Zebras im Schnee - Florian Wacker - E-Book

Zebras im Schnee E-Book

Florian Wacker

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Beschreibung

»Freiheit, denkt sie, ist nicht umsonst zu haben.« Bei seinen Recherchen zum 75-jährigen Jubiläum des Bauhaus-nahen Stadtplanungsprogramm Neues Frankfurt kommt der New Yorker Kunsthistoriker und Architekt Richard Kugelman an ein Ende der 1920er-Jahre aufgenommenes Foto seiner Mutter Franziska Goldblum. Fotografin ist eine gewisse Ella Burmeister. Immer tiefer taucht Richard während einer Reise in die Main-Metropole in ihre Lebensgeschichte ein – würde er mehr Material von dieser nach dem Krieg völlig zu Unrecht vergessenen Künstlerin finden, wäre seine geplante Ausstellung nicht weniger als eine Sensation. Doch in welchem Verhältnis standen die beiden Frauen zueinander? Und warum hat die ehemalige Kunststudentin Franziska nach der Immigration in die USA 1933 mit ihrer Familie nie von dieser Ella und ihrer gemeinsamen Zeit in Frankfurt gesprochen – und auch nie wieder gemalt? Unversehens gerät Richard in eine Geschichte hinein, die auch sein Leben für immer verändern wird. Ein an historische Ereignisse angelehnter Roman über zwei junge Künstlerinnen der »Roaring Twenties« und eine packende Geschichte von Freundschaft, Liebe und Aufbruch. »Ein Meister der Recherche und Einfühlung« SWR2 »Lesezeichen«

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Für meine Mutter

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Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: La Cassette Bleu / Getty Images und FinePic®

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Pinehurst Avenue

Die Leica

Alte Freunde

Höhenblick

Schnappschüsse

Fieber

Museumsufer

Gewellte Linien

Dilettanten

Eysseneckstraße

Rausch

Müde Boxer

Terminal 2

Der Magnetberg

Mampf

Neubeginn

Schwestern

Wielandstraße

Haut

Mount Vernon

Schnurrbärte aus Kohle

International Center of Photography

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Pinehurst Avenue

New York City, 1997

In der plötzlichen Dunkelheit fühlte sich Richard wie verloren. Er wusste genau, wo er stand und wohin er greifen musste, um die Tür zu öffnen, aber er tat es nicht. Er blieb neben dem Lichtschalter stehen, durch die beiden hohen Fenster fiel das Leuchten vom Cooper Square: Da war sein Schreibtisch, das Regal mit den Büchern, da der Bildschirm, der Holzelefant von Sarah, den sie ihm aus Indien mitgebracht hatte; es war sein Büro, wie er es seit Jahren kannte, und doch fühlte er in der Dunkelheit eine seltsame Beklemmung, als könnte er sich nicht entscheiden, hinauszugehen, aber zurück an den Schreibtisch konnte er auch nicht, und so blieb er einfach stehen und wartete. Manchmal fragte er sich, über sich selbst erstaunt, was mit ihm los war, woher diese Zögerlichkeit kam, dieses Gefühl, nicht mehr von der Stelle zu kommen. Die Dinge, die er den Tag über getan hatte, kamen ihm plötzlich belanglos vor, all das, was Leute wie er so taten: nachdenken, schreiben, nachdenklich dasitzen und schreiben, mit den Studenten reden, zu viel Kaffee trinken, zu viel rauchen, ins Restaurant gehen. Dabei hätte er allen Grund, glücklich und zufrieden zu sein: Er hatte eine feste Professorenstelle an der Cooper Union, seine Freundin Sarah war eine erfolgreiche Architektin, und man hatte ihm vor ein paar Monaten angeboten – ihn als Nachfahren deutscher Immigranten geradezu bedrängt –, eine Architekturausstellung im International Center of Photography zum Thema Neues Frankfurt zu kuratieren, was er, ohne viel darüber nachzudenken, angenommen hatte, geschmeichelt und überzeugt davon, etwas Großartiges auf die Beine stellen zu können, auch weil er gleich an seine alte Freundin Ilse gedacht hatte.

Doch genau das hatte ihm in den letzten Wochen immer mehr zu schaffen gemacht, denn Richard war mit der Planung der Ausstellung kaum vorangekommen. Bis auf ein paar lose Ideen hatte er keinen blassen Schimmer, was er zeigen sollte, ganz zu schweigen davon, wie. Bisher hatte er in solchen Situationen auf seinen Instinkt vertrauen können, darauf, dass zum richtigen Zeitpunkt der richtige Einfall kam und er dann mit der Arbeit begann, konzentriert, fokussiert, wie er es immer getan hatte.

Aber diesmal war es anders.

Die Idee und die damit verbundene Hoffnung, Ilse Bing würde ihm bei der Konzeption helfen, könnte vielleicht sogar selbst zu einem Teil der Schau werden, hatte sich rasch zerschlagen. In fast schon entrüstetem Ton hatte sie ihm gesagt, sie sei viel zu alt dafür, sie werde die Ausstellung sowieso nicht mehr erleben, was denn mit ihm los sei, ihr eine so absurde Idee anzutragen. Zaghaft hatte er noch versucht, sie sanft zu locken, nach wie vor sei sie doch eine bedeutende Fotografin, die Leute interessierten sich für ihre Arbeit, eine letzte große Schau. Aber natürlich hatte sie ihn durchschaut und mit einem Lächeln gesagt, da müsse er schon seinen eigenen Weg finden, nein, sie werde ihm nicht helfen, und er brauche auch gar nicht mehr damit anzukommen.

Ilses Abfuhr hatte Richard vollkommen ratlos zurückgelassen. Er wusste, dass man von ihm mehr erwartete, als nur die bekannten Architekten wie Ernst May oder Martin Elsaesser zu zeigen, dass man einen neuen Blick, einen neuen Zugriff von ihm wollte. Und jetzt saß ihm seit fast zwei Wochen auch noch der Museumsdirektor des ICP im Nacken, kaum ein Tag verging, an dem er Richard nicht eine E-Mail schrieb oder anrief, um zu erfahren, was denn nun sein Konzept sei, worauf sich die Sponsoren und Förderer einstellen könnten.

Er wusste es einfach noch nicht.

Richard öffnete die Bürotür und sah in den hell erleuchteten Gang, trat hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Um diese Uhrzeit war er wahrscheinlich allein im Haus. Als er unten in der Lobby ankam, grüßte er den Sicherheitsmann und verließ den alten Ziegelbau raus auf den Cooper Square, überquerte die Straße und ging die East 8th Street bis zur Kreuzung Broadway hinauf. Dort nahm er die Subway und fuhr bis zum Times Square, stieg um und sauste weiter Richtung Norden, parallel zum Hudson River, haarscharf am Central Park vorbei, sah davon aber nichts, sah nur sein eigenes müdes Gesicht in der Scheibe gespiegelt und die müden Mienen der anderen Fahrgäste. Er hielt seine Tasche vor sich auf den Knien, darin ein neuerlicher Umschlag von Adrian mit Bildern, die er sich unbedingt ansehen müsse. Adrian, sein engster Mitarbeiter, durchsuchte seit einiger Zeit Archive, nahm Kontakt zu Sammlern alter Fotografien auf und übergab ihm von Zeit zu Zeit einen Umschlag mit Bildern, von dem sich Richard jedes Mal erhoffte, darin endlich eine überzeugende Anregung für das Ausstellungsprojekt zu finden.

Den ganzen Nachmittag war er nicht dazu gekommen, sich die Aufnahmen anzusehen, die wöchentliche Sprechstunde, mehrere Telefonate und ein Artikel für die Wochenendausgabe der New York Times zur letzten Durchsicht waren ihm dazwischengekommen. Vielleicht hatte er aber einfach nur Angst gehabt, auch dieses Mal enttäuscht zu werden. Er rieb sich mit zwei Fingern über die Stirn; zu Hause warteten eine dunkle Wohnung und die Reste der Lasagne vom Wochenende auf ihn. Er dachte wieder an den Museumsdirektor oder Executive Director, wie er sich selbst bezeichnete, ein hochgewachsener Mann mit zurückgehendem Haaransatz, John Rosen, sie duzten einander zwar, aber Richard verband mit ihm nichts Freundschaftliches, in letzter Zeit durchfuhr es ihn vielmehr, wenn er Johns Namen in einer Mail las oder seine Stimme am Telefon hörte.

