingenden Hüften zu ihm herüber. Ein scharfer Blick von ihr zu Cassius' Sitznachbarn genügte, damit dieser sich auf die andere Liege verdrückte und sie Platz nehmen ließ.

„Ihr wart letztes Jahr noch nicht da, nicht wahr?“, eröffnete sie das Gespräch.

„Ich bin im Procelloso zur Truppe gestoßen.“

„Euer Bühnenname. Nach dem Cassius-Zauber? Wie passend.“

Er zuckte mit den Schultern. Ja, sein Name hatte etwas mit dem Sturmwarnzauber zu tun, aber sein Retter hatte das vollkommen ironisch gemeint. Tatsächlich hatte Cassius nur den einen Namen. Das Wissen um seine Familie und seine Herkunft war in einem Sturm mit dem Sklavenschiff untergegangen, auf das es ihn verschlagen hatte. Die Heiler meinten, dass der Gedächtnisverlust magisch bedingt war, konnten aber nicht weiterhelfen. Anscheinend hatte sein vergangenes Ich eine Art Eid geschworen, deswegen würden die Zusammenhänge für immer ein Rätsel bleiben. Aber ihn störte das nicht. Sein ehemaliges Ich hatte sicher einen guten Grund gehabt, sich an nichts erinnern zu wollen.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“, fragte er zurück, obwohl er eigentlich keine Lust hatte, derlei belanglose Gespräche zu führen.

„Letizia Vepres Fausto.“ Er hätte schwören können, dass das nicht stimmte. Der Name kam ihm bekannt vor, aber nicht in Bezug auf eine Letizia. Doch dann landete ihre Hand auf seinem Schenkel. „Mein Verlobter und ich würden uns gern etwas … eingehender mit Euch unterhalten.“

Keine Frage, was sie meinte. Weil weder sie noch der Lanista hässlich waren, zog sich etwas in seinen Lenden zusammen. Hätte sie ihren Verlobten vorgeschickt, wäre Cassius’ Schwanz vermutlich in Habachtstellung gegangen, also Lob dem Schicksal für seine Rücksichtnahme.

„Es ist noch früh“, bemerkte sie nach einem Blick aus den Fenstern, während ihre Hand etwas höher rutschte. „Und der Weg zu unserer Unterkunft ist nicht weit.“

Tatsächlich ging draußen erst die Sonne unter. Doch für wie unbedarft hielt sie ihn? Nicht, dass er etwas gegen eine Runde zwischen den Laken einzuwenden gehabt hätte, aber am Vorabend eines Kampfes würde er sich nicht mit Leuten vergnügen, deren Einkommen von seinen Leistungen in der Arena abhing.

„Ich bin noch nicht ganz wieder auf der Höhe und sollte früh zu Bett gehen“, behauptete er. „Vielleicht morgen?“

Sie rückte näher, gurrte ihm ins Ohr. „Ist das ein Versprechen?“

„Einer schönen Frau wie Euch verspreche ich so etwas gern.“

Sie nahm ihre Hand weg, jedoch erst, nachdem sie mit einem beiläufigen Streicheln die Güter inspiziert hatte. „Ich freue mich schon darauf, mein Großer.“

Ja, ja. Cassius konnte zwar über die Ausstattung nicht klagen, aber er wusste auch, wann übertrieben wurde. Er bedankte sich mit einem Schlafzimmerblick, woraufhin Letizia aufstand und sich mit wiegenden Schritten entfernte.

Einzige Genugtuung war, dass die Ohren sämtlicher Mithörer rot glühten und damit bewiesen, dass Letizia ihr unfreiwilliges Publikum in wesentlich größere Verlegenheit gebracht hatte als Cassius.

xxx

Felina Gannes stellte den Brettchenwebstuhl beiseite, als ihre Gesellschafterin Aurelia das Abendessen auftrug. Es gab Brühe mit viel Petersilie und wenig Eierstich, was bedeutete, dass die Nachspeise reichhaltig ausfallen würde.

Dabei hätte sie ausgerechnet heute die Kraft brauchen können, die eine große Portion Fleisch versprach.

„Ist Letizia nicht im Haus?“, unterbrach sie Aurelias fröhliches Plappern über die Pflaumenknödel, die in der Küche warteten.

