Weiße Finsternis - Florian Wacker - E-Book
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Weiße Finsternis E-Book

Florian Wacker

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Beschreibung

»Wir waren eins, doch jetzt sind wir drei ...« Zwei Freunde unterwegs im ewigen Eis, mit ihrem Leben aufeinander angewiesen – Roald Amundsen schickt sie, um Nachrichten von der Maud zu übermitteln. Doch was sie eigentlich verbindet, ist der Wettlauf um Liv, die Frau ihrer Herzen, von der sie glauben, dass sie in Tromsø mit ihren beiden Kindern auf sie wartet. »Weiße Finsternis« verwebt hundert Jahre nach Amundsens großer Polarexpedition den historischen Fall der beiden verschollenen Seeleute Peter Tessem und Paul Knutsen mit einer verhängnisvollen Dreiecksbeziehung und der Geschichte einer Frau, die ihrer Zeit weit voraus war, zu einem packenden literarischen Abenteuerroman. Vorab ausgezeichnet mit dem Robert Gernhardt Literaturpreis

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover & Impressum

73° 30′ N, 80° 32′ O

Liv

75° 38′ N, 91° 10′ O

Schwarze Steine

Tromsø

Liv

75° 23′ N, 88° 47′ O

Eisfuchs

Tromsø

Liv

Knöpfe

Tromsø

75° 3′ N, 87° 22′ O

Aurora borealis

75° 1′ N, 87° 23′ O

Tromsø

Liv

73° 49′ N, 87° 23′ O

Jamen

Tromsø

Liv

73° 40′ N, 83° 51′ O

Tromsø

Weiße Finsternis

Liv

Tromsø

Atemzüge

73° 32′ N, 80° 49′ O

Liv

Die Lichter von Dikson

69° 38′ N, 18° 57′ O

Danksagung

Die Maud überwintert bei Aion Island, 300 Meilen östlich des Kolyma in Sibirien und 500 Meilen westlich von East Lake in der Beringstraße. Alle wohlauf. Tessem und Knutsen verließen den ersten Überwinterungsort in der Nähe von Kap Tscheljuskin östlich der Karasee in der ersten Oktoberhälfte 1919. Sind sie sicher nach Hause gekommen?

Roald Amundsen in einem Telegramm an seinen Bruder Leon, März 1920

73° 30′ N, 80° 32′ O

Der Sommer des Jahres 1920 war einer der wärmsten, an die sich die Bewohner Dudinkas erinnerten. Im Juli und August stiegen die Temperaturen im Mittel auf zwanzig Grad Celsius, und manchmal zeigten die Thermometer beinahe fünfundzwanzig Grad an, eine Hitze, die den Alten zu schaffen machte und die Jungen aus den Häusern ins Freie lockte, hinunter an den Fluss, wo Nacht für Nacht die Lagerfeuer brannten; Kinder tollten im flachen Wasser, warfen sich juchzend in die Wellen, und über dem Ufer tanzten die Mückenschwärme; in den Gärten wuchsen prächtige Kürbisse heran, der Boden spie Kartoffeln und Rüben aus, man kam mit dem Ernten und Verarbeiten kaum nach. Selbst Anfang September herrschten noch ungewöhnlich milde Temperaturen, wenngleich bereits die ersten Winde vom Nordmeer herunterkamen und die Menschen daran erinnerten, in welchen Verhältnissen sie eigentlich lebten in ihrer Stadt am großen Jenissei. Die Sonne wurde zur Zuschauerin, wenn Eis und Schnee sich wieder um die Häuser legten; Wärme war ein Wort, das man nur selten mit zufriedenem Lächeln aussprach, der tiefgefrorene Boden knirschte wie selbstverständlich unter den Sohlen.

Am 5. September 1920 machte die Iney im Hafen von Dudinka fest, ein rostiger Dampfer zwar, aber dennoch der Stolz des Russischen Hydrographischen Dienstes. Die Menschen kamen am Ufer zusammen und wussten nicht recht, was sie von den fremden Leuten halten sollten, die sich als Offizielle der siegreichen Bolschewiken vorstellten, siegreich, obgleich einige gehört haben wollten, dass der Krieg noch in vollem Gange war und dass er sich nun westlich ausdehne, hinüber ins benachbarte Polen. Mit an Bord der Iney war auch Fjodor Anatol Troitski, der schlanke, hoch aufgeschossene stellvertretende Vorsitzende des Komitees der Nordseeroute, der sich auf einer Inspektionstour befand, die ihn noch weiter nördlich bis in die Karasee bringen sollte. Jetzt und hier aber plagte ihn ein böser Schnupfen. Er schnäuzte sich mehrfach, bevor er den schmalen Bohlenweg hinauf vom Hafen nahm. Ein Hund beschnupperte ihn, Kinder glotzten. Er hatte Hunger und hoffte auf etwas Wodka und gebratenen Fisch. Als ihm ein Vertreter der Stadt entgegentrat, in seinem Schlepptau ein feister Pope und mehrere alte Weiber, musste sich Troitski erneut heftig schnäuzen, bevor er ohne Umschweife nach dem Aufenthaltsort des Genossen Nikifor Begitschew fragte. Man habe ihm versichert, ihn hier zu finden, er müsse in einer Angelegenheit von nationaler Bedeutung mit ihm sprechen.