An der Station 181st Street verließ er die Subway und stieg zurück an die Oberfläche, Hudson Heights, seit fast sechs Jahren wieder seine Heimat. Er blieb stehen, sah das nervöse Blinken der Ampeln und überlegte, ob er sich im Hudson View noch ein Sandwich holen und die Lasagne ignorieren sollte, entschied sich jedoch dagegen und machte sich auf den direkten Weg nach Hause. Die geräumige Wohnung lag in der Pinehurst Avenue. Hier war er groß geworden, zwei Straßen weiter hatte sich die Praxis seines Vaters befunden, und obwohl er jahrelang an immer anderen Orten gelebt hatte, dort, wohin ihn seine Projekte geführt hatten, bereute er den Entschluss keine Sekunde, vor sechs Jahren zurück in die Wohnung seiner Kindheit gezogen zu sein. Er war weder sentimental, noch glaubte er, etwas gutmachen zu müssen, aber es war wie ein Heimkehren gewesen, die fünf- und sechsstöckigen Häuser hier in den Heights mit ihren flachen Dächern, den schmalen Fenstern und den alten Bäumen davor gaben ihm Sicherheit und Stabilität.

Richard stand in der dunklen Wohnung und sah die Anzeige des Anrufbeantworters blinken. Während er die Nachricht abhörte, saß er auf dem Sofa und zog sich die Schuhe aus. Sie war von Eleonore. Seine Schwester erinnerte ihn zum wiederholten Mal an den sechzigsten Geburtstag von Carl, dass er sich den Sonntag auf jeden Fall frei halten müsse, um zu ihnen zu kommen, am besten übers gesamte Wochenende, dann könnten sie ausgedehnt miteinander frühstücken und hätten mal wieder Zeit füreinander. Ob Sarah auch mitkomme?

Richard schob die Lasagne in den Ofen und schaltete den Plattenspieler an. Gerade hatte er eine nostalgische Phase und hörte besonders gern die frühen Ultravox und Joy Division. Die ersten Takte von Disorder erfüllten das Wohnzimmer, I’ve been waiting for a guide to come and take me by the hand, sang Ian Curtis. Morgen würde er Ilse wieder besuchen. Vielleicht, so seine Hoffnung, würde sie ihm zumindest ein paar ihrer Bilder aus der Frankfurter Zeit überlassen, die er dann zusammen mit anderen Fotos ausstellen könnte. Etwas Besseres fiel ihm im Moment nicht ein.

Richard holte die Lasagne aus dem Ofen, schenkte sich ein halbes Glas Wein ein und setzte sich an den Tisch. Adrians Umschlag mit den Bildern lag vor ihm, aber er rührte ihn noch nicht an. Er aß ein Stück Lasagne und dachte dabei an Johns letzte E-Mail, seine nachdrückliche Bitte, sich doch endlich zu äußern, und er dachte an seine Antwort, die er nach einigem Zögern geschrieben hatte: dass er bald in Frankfurt auf einem Symposium sein würde und ihm danach zeitnah ein erstes Konzept vorlegen wolle. Natürlich war das ein Hinhalten, aber es verschaffte ihm etwas Zeit und war mit der vagen Hoffnung verbunden, bei der Tagung tatsächlich auf etwas zu stoßen, was ihn weiterbringen könnte.

Schließlich schob er den Teller beiseite und begann, sich die Abzüge anzusehen. In einer beigelegten Notiz nannte Adrian die Fotografin: Ella Burmeister – Richard hatte diesen Namen noch nie gehört, obwohl er sich gut in der Zeit der 1920er-Jahre rund um das Bauhaus und die Weimarer Republik auszukennen glaubte. Die Bilder waren mit einer Leica gemacht worden: Feiernde in einem Tanzlokal, Malepartus, Frankfurt am Main, las er auf der Rückseite; begeisterte Gesichter während einer Sportveranstaltung, Sechstagerennen; Arbeiter vor einem neu errichteten Gebäude, Gartenbad Fechenheim; eine Straße, ein Durchgang, Siedlung Höhenblick. Auf einem weiteren Bild eine Ansammlung von Menschen, Dunkelheit, Laternenlicht, ein Demonstrationszug, Erwerbslosendemonstration der KPD, las er. Das nächste Bild: ein Gesicht, im Hintergrund Aufruhr, geweitete Augen. Er verschluckte sich, hustete und hielt das Foto etwas weiter von sich weg, drehte es um. KPD-Demonstration, mehr stand da nicht. Er sah wieder auf die Fotografie. Wie konnte das sein? Wie um alles in der Welt … Auf dem Foto war Franziska, seine Mutter, zu sehen, ohne jeden Zweifel. Ihr Haar war kürzer, als er es gekannt hatte, das Gesicht schmaler, aber Augen und Mund, dieser bohrende, fast strenge Blick … Eindeutig, sie war es. Mitte zwanzig, schätzte er. Irgendwo in Frankfurt am Main.

Er betrachtete das Foto lange, dann rief er Adrian an, entschuldigte sich für die späte Störung und fragte ihn, woher diese Aufnahmen kamen. Sein Assistent war etwas angetrunken, versuchte aber, konzentriert zu sprechen. Von einem Mann aus Berlin habe er die Bilder bekommen, der Enkel eines Zeitungsredakteurs, Genaueres könne er ihm morgen sagen. Ob was Interessantes dabei sei? Vielleicht, sagte Richard, wünschte ihm noch einen schönen Abend und legte auf.

Er war verwirrt, als hätte man ihn mit einer geheim gehaltenen Geburtstagsfeier überrascht. Aber hatte er sich nicht genau solch einen Moment herbeigewünscht? Einen Hinweis, endlich eine Anregung? Er wusste, dass seine Mutter ihre Kindheit und Jugendzeit in Frankfurt verbracht hatte, und vielleicht hatte er auch deshalb so schnell die Aufgabe mit der Ausstellung übernommen, weil er insgeheim darauf hoffte, dadurch seiner Mutter etwas näher zu kommen. Nur hätte er sich ihr lieber behutsam genähert. Seine Mutter hatte so gut wie nie über ihre Zeit in Frankfurt erzählt; er wusste, dass sie damals schon bei Grandpa Henry und Grandma Elsa gelebt, dass sie ein Gymnasium besucht und dann an der Kunstgewerbeschule zu studieren begonnen hatte. Und er wusste auch, dass Grandpa und Grandma in Wahrheit Onkel und Tante seiner Mutter gewesen und ihre leiblichen Eltern früh bei einem Brand ums Leben gekommen waren. Aber dass sie neben der Malerei auch politisch aktiv gewesen war, hatte sie ihnen allen verschwiegen. Wohl zu Recht: Ein solches Foto in den falschen Händen hätte sie während der McCarthy-Jahre in ziemliche Schwierigkeiten bringen können. Sämtliche Fotos, die er von ihr kannte, waren in den Heights aufgenommen worden, das früheste kurz nach ihrer Ankunft 1934, in einer kleinen Wohnung, die sie mit Henry und Elsa bewohnte; in den Alben fanden sich ansonsten nur die üblichen Aufnahmen von Hochzeiten, Geburtstagsfeiern, Jubiläen. Franziskas Leben vor New York lag dagegen vollständig im Dunkel.

Plötzlich fragte er sich, wie gut er seine Mutter überhaupt gekannt hatte. Wie wahrscheinlich auch seine Geschwister Carl und Eleonore hatte er sie vor allem als Mutter und weniger als Menschen mit eigenen Wünschen, Hoffnungen, mit einer eigenen Geschichte gesehen, die losgelöst von seiner bestanden hatte. Wieder betrachtete er die Fotografie und überlegte kurz, seine Schwester anzurufen, entschied sich aber dagegen. Er trank den Wein aus, stand auf und ging ins Schlafzimmer. Während er in seinen Pyjama schlüpfte, dachte er an die morgige Verabredung mit Ilse. Vielleicht hatte sie schon einmal von Ella Burmeister gehört. Ilse war in Frankfurt aufgewachsen, hatte dort die Universität besucht und später auch als Fotografin gearbeitet.

