Albuquerque - Florian Wacker - E-Book

Albuquerque E-Book

Florian Wacker

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Beschreibung

Nominiert für die Hotlist 2014 »Winnie tat sich während einer Folge A-Team immer Sprühsahne in den Kaffee, manchmal hielt er sich das Ding auch gleich in den Mund und füllte seine Backen. Dann schloss er die Augen und sah sehr glücklich aus.« Der neue Junge setzt im Freibad die genialste Arschbombe aller Zeiten ins Becken, verschwindet danach aber spurlos. Eine Eule heilt die Ängste eines Busfahrers. In Albuquerque wartet ein alter Trainer auf eine neue Hüfte. Amateurfunker Muffe wird erschlagen. Und während Budde in der Kühlhalle der Fleischfabrik arbeitet, schneit es draußen. Alle Figuren in Florian Wackers Geschichten teilen das gleiche vage Gefühl: Sie haben eine Vorahnung, dass sich etwas verändern wird. Und auch wenn die meisten von ihnen einfache Leute sind, haben sie doch alle eine Idee davon, was es bedeutet, wirklich intensiv zu leben - und dass es dazu notwendig sein kann, aus seinem gewohnten Leben auszusteigen. Florian Wacker erzählt klassische Kurzgeschichten, in der Tradition amerikanischer Ikonen wie William Faulkner oder Richard Yates, mal traurig und ernst, mal politisch und witzig. In jedem Fall: Immer lesenswert.

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Seitenzahl: 175

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Serpentinen

Transit

Muffe

Spieltag

Terrakotta

Die Geräusche der Nacht

Feierabend

Kluge Köpfe

Budde

Albuquerque

Container

Andy

Weiß

Solar

Florian Wacker

Impressum

Serpentinen

Es ist jetzt drei Wochen her, seit Bunge verschwunden ist. Hier geht alles wieder seinen normalen Gang, zumindest bei denen, für die Bunge nur ein Kollege ist. Für mich und Winnie ist er aber mehr. Winnie, Bunge und ich, wir sind die schnelle Eingreiftruppe, die Serpentinen-Task-Force. Winnie sagt immer: »Wir sind wie das A-Team, nur für die Straße. Wir sorgen für Gerechtigkeit, oder zumindest dafür, dass die Motorräder und Caravans unbeschadet die Serpentinen hoch- und wieder runterkommen.« Wir sind seit fünf Jahren unterwegs und werden immer dann losgeschickt, wenn irgendwo da oben eine Planke eine Delle abbekommen hat, wenn Leitpfosten abrasiert sind oder der Asphalt aufplatzt.

Seitdem Bunge weg ist, seitdem die beiden Beamten unsere Personalien aufgenommen und gesagt haben, sie melden sich, wenn es was Neues gibt, seitdem ist irgendwie die Luft raus. Natürlich rücken Winnie und ich immer noch aus, aber ohne Bunge ist es nicht mehr das Gleiche. Winnie und ich versuchen so gut es geht weiterzumachen. Wir nehmen jetzt nicht mehr den Wohnwagen, sondern fahren die Strecke am Abend wieder zurück oder mieten uns für eine Nacht ein Doppelzimmer in einer Pension. Wir essen dann unten im Gastraum, wir duschen und schauen fern. Zu reden gibt es nicht besonders viel. Irgendwie müssen wir jetzt klarkommen. Auch ohne Bunge.

Unser letzter gemeinsamer Einsatz war auf der Straße hoch zum Schneekopf. Zwei Tage vorher war ein Pärchen mit seinem Hymer durch die Leitplanke gebrochen und zwanzig Meter tief gerutscht, bis das Ding zwischen zwei Fichten stecken blieb. Als wir an der Stelle eintrafen, waren noch die Spuren der Rettungsaktion zu sehen. Wir standen an der Schneise, Bunge rauchte und wir sahen schweigend den Abhang hinunter. Irgendwo unter uns rauschte Wasser.