Also brachte man Troitski an den Stadtrand und bis vor eine Hütte am Ufer des Flusses. Da er nach der Anstrengung des Weges nur schwer durch die verstopfte Nase atmen konnte, besah er sich für einen Augenblick den angrenzenden Gemüsegarten und den direkt an die Hütte gesetzten Räucherofen. Schließlich klopfte er. Begitschew war ihm empfohlen worden als jemand, der sich wie kein Zweiter in dieser Gegend auskenne, der bereits oben bei Kap Vilda gewesen sei, so hatte man ihm berichtet, und gute Kontakte zu den hiesigen Nganasanenstämmen pflege. Er sei durch die einsamen Monate in der Tundra zwar etwas wortkarg geworden, stehe aber treu hinter der Sache und sei nicht zuletzt mit einigen Rubeln rasch zu gewinnen.

Begitschew schien ihn erwartet zu haben, hatte Wodka und Gläser bereitgestellt, dazu saure Gurken und Brot, sodass Troitski sich fragte, ob dieser Mann wirklich so eigenbrötlerisch sein konnte – die Gurken in einer Schale, das Brot aufgeschnitten, Salz daneben. Sie gaben einander die Hand, und Troitski stellte sich vor, mit vollem Titel. Begitschew überragte ihn um einen halben Kopf, er war schmal, das Gesicht bartlos und ernst, einer, das war Troitski sofort klar, dem man nichts vormachen konnte; der Händedruck fest, der Blick konzentriert. Begitschew bat ihn, Platz zu nehmen, und goss Wodka in die Gläser. Schweigend tranken sie.

Troitski nickte dem Mann zu. »Sie haben von den Schwierigkeiten der Norweger gehört«, begann er ansatzlos. »Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten hat Kontakt zum norwegischen Außenminister aufgenommen, die Sache ist in den höchsten Kreisen angelangt. Es ist nach all den Wirren und schlechten Nachrichten der letzten Monate ein Zeichen, das wir aussenden wollen, Genosse Begitschew. Ein Zeichen des Wohlwollens und der Hilfsbereitschaft.«

Ein mattes Licht lag über dem Tisch, es roch nach Holzkohle und vergorener Milch. Troitski fragte sich, ob sein Gegenüber wirklich so fest und aufrichtig hinter der großen Sache stand oder ob er hier draußen in der Wildnis möglicherweise ganz anderen Dingen nachhing. Er rief sich in Erinnerung, dass es Nikifor Begitschew gewesen war, der einst Alexander Wassiljewitsch Koltschak vor dem Kältetod gerettet hatte, und dass nun ebendieser Koltschak – Kommandant der Weißen Armee, Rädelsführer, Aufständler – im Februar in einem Eisloch des Angara-Stroms versenkt worden war, was Troitski zwei Dinge verdeutlichte: Erstens konnte man seinem Schicksal nicht entgehen, und zweitens musste man Genosse Begitschew im Auge behalten; ein Mensch, still und einsam, der hier draußen nicht mehr zu fürchten hatte als seinen eigenen Schatten.

»Ich habe davon gehört«, sagte Begitschew. »Ich habe mit den Nganasanen darüber gesprochen. Sie sind sicher, dass beide längst nicht mehr leben.«

»Darauf kommt es nicht an«, sagte Troitski, richtete sich auf und nahm eine Gurke. »Entscheidend ist das Zeichen, das wir aussenden. Die Norweger planen eine Suchexpedition zu Land, und es gibt keinen Besseren als Sie, der diese nach Kräften unterstützen könnte. Wir brauchen Sie, Genosse!«

»Ich habe geahnt, dass Sie kommen und mich fragen werden«, sagte Begitschew und lehnte sich nach vorn.

»Dann nehme ich das als Ihre Zusage«, schob Troitski schnell hinterher. »Man wird Ihnen die entsprechenden Mittel großzügig zur Verfügung stellen. Brauchen Sie etwas, dann werden Sie es bekommen. Und wenn Sie erfolgreich sind, wird das nicht zu Ihrem Nachteil sein. Sie kennen Nikolai Timofeyevskiy, den Stationsleiter in Dikson?«

»Wir sind einander begegnet, ja.«

»Wunderbar. Er wird an Sie telegrafieren. Sorgen Sie für ausreichend Mensch und Material, ihre Nganasanenfreunde sollten unbedingt dabei sein.« Zufrieden und erleichtert darüber, die Angelegenheit so rasch geklärt zu haben, erhob er sich, stolperte, fing sich aber sogleich und lächelte.

Ohne ein weiteres Wort begleitete Begitschew ihn zur Tür, blieb auf der Schwelle stehen, und erst da fiel Fjodor Anatol Troitski auf, dass der Genosse die ganze Zeit über barfuß gewesen war: zwei bleiche Füße, lang und knochig mit Nägeln so dunkel wie bei einem Raubtier.

 

In der Folge dieses Treffens verbrachte Nikifor Begitschew den Herbst und Winter 1920 damit, zwischen Dudinka und Avam, dem Hauptort der örtlichen Nganasanen, hin- und herzureisen, Versprechungen zu machen, kleine Geschenke zu verteilen und auf die Bereitstellung von Schlitten und Rentieren hinzuwirken. Kachdo, das Nganasanenoberhaupt, war misstrauisch; er hatte von den Umwälzungen in Moskau und Sankt Petersburg gehört, wusste, dass es zu einem blutigen Krieg gekommen war, dass es Hungersnöte und Brände gab, und er ließ durchblicken, dass er den Bolschewiken nicht traue. Begitschew aber sprach immer wieder von der Großzügigkeit der Regierung und brachte ihm gegen Ende des Jahres ein offizielles Schreiben aus Moskau. Kachdo, eine schmale Brille auf der Nase, sagte nun endlich seine Hilfe zu, alles sei bereits arrangiert, er werde Konde, seinen Sohn, sowie ausreichend Rentiere und Schlitten mit auf die Reise in den Norden schicken.