Trotz der Vorhänge fiel das Licht von der Pinehurst Avenue weich in den Raum. Richard sah an die Decke. Er schlief in letzter Zeit schlecht ein, kaum lag er, begannen die Gedanken zu kreisen, der Tag zog an ihm vorbei, kurze Gesprächsfetzen, Gesichter, zu denen sich jetzt auch das seiner Mutter gesellte. Er versuchte, die junge Frau von der Fotografie mit seiner Mutter in Einklang zu bringen. Dabei wälzte er sich herum, zog die Decke über die Schultern, aber bald wurde ihm zu warm, und er befreite die Arme wieder.

Der Mann, von dem die Bilder stammten, heiße August Geisenheyner, sagte Adrian am nächsten Morgen. Er sei der Enkel eines gewissen Max Geisenheyner, früher Redakteur bei der Frankfurter Zeitung und jahrelang Schriftleiter beim Illustrierten Blatt; von seinem Großvater habe er ein ganzes Konvolut an Bildern geerbt. Adrian erzählte weiter, wie er August Geisenheyner in einem Internetforum für historische Fotografien aufgespürt und mit ihm Kontakt aufgenommen hatte. Aber da hörte Richard schon gar nicht mehr richtig hin, lehnte sich stattdessen im Stuhl zurück und sah durch eins der hohen Bürofenster hinaus. Zur Mittagszeit war er mit Ilse verabredet, er würde einen kleinen Lunch besorgen und sie in ihrer Wohnung besuchen.

Es war ein herrlicher Märztag, die Luft klar, der Himmel wolkenlos. Den kurzen Weg rüber nach East Village ging Richard zu Fuß, besorgte unterwegs zwei Sandwiches, von denen er wusste, dass er sie wahrscheinlich beide würde essen müssen. Vor einigen Jahren, zu Beginn seiner Zeit an der Cooper Union, hatte er eine Ausstellung mit Bildern von Ilse Bing mitgestaltet und während der Arbeiten daran auch die Künstlerin persönlich kennengelernt. Ohne sein Zutun hatte sie in ihm etwas entdeckt, was sie anzog, was ihn interessant für sie machte, und so hatten sie sich auch nach der Ausstellung immer wieder getroffen, zuerst noch zu Spaziergängen durch die Parks oder entlang des East River, später dann, als es Ilse gesundheitlich immer schlechter ging, bei ihr zu Hause.

Sie umarmte Richard, trotz ihrer augenscheinlichen Schwäche nur auf die Gehhilfe gestützt, und bat ihn herein. Es roch nach gekochter Milch, nach Papier und Parfüm. Er begrüßte Roberta, die Pflegerin, die Ilse seit Jahren Tag und Nacht begleitete. Sie setzten sich ins Wohnzimmer, Ilse aufs Sofa, Richard an den Tisch. Roberta stellte ihm eine Dose Coca-Cola hin, und wie immer verweigerte Ilse das Sandwich. Über ihre Gesundheit sprachen sie so gut wie nie, immer nur über Kunst, über Fotografie, Kinofilme, Literatur. Er biss einmal in das Sandwich, formulierte in Gedanken schon seine Frage nach ihren Frankfurter Fotos, als er innehielt. Ilse ging es augenscheinlich nicht gut. Sie atmete schwer, ihre Hände zitterten.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ach, Richard, wie soll es einer fast Hundertjährigen schon gehen? Ich bin ja froh, dass ich noch laufen kann. Und ich gebe mir wirklich Mühe, hier bei dir zu sitzen.«

»Ja, das sehe ich. Und ich bin dir sehr dankbar dafür.« Er legte das Sandwich zurück auf die Papiertüte, wischte sich mit einer Serviette über den Mund. Aus dem Flur kam leise Musik, Roberta war wahrscheinlich in der Küche beschäftigt, er konnte sie mitsummen hören. Nein, er würde Ilse nicht weiter mit der Ausstellung behelligen, sie hatte recht: Er musste selbst einen Weg finden. Sie hatte so viel gesehen und so viel erlebt, Ausstellungen, Auszeichnungen, Ehrungen für ihr Lebenswerk, sie wollte einfach nur noch ihre Ruhe haben hier in der Wohnung zwischen all den Bildern. Stattdessen würde er ihr die Fotografien von Ella Burmeister zeigen.

»Schau mal, diese Bilder könnten dich interessieren«, sagte er, stand auf und holte aus seiner Tasche die Fotos. Er trat zu Ilse ans Sofa und legte ihr die Aufnahmen in den Schoß. »Sie stammen aus Frankfurt, eine Ella Burmeister hat sie aufgenommen. Kanntest du sie vielleicht?«

Er konnte sehen, wie Ilses Augen sich weiteten, wie sie nachdachte und unruhig etwas auf dem ersten Bild wie auf einer Landkarte suchte. Dann sah sie hinauf zur Decke, und plötzlich entspannte ein sanftes Lächeln ihre Züge.

»Natürlich, Ella, Ella Burmeister.« Ilse sprach meist Deutsch mit Richard, und auch er wechselte dann die Sprache, versuchte es zumindest. »Wir hatten damals in Frankfurt zusammen eine Ausstellung, ich weiß nicht mehr, wann. Sie war talentiert.«

Richard nickte und machte sich eine Notiz. Er deutete auf das Foto von der Demonstration. »Das da ist meine Mutter Franziska«, sagte er, und Ilse lächelte, so, als wüsste sie das längst.

»Ella war ein unscheinbares Mädchen«, sagte sie und sah Richard an, »sie hatte so gar nichts Extrovertiertes an sich, weißt du, sie wirkte nicht wie eine Künstlerin, obwohl sie durch und durch eine war. Sie hat gearbeitet, immer gearbeitet, wie ich auch, sie war immer in Bewegung, verstehst du, etwas anderes blieb uns auch gar nicht übrig, uns Frauen. Wir haben uns in Paris noch einmal gesehen, 1933 muss das gewesen sein, danach habe ich nie wieder von ihr gehört.«

Richard sah, wie Ilses Kraft von Minute zu Minute schwand. Sie bat Roberta, sie ins Schlafzimmer zu bringen. Er stand auf, dankte der Freundin, beugte sich zu ihr, und sie küsste ihn auf die Wange. Dann humpelte sie langsam, auf die Gehhilfe gestützt, aus dem Raum. Achtundneunzig Jahre, ein gelebtes Jahrhundert.

Unten auf der Straße brauchte Richard einen Moment, um sich wieder in der Zeit zu orientieren. Es war 1997, und er war hier, in New York. Doch er ahnte bereits, dass ihn die Arbeit an der Ausstellung tief in die eigene Vergangenheit zurückführen würde, an Orte, die er bisher stets gemieden hatte. Und vielleicht hatte er mit dem Namen Ella Burmeister jetzt endlich auch das, wonach er so lange gesucht hatte: einen guten Anfang.

Die Leica

Frankfurt am Main, 1927

Kein Licht, nur Ahnungen.

*

Sie steht still da und lauscht. Sie fröstelt trotz des milden Frühsommertags, traut sich aber nicht, die Augenbinde abzunehmen, obwohl eine Enge in ihrer Brust aufsteigt. Nicht schauen, hat ihr Franziska ins Ohr geraunt, nicht schauen! Wenn du schaust, machst du alles kaputt, und hat ihr den Schal noch etwas fester um den Kopf gebunden. Also hält sie still, nicht schauen, ganz still. Sie atmet und bewegt etwas den Kopf, versucht, hinter dem Stoff zu blinzeln, schließt die Augen. Durch das geöffnete Fenster dringen die Geräusche der Straße zu ihr, plötzlich hört sie alles mit erschreckender Intensität, die knirschenden Reifen eines Automobils, die Schritte der Leute unten auf der Straße, die entfernten Erschütterungen einer Tram, ein Kind ruft den Namen eines anderen Kindes, »Hannes, Hannes!«; die aufgeregte Stimme eines Mannes, »Gehste her, Waldi, gleich gehste sofort her, Mistvieh, miserables«, eine Frau, die direkt unter dem Fenster stehen muss und hinaufruft, »Willste zum Ochsenfleisch Kartoffelsticker oder willste Gemies oder Grie Sooß?«, und Ella kann nicht anders, sie beginnt zu kichern. Dieser komische dicke Mann mit seinem kleinen Hund, er watschelt wie eine Ente, und das miserable Mistvieh springt zwischen seinen Beinen herum, da muss er ja fluchen, der Arme, und das Gesicht der Frau ist unwirsch, wann kommt der Alte endlich ans Fenster, Gemies oder Grie Sooß, was denn nun, Alterchen, was denn nun? Fast verliert sie das Gleichgewicht, dann spürt sie eine Hand am Arm, die sie sanft zurückhält.