»Glück für die, dass die Bäume hier so verdammt dick sind«, sagte Bunge. »Sonst wären sie noch hundert Meter weiter und kein Mensch hätte sie gefunden.«

Wir nickten. Wir wussten, wovon er sprach. Vor ein paar Jahren war an einer ähnlichen Stelle ein Kradfahrer ungebremst den Abhang runter, an allen Stämmen vorbei. Zwei Kletterer fanden die Leiche Monate später, da hatten Füchse, Wildschweine und Krähen schon den Großteil erledigt.

Wir schauten uns die Sache jetzt genauer an. Die Planke war an der Durchbruchstelle total hinüber, das herausgerissene Teilstück hing noch immer unten zwischen den Stämmen. Auch zwei Leitpfosten hatte es erwischt. Bunge trat seine Kippe aus und brummte etwas. Seit einem Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren bediente ich nur noch die Winde, Bunge und Winnie wechselten sich mit dem Klettern ab.

Wir waren ein eingespieltes Team, der Ablauf war immer der gleiche: Wir fuhren mit dem Transporter dicht an die Stelle, sperrten die Straße halbseitig auf fünfzig Metern mit Pylonen ab und legten los. Diesmal stieg Winnie in den Klettergurt und überprüfte die Karabiner. Bunge schlang Knoten. Winnie hatte ziemlich an Bauchumfang zugelegt und Bunge machte einen Spruch. Winnie tat so, als hätte er nichts gehört, Bunge und ich kicherten wie Schuljungs. Ich hockte schon im Fahrzeug neben der Winde und sah den beiden zu. Ich mochte es, mit ihnen allein zu sein, irgendwo auf einer abgelegenen Straße. Wir redeten während der Arbeit nicht viel, wir wussten ziemlich genau, was der andere machte und wo er Hilfe brauchte, es war eine Art Instinkt, den wir über die Jahre entwickelt hatten. Und weil wir wenig quatschten, hatte ich genügend Zeit, mir die unterschiedlichen Vogelstimmen oder das Rauschen der Bäume einzuprägen, das oben bei den Fichten dumpf und voll war und weiter unten zwischen den Buchen eher einem hellen Klimpern glich.

Bunge sicherte, während sich Winnie den Hang abseilte. Es war kein Steilhang und Winnie hätte wahrscheinlich auch ohne Seil runtergekonnt, aber wir wollten nichts riskieren. Ich gab noch Seil nach. Auf dem Weg nach unten räumte Winnie ein paar abgeknickte Äste zur Seite, dann machte er kurz Pause, richtete sich die Handschuhe und spuckte aus.

»Pennen kannst du später.« Wenn Bunge etwas rief, klang es oft wie Gelächter, es war so ein Zwischending, und ich mochte es, weil ich dann selbst oft lachen musste.

Ich konzentrierte mich auf die Winde. Irgendwo im Geäst über uns saß ein Baumpieper und zirpte. Als Winnie die Stelle erreicht hatte, hängte er den Haken ein und gab ein Zeichen. Die Winde surrte und das herausgerissene Stück Leitplanke kroch langsam den Hang hinauf.

Es regnete und wir verbrachten den Abend im Wohnwagen. Das Ding war nicht besonders groß, Winnie und ich schliefen im Bett, Bunge auf der Bank. Die Tropfen schlugen schwer aufs Dach, schon den ganzen Tag war kein Vogel zu hören gewesen. Wir hatten den Asphalt in einer Serpentine geflickt. Durch den starken Regen wurde die Straße manchmal weggeschwemmt. Manchmal bildeten sich auch kleine Risse, die sich mit Wasser füllten, im Winter zufroren und bei Tauwetter dann den Belag noch weiter aufsprengten. Wir transportierten den heißen Teer in einem festgezurrten Fass, das Zeug stank erbärmlich, war kochend heiß und klebrig wie Honig. Außerdem machte es Appetit und jeder von uns verdrückte am Abend ein paar Thüringer extra.