Doch die Vorbereitungen dauerten noch das ganze Frühjahr an. Der Nganasanenführer weigerte sich beharrlich, Leute und Material vor April loszuschicken, da das Wetter in dieser Zeit launisch und unbeständig war und tagelange Schneestürme drohten. Begitschew blieb nur, sich zu fügen und die Karten zu studieren. Mit dem jungen Konde machte er Ausfahrten in die Umgebung, um zu jagen und die Schlitten zu testen. Dabei erzählte der ihm einmal von einem Mann namens Tubiaku, der vor drei Wintern an der Pjassina zwei Norwegern begegnet sein wollte, doch als Begitschew ihn fragte, wo er diesen Mann finden könne, zuckte Konde nur mit den Schultern. Keiner wisse, wo Tubiaku sich aufhalte, mit Frau und Kindern habe er sich im letzten Sommer in den Norden aufgemacht und sei nie wieder gesehen worden; ein seltsamer Mensch sei das, er spreche mit den Geistern und habe es nie lange mit anderen ausgehalten. Wahrscheinlich, so Konde, seien auch die Norweger nur Einbildung gewesen.

Nikolai Timofeyevskiy, Leiter der Wetterstation von Dikson, telegrafierte Begitschew, dass seit dem Anbruch des Winters der norwegische Schoner Heimen mit Motorschaden in Dikson vor Anker liege. Kapitän Lars Jakobsen plane nun eine Landmission und sei dankbar für jedwede Unterstützung.

 

Endlich, am 3. Mai 1921, brachen Begitschew, Konde und zwei weitere Nganasanen von Dudinka aus auf. Sie fuhren mit acht Schlitten, bepackt mit Zelten, Schlafsäcken, Winterkleidung, Verpflegung und Waffen, und erreichten einen Monat später die Wetterstation am Nordmeer.

Lars Jakobsen und Alfred Karlsen wären Begitschew beinahe um den Hals gefallen, als er endlich ihre Hütte betrat. Dem jungen Karlsen standen Tränen in den Augen, die er sich mit einer beiläufigen Bewegung fortwischte, während der Kapitän nur dastand und leicht zu zittern schien. Begitschew wusste, was es hieß, einen langen Winter in solch einer kargen Behausung auszuharren. Sie setzten sich an den Tisch, Timofeyevskiy schenkte Wodka aus, und Jakobsen berichtete.

Im letzten Herbst noch hätten sie versucht, mit der Heimen bis Kap Vilda vorzustoßen, dichtes Eis aber habe jede Fahrrinne versperrt, und so sei man zur Umkehr gezwungen gewesen. Nun säße man also aufgrund des Wetters und eines Maschinenschadens seit nunmehr einem halben Jahr tatenlos hier fest, man habe sich vergeblich um Ausrüstung für eine Landmission bemüht und sei daher hocherfreut und dankbar über die Unterstützung durch die russische Regierung und Genosse Begitschew.

Die beiden Norweger waren blass, vor allem Karlsen, dessen roter Bart und Haarschopf umso deutlicher hervorstachen. Der junge Mann übersetzte für seinen Kapitän, was dessen Russisch-Kenntnisse überstieg. Jakobsen entfaltete eine Karte der Taimyr-Halbinsel und berichtete von Amundsens Expedition, wie die Maud ein Jahr lang bei Kap Tscheljuskin festgelegen und der große Polarforscher sich dann entschieden hatte, Peter Tessem und Paul Knutsen durch das Eis nach Dikson zu schicken. Im Oktober 1919 seien die beiden aufgebrochen, seitdem habe man nichts mehr von ihnen gehört. Auf das eintretende Schweigen holte er ein eng verschnürtes Bündel Papiere herbei und legte es vor Begitschew auf den Tisch.

»Die Aufzeichnungen Paul Knutsens von der Maud«, übersetzte Karlsen. »Sie fanden sich bei den Sachen, die er auf dem Schiff zurücklassen musste. Amundsen hat sie zusammen mit Kisten voller Pelze und gefrorener Enten nach Norwegen geschickt mit der Bitte, sich des Falles anzunehmen. Man hat uns diese Papiere zur Verfügung gestellt in der Hoffnung, sie würden uns weiterhelfen.«

»Man hat nichts Gutes von der Maud gehört«, sagte Begitschew.

»Eine Unglücksfahrt«, murmelte Jakobsen, »von Anfang an. Erst das verlorene Jahr auf Kap Tscheljuskin, dann ein zweites, in dem sie auch nicht merklich weiterkamen. Letzten Sommer erreichte Amundsen dann Nome, die halbe Mannschaft wurde abgemustert, er aber fuhr wieder hinaus. Die Maud steckt jetzt irgendwo vor der Tschuktschen-Halbinsel im Eis.«

Gemeinsam überflogen sie die Papiere. Kurze Tagebucheinträge von Knutsen, meist über das Wetter, und immer wieder erwähnte er Peter Tessem. Außerdem führte er eine Inventarliste auf. Begitschew las:

1 Zelt

1 leichter Schlitten

5 norwegische Schlittenhunde

Kerosin

Primuskocher

Kompass

Theodolit

Proviant

Gewehre

Munition

Skier

 

Dann noch ein Eintrag über das letzte Abendessen auf der Maud, womit die Aufzeichnungen endeten.