„Ich meine, dass sie unterwegs ist“, sagte Aurelia. „Schon seit ein paar Tagen.“

Es waren, um genau zu sein, neun Tage, dass sich ihre Kerkermeisterin aus der Burg entfernt hatte.

„Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, trug sie übrigens das Kleid, für das Ihr die Borte gewebt habt. Die schöne mit den grünen Ranken und violetten Blüten.“

Ein Meisterwerk aus Seide mit einem braunen Rand, ja. Darin hatte Felina einige ihrer Haare mit verarbeitet, deswegen wusste sie auch, dass Letizia abgereist war. Offensichtlich war der winzige Zauber daran unbemerkt geblieben, weil Menschen nicht nach Zaubern auf Dingen suchten, die verrotten konnten.

„Wohin wollte sie?“

Aurelia schüttelte den Kopf. „Ihr wisst doch, dass sie mir so etwas nicht erzählt.“

Auch das war keine Neuigkeit – obwohl Aurelia maßgeblich an Felinas Entführung beteiligt gewesen war, ließ ihre neue Herrin sie nicht an ihrem Kommen und Gehen teilhaben. Wer traute auch einer Dienstbotin, die schon einmal bereit gewesen war, die Geheimnisse ihrer Arbeitgeberin für Geld zu verraten?

Glücklicherweise fragte Felina nur der Form halber. Dank des Zaubers an der Borte spürte sie, dass Letizia sich weit entfernt hatte. Zu weit, als dass sie schnell genug hierher zurückkehren konnte, um flüchtige Geiseln diesseits der Grenze wieder einzusammeln. Das reichte an Wissen vollkommen aus.

Endlich. Nach fast einem Jahr Wartezeit. Die vergangenen Monate hatten Felinas Geduld auf eine harte Probe gestellt. Doch sie wusste nicht, ob Letizia sie mit einem jener Blutzauber aufspüren konnte, die manche Menschen beherrschten. Deswegen brauchte sie ausreichend Abstand.

„Vielleicht geht es um die Verhandlungen zu der Hochzeit“, meinte Aurelia. „Ich hoffe, dass wir hier nicht noch einen zweiten Winter aushalten müssen.“

Wie naiv. Felina klopfte mit dem Ende ihres Holzlöffels auf den Tisch. „Ferdinand wird die Herzogin und ihren Erben schon aus Prinzip so lange wie möglich hinhalten.“ Prinzessin Constanzas jugendliches Alter lieferte einen passenden Vorwand, während der König von Divitania zu retten versuchte, was zu retten war. Dass Felina als Mutter seines unehelichen Sohnes das Pfand für sein gutes Benehmen darstellte, würde keine Rolle spielen, selbst, wenn er sie tatsächlich noch liebte.

„Ach, die Politik. Der König denkt wohl gar nicht darüber nach, wie sehr Ihr Euren Sohn vermisst, oder wie sehr Euer Sohn Euch vermisst.“

Meistens erlaubte sich Felina nicht, darüber nachzudenken, wie es ihrem Marron ging. Grund zur Sorge gab es genug, hatte sie doch gehofft, dass er sie aufspürte, bevor ihre eigenen Fluchtpläne Früchte trugen. Besser, sie malte sich nicht aus, in welcher Gesellschaft er sich befand, denn außer auf sie konnte er sich auf niemanden verlassen. Dafür hatte Ferdinand gesorgt. Aber nicht mehr lange, dann würde sie es herausfinden.

Sie brummte mitfühlend, während Aurelia über ihren eigenen Sohn sprach, wegen dessen Spielschulden sie Felina ins feindliche Ausland verraten hatte. Wie Letizia entgangen war, dass man ihr einige wichtige Kleinigkeiten vorenthielt, wussten die Ahnen. Derzeit glaubte Letizia, dass Felinas Erbe ausschließlich das tat, von dem der Aberglaube sprach: Alben verbrannten sich an Eisen und wussten die menschlichen Sinne mit einem Zauber zu vernebeln. Um des besseren Lohnes willen hatte Aurelia außerdem verschwiegen, dass Felina Ferdinands abgelegte statt neue Mätresse war.

Solange Aurelia plapperte, nahm Felina Nachschlag von der Suppe.