»Pst«, zischt Franziska direkt hinter ihr. Ella zuckt zusammen, tastet um sich. Da sind nur die ungefähren Umrisse des Raums, Ahnungen von Möbeln, ein bisschen wie beim Versteckspiel, als wären sie wirklich noch Kinder, schau nicht hin, mach die Augen zu, dann wird alles gut. Sie spürt Franziska neben sich.

»Komm mit«, sagt sie, »aber du darfst nicht schauen.«

Ella nickt, nicht schauen, kleine Schritte. Franziska schiebt sie sachte vor sich her, und Ella tappt durch den Raum, stößt gegen das Bett und zuckt zusammen.

»Autsch!«

»Pass auf, wo du hintrittst.«

»Pass du auf, du hast die Augen!«

»Hör auf zu jammern.«

Ella spürt den kühlen Luftzug aus dem Treppenhaus, dann weiter in die Wohnstube. Wieder stößt sie gegen etwas, blödes Spiel, aber da sagt Franziska, »Jetzt ist es gleich so weit«, und Ella ertastet die Lehne eines Stuhls. Und jetzt?

»Wart noch, gleich!« Ein Zündholz ratscht, es riecht nach Feuer. Franziska pustet ihr sachte ins Gesicht. »Jetzt darfst du.«

Ella zieht sich den Schal von den Augen und blinzelt ins helle Licht dieses Junitags. Vor ihr auf dem kleinen Tisch steht ein Schokoladentörtchen, eingeschlagen ins weiße Spitzenpapier der Konditorei Weber, eine schmale Kerze brennt, und neben dem Kuchen, hübsch hinter einem Strauß Blumen arrangiert, steht ein Karton, umwickelt mit Schleifenband.

»Herzlichen Glückwunsch, liebste Ella«, Franziska nimmt sie in den Arm und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Und jetzt mach es auf!«

Die Glasur des Törtchens glänzt so verführerisch, Ella würde am liebsten sofort hineinbeißen, zumindest einmal drüberlecken, aber sie hält sich zurück, nicht gierig sein, alles zu seiner Zeit, hört sie die Stimme der Mutter, sei nicht so ungeduldig. Zurückhaltung und Anstand. Sie ist jetzt zweiundzwanzig. Um sie herum wuchert, tanzt, taumelt die Stadt, eine neue Zeit. Zum Teufel mit Zurückhaltung und Anstand. Sie beugt sich über das Törtchen und leckt daran. Der Geschmack ist überwältigend, ist plötzlich überall in ihrem Mund. Franziska lacht hell auf, und Ella grinst.

»Du bist gierig.«

»Ist ja auch mein Geburtstag.«

»Jetzt mach’s schon auf!«

Ella setzt sich, nimmt das Paket und legt es sich auf den Schoß. Es ist schwerer als erwartet. Was um alles in der Welt hat sich Franziska da wieder einfallen lassen? Ein neues Paar Schuhe, Bücher? Oder einfach ein paar Flusskiesel, zuzutrauen wär es ihr. Ella zieht das Band vom Paket und hebt es an. Franziska steht hinter ihr, leicht über ihre Schulter gebeugt. Ella sieht sie an. Über die Stirn der Freundin zieht sich eine schmale Falte, als wäre sie angespannt, aber sie lächelt.

»Nun mach schon!«

Ella hebt den Deckel ab. Etwas ist in Seidenpapier eingeschlagen, das Papier knistert zwischen den Fingern. Sie lässt es achtlos neben sich fallen, denn das, was sie da vor sich in der Pappschachtel liegen sieht, verschlägt ihr den Atem. Sie schaut wieder zu Franziska. Die hat sich aufgerichtet, die Falte ist aber nicht verschwunden. Was um alles in der Welt? Ella presst eine Hand auf den Mund, um nicht loszuschreien. Da vor ihr liegt, schlank und matt schimmernd, die Kleinbildkamera Leica I, sie erkennt sie sofort, beißt sich auf den Mittelfinger.

»Blödes Geschenk, nichts für eine Frau«, Franziska lehnt sich an den Schrank und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Du bist völlig übergeschnappt«, bringt Ella hervor. Eine Leica. Die Kamera ist gerade mal zwei Jahre auf dem Markt und kostet ein Vermögen. Sie steht auf, die Schachtel im Arm wie ein Wickelkind, stellt sich vor Franziska. »Woher hast du die?«

»Sie gefällt dir nicht, oder?«

»Ich …«, Ella weiß nicht, was sie sagen soll. Ist das ein Scherz? So etwas kann Franziska unmöglich verschenken wollen. »Woher ist die? Willst du sie nicht selbst benutzen?«

Franziska grinst verschlagen, wissend; das schlaue Kindergesicht der Neunjährigen, die gerade einen Plan ausheckt, um an ein paar Bonbons zu kommen. »Von Papa«, sagt sie. »Du weißt ja, wie viele Leute der kennt, und vor ein paar Wochen hat er sie mit nach Hause gebracht und mir gegeben. Sie hat schon ein paar Kratzer, aber ansonsten ist sie tadellos.«

»Warum schenkst du sie mir?«

»Du willst sie nicht, oder? Dann werf ich sie einfach aus dem Fenster, und der erstbeste Idiot kann sie mitnehmen und damit ein paar lächerlich dumme Fotos machen, wenn er denn überhaupt kapiert, wozu das alles da ist, die Knöpfe und der ganze Kram, oder ich versenk sie im Main, und wir vergessen alles.«

»Jetzt hör auf damit«, Ella stellt die Schachtel auf den Tisch und schlingt die Arme um ihre Freundin, zieht sie an sich. »Das ist das tollste, das beste, das herrlichste Geschenk, das du mir machen konntest!«

Die beiden sehen sich an, haben gerötete Wangen.

»Du weißt ja, dass ich dieses Ding nie benutzen würde«, sagt Franziska. »Du weißt, was ich darüber denke.«

Ella setzt sich wieder. Sie weiß, dass Franziska nichts von der Fotografie hält, ein kleines Freizeitvergnügen vielleicht, ein Hobby wie Sticken oder Flache-Steine-Sammeln.

»Nimm sie doch mal in die Hand«, sagt Franziska.

Ella tut es, befühlt die Leica mit den Fingern, die gerillten silbernen Knöpfe und Verschlüsse, hält sie sich vors rechte Auge, kneift das linke zusammen und sieht durch den Sucher, Franziskas Gesicht, die Stirn hat sich wieder beruhigt, zwei wache Augen, die Wangen leicht gerötet.

»Film ist drin«, sagt Franziska.

»Halt still«, Ella richtet sich auf, sucht mit dem Finger nach dem Auslöser, dreht an der Blende, noch ein zögerndes Herumtasten, der Apparat ist so leicht, so nah am Leben. Dann Klick, dieses wunderbare mechanische Geräusch, sie dreht den Aufzugsmechanismus weiter bis zum Anschlag, fertig.

»Und jetzt Kuchen und Sekt«, sagt Franziska.

Sie machen sich über das Schokoladentörtchen her, Franziska schenkt Sekt ein, und sie lassen die Gläser klingen. Mit klebrigen Händen und Schokoresten in den Mundwinkeln stehen sie in der warmen Sonne draußen auf dem Dachbalkon, dem Belvedereche, und teilen sich eine Zigarette. Die Leica ist mit einem schönen Lederband ausgestattet, sodass man sie sich wie eine Tasche umhängen kann. Ein warmer Wind geht, und Ella sieht überall Licht und Schatten, überall kleine Spielereien, irgendwas im Wind, dazu die Geräusche von der Straße, vielleicht ist der Mann mit dem Hündchen noch irgendwo da unten, alles lohnt sich festgehalten zu werden, klick – und eingefangen in dieser kleinen Aluminiumschachtel mit dem magischen Namen. Leica. Von heute an ihr drittes Auge.