Bunge hatte die vierte Staffel A-Team dabei. Draußen ratterte der Dieselgenerator. Wir waren satt und dösig, tranken Kaffee und sahen zu, wie Hannibal, B. A., Murdock und Face ein paar Fieslinge aufmischten. Das Schöne am A-Team war, dass ständig etwas in die Luft flog, aber nicht mal die weißen Hemden von Face Flecken abbekamen. Mir gefiel außerdem Hannibal, seine schwarzen Handschuhe und die Zigarren ließen ihn wie einen Geschäftsmann wirken, und irgendwie war er das auch, auf seine Art. Die Frauen waren meistens blond, hatten Angst oder flirteten mit Face. Bunge lachte krachend, wenn Murdock wieder einen seiner hysterischen Anfälle bekam und B. A. ihn verprügeln wollte.

Wir tranken Kaffee aus großen Henkelbechern mit der Aufschrift der Firma. Winnie tat sich während einer Folge immer Sprühsahne hinein, manchmal hielt er sich das Ding auch gleich in den Mund und füllte seine Backen.

Dann schloss er die Augen und sah sehr glücklich aus. Wir hockten zu dritt im Bett. Wenn zum Höhepunkt einer Folge alles in die Luft flog, strampelte Bunge immer die Decke von sich und schlug mit der flachen Hand auf die Matratze. Dann machten wir Pause. Ich stand neben Bunge unterm Vordach, er füllte Benzin in den Generator, ich horchte in die tropfende Stille. Dichter Nebel quoll über den Parkplatz. Ich stellte mir vor, wie aus der grauen Wand plötzlich die schwarz-rot lackierte Karre des A-Teams schießt und unseren Wohnwagen rammt. Winnie fliegt durch das Rückfenster raus, Bunge hechtet zur Seite und ich bekomme von B. A. eins in die Fresse. Dann kippt der Wohnwagen um und explodiert in einem leuchtenden Feuerball.

Bunge rauchte, ich ging über den feuchten Platz und zog fröstelnd meine Weste enger. Wir waren seit zwei Tagen hier. Seit gestern begannen wir unsere Namen zu vertauschen: Ich war Face, Winnie Murdock. Und Bunge riefen wir Hannibal, weil er so was wie der Anführer unserer kleinen Gerechtigkeitsarmee war.

Bunge ließ zuerst die Hosen runter. Wir waren in ein ziemlich verlassenes Tal geschickt worden, die Straße endete abrupt an einem Wanderparkplatz. Wir sollten Warnschilder aufstellen und die Fahrbahnmarkierung nachziehen. Es war knalleheiß, der Asphalt warf Blasen. Wir trugen nur unsere orangefarbenen Latzhosen, verbrannten uns Rücken und Schultern und schliefen im Freien. Am zweiten Abend brachte uns Bunge an den Wildbach. Er stand mit einer Kippe im Mund auf einem Stein und tat wie ein König. Winnie schlug sich die Hosen hoch und watete ins eiskalte Wasser, er jammerte, wir lachten ihn aus. Hintereinander staksten wir in der Strömung, Bunge voran, dann Winnie, ich am Schluss. Meine Beine kribbelten, ständig mussten wir aufpassen, nicht wegzurutschen. Dann erreichten wir das Becken. Der Bach staute sich zwischen Felsen, das Wasser war bestimmt zwei Meter tief und schimmerte grün. Hier zog sich Bunge aus und sprang sofort rein. Er schrie und zappelte, als würde er ertrinken. Dann tauchte er, holte kleine Kiesel nach oben und bewarf uns damit.

»Rein mit euch, ihr Luschen«, krakeelte er.