Draußen ging die Sonne unter und färbte die Berggipfel der Himinsulen rosa. Es gab zahlreiche Legenden darüber, dass die grauen Steilwände tatsächlich hängende Rosengärten seien, die einst der Albenkönig einer menschlichen Prinzessin gepflanzt hatte. Aber weil sie ihn abwies, hatte er die Rosen mit Zaubern verborgen: Nur die Abendsonne konnte sie bei richtigem Wetter sichtbar machen.

Aus Erfahrung hielt Felina das für unwahrscheinlich. Menschen stanken. In der ersten Zeit nach dem Unfall, der sie ein Bein gekostet und für immer in die Fremde verbannt hatte, da hatten ihr die Gerüche Übelkeit verursacht. Aber sie hatte sich daran gewöhnt, und irgendwann hatte sie bemerkt, dass ihr Retter und hingebungsvoller Pfleger eigentlich nicht hässlich war – für einen Menschen. Ferdinand hatte ihr eine Hochzeit versprochen. Sie hatte es vorgezogen, seine Schwüre zu erhören, statt weiter seine sehnsuchtsvollen Seufzer auszuhalten. Hatte sich in ihrem jugendlichen Leichtsinn schwängern lassen, was daheim ein probates Mittel war, zögernden Eltern eine Vermählung abzuringen.

Gedankengänge, für die sie ihr jüngeres Selbst immer noch ohrfeigen wollte. Denn natürlich hatten seine Eltern es abgelehnt, ihn einen Krüppel mit einem Sprachfehler heiraten zu lassen. Eine Braut ohne Status, eine, die sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen konnte, aus Angst, dass die Nachricht ihrer Vermählung mit einem Menschen das Valtacité erreichte und die Alben dort in ihrer Abwesenheit ihr Todesurteil fällen würden. Nein, so etwas hatte der alte König von Divitania nicht im Haus haben wollen, und Ferdinand hatte sich gefügt.

Ab diesem Zeitpunkt war ihre Liebe sauer geworden wie alte Milch. Doch erst, als sie Marron im Arm gehalten hatte, war ihr das Ausmaß ihrer Sünde bewusst geworden.

Achtundzwanzig Jahre war das her. Noch immer hatte sie sich ihre Dummheit nicht vergeben. Während Aurelia die Reste der Nachspeise abtrug, rieb Felina sich die Stirn. „Ich lege mich hin. Kannst du mir Wasser bringen? Du weißt schon, die Flasche, in der es schön kühl bleibt.“

Ihre Gesellschafterin runzelte die Stirn. „Bekommt Ihr Kopfschmerzen?“

„Ich befürchte es. Mein Appetit war ungewöhnlich groß heute Abend. Wenn ich ausreichend trinke und meine Augen schone, kann ich es vielleicht noch abwenden.“

„Ihr wart heute auch sehr still“, meinte Aurelia. „Bestimmt ist das Wetter schuld. Ein Tag Regen, ein Tag Sonnenschein, das kann ja nicht gut sein. Darf ich Euch helfen?“

Felina winkte ab. „Noch hat mich die Hemicrania nicht im Griff.“ Sie hievte sich an der Lehne des Rollstuhls auf ihren einzigen Fuß, drehte das Gefährt und benutzte es, um das Zimmer zu durchqueren. Eine mühselige Angelegenheit, selbst jetzt, da es endlich eine Bremse gab, die den Stuhl am Wegrollen hinderte.

Aber Letizia hatte wohl zu viel Angst, dass Felina ein Paar Krücken als Waffe verwenden könnte.

Widerstandslos ließ sie sich von Aurelia beim Auskleiden helfen, nippte an dem Wasser in der Flasche und legte sich hin, während Aurelia das Minzöl herbeitrug und eine Glocke in Reichweite stellte, falls Felina Hilfe bräuchte.

Eine Weile lang räumte Aurelia Dinge umher, dann rastete der Riegel an der Tür ein, die Felinas Wohnung vom Rest der Burg trennte. Jetzt war sie allein.

Sie stand auf, zog sich an. Wie gut, dass Rückenschnürungen gerade aus der Mode waren. Als Nächstes sorgte sie dafür, dass ihre Haare ihre Ohren verbargen, und schlüpfte in den Stiefel, den sie seit ihrer Ankunft im Spätherbst letztes Jahr nicht benötigt hatte.