»Amundsen hatte ihnen geraten, Kap Vilda anzusteuern«, sagte Jakobsen und deutete auf die Karte. »Dort gab es von Sverdrup angelegte Proviantdepots. Wir vermuten, dass Tessem und Knutsen an diesem Ort vorbeikamen. Hier sollten wir also mit der Suche beginnen.«

Begitschew rieb sich das Kinn und dachte nach. Er blickte dabei zu Konde, der schweigend dahockte und an seiner Pfeife zog. Bis nach Kap Vilda waren es über vierhundert Werst durch eine von Tümpeln, Wasserläufen und Schlammlachen durchsetzte Tundra, keine Bäume, kaum Futter für die Rentiere. Er lehnte sich zurück. Aber es war der große Amundsen, der um Hilfe gebeten hatte, und es war das eben erst aufblühende Reich der Bolschewiken, das ihm diese Hilfe nicht verwehren würde.

»Also auf nach Kap Vilda«, sagte er schließlich.

 

Am 8. Juni 1921 verließ die Gruppe unter den Rufen Nikolai Timofeyevskiys und dessen Adjutanten das kleine Dikson westwärts. Sechs Wochen lang zogen sie durch die Weite des Taimyrlandes, ohne auf eine weitere Menschenseele zu stoßen. Schwärme von Gänsen und Enten überflogen sie, und Konde und Jakobsen gelang es, eine ausreichende Menge davon zu jagen. Karlsen erlegte sogar einen Eisfuchs. Sie trieben die Rentiere voran, mühten sich mit den Schlitten über verharschtes Eis, nur um kurz darauf die Tiere durch knöcheltiefen Morast zu führen. Das Wetter blieb unbeständig. Morgens lag zäher Nebel über der Tundra, manchmal war die Sonne blass hinter den Wolken zu erkennen, und ein beinah weißes Licht schärfte kleinste Unebenheiten. Regen und Schneefall wechselten sich ab, gegen Mittag gingen die Flocken in feinen Niesel über, und ihre Mäntel glänzten, als bestünden sie aus Schuppen. Meist fuhr Konde auf seinem Schlitten voraus; er war es auch, der die besten Lagerplätze fand, vor dem Wind geschützt und von Kräutern und Flechten bewachsen, die die Tiere fressen konnten. Vor Anbruch der Nacht und nach einer dürftigen Mahlzeit saßen sie dann müde beieinander, tranken Kaffee und rauchten. Begitschew studierte aufmerksam die Aufzeichnungen von Paul Knutsen.

»Peter Tessem war krank«, sprach er eines Abends vor sich hin und runzelte die Stirn.

»Migräne, ja. Deswegen schickte ihn Amundsen zurück nach Dikson«, erklärte Jakobsen. »Er glaubte, der Mann würde einen weiteren Winter im Eis nicht überstehen.«

Begitschew nickte nachdenklich. Zwei Männer auf einem einfachen Schlitten, einer davon von heftigem Kopfschmerz geplagt, ständige Dunkelheit und Temperaturen um minus zwanzig Grad Celsius, dazu der Wind, unberechenbare Pressrücken im Eis und weder Gänse noch Enten, die es zu jagen gab. »Warum haben sie nicht bis zum Frühjahr gewartet?«, sagte er, wieder mehr zu sich selbst als in die Runde.

»Wir können nur Vermutungen anstellen«, sagte Jakobsen, »Tessems Zustand muss sich stark verschlechtert haben, er wollte wohl selbst nicht mehr warten. Amundsen dürfte das recht gewesen sein, konnte er doch so den beiden seine Post mitgeben.«

»Knutsen schreibt oft über Tessem«, sagte Begitschew.

»Sie waren Jugendfreunde«, Jakobsen trank einen Schluck Kaffee. »Er meldete sich freiwillig bei Amundsen, um Tessem durchs Eis zu begleiten.«

Begitschew nickte wieder. Trotzdem blieben die Motive vage. War Peter Tessem wirklich so krank gewesen? Oder hatte Amundsen ihn vielmehr gedrängt, die Maud zu verlassen? Wollte er nach einem Jahr im Eis ein Lebenszeichen senden, etwas, womit er Förderer wie Kritiker in Norwegen gleichermaßen besänftigen konnte? Jakobsen hatte von den Unstimmigkeiten an Bord der Maud erzählt, vom jungen Tønnesen, der Amundsen auf die Nerven ging, von den Unfällen Amundsens. War es zu einem Aufstand gekommen, in den auch Tessem und Knutsen verwickelt gewesen waren?

»Amundsen wird seine Gründe gehabt haben«, sagte Begitschew, um sich und seine kreisenden Gedanken zu beruhigen. Sie waren nicht hier, um über den Norweger zu urteilen, sondern um Spuren zweier Vermisster zu finden.

»Ein großer Mann soll er ja sein, dieser Amundsen«, Konde lehnte sich nach vorn, der Feuerschein erhellte sein jungenhaft glattes Gesicht. »Ich aber sehe da bloß einen Narren.«

»Narr oder Genie«, Karlsen streckte die Beine aus, »ein großer Eisfahrer muss beides sein.«

Begitschew sah den jungen Norweger von der Seite an. Karlsen starrte in die Flammen. Er erkannte sich in ihm wieder, ein junger Mann, hungrig nach der Welt, nach Taten, die bestehen bleiben würden; nein, Karlsen wusste noch nichts von den Wetterumschwüngen und Launen dieser Landschaft, von den Eisfeldern und trüben Tagen, aber vielleicht, dachte Begitschew, vielleicht würde ein günstiger Wind Alfred Karlsen eines Tages doch dahin bringen, wohin er so sehnlichst wollte.

schlimmer wind aus no, die ganze nacht. gegen 5:30 heftige eisbewegungen und getöse, das uns aus den kojen jagt. Amundsen ruhig. Sverdrup mit gerunzelter stirn. Hanssen fluchend. kaum in der karasee, stockt unsere reise schon.

mir macht das wenig. die Maud ist wirklich ein vorzügliches schiff. es ist warm, und wir haben elektrisches licht. Tønnesen kocht auch vortrefflich. morgens gibt es warme brötchen & kaffee, zum tee kuchen. dagegen sind die walfänger olle frachtkähne, voller flöhe, ratten. hier haben wir ein gutes leben, nur das eis macht sorgen.