Winnie rutschte von einem der Steine, prustete und japste wie ein Hund. Ich ließ mir Zeit, schließlich zog Bunge mich unter Wasser. Wir tauchten nach flachen weißen Steinen, die sich anfühlten, als hätten sie eine eigene Haut. Winnie wollte einen Fisch fangen, aber Bunge sagte: »Die sind längst über alle Berge, bei deiner Plauze.« Später lagen wir nebeneinander auf den warmen Felsen und starrten in den Himmel.

Am nächsten Abend kamen wir wieder. Wir standen im Wasser eine Weile nebeneinander und beobachteten, wie sich unsere Schwänze zu kleinen Schnecken kringelten.

»Wehe, wenn jetzt einer von euch pisst«, sagte Bunge.

Wir schwammen im Kreis, trockneten auf den Felsen und tranken Bier. Irgendwo hämmerte ein Buntspecht, sonst war nur das Rauschen des Bachs zu hören. Wir waren ziemlich schnell angeduselt, zuerst machten wir noch Witze, dann dösten wir eine Weile. Es war wie im Jugendlager, nur dass wir jetzt ganz offiziell Bier trinken duften und keine Probleme mehr damit hatten, auf den Schwanz des anderen zu starren.

Ich habe Britta nichts von unserer Bade-Aktion erzählt. Ich hielt es nicht für wichtig und kam mir auch ein bisschen blöd dabei vor, ihr zu erklären, was wir da gemacht hatten und vor allem warum. Solche Sachen blieben unter uns.

Es hat nichts darauf hingedeutet. Zumindest ist mir an Bunge nie was aufgefallen, er kam mir eigentlich immer ziemlich normal vor. Bunge ist Single, er wohnt in einer Zweiraumwohnung und investiert sein ganzes Geld in seine Elektronik-Ausstattung: Dolby-System, Plasmafernseher, Vorverstärker, Blu-Ray, alles vom Feinsten. Wir haben uns an den Wochenenden oft bei ihm getroffen, Winnie, Bunge und ich, und Bundesliga geschaut. Manchmal ging ich auch Sonntagnachmittag zu ihm. Dann hatte Bunge Bienenstich oder Donauwelle aufgetaut, es gab Kaffee und wir hörten seine alten Platten, King Crimson, Genesis oder Pink Floyd. Wir saßen auf dem Sofa, zerhackten den Bienenstich und lauschten der Musik aus den Surround-Sound-Boxen. Bunge hörte Musik, wie andere Karpfen an Land zogen oder sich über ihre Beete beugten: absolut konzentriert, mit zusammengepressten Lippen. Wenn ich zu laut Kaffee schlürfte, riss er die Augen auf und stierte mich an, als wollte er mich einen Kopf kürzer machen. Wir hörten die Platten in einem Rutsch durch, danach pfropfte Bunge Schnaps auf und wir tranken auf die großartigste und erschütterndste Musik, die die Menschheit je hervorgebracht hatte.

Es gibt da diese Gerüchte von Bunge und Melanie. Sie arbeitet in der Verwaltung, koordiniert unsere Aufträge. Ich habe die beiden nie außerhalb der Firma gesehen, und wenn sie in den Kaffeepausen zusammen rauchten, habe ich mir nichts dabei gedacht. Melanie ist um einiges jünger als Bunge, so Mitte zwanzig. Winnie hat mich auf dem Heimweg gefragt, ob ich wüsste, was da zwischen Melanie und Bunge laufe. Dass sie ihm ja auf der Kantinentoilette einen geblasen hätte. Jetzt sei sie wahrscheinlich von ihm schwanger. Jeder von uns findet Melanie süß, aber dass Bunge sie geschwängert haben soll, ist ziemlicher Schwachsinn. Wir haben den Beamten nichts von den Gerüchten erzählt, aber als ich neben Winnie im Auto sitze und darauf warte, dass er endlich aussteigt, sagt er: »Bunge ist ein scheiß Feigling. Ein scheiß Feigling ist der.« Dann stößt er die Tür auf und hievt sich raus. Drei Wochen ist Bunge jetzt weg.