In das Bettlaken verpackte sie alles, was sie brauchen konnte: ein dickeres Kleid, lange Strümpfe, die Flasche, zwei frische Hemden, Einlagen, falls sie nicht daheim war, bis sie ihre Blutung bekam, das Gefäß mit dem Minzöl, einen Kamm, eine Wolldecke, ein Messer, das sie gestohlen hatte. Zuletzt folgten Dinge, die sich zu Geld machen ließen: einige Borten, die Felina noch nicht verschenkt hatte, die Leuchtkugel vom Nachttisch und die Samtpantoffeln – die Dienerschaft hier hatte in ihrer Ahnungslosigkeit ein Paar bereitgestellt. Felina hatte sie abwechselnd getragen, sodass sie gleichmäßig verschlissen waren.

Schließlich band sie sich das Bündel um und schob den Rollstuhl unter die Klinke, damit mögliche Eindringlinge es schwerer hatten.

Nach zwei unsicheren Sprüngen erreichte sie das Fenster. Um den eisernen Riegel zu bewegen, schützte sie ihre Hand mit einem Taschentuch. Die Luft draußen war kühl, roch nach dem letzten Heu und frischen Äpfeln. Freiheit.

Mit einem tiefen Atemzug tastete sie nach jenem Talent, das ihrem Volk zu eigen war und von dem weder Aurelia noch Letizia etwas ahnten.

Kurz darauf glitt sie als Eule lautlos durch die Nacht, nach Osten hin. Nach Hause.

xxx

Marron lag auf dem Dach der Herberge, in der die Rosenduftdame Eusebia abgestiegen war. Passenderweise handelte es sich um genau dasselbe Haus, das er bei seinen letzten Besuchen bevorzugt hatte. Zu jener Zeit, als er noch über Geleitschreiben verfügte und nicht unerlaubt einreisen musste.

Die Wirtin hatte nämlich die einmalige Angewohnheit, nur auf Wunsch ihrer Gäste neugierig zu sein.

Nach dem ersten Abend, an dem Eusebia erfolgreich verhindert hatte, dass Marron sich Cassius auf seiner Dachterrasse näherte, war er neugierig geworden. Alea hatte sich in Bezug auf die vermeintliche Gladiatorenwerberin als auskunftsfreudig erwiesen, was bedeutete, dass er Marron etwas weiter über den Weg traute als der betreffenden Dame. Anscheinend hatte sie auch dem Lanista bereits in den Ohren gelegen, dass sie Cassius’ Entscheidung gleich nach den Terminalia erwartete.

Ein Besuch bei einer alten Bekannten, einer Heilerin bei der Hafenaufsicht, brachte ans Licht, dass eine Eusebia Iobanidis zwar ein Geleitschreiben aus Aquilium hatte, aber dass als Reisezweck „Heiratsvermittlung“ angegeben worden war.

Geleitschreiben zum Zwecke der Heiratsvermittlung aus Aquilium kosteten nicht besonders viel Geld, wenn man die richtigen Leute kannte. Dementsprechend hatte die Heilerin Eusebia für eine teure Hure gehalten.

Jedenfalls hätte Marron Gift darauf nehmen können, dass Eusebia Cassius und dessen Vergangenheit hinterherspionierte.

Heute Nacht schien sie wegen des unvermeidlichen Gastmahls für die Gladiatoren jedoch zu pausieren. Stattdessen hantierte sie mit einem recht komplexen Zauber hinter verschlossenen Läden. Worum es sich genau handelte, konnte Marron nicht sagen, weil ihre Tarnung weiterhin seinen Blick trübte.

Da Marron so nichts ausrichten konnte, lohnte es sich, ein paar Dinge vorzubereiten. Cassius hatte Eusebia auf „nach den Terminalia“ vertröstet, also würde sie wahrscheinlich morgen Abend zuschlagen, statt zu riskieren, dass er ihr eine Absage erteilte. Etwas, das laut Aleas Angaben mehr als wahrscheinlich war.