»Los, wir haben noch einiges vor«, sagt Franziska und sieht Ella verschwörerisch an.

»Und was?«

»Überraschung.«

Franziskas Überraschungen. Ella ist müde, erschöpft von diesem Tag, der wie immer um sechs begonnen hat, raus aus den Federn und rauf aufs Rad, rüber zur Universität, auf die harten Bänke; an die Blicke dort hat sie sich mittlerweile gewöhnt, und doch starrte sie wieder dieser seltsame Mensch an, Flaum im Gesicht und Mundgeruch, sie ließ sich aber nichts anmerken, versuchte, sich aufs Gebrabbel von Professor Siegel zu konzentrieren. Dann wieder aufs Rad und mit wehenden Fahnen zu Franziska. Die sitzt jetzt neben einem der Blumenkästen, um die sie sich zu kümmern hat, Vereinbarung mit ihrem Vermieter und dem Papa, der gar nicht ihr Papa, sondern ihr Onkel ist, Advokat Heinrich Goldblum. Er hat ihr diese Wohnung unterm Dach beschafft und bezahlt alles; das Haus bewohnt Richter Hemberger mit seiner Familie, ein netter Mann mit feuchten Augen.

Franziska reicht ihr die Zigarette und streckt sich. »Bist du bereit?«

»Bin ich!«

»Na, dann los!«

*

Das Schaukeln der Elektrischen macht Ella müde, der Sekt ist ihr zu Kopf gestiegen, die halbe Zigarette weckt ihren Appetit. Für einen Augenblick lehnt sie den Kopf an Franziskas Schulter und schließt die Augen. An der Hauptwache schreckt sie hoch, ein unglaubliches Gewusel am Freitagnachmittag, Gebimmel, Hupen, Fahrradklingeln. Franziska rückt sich den Hut zurecht. Ella nimmt die Leica und sieht durch den Sucher, ein erstaunliches Gefühl mit dieser Apparatur vor dem Gesicht, als würde der Blick durch den Sucher ihr Sehen verändern, in Einzelteile aufspalten: Da ist eine Gruppe Schupos, zwei Typen mit Zigaretten im Mund und Armbinden, wahrscheinlich Kommunisten, eine Frau mit mächtigem Hut, ein Pferdekarren, beladen mit Fässern, nähert sich, dann ruckt die Elektrische weiter, alles gerät durcheinander, beginnt sich zu drehen. Ella schließt die Augen. Es geht unter schattigen Bäumen über die Zeil weiter zur Pfingstweide, da zieht Franziska sie am Arm, und sie steigen aus, stehen vorm Eingang zum Zoologischen Garten.

»Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr im Zoo gewesen«, sagt Franziska und bezahlt den Eintritt. »Ich habe Sehnsucht nach Nashörnern, Elefanten und Zebras!«

Also streifen sie für zwei Stunden durch das weitläufige Parkgelände mit den Käfigen und Gehegen, sitzen eine Zeit lang am Weiher im Schatten und rauchen, amüsieren sich über die putzig-munteren Totenkopfäffchen, die, so Franziska, eine seltsame Traurigkeit in ihr auslösen: Denn obwohl sie so lebendig seien, schaue sie doch gleichzeitig immer in das Gesicht des Schnitters, liege da der frech grinsende Schatten des Todes auf den Tieren.

»Mach mal ein Foto, los!«

Vor dem Gehege der Zebras nimmt Franziska den Hut ab und legt den Kopf schräg, tut wie eine Schauspielerin. Und irgendwie hat sie auch etwas davon, ein einnehmendes Lachen, feine Grübchen, glänzend blonde Haare. Ella ist lieber hinter der Kamera, auf der anderen Seite. Sie kann das nicht so wie Franziska, so dastehen und allen zeigen, dass sie da ist, schaut mich an, hier bin ich, und ich habe etwas vor. Ella hat zwar die schmale, bubenhafte Gestalt, die jetzt überall auf den Modeplakaten zu sehen ist, mittellang gelocktes Haar, lange Arme, aber sie hätte gern auch so einen schönen Busen wie Franziska, Grübchen und ein anziehendes Lächeln.

Am Gehege der Antilopen drehen sie das Spiel um, jetzt muss sich Ella vor dem Gatter aufstellen, und Franziska hält sich die Kamera vors Gesicht und sagt: »Nun schau nicht so ernst, zeig lieber mal dein schönstes Lächeln«, und Ella versucht es. »Du bist hier doch nicht beim Zahnarzt«, ruft Franziska, »und beim Karneval sind wir auch nicht, also keine Grimassen, verdammt noch mal!«

Ella streckt ihr die Zunge raus.

Weiter geht es durch den Park, die Leica führt sie: Weidenbäume und Platanen, ein kleiner Bachlauf, ein Springbrunnen; Licht und Schatten; Holzfasern und das dunkle Fell eines Pumas; Lichtpunkte in Franziskas Gesicht, ihre Sommersprossen leuchten.

Ellas Magen beginnt zu knurren, dumpf und grollend.

»Dagegen müssen wir sofort etwas tun!«, entscheidet Franziska.

Sie stürmen dem Ausgang entgegen, grüßen einen Parkwächter und verlassen das Gelände, raus auf die Pfingstweide, die Elektrische fährt ihnen vor der Nase weg. Dann laufen sie halt ein Stück die Zeil runter Richtung Hauptwache im Laubschatten. Der Nachmittag ist viel zu warm, die Herren und Damen schwitzen, und ständig wischen Tücher über gerötete Gesichter. Plötzlich, einfach so, ist es Sommer geworden.

Sie finden Platz im Café Corso, bestellen Limonade, Mokka und Kuchen, dem Kellner im weißen Frack perlt Schweiß von der Stirn, er verbeugt sich knapp und stürmt wieder davon, schlängelt sich durch die Reihen der Tische wie ein Hindernisläufer. Alles drängt an diesen ersten warmen Sommertagen nach draußen, die Zeil ist voller Menschen, Automobile, ab und an ein Pferdegespann, die Elektrischen zischen hin und her. Franziska fächelt sich theatralisch Luft mit ihrem Hut zu und macht ein gequältes Gesicht. Der Kellner taucht wieder auf, stellt ihre Bestellung auf den Tisch, Franziska fragt, ob er ihr auch Zigaretten bringen könne, er verbeugt sich knapp und wedelt davon.

»Du rauchst zu viel«, sagt Ella.

»Ich weiß, und es ist mir egal«, Franziska teilt ihr Stück Sahnetorte in zwei Teile. »Weißt du, was Peter letztens zu mir gesagt hat? Ich gehöre auf eine Bühne oder vorne drauf aufs Illustrierte Blatt.«

»Meinst du Peter Westphal, den Kommunisten?«

Franziska nickt. Der Kellner bringt die Tabakware.

»Der will sich nur bei dir einschmeicheln. Der hat doch nicht besonders viel im Kopf außer Apfelwein und Prügeleien.«

»Ich glaube, der hätte mich gern als sein Püppchen«, Franziska lehnt sich zurück, zieht eine Zigarette aus der Packung. »Der ist eher in seine Vorstellung verliebt als in mich.«

»Ich dachte, bei den Kommunisten sind alle gleich.«

»Ist doch alles auch nur Theater. Frauen gehen denen genauso am Arsch vorbei wie allen anderen, wenn’s der großen Sache dient. Als Plakatmädel, ja, aber nicht mehr.«

»Warum redest du dann überhaupt noch mit dem?«

Franziska zuckt mit den Schultern.

»Er nennt dich Franzi«, sagt Ella, vom Mokka ist ihr etwas flau. »Niemand sonst darf dich so nennen.«

»Er ist schon ein Idiot«, Franziska nimmt einen großen Schluck von ihrer Limonade. »Aber irgendwie gefällt mir das.«

»Ich glaube, du magst es einfach, wie er um dich herumscharwenzelt.«

»Und wenn schon, jeder braucht was zum Spielen«, Franziska pustet den Rauch aus, reicht Ella die Zigarette.