Peter, kränklich blass, fragt, wann wir in Dikson sind. keine genaue auskunft möglich. ich glaube, dass er mache ihm mut. er grübelt viel, denkt wohl an Liv und die kinder. ich denke auch an wie kleine splitter        die Maud ist mein zuhause. am nachmittag schleppen wir uns mühevoll über 77° länge. riesige raubmöwen hocken in der takelage. Tønnesen Sundbeck schießt zwei für Sverdrups sammlung. am abend alle recht vergnügt zusammen. musik & zigaretten. auch Peter geht es besser.

Paul Knutsen, 23. August 1918

 

Liv

Wenn Du sie sehen könntest, die beiden, Thore und Solveig, Du würdest sie nicht gleich wiedererkennen, und das meine ich nicht böse, ich meine es liebevoll. Du würdest sie anschauen und nicht glauben können, wie groß die beiden geworden sind. Das Kindliche, das vor allem bei Solveig lange noch zu sehen war, es ist verschwunden, ihre Wangen haben sich gestrafft, oft blickt sie nun voller Ernst in die Welt und stellt Fragen: Woher kommen wir, was bedeutet es, wenn wir sterben?, und ich sehe ihr an, dass ihr meine Antworten nicht genügen, sie nickt, doch dann geht sie kopfschüttelnd davon.

Thore ist so groß geworden und so mutig, ich bekomme ihn kaum noch zu sehen. Nach der Schule macht er sich mit Freunden auf, sie gehen schwimmen, angeln. Ich frage ihn auch nicht zu genau, denn ich merke, dass es ihm wichtig ist, Geheimnisse zu haben. Er fragt oft nach Dir: Min far, sagt er und erwartet eine Erklärung. Dass Du auf dem Nordmeer mit dem Herrn Amundsen bist, sage ich ihm dann, dass ihr wichtige Entdeckungen zu machen habt, dort, wo es bitterkalt ist, noch kälter und dunkler als bei uns in Tromsø. Und dann sagt Thore, dass er das alles schon weiß, er will wissen, warum Du hinausgefahren bist, was so wichtig ist da draußen im Eis, und ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll. Warum bist Du hinausgefahren? Was hat Dich weggetrieben von den Kindern und mir? Hattest Du hier nicht alles, eine warme Stube, ein gutes Auskommen? Dich hat es nie hinausgezogen wie die anderen, und manchmal frage ich mich, ob ihr immer noch spielt, ob es immer noch dasselbe Wettrennen ist wie früher, als wir Kinder waren, die Straße runter bis zur Kreuzung und zurück. Dann sehe ich Dich wieder auf dem Drachenfels kauern, draußen im Sund, ihr seid rausgeschwommen, Du klammerst Dich an einen Stein. Schwimm doch einfach zu uns, schwimm, rufe ich. Willst du denn unbedingt ein Held sein? Ich mache mir aber nichts aus Helden, verstehst Du, wie oft habe ich’s zu Dir gesagt, und dann habe ich Dich gehen lassen. Was hätte ich auch tun sollen? Stumm hast Du mich angeblickt und gesagt, Du wirst zurückkommen und dann wird alles gut und friedlich sein. Friedlich, hast Du gesagt, und jeden Abend sitze ich am Tisch und lausche dem Wind und warte.

Für die anderen bist Du längst tot. Sie sagen es nicht, doch ihre Blicke verraten es, denn in Tromsø kennt man Geschichten wie die unsere: Die arme Frau, die beiden Kinder, ganz allein hockt sie in der Stube und wartet und weint sich die Augen aus. Sie ist darüber wohl ein bisschen seltsam geworden, denn loslassen will sie nicht, spricht leise mit ihm in der Dämmerung, alle wissen, dass er längst zurück sein sollte. Im Eis suchen sie jetzt nach ihm. Für sie bist Du längst tot, und ich bin verloren, eine Witwe mit dem Makel der Zurückgelassenen.

Thore wird mehr und mehr zum Mann, Solveig entwickelt einen starken Willen, und ich schlafe wieder, ohne hochzuschrecken. Der Garten blüht schöner als in den Jahren zuvor, hier herrscht Frieden. Manchmal schäme ich mich für die Ruhe und Behaglichkeit, schäme mich für meinen Schlaf, der ohne Schreckensbilder ist. Ich lege mich hin, ich träume und vergesse die Bilder sofort nach dem Erwachen. Ich verrichte die Dinge, die unser Leben erfordert. Denn es muss weitergehen, wir müssen weiterleben mit Deiner Abwesenheit, den unausgesprochenen Worten. Ich erzähle den Kindern von Dir, wir schauen uns Dein Bild an, so stolz und zuversichtlich blickst Du zu uns. Mit ernster Miene betrachtet Solveig Dein Gesicht, als versuche sie, diesem erstarrten Abbild eine Stimme zuzuordnen, Bewegungen, Atemzüge. Ich sage, schau, das ist dein Vater, und sie runzelt die Stirn, weil das Wort für sie keine Bedeutung hat, es gibt nur Thore und mich, sie ist so, wie ich gern wär, ohne jede Erinnerung. Thore dagegen wird beim Betrachten des Fotos unruhig, dann stürmt er wütend hinaus, ruft, warum kommt er nicht wieder. Trotzdem vergesse ich nicht, jeden Tag Deinen Namen zu nennen, bei Tisch, vor dem Zubettgehen. Da gibt es einen Menschen, der zu euch gehört, Kinder, der ein Teil von euch ist. Es lässt sie beruhigt einschlafen, wenn ich ihnen sage, dass Du bei ihnen bist, Tag für Tag, auch wenn sie Dich nicht hören und sehen.