Schon am frühen Morgen war die Stadt in Aufregung. Wer sich keinen bezahlten Sitz in den unteren Rängen leisten konnte, strömte gleich nach Toröffnung und vor Beginn der Arbeitszeit zur Arena, um sich eine der Platzkarten zu sichern. In schönster imperialer Tradition kostete es das einfache Volk nämlich nichts, die Kämpfe und die Hinrichtungen zu sehen. Man musste jedoch eine der Platzkarten ergattern, die in Form von nummerierten Tontäfelchen am Morgen des besagten Tages ausgegeben wurden.

Glücklicherweise hatte Marron es nicht nötig, sich ins Gedränge zu stürzen. Als Hund getarnt trottete er an den etwas überfordert scheinenden Wächtern am Stadttor vorbei und legte den Weg hinauf zur Sidero-Villa in kürzester Zeit zurück, weil er sich quer durch die Olivenhaine und Weinberge schlagen konnte, statt den Fußweg benutzen zu müssen.

Oben angekommen verwandelte er sich zurück zum Zweibeiner, klopfte etwas Staub aus seiner Kleidung und zog an der Klingelschnur.

Eine gefühlte Ewigkeit später öffnete sich einer der Torflügel und Tankred versperrte ihm den Weg nach drinnen.

Für einen Moment verschlug es Marron den Atem, denn er hatte vergessen, wie schön dieser Mann aus der Nähe war. Blaue Augen, Sommersprossen, die langen blonden Haare nach Art der Kitai zu einem hohen Knoten zusammengefasst. Außerdem ein Ehering: Silber und … Blutglas. Deswegen wirkten seine Treffen mit Alea immer wie abgesprochen. Trotzdem schien Alea dieses Zeichen der Zusammengehörigkeit nicht genug, denn an Tankreds Hals prangte ein frisch aussehender Knutschfleck.

Tankred lehnte sich mit der Schulter gegen den anderen Torflügel und verschränkte die Arme. „Alea sagte, dass du in der Stadt bist.“

„Diesmal nicht im Auftrag meines Vaters.“

Mit einem Blick erfasste Tankred die kurzen Haare und die weite Kleidung. „Offensichtlich. Trotz deines Interesses an Cassius.“

Marron zog den Kopf ein. Bei den Ahnen. Sah man ihm so sehr an, dass ihm diese Art Aufmerksamkeit unangenehm war?

Es war knapp einen Monat her, da hatte ihn jemand in einer aquilenischen Taverne in den Hintern gezwickt und Geld angeboten. Und wo er früher gelacht und den anderen freundlich abgewimmelt hätte, da war er geflohen, hatte sich in der Gasse übergeben und sich noch am selben Abend alle Haare abrasiert. Die neuen, maßgeschneiderten Kleider hatten eine nicht zu verachtende finanzielle Belastung dargestellt, aber endlich konnte er wieder in einen Spiegel schauen, ohne dass ihm schlecht wurde.

Selbst wenn Tankred damals seiner Schwärmerei nachgegeben hätte, wäre es Marron unmöglich gewesen, ihn angemessen dafür zu belohnen, nicht wahr? So viel zu dem Entschluss, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen.

„Marron …“, rief Tankreds Stimme ihn in die Gegenwart zurück.

Er blinzelte. Unverzeihlich, dass er sich so in seinen Gedanken verlor. Die Verlegenheit kroch heiß in seine Ohren.

Tankred seufzte, als hätte er Erfahrung mit derlei Situationen, streckte ihm eine Hand entgegen. Sie war warm und hatte jene Sorte Schwielen, die durch Schreibfedern entstanden. Marron drückte sie einmal und ließ los, obwohl alles in ihm nach einem Halt schrie.

Offenbar ahnte Tankred, was in ihm vorging, denn sein Blick wurde weicher und er senkte die Stimme. „Warum bist du hier?“

Keine Zeit für Selbstmitleid. Marron straffte sich. „Jemand plant einen Anschlag auf Cassius. Ich brauche eine Logenkarte für den Kampf heute Nachmittag.“

Einen Moment lang starrte Tankred ihn an. „Alea sagte, dass nicht nur du übermäßiges Interesse an ihm zeigst.“