Sie nimmt einen tiefen Zug, lehnt sich zurück, streckt die Beine aus. Die Torte rumort ihr im Magen, aber in ihrem Kopf ist es schön wolkig. Sie nimmt die Leica und fährt mit den Fingern über die silbernen Knöpfe.

»Hör auf zu träumen, wir müssen los«, Franziska stößt sie an.

»Wohin denn noch?«

»Tanzen, meine Liebe. Im Malepartus!«

*

Der Lärm und das Durcheinander sind überwältigend, Körper an Körper an den Tischen, auf der Tanzfläche Herren in Anzügen, kühle Damen mit langen Zigarettenspitzen, Wesen mit aufgemalten Schnurrbärten, lächelnd, schmeichelnd, Typen mit Stumpen im Mund, besoffene Studenten, krakeelende Weiber. Gerade stimmt die Kapelle den ersten Schlagerhit des beginnenden Sommers an, die Leute wirbeln über die blank polierte Fläche, und als der Gesang einsetzt, grölen schon alle mit: »Wer hat bloß den Käse zum Bahnhof gerollt? Das ist ’ne Frechheit, wie kann man so was tun, denn er war noch nicht verzollt!«

Die beiden finden einen freien Tisch, ein Kellner schießt heran, die Haare pomadisiert, schiefe Schneidezähne: Was er den Fräuleins bringen dürfe, Wein, was zu knabbern? Und wieder ab. Franziska klopft zum Takt der Musik auf die Tischplatte, ihre Wangen glühen. Ja, das ist ihre Zeit, hier fühlt sie sich wie ein Fisch im Wasser, glitzernde Schuppen, Sardinen dicht an dicht, Gelächter und Gekicher. Franziska schiebt ihr die Koksdose zu, schnupft eine Prise und zahlt den Kellner gleich aus, der die Gläser vor sie stellt, zwei Brezeln dazu. Geldsorgen hat Franziska keine; wenn sie was braucht, läuft sie zum Onkel oder zur Tante. Ella hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass die Freundin für alles bezahlt. Sie sieht zu, dass sie ihre Klamotten in Ordnung hält, aber ab und zu muss es schon mal was Neues sein, eine Bluse oder ein Sweater, dann spart sie eine Zeit lang das bisschen Lohn, den sie für die Arbeit im Laden bekommt; aber wie oft stopft sie abends, auf dem Bett sitzend, noch schnell ein kleines Loch, reibt mit einem Lappen den Schmutz von den Schuhen.

Franziska steckt sich eine Zigarette an, lässt Ella ziehen, schweigend schauen sie in die Menge, zu den Musikern.

»Schau mal, da drüben sitzt Walter Hagedorn«, Franziska zeigt zu einem der Tische. »Der mit dem Hut da.«

»Und wer soll das sein?«

»Einer von Beckmanns Schülern. Auch ein Maler.«

»Der schaut traurig aus.«

»Beckmann triezt ihn wohl ganz schön, wie man hört. Walter fühlt sich eher zu den Franzosen hingezogen, also, künstlerisch, und das passt dem Meister nicht, sie geraten darüber ständig in Streit.«

»Hast du mit ihm zu tun?«

»Mit Walter oder Beckmann?«

»Such’s dir aus.«

»Walter seh ich ab und zu. Und Beckmann«, Franziska stößt eine mächtige Wolke aus, »der will mich nicht haben. Kann mir aber auch den Buckel runterrutschen mit seinen hässlichen Bildern.«

»Also, ich mag ja ein paar von seinen Sachen, den Eisernen Steg und Nizza.«

Franziska zuckt mit den Schultern. Was ihre Kunst betrifft, hält sie sich bedeckt, zeigt nicht gern was vor, sagt, das alles sei nicht das, was sie malen wolle, was sie im Halbschlaf vor sich sehe, es seien nur schlechte Kopien oder Fingerübungen, nichts Ernsthaftes. Ella glaubt, dass das Ausreden sind, und sie ahnt, wie schwer sich Franziska tut, wie sehr sie beweisen will, dass sie es verdient hat, dort an der Kunstgewerbeschule unterrichtet zu werden, also muss auch etwas dabei herauskommen. Und was herauskommt, was Ella gesehen hat, sind alles andere als Fingerübungen: bleiche Gesichter, das Porträt einer Prostituierten, eines Fuhrwerkers, Kindergesichter, ernst, verschattet. Franziska schätzt die Strenge und das Dunkle, kann wenig mit Futurismus, Dadaismus, dieser gepinselten Selbstüberhöhung anfangen, wie sie es nennt.

Franziska steht auf, zieht Ella auf die Tanzfläche. Beine und Arme, verschwitzte Gesichter und das wunderbare Gefühl, Teil von etwas zu sein, das größer und bedeutender ist als man selbst, es gibt nur eine Richtung: vorwärts, hinauf! So tanzen sie, zappeln und schwingen. Dann ist da plötzlich Peter Westphal und greift sich Franziska. Ella schließt die Augen, um sie toben die Planeten.

Irgendwann sitzt sie wieder, trinkt Wein. Franziska vergnügt sich irgendwo zwischen den anderen Paaren mit ihrem Peter, kommt dann aus dem Gewühl heraus an den Tisch getaumelt und zieht eine Grimasse. Sie setzt sich, trinkt ihr Weinglas leer und starrt Ella an.

»Genug gespielt?«

Franziska fährt sich über den Mund. »Du musst mir was versprechen«, sie beugt sich zu ihr, senkt die Stimme, fast flüstert sie.

Ella rückt näher heran. »Was denn?«

Franziska deutet auf die Leica. »Du machst jetzt Ernst mit der Fotografie«, ihre Stimme ist plötzlich eine Tonlage tiefer und rau. Ihr Blick gleicht jemandem, der zutiefst von einer Sache überzeugt ist, ein Blick, der, wenn er könnte, die Erde zum Stillstand bringen würde; klar, aufrichtig, unnachgiebig. »Jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Für uns beide nicht. Gib mir deine Hand!«

Ella zögert.

»Los, her mit deiner Hand«, Franziska fasst nach ihrem Arm, packt Ellas Finger. »Es gibt nur zwei Dinge, die für uns wichtig sind: Freiheit und Wahrheit! Das ist es, meine Liebe, Freiheit und Wahrheit. Alles andere kannst du vergessen, scheiß drauf!«

»Wenn du meinst.«

»Es ist mir todernst, Ella. Freiheit und Wahrheit. Wir lassen uns nichts vorschreiben, von niemandem, von keinem Professor, von keinem Papa oder der Polente oder sonst wem. Wir sind aufrichtig, immer sind wir aufrichtig, uns und der Kunst gegenüber. Wir zeigen das, was wir sehen und fühlen, verstehst du? Wir sind keine Äffchen, die Kunststücke vorführen. Wir brauchen Platz, und den nehmen wir uns. Himmel noch mal, Ella, jetzt glotz mich nicht so an! Glaubst du, die Kerle denken auch nur einen Moment drüber nach, bevor sie zugreifen? Ab jetzt machen wir das genauso, aber wir tun es immer aufrichtig und intensiv, mit beiden Händen, mit beiden Augen, mit vollem Mund! Wir werden Künstlerinnen, du und ich, das musst du mir jetzt versprechen!« Franziskas Blick kreist um Ella, lässt sie nicht entkommen, sie lässt ihre Hand nicht los. »Versprich es mir!«

Sind das nur Koksgedanken, ihr Feuerwerk im Kopf in all dem wilden Durcheinander? Sie sehen sich an. Ella blinzelt. »In Ordnung, ich versprech’s dir!«, sagt sie.

Franziska lächelt.

Ella spürt eine Enge in der Brust, plötzlich ist da eine Unschärfe, die Ränder ihres Blickfelds verschwimmen. Franziska streicht ihr eine Strähne aus der Stirn, lehnt sich zurück und fummelt an der Zigarettenschachtel herum. Ella nimmt die Leica, steht auf. »Ich muss mal raus an die Luft«, sagt sie und schiebt sich durch die Menge.