Bunge stand neben mir in der Haarnadelkurve, die Hände in die Jackentaschen gegraben.

»Üble Stelle hier«, sagte er.

Wir waren mit der Arbeit fertig, hatten die Pylonen übereinandergestapelt und in den Transporter geladen. Bunge wirkte müde, aber nicht, weil er zu wenig geschlafen hatte, sondern wegen dem, was ihm durch den Kopf ging. Vor ein paar Jahren war hier bei dichtem Schneetreiben eine Familie verunglückt, nur der Vater hatte überlebt und saß heute im Rollstuhl. Der Vater hatte gesagt, ein heller Blitz hätte ihn geblendet, immer und immer wieder hatte er das mit dem Blitz wiederholt. Bunge zog die Schultern hoch.

»Die Straße voll Eis und der fährt, als wär’s Hochsommer. Die Kinder haben geschlafen, also konnten sie auch nicht schreien. Ich glaub nicht, dass er geschrien hat. Er hat nur das scheiß Lenkrad festgehalten, als würde das noch irgendwas bringen, hat sogar noch versucht zu lenken, während sie schon fielen. Und dann kommen wir und bauen eine doppelte Leitplanke hin, aber da ist es längst zu spät. Immer ist es dann schon zu spät.«

Bunge sah hinüber zum Wald. Er kam mir plötzlich sehr alt vor.

»Warum machst du dir über so was Gedanken«, sagte ich, »das bringt doch nichts.«

»Denen bringt’s nichts mehr, aber mir. Mir bringt es was.«

Er drehte sich um, sah mich an. Seine zusammengeballten Hände zuckten in den Taschen, als halte er ein kleines, wendiges Tier in den Fingern. Winnie näherte sich mit dem Transporter, bremste, ich zog die Tür auf.

»Komm schon, Bunge.«

Er rührte sich nicht. Für einen Moment glaubte ich, er würde springen.

»Bunge«, rief ich.

»Wenn’s so weitergeht, sind wir morgen eingeschneit.«

Winnie hatte die Gardine angehoben und sah nach draußen. Den Tag über war es schon saukalt gewesen und mir tat das Kreuz weh. Ich wusste, dass etwas kommen würde, und dann kam es. Plötzlich fing es an zu schneien. Bunge riss den Mund auf und ließ eine dicke Flocke auf seiner Zunge landen, er schmatzte und lachte. Wir hatten die Spuren eines Erdrutschs beseitigt, Schlamm und Steine weggeschaufelt. Als der Schnee kam, hörten wir mit der Arbeit auf, lehnten uns an den Transporter und sahen dem Treiben zu.

Im Wohnwagen roch es nach Dosengulasch und nassen Socken. Winnie legte die Stirn in Falten. Schneefall war um diese Jahreszeit eigentlich nicht ungewöhnlich, trotzdem war es immer ein besonderer Augenblick, irgendwas zwischen Angst und Faszination. Draußen war es totenstill, man konnte den Schnee auf den Ästen knistern hören. Bunge wackelte mit den Zehen, ich streckte mich aus und gähnte. Winnie holte aus der Küche warmes Bier. Das tranken wir immer, wenn es kalt wurde, auch wenn die ersten Schlucke gewöhnungsbedürftig waren. Bunge floppte die Kronkorken auf, wir stießen an. Im selben Moment klopfte es. Für Augenblicke rührte sich keiner. Wir saßen da, Bunge in Unterhosen, Winnie und ich im Trainingsanzug, die Flaschen am Mund, und wir dachten an Rübezahl, an die Hexen vom Blocksberg. Es klopfte wieder, diesmal kräftiger. Winnie rutschte vom Bett und zog die Tür einen Spalt auf. Er sprach hinaus, dann wandte er sich um.

»Wir haben ein Problem«, sagte er.