Nach ihrem Gespräch sollte er ihnen diesen Verdacht übel nehmen. Doch selbstverständlich hatten sie sich mit dem einen Mann auf Purpurea angefreundet, dessen Vergangenheit noch ein wenig geheimnisvoller war als ihre, und verteidigten ihn sogar gegen Marron. „Ich will ungestört mit ihm reden. Diese Eusebia ist mir im Weg.“

Was auch immer Tankred in seinem Gesicht las, brachte ihm ein Nicken ein. „Komm rein. Am besten besprechen wir das mit allen Beteiligten.“

Alea ließ Marron in seine Werkstatt, um ein Schutzamulett für Cassius herzustellen. Mangels anderer Sitzgelegenheiten schwang er sich auf einen sauberen Tisch, der wohl hauptsächlich dazu diente, Zeichnungen auszubreiten. Während er arbeitete, lehnte Alea in der offenen Tür.

„Du hast ein Talent für magische Siegel“, bemerkte der Schmied, während Marron das Ergebnis noch einmal überprüfte.

Er zuckte die Schultern. Ein Erbteil. „Dafür kann ich sonst nicht besonders viel.“

„Hm.“ Alea streifte seinen Ehering ab und ließ ihn in einem Beutel verschwinden. „Tankred weiß, dass ich Geheimnisse hüte, die nicht meine sind“, erklärte er, als er Marrons Blick bemerkte. „Eins davon scheint mit deinen verwandt zu sein.“

Die Wortwahl konnte kein Zufall sein, aber bei den Ahnen, Marron brachte kein Wort heraus. Zu viele Dinge, über die er nicht sprechen durfte. Nach Jahren des Schweigens hatte er offenbar verlernt, über irgendetwas davon zu reden.

Alea schlenderte in den Raum, setzte sich auf die Werkbank ihm gegenüber. „Es ist elf Jahre her, dass mein damaliger Lehrmeister sich auf ein Geschäft einließ, dessen Bedingungen ich nicht genau kenne. Wir verbrachten den Sommer in einer Festung namens Altanida.“

Doch, der Name war Marron bekannt. Seine Mutter hatte ihm von den Reichtümern des Schlosses vorgeschwärmt. Mit ihren Wandteppichen hatte sie versucht, etwas von der Stimmung des Valtacité einzufangen, hatte ihm die Schrift, die alte und die neue Sprache beigebracht und Sehnsucht nach ihrer Heimat, wohl wissend, dass Marron niemals einen Fuß in die verschwiegenen Täler setzen durfte.

„Am Ende konnte Orso sich in einen Schwarm Raben verwandeln. Ich frage mich, ob du ähnliche Talente hast.“

Worauf wollte Alea hinaus? Marron starrte ihn an, diesen Mann, der offensichtlich mehr Alben getroffen hatte als Marron selbst und der einen besseren Eindruck von seiner Verwandtschaft hatte als er. „Was soll das heißen?“

Alea hob die Mundwinkel. „Eusebia hat dich gesehen. Vielleicht willst du mich in etwas unauffälligerer Form begleiten? Du würdest damit nichts preisgeben, was ich nicht schon weiß.“

Eigentlich eine gute Idee. „Und du verrätst niemandem etwas davon?“

„Nicht einmal Tankred, wenn du es nicht möchtest.“

„Danke.“

Noch so ein winziges Lächeln. „Fiammetta und ich hatten eine gute Zeit dort. Wenn du je Geschichten vergleichen möchtest.“

Es war lieb gemeint, auf etwas gestelzte Art, aber wie sollte Marron Alea beibringen, dass er keine Geschichten aus dem Valtacité kannte? Dass er den Stammbaum einer Familie auswendig konnte, deren Mitglieder ihn sämtlich ohne zu zögern töten würden? Er zog die Beine an und verbarg sein Gesicht.

„Weißt du, Fiammetta meinte auch, dass erwachsene Menschen grauenvoll stinken“, ergänzte Alea irgendwann. „Ich hätte nichts sagen sollen.“

Bei den Ahnen. Aber Marron fand auch nicht die Worte, Alea mitzuteilen, dass er nicht das Ergebnis einer Gewalttat war.

Irgendwann hatten sie sich geliebt, das hatte Mutter gesagt. Es hatte geklungen, als beschwüre sie eine Vergangenheit außerhalb der Zeitrechnung, so wie das „Es war einmal“ aus einem Märchen.