Wir essen Blaubeeren. Vater war bei uns und hat geräucherten Lachs gebracht, Mutter hat Brot gebacken, es war ein vergnügter Nachmittag, wir hatten sogar etwas Sonne, und im Hafen ging’s zu wie auf dem Jahrmarkt. Vater hat Thore ein Schnitzmesser geschenkt, Du hättest den Jungen sehen sollen! Vater ist so gut zu ihm. Solveig hat Schnupfen, aber es sollte sich bald wieder legen, sie bekommt Tee und etwas von dem Pulver, das Mutter mir mitgegeben hat. So reiht sich Tag an Tag. Es wird Sommer, dann zieht der Herbst heran, der Garten blüht und trotzt der Kälte, ich backe und bereite die Dinge für den Winter vor. Manchmal blicke ich mitten in der Arbeit auf und starre zur Tür, dahinter ein Geräusch, vielleicht Thore, und ich stelle mir vor, sie ginge auf, und Du stündest vor mir. Ich bin wieder da, sagst Du und rührst Dich nicht vom Fleck, bin wieder bei euch. Auch ich stehe still, denn den Mann dort in der Tür kenne ich nicht, ein fremdes Gesicht, fremde Augen, die Hände weiß und knochig, die Wangen eingefallen. Du bist nicht der, den ich habe gehen lassen, sage ich, Du bist ein Geist, ein Windzug aus dem Eis, vielleicht der eine aus meinen Träumen, den ich jeden Morgen wieder vergesse. Geh, flüstere ich, geh wieder hinaus, dorthin, wo Du herkommst. Ich flüstere: Was willst Du hier?

75° 38′ N, 91° 10′ O

Der 27. Juli 1921 sollte Alfred Karlsens großer Tag werden. Er sollte das Ende des Seemanns und der Beginn des Entdeckers Karlsen werden. Es sollte der Tag werden, den er später den Journalisten in die Notizblöcke diktieren würde als den Beginn seiner großen Zeit als Eisfahrer, eine Art Wiedergeburt da draußen im nasskalten nordsibirischen Sommer 1921.

Karlsen richtete sich vom Schlitten auf. Er hörte die Rufe der anderen, Begitschew brüllte geradezu. »Kap Vilda«, brüllte er da vor ihnen halb im Nebel, und auch Kapitän Jakobsen neben ihm brüllte: »Sverdrups Steinhaufen!« Karlsen knirschte mit den Zähnen und sah auf seine Uhr. Es war zehn Minuten nach acht, sie waren seit drei Stunden unterwegs. Ein großer Tag muss es werden, dachte er und griff nach dem Gewehr, während Jakobsen mit Schnalzlauten und Rufen versuchte, die Rentiere zum Stehen zu bringen. Karlsen sprang ab und lief ein Stück nebenher. Jakobsen hatte dunkel gerötete Wangen.

»Mensch, Alfred«, sagte er, und das war alles, was Kapitän Jakobsen in der nächsten halben Stunde sagte.

Kap Vilda. Über vierhundert Werst waren sie von Dikson aus gereist durch eine Landschaft, die trostloser nicht sein konnte und nichts fürs Auge bot, weshalb sich Karlsen immer wieder kurzen Tagträumen hingab: eine Parade, der Hafen von Tromsø überfüllt von Booten und Schaluppen, Einladungen zu Vorträgen und Versammlungen; er, Alfred Karlsen, noch so jung und schon mit einem Wagemut ausgestattet, den man nur von den ganz Großen kannte; er, Alfred Karlsen, zwischen Amundsen und Nansen, sie schauen zuversichtlich in die Kamera, schütteln einander die Hand wie alte Freunde.

Er hatte Begitschew eingeholt, sie gingen schweigend und rasch nebeneinanderher. Er war ungeduldig, wollte er doch der Erste sein, der auf eine Spur stieß. Keuchend erreichten sie den Steinhaufen. Die rechte Seite war abgesackt, Steine waren herausgebrochen. Um das Lager verstreut lagen Überreste von zerhauenen Kisten. Karlsen schnappte nach Luft, Begitschew murmelte: »Bären!«

»Ist das Sverdrups Hügel?«, Jakobsen trat atemlos dazu, nahm die Mütze ab.

»Das, was davon übrig ist«, sagte Begitschew.

»Himmel noch mal«, sagte Jakobsen.

Sie verteilten sich. Karlsen und Begitschew begannen mit der Untersuchung des Hügels, während Jakobsen zwischen den Überresten der Kisten hin und her ging, sich nach etwas bückte, es zur Seite warf. Einzig Konde stand rauchend abseits, sah zum Meer, dieser aufgerauten grauen Fläche, und blinzelte gegen den Wind.

Karlsen trug Steine ab, fuhr mit der Hand in Zwischenräume, half Begitschew dabei, noch unversehrte Kisten aus dem Innern zu zerren. Der Name Eclipse war auf den Deckeln zu lesen, Sverdrups Schiff. Jakobsen kam zu ihnen. Er habe nichts Brauchbares finden können, nur aufgebrochene Konserven, verfaultes Holz.

»Sie waren hier«, sagte Karlsen und sah auf.