Das Laternenlicht liegt milchig weiß über der Straße, Ella geht ein paar Schritte. Die Luft tut ihr gut. Sie bekommt einen Schluckauf, merkt, wie ihr das Herz rast in der Brust, obwohl sie doch ganz still dasteht. Die Wahrheit zeigen, denkt sie, und die Gedanken wirbeln in ihrem Kopf umher. Sie selbst hat das Fotografieren bisher nicht besonders ernst genommen, eine schöne Spielerei, aber jetzt haben Franziska und sie einen Schwur getan, jetzt soll es also ernst sein. Die Wahrheit zeigen, was immer das heißen soll. Bisher hat sie geglaubt, die Wahrheit liege in den Zahlen, denn Zahlen lügen nicht, Zahlen verstellen sich nicht. Aber auch eine Fotografie zeigt die Welt, wie sie wirklich ist, und nicht, wie das Auge sie zu sehen glaubt. Aber sie hat keine Ahnung, wie sie das anstellen soll mit der Wahrheit und noch weniger das mit der Freiheit; sie hat ja kaum Geld, und ohne Geld ist auch keine Freiheit zu haben, das weiß sie längst, denn Freiheit heißt lange schlafen und spät frühstücken, Freiheit heißt Automobil und Zeppelin, wie soll sie also Geld verdienen? Mit der Mathematik? Im Laden beim Vater? Sie will kein Büromädel werden, sie will nicht hinter einer Schreibmaschine sitzen und sich die schalen Witze des Chefs anhören müssen und langweiliges Zeug heruntertippen. Sie will das Neue und Aufregende kennenlernen, es liegt so viel in der Luft, überall geschieht das Leben gleichzeitig. Und sie will mit ihrer Kamera dabei sein.

Sie geht in die Hocke und peilt an der Hausfront hinauf, ins Gegenlicht einer Laterne.

»Machen Sie besser Bilder von lebendigen Dingen.«

Ella fährt herum, verliert kurz das Gleichgewicht und stützt sich mit einer Hand ab. Der traurige Maler steht vor ihr im abgegriffenen Anzug, den Mantel über den Arm geworfen. Er reicht Ella die Hand, hilft ihr auf.

»Danke«, murmelt sie.

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin Walter Hagedorn, Maler an der Kunstgewerbeschule. Und Sie sind die Freundin von Franziska Goldblum.«

»Ella Burmeister.«

Der Mann schwankt etwas, streicht sich eine blonde Locke aus der Stirn.

»Ist das eine Leica?«

»Ja.«

»Ein kleiner Wunderkasten, nicht wahr?«, er bemüht ein Lächeln. »Wollen Sie denn von mir einmal … Also, wenn es jetzt noch genügend Licht hat, ich kann hier unter die Laterne gehen. Wollen Sie ein Bild von mir machen?«

Ist er nur selbstverliebt oder schlicht schon zu betrunken? Aber wie Walter Hagedorn da im gelben Licht der Straßenlaterne steht, etwas unschlüssig, leicht vorgebeugt, so als drücke ihm etwas in den Nacken, wirkt er eher wie einer, der noch nicht angekommen ist. Ella nickt und betätigt den Auslöser. Er schlüpft umständlich in den Mantel.

»Wussten Sie, dass Malepartus die Raubhöhle von Reineke Fuchs ist?«

Ella sagt nichts.

»Wie auch immer. Ich würde mich freuen, wenn wir uns irgendwann wiedersehen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Er geht davon, leicht hinkend, vielleicht ist ihm der Fuß eingeschlafen.

»Wo bleibst du denn?«, hört sie Franziska rufen, im Eingang stehend und ihr zuzwinkernd. »Komm wieder rein!«

*

Ella schreckt hoch, sitzt aufrecht im Bett. Sie ist nicht mehr in der Raubhöhle. Neben ihr schläft Franziska. Sie wartet, bis Traum und Wirklichkeit die Plätze getauscht haben, dann steht sie auf und tappt in die Stube. Ihr ist flau, ihre Beine sind zittrig. Sie trägt ein Nachthemd von Franziska, zieht ihren Pullover vom Stuhl und schlüpft hinein. Sie fröstelt etwas, krümmt die Zehen. Dann zieht sie die Tür zum Flur auf, lauscht, und als nichts zu hören ist, huscht sie zur Toilette, verriegelt die Tür und pinkelt. Die heutige Vorlesung kann sie vergessen, Stochastik, Gestocher im Nebel, wie Franziska es nennt. Sie muss grinsen.

Als sie zurück ins Zimmer kommt, bleibt sie in der Tür stehen. Da sitzt jemand mit dem Rücken zu ihr am Tisch, und es ist nicht Franziska. Ist das Peter Westphal? Ist der ihnen gestern gefolgt und hat die Nacht unten vorm Haus herumgelungert, und jetzt ist er hinaufgekommen? Oder ist es ein Fremder, benebelt von Eifersucht und Rache? Sie muss an eins der Bilder von Beckmann denken, ein Dachboden, ein jaulender Hund, jemand wird an einem Seil in die Höhe gezerrt. Ella schluckt, tastet nach dem Türrahmen. Soll sie sich auf ihn stürzen? Oder runter zum Richter laufen? Der Fremde macht eine Bewegung, und da kapiert sie, es ist Franz, ihr Bruder.

»Warum schleichst du einfach so hier rein?«, sie geht vor zum Tisch. Franz dreht sich um.

»Guten Morgen!«

»Schick ihn weg«, hört sie Franziska verschlafen aus dem Nebenzimmer rufen.

»Es ist nur der Franz«, sagt Ella und setzt sich.

»Vater ist stinksauer«, sagt er so laut, dass auch Franziska es hören kann.

»Soll er doch.«

»Er sagt, er wird dir die Universität nicht länger bezahlen, wenn du so rumtrödelst. Er sagt, du sollst im Laden helfen.«

»So, sagt er das«, Ella drückt sich die Stuhllehne in den Rücken, sie richtet sich auf. Lieber, süßer Papa, was verstehst du denn schon vom Leben? Den ganzen Tag hinter der Ladentheke, einmal im Monat ins Theater, im Sommer in den Taunus. Was weißt du schon? »Mach dich lieber mal nützlich und geh zum Bäcker«, sagt sie zu ihrem Bruder.

»Hab kein Geld.«

Ella zieht ihre Hose von der Stuhllehne, sucht in den Taschen, findet ein paar Münzen. Franz steht jetzt vor dem Regal und hält die Leica in der Hand.

»Tolles Ding«, sagt er.

Ella nimmt sie ihm weg und drückt ihm das Geld in die Hand.

»Und wehe, du kaufst dir davon Kippen. In zehn Minuten bist du wieder hier.«

»Zu Befehl, Frau General«, er tippt sich lächelnd an die Stirn und macht sich davon.

Ella betrachtet die Leica. Sie ist tatsächlich da. Das war also alles kein Traum. Reinekes Raubhöhle. Walter Hagedorn unter der Laterne. Franziska schlurft herein, nimmt Ella in den Arm. So stehen sie einen Augenblick da, duftend nach Schlaf, Zigarettenrauch, Parfüm.

Alte Freunde

Frankfurt am Main, 1927

Es war ein hoher, heller Raum, das Licht fiel schräg gegen die Wände und warf schöne Schatten. In diesem Raum standen die Staffelei und ein Sofa, neben dem Sofa ein Glas mit ausgedrückten Zigaretten und Tassen, in denen Kaffeesatz klebte. Die Sonnenstrahlen brachen sich im letzten Rest vom Zigarettenrauch, der in der Luft hing und über den Bildern schwebte, die überall an den Wänden standen, Porträts von Frauen, Männern und Kindern, Landschaften, aber keine, die fröhlich waren. Eine graublaue Tristesse bestimmte alle diese Bilder, niemand lächelte. Trotzdem waren sie schön, blieb das Auge daran hängen und vertiefte sich in die Gesichter. Man fragte sich, was diese Menschen da erlebt haben mochten, wie sie am Tisch zusammensaßen, wie sie einander umarmten, mit einer ratlosen Traurigkeit in den Augen. Aber dann gab es da immer wieder diesen einen Moment in den Bildern, wenn aus der scheinbaren Gleichförmigkeit plötzlich etwas herausblitzte, zwei Ohrringe, gespitzte Lippen, in verhöhnendem Rot gemalt.