Die beiden Wanderer waren noch ziemlich jung, ein Pärchen. Sie trugen bunte Funktionsjacken und Turnschuhe. Ihnen war anzusehen, dass sie geglaubt hatten, nicht mehr heil heimzukommen: Das Gesicht der Frau war gerötet, wahrscheinlich hatte sie lange und ausdauernd geweint, das des Mannes war auch rot, aber eher von der verzweifelten Anstrengung, einen Ausweg aus ihrer beschissenen Situation zu finden. Sie zitterten, als wir ihnen auf dem Bett Platz machten.

»Kann schon mal vorkommen, hier oben«, sagte Bunge und schlüpfte in seine Trainingshose. »Woher kommt ihr?«

»Düsseldorf«, sagte der Mann.

»Schöne Stadt«, sagte Winnie. »War ich schon mal, bei der Fortuna.«

Bunge sagte, sie sollten Schuhe und Socken ausziehen, dann baute er den Heizstrahler vor ihnen auf. Winnie schmierte Schmalzbrote. Die Frau weinte leise, der Mann bedankte sich so oft, dass es mir schon auf die Nerven ging. Schnell wurde es ziemlich warm. Winnie hatte Glühwein aufgekocht, die Flasche war noch vom letzten Jahr. Unsere Gesichter leuchteten, wir spielten Mau-Mau. Keiner konnte sich mehr an die Regeln erinnern und so ging alles ziemlich durcheinander. Sie hieß Silvia. Sie war ein hübsches Mädchen, ich starrte immer wieder auf ihre nackten Schultern, und wenn sie sich vorbeugte, um nach einer Karte zu greifen, konnte ich den Ansatz ihrer kleinen Brüste sehen. Obwohl mein Sexleben mit Britta so weit okay war, dachte ich nach dem zweiten Becher Glühwein daran, wie Silvia uns reihum einen blies. Ich schämte mich etwas und begann, die Küche aufzuräumen.

Später riefen wir die Bergrettung. Sie kamen mit dem Landrover herauf, luden die beiden ein und fragten, ob bei uns alles in Ordnung sei. Morgen solle es schon wieder tauen.

»Düsseldorf«, sagte Winnie, als die Rücklichter hinter dem Kamm verschwanden.

»Nettes Mädel.« Bunge kratzte sich, wir gingen wieder hinein, räumten auf und schauten noch eine Folge A-Team. Aber diesmal wollte der Funke nicht überspringen.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann uns Bunges Verschwinden auffiel. Wir hatten den Tag über die Leitplanke geschweißt und die Fahrbahn wieder in Ordnung gebracht. Jeder von uns arbeitete an einer anderen Stelle: Bunge saß auf dem Schemel und schweißte, Winnie und ich schippten Dreck und Schutt von der Straße. Ich ging schon früher zum Wohnwagen zurück, weil ich mit Kochen dran war. Ich wollte grillen. Wir hatten am Morgen reichlich eingekauft und alles in zwei Kühltruhen verstaut. Ich baute den Grill auf und begann Salat zu schnippeln, während die Kohle durchglühte. Irgendwann kam Winnie. Er wusch sich Gesicht und Hände, machte zwei Bier auf und pickte sich ein paar Paprikastreifen aus der Schüssel. Ich legte drei Steaks und eine Batterie Thüringer auf den Rost. Das Fett zischte, es roch fantastisch. Selbstverständlich war im gesamten Nationalpark offenes Feuer verboten, aber wir kannten den Förster, wir kannten fast alle aus der Verwaltung, außerdem gab es bei uns so gut wie keinen Funkenflug. Ich schnitt Weißbrot. Winnie rülpste leise.

»Wo ist Bunge?«, fragte er.