»Sie werden eine Nachricht hinterlassen haben, irgendwo hier«, murmelte Begitschew. »Wir müssen sie finden.«

Den Nachmittag über suchten sie bei Nieselregen auf der Landzunge nach Hinweisen. Karlsen hob Treibholz an und scharrte mit den Stiefeln zwischen den Kieseln, während Jakobsen bei trüber Sicht das Ende des Kaps erreichte und aufs Meer hinausblickte. Das Eis hatte sich zurückgezogen, schwer rollten die Wellen ans Ufer. Zwei Jahre waren vergangen, seit Tessem und Knutsen die Maud verlassen hatten, zwei volle Jahre ohne ein Lebenszeichen. Wenn Jakobsen daran dachte, wurde ihm übel. Tessem und Knutsen waren Geister, und im Halbschlaf sah er die beiden manchmal vor sich, obwohl er keinem von ihnen jemals begegnet war. Trotzdem verspürte er einen schwermütigen Schmerz, als seien es seine Söhne, und er empfand es noch immer als persönliches Versagen, dass er mit der Heimen im letzten Sommer im Eis stecken geblieben war und so womöglich die letzte Möglichkeit vergeben hatte, die beiden lebend zu finden. Denn auf was konnten sie jetzt noch hoffen? Was würden sie mehr in Händen halten als die Reste verwehter Leben?

Der Regen ließ nicht nach. Sie bauten die Zelte auf und versuchten, an einem Feuer, das Konde und Karlsen errichtet hatten, wieder trocken zu werden.

»Ich fürchte, unsere Suche ist vergeblich«, sagte Jakobsen. »Ich hatte gehofft, hier etwas zu finden, irgendeine Spur, die wir mit nach Norwegen bringen können. Wo, wenn nicht hier?«, er musste niesen, und Karlsen übersetzte den letzten Satz noch einmal für Begitschew. Der stopfte schweigend seine Pfeife.

»Geister hinterlassen keine Spuren«, sagte Konde leise.

»Knutsen schreibt doch, dass das Ziel ihrer ersten Etappe Kap Vilda sein sollte«, sagte Karlsen missmutig. »Noch im Oktober, kurz vor ihrem Aufbruch, berichtet er davon. Amundsen empfiehlt ihnen ja ausdrücklich, über Kap Vilda zu reisen und dort den Proviant von Sverdrup zu nutzen. Ich halte die beiden nicht für so dumm, dass sie diesem Ratschlag nicht gefolgt sind.«

»Alfred hat recht«, sagte Begitschew. »Ich bin sicher, wir werden etwas finden, wenn auch nicht hier.«

»Dann sollen wir also weiter hinauf bis Kap Tscheljuskin?«, fragte Jakobsen.

»Das würden die Tiere nicht überleben. Und wir auch nicht«, warf Konde ein.

»Nein, wir kehren um.« Begitschew nahm einen Zug aus der Pfeife. »Wir folgen dem Küstenverlauf, so wie es die Norweger getan haben müssen. Machen wir uns eins klar: Sie reisten im November, da gab es keine Buchten, keine Inseln, nur Eisflächen. Sie werden den direkten Weg übers Eis genommen haben. Wir werden uns aufteilen müssen, zwei suchen an der Küste, die beiden anderen weiter landeinwärts.«

Die Übrigen nickten schweigend und krochen schließlich in die Zelte. Jakobsen hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, abends Russisch zu lernen. Karlsen hatte dafür eine Originalausgabe von Gogols Die Nase eingepackt und seinem Kapitän auf festem Papier das kyrillische Alphabet aufgeschrieben und neben jeden Buchstaben dessen lateinisches Pendant. So arbeitete sich Jakobsen murmelnd, immer einen Finger auf der Zeile, durch das Buch, fragte Karlsen nach Bedeutungen und Zusammenhängen, schüttelte den Kopf, manchmal lächelte er auch, wenn ihm die Dinge plötzlich klar wurden und er die absurde Geschichte rund um den Kollegienassessor Kowaljow, dessen Nase sich eines morgens selbstständig macht, begriff.

In den frühen Morgenstunden des 28. Juli kroch Begitschew aus dem schmalen Zelt ins Freie. Er richtete den Blick zum Horizont, einer eisgrauen, kaum wahrnehmbaren Linie, darüber tief hängende Wolken und dann nichts mehr, nur Himmel. Er ging auf den Hügel zu, blieb stehen und legte eine Hand auf die glatten Steine. Er glaubte nicht an Zufälle, und die Tatsache, dass er Jahre zuvor an fast gleicher Stelle mit dem Seemann Paul Knutsen in der Messe der Eclipse angestoßen hatte, auf Glück, auf ein langes Leben, erschien ihm jetzt wie eine dunkle Vorsehung.

Er marschierte weiter, wollte pragmatisch denken, an die nächsten Schritte, an das Geld, das er mit dieser Unternehmung verdienen würde. Es würde ausreichen, um sich für längere Zeit die Genossen aus Moskau und Sankt Petersburg vom Leib zu halten, eine beruhigende Aussicht auf einen einsamen Winter und einen ruhigen Sommer.

Die Steine unter seinen Stiefeln knackten wie dürres Holz. Und dann sah er es. Er huschte mit einem Blick darüber und wusste sofort, dass es etwas war, etwas sein musste, das nicht hierhergehörte. Er ging in die Hocke. Zwischen zwei Steinen steckte eine Dose, und darin flatterte es. Ein Stück Papier, vom Wind bewegt. Begitschew zog es heraus, faltete es mit wachsender Aufregung auseinander und begann zu lesen:

Zwei Männer der Maud-Expedition kamen hier am 10.November 1919 an. Wir fanden die gelagerten Vorräte in sehr schlechtem Zustand vor, alles Brot war verdorben. Wir haben unseren Proviant für weitere 20 Tage mit den hiesigen Vorräten aufgestockt. Wir sind in guter Verfassung und werden noch heute nach Port Dikson aufbrechen.