Ich ging noch einmal hoch zur Unfallstelle. Winnie hatte das Werkzeug im Transporter verstaut, nur Bunges Schemel stand noch am Straßenrand. In der Ferne schrie ein Eichelhäher, sonst war nur ein Knistern in den Baumkronen zu hören. Ich sah den Abhang hinunter. Eine Weile blieb ich dort stehen. Wenn er abgeschmiert war und noch lebte, hätte ich seine Schreie längst gehört. Wahrscheinlicher war, dass Bunge noch einen kleinen Spaziergang machte. Ich ging zum Wohnwagen zurück, und Winnie und ich begannen zu essen. Wir sprachen nicht viel. Nach dem Steak rief ich Bunge an, aber es ging nur seine Mailbox ran. Ich sagte, dass ich in zehn Minuten sein Fleisch essen würde. Winnie lächelte, aber wir waren uns nicht sicher, was dieses Lachen zu bedeuten hatte.

Als Bunge am nächsten Morgen noch nicht aufgetaucht war, informierte ich die Zentrale. Sie sagten, wir sollten herunterkommen. Winnie sammelte die Pylonen ein. Wir fuhren im Schritttempo, Winnie lehnte sich aus dem Fenster, eine Zeit lang ging er dem Transporter voraus. Seine Stimme war hell, fast schrill, er zog das U in die Länge. Als wir den Betriebshof erreichten, rauchten wir, obwohl ich schon vor zwei Jahren damit aufgehört hatte.

Das A-Team ist Geschichte, zu zweit geht es eben nicht. Das haben Winnie und ich längst kapiert. Wir wissen, dass es Bunge gut geht. Wir wissen, dass er nicht irgendwo zwischen den Felsen liegt und von Füchsen und Krähen aufgefressen wird. Sicher hat er schon ein paarmal daran gedacht, eine Karte zu schreiben, aber dann ist immer etwas dazwischengekommen. Da, wo er jetzt ist, kann das Leben manchmal genauso beschissen sein wie hier. Ich weiß, dass Winnie und ich ihm nicht böse wären, wenn er plötzlich im Betriebshof auftauchte, die Tasche über die Schulter geworfen. Ganz braun ist er im Gesicht geworden, die Sonnenbrille steckt im Haar. Wir sehen uns an. Bunge lacht, und wir lachen auch. »Das nächste Mal sagst du aber Bescheid«, Winnie legt einen Arm um ihn. »Das nächste Mal ziehen wir die Sache wieder zu dritt durch, kapiert?«

Transit

Uwe blieb vor dem Hotel stehen und sah an der grauen Fassade hinauf. Das Ding glich mit seinen großen Fenstern und den Gardinen eher einem dieser alten Verwaltungsgebäude, die jetzt überall leer herumstanden und die Innenstädte verstopften. Nur in zwei Zimmern brannte Licht. Er drückte die Zigarette in die Aschenbechersäule und ging hinein. Ein Getränkeautomat brummte in der Ecke, über der Rezeption flackerte eine Leuchte. Er stellte seine Tasche ab und wartete einige Augenblicke. Noch immer konnte er das Vibrieren des Lkws in den Armen spüren, war noch immer draußen auf der Autobahn und hielt das Lenkrad, während vor ihm das Heck eines polnischen Spediteurs schwankte.

»Ein Einzelzimmer«, sagte er, als die Frau im Durchgang erschien und vor dem Tresen stehen blieb.

Sie nickte. Vom Sonnenuntergang war hier drinnen nichts mehr zu merken, die Frau wirkte müde. »Wollen Sie Frühstück?«, sie hob den Kopf, sah ihn an. Uwe nickte. »Dann kommen noch mal sieben fünfundneunzig dazu.«

Sie gab Uwe den Schlüssel und den Frühstückscoupon, wünschte ihm eine gute Nacht. Uwe lächelte. Sie hatte ja keine Ahnung. Er nahm den Schlüssel und seine Tasche und ging. Die Tür bekam er nicht sofort auf, drehte den Schlüssel, versuchte es wieder. Dann bemerkte er, dass die verwischte zweite Zahl auf dem Schlüsselschild keine Drei, sondern eine Acht war.