15. November 1919, Peter L. Tessem, Paul Knutsen.

Begitschew sah auf. Der Wind war kalt und schneidend, doch er spürte ihn kaum. Er hielt den Brief in der Hand und musste lächeln über das Glück, den dummen Zufall, der ihm diesen Papierfetzen in die Hände gespielt hatte. Entgegen Knutsens Aufzeichnungen schien es Tessem gut gegangen zu sein, vielleicht war es die Aussicht gewesen, bald wieder in Norwegen zu sein, vielleicht hatte Knutsen auch einfach übertrieben und hielt seinen Freund für schwächer, als er tatsächlich war. Warum Knutsen neben dem Wetter und den täglichen Vorgängen auf der Maud so oft über Tessem und dessen Zustand geschrieben hatte, wollte Begitschew nicht einleuchten.

Er hörte Schritte und wandte sich um. Konde trug einen abgetragenen Mantel aus dunklem Loden, der ihm irgendwann einmal geschenkt worden war; er behauptete, von einem sehr weisen und sehr tapferen Krieger aus dem Westen, und weiter sagte er dazu nichts.

»Papier«, sagte Konde.

»Es ist von Tessem«, sagte Begitschew.

Konde murmelte etwas, ging neben ihm in die Knie und kramte aus seiner Tasche den Beutel mit dem Tabak.

»Es ist nur Papier, was soll das schon bedeuten.«

»Es ist ein Beweis«, sagte Begitschew. »Sie waren hier.«

»Ist es das, was sie sehen wollen, die Norweger? Dieses Papier? Dann sollen sie es sehen und es mitnehmen in ihre Heimat und uns neuen Tabak schicken«, Konde lächelte, sein bartloses Gesicht erstarrte für einen Moment im Wind, während er, ohne hinzusehen, seine Pfeife stopfte.

»Alle warten auf ein Zeichen«, sagte Begitschew.

Konde sah übers Geröll zum Meer.

»Was tun sie hier?«, sagte er. »Die Leute aus dem Westen und Süden. Sie haben keine Ahnung von den Rentieren, sie können nicht jagen und wissen auch mit der Kälte nichts anzufangen. Aber sie kommen trotzdem und beschweren sich und schimpfen über das Eis, und dann sterben sie. So ist es immer. Dann werden wir losgeschickt, um ihre Knochen zu finden. Die beiden sind längst tot.«

Begitschew richtete sich auf. Er kannte Konde seit einigen Jahren, wusste, dass er intelligent war bis zur Schlitzohrigkeit. Immer wieder hatte der junge Nganasane versucht, seinen Vater dazu zu drängen, in geschäftliche Beziehung mit der zaristischen Regierung zu treten, aber Kachdo blieb misstrauisch, und die Entwicklungen der letzten Jahre hatten ihm recht gegeben. Konde langweilte sich in Avam, ihn langweilten die Riten und das Gefasel der Alten, und ihn langweilte auch das stumpfsinnige Trinken der Jungen, und so hatte Begitschews Erscheinen schnell seine Aufmerksamkeit erregt, nicht deshalb, weil der einen Soldatenmantel trug und Tabak in der Tasche hatte, sondern weil Begitschew die Aura von Weltläufigkeit verströmte, etwas, das nach der Ferne roch, nach Benzin und den Wartesälen großer Bahnhöfe. Für die Suche nach den beiden Vermissten interessierte sich Konde nur am Rande, er wollte reisen, sich fortbewegen, und vielleicht, so sagte er sich, vielleicht war es da gut, einen Russen und zwei Norweger zu kennen.

»Behalte deine Gedanken für dich«, sagte Begitschew, »solange wir auf dieser Expedition sind, behältst du deine Gedanken für dich. Tot oder nicht, das hier«, er hielt das Papier hoch, »ist alles, was zählt.«

Begitschew zeigte den Brief Jakobsen und Karlsen. Der junge Norweger riss die Augen auf und las die Zeilen mehrfach laut, erst ungläubig, dann mit wachsender Zufriedenheit.

»Ich hatte recht«, sagte er. »Von Anfang an hatte ich das. Tessem und Knutsen haben genau hier gestanden und auf den Hügel geblickt, so wie wir.«

Jakobsen fuhr sich über den Mund. »Von wann ist Knutsens letzter Eintrag?«

»Oktober«, sagte Begitschew. »Anfang Oktober, als es ein großes Abendessen auf der Maud gab und man auf die beiden anstieß.«

»Unmittelbar danach sind sie aufgebrochen«, Jakobsen runzelte die Stirn. »Sie benötigten also für die Strecke von Kap Tscheljuskin bis hierher über einen Monat.«

»Vielleicht hat sie ein Sturm überrascht«, mutmaßte Begitschew, »oder das Eis war zu unruhig, und sie mussten Umwege machen.«

»Erscheint mir trotzdem sehr lange.«

»Sie sind nicht ehrlich«, sagte Konde. »Sie schreiben, was sie sich wünschen, aber nicht, was sie sehen und was sie sind.«

»Du meinst, es ging ihnen schon hier nicht gut?«, Begitschew sah zum Meer hin.

»Ich meine, dass sie nicht ehrlich sind.«

»Was spielt denn das jetzt für eine Rolle«, Karlsen, der nachdenklich geschwiegen hatte, deutete nach Westen. »Dahin sind sie verschwunden, und ich bin sicher, dass wir noch mehr finden.«

»Wir brauchen gute Augen und Glück«, sagte Begitschew.

»Das eine fehlt mir aufgrund des Alters, das andere schon seit der Jugend«, Jakobsen lächelte zaghaft und wandte sich ab.

Ende der Leseprobe