*

Ella sitzt in ihrem Zimmer und betrachtet sich im Spiegel. Sie schürzt die Unterlippe, reißt die Augen auf, ein kleiner Rülpser rutscht ihr heraus. Das Fenster steht offen, lässt die Geräusche der Straße herein, ein warmer Windzug, von ferne sind Kirchenglocken zu hören. Ihr Notizbuch liegt aufgeschlagen da, die Leica steht vor ihr, und sie betrachtet den kleinen Kasten, dieses Wunderwerk, fährt mit dem Finger über die Knöpfe. Noch immer kann sie nicht glauben, dass Franziska ihr dieses Geschenk gemacht hat, verknüpft mit dem Versprechen, zu zeigen, was ist. Ihrem Schwur. Dass sie endlich ernst machen soll mit der Fotografie, wo sie doch ständig mit ihrer alten Voigtländer versucht, den Augenblick zu fassen zu kriegen, einen Moment großer Stille, flüchtiger Ahnungslosigkeit: die Spiegelungen auf einer regennassen Straße, eine schlafende Katze auf der sonnenbeschienenen Treppe; den verdrehten Schattenwurf eines Verkehrsschupos auf dem Schweizer Platz; Franziskas Atelier mit den Pinselwäldern und Farbseen. Dass sie das Studium endlich aufgibt, den Vater gegen sich aufbringt, die Mutter betrübt, in den Tag hineinschlittert, wie es Franziska tut. Aber die hat Geld, und sie hat ihren Onkel Heinrich. Die Leica macht aus Ella noch längst keine Fotografin, es ist nur ein dummer Kasten, und es sind dumme Gedanken an einem trägen Sonntagmittag: eine große, helle Wohnung mit hohen Fenstern, Ausflüge ans Meer, die eigenen Fotos in den Illustrierten.

Seit der Vater vor einigen Jahren die Voigtländer von einem Fotografen gebraucht erstanden hat, ist Ella bei jedem Ausflug, auf jeder Ausfahrt mit dem Ding herumgerannt und hat es ausprobiert; zu Beginn fanden ihre Bilder noch den Beifall der Eltern, schönes Fachwerk, Blumenbeete, Bäume im Frühlingswind, aber nach und nach fasste Ella anderes ins Auge, richtete den Sucher auf mehr Beiläufiges, auf Schatten, das Geflecht von Stromleitungen, zwei heranfliegende Tauben. Der Vater hatte nur die Stirn gerunzelt und die Mutter den Kopf geschüttelt, und Ella war dazu übergegangen, die wenigen Bilder, die sie zur Entwicklung ins Labor gab, für sich zu behalten. Ein paar davon hatte sie Franziska geschenkt. Warum machst du nichts draus, fragte die sie manchmal, du solltest es versuchen.

Ellas Spiegelbild zieht die Brauen zusammen, zwei Falten legen sich auf ihre Stirn. Für Franziska ist das Leben ein zappelndes Kunstwerk, ein frei herumspringendes Ding, das sich nie einfangen lässt, und so spricht sie auch davon, Wahrheit, na sicher, Freiheit, immer her damit! Aber sie, Ella, ist nicht die Nichte eines Advokaten, ihr Vater ist nur Drogist, und dass sie ein Gymnasium besucht und das Studium der Mathematik aufgenommen hat, ist der Hartnäckigkeit ihrer Mutter und dem zusammengekratzten Geld des Vaters zu verdanken. Sie ist die Vorzeige-Ella, ein tüchtiges Mädchen, klug, höflich und still, wenn man still zu sein hat. Sie hockt nicht wie Franziska in einem hellen Atelier in der Neuen Mainzer Straße und rührt Farben an; stattdessen schlägt sie sich mit Gleichungen und Ableitungen herum, mit den Sprüchen der fast ausschließlich männlichen Kommilitonen und den abschätzigen Blicken der Professoren, die immer noch glauben, der beste Ort für eine Frau wie sie wäre die Küche oder ein Platz hinter der Schreibmaschine.

Das Spiegelbild wendet den Blick ab, hin zum Fenster. Die Badeanstalten am Main haben seit zwei Wochen geöffnet, die Leute flirren durch die Parks, durch die Straßen der Altstadt, hinaus in den Stadtwald in die Wirtshäuser. Warum bin ich nicht draußen, fragt sie sich, bin ich krank, ohne es zu wissen, melancholisch verstimmt? Aber sind wir das nicht alle, melancholisch verstimmt? In einer trägen, leidenschaftslosen Erwartung ohne jede Lust, sich noch einmal hinaus in die Felder treiben zu lassen, einem höheren Versprechen zu folgen, Vaterland, Kaiser, Ruhm, dahinaus in die Felder, die zu Schlachtgruben wurden, die senfgelb wurden, aschgrau. Dann lieber im Zimmer herumlungern, an den Tischen im Malepartus, schimmernde Momente, glitzernde Steine im Diadem der Tänzerin, zum Teufel mit dem Kaiser, zum Teufel mit den gestutzten Bärten!

Ella gähnt, es klopft an der Tür.

Er habe einmal mit ihr zu sprechen, hört sie die Stimme des Vaters, und wie er es sagt, klingt es nicht so, als wolle er sie vom anstehenden Mittagessen unterrichten.

*

Der Drogist Hans Burmeister bewohnt mit seiner Familie – dazu gehören neben Ella seine Frau Luise und der neunzehnjährige Franz – Erdgeschoss und erste Etage eines Hauses in der Cranachstraße in Sachsenhausen. Im Erdgeschoss befindet sich die Drogerie, darüber die Wohnung der Familie mit Warmwasseranschluss und modernem Haushaltsgerät. Hans Burmeister steht kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag, ein halbes Jahrhundert, das er nahezu ausschließlich in Frankfurt verbracht hat, immer rund um den Schweizer Platz, Diesterwegstraße, Oppenheimer Landstraße, das enge Raster eines Lebens links des Mains, sonntags in die Dreikönigskirche, danach Rippchen und Kraut. Der Großvater, noch ein Zugewanderter aus dem Oberrheinischen, schleppte Schweinehälften, zog Karren, dem Sohn sollte es mal besser gehen und ging es dann auch; der Großvater eröffnete das erste Ladengeschäft, zum Verkauf wurde geboten, was gebraucht wurde: Schuhcreme, Backpulver, Salben verschiedenster Arten und Sorten, Franzbranntwein, Tabak. Der Berufsstand des Drogisten war neu und stieß bei den Apothekern auf erbitterten Widerstand. Einmal war es im Ladengeschäft der Burmeisters zu einem kurzen Faustkampf zwischen Hans’ Vater Ernst Burmeister und dem Apotheker Alfons Katz gekommen, den Burmeister mit einer durchgezogenen Rechten humorlos für sich entschied, beobachtet vom kleinen Hans, der sah, wie der Vater dem Unterlegenen ein Tuch für die blutig geschlagene Lippe reichte – und der ihm später eintrichterte, man müsse nach jedem Schlag auch immer wieder die Hand ausstrecken können, sonst sei alles verloren.

Hans Burmeister war seinem Vater nachgefolgt, etwas anderes war nicht vorstellbar gewesen, er heiratete Luise Reeck aus der Gutzkowstraße und erarbeitete sich den Ruf eines zuverlässigen und tüchtigen Drogisten: Nach den Wünschen seiner Kunden fertigt er Zahncremes, Hautpasten und Kräutermischungen an und vertreibt seit Kurzem auch Einwegbinden für die Frau der Firma Vereinigte Papierwerke Nürnberg. Den Krieg hat er mit einem Granatsplitter in der Hüfte überstanden, in den letzten Tagen zog man ihn noch ein, er ging aber nur einem Arzt zur Hand, feuerte seine Waffe kein einziges Mal ab und wurde sechs Wochen später verletzt wieder nach Frankfurt zurückgeschickt. Und als das ganze Land in die Inflation schlitterte, da schrumpften auch die Ersparnisse der Burmeisters rasch zusammen, man war froh, am Sonntag noch ein paar Kartoffeln und Würste zu haben, man sparte, wo man konnte. Luise Burmeister verdingte sich als Näherin, stopfte Löcher, verlängerte Röcke, am Ende war nicht mal mehr Geld für Kohle da. Hans Burmeister musste sich welches vom Apotheker Otto Katz leihen, den er für einen Aufschneider hielt und von dem er wusste, dass er sich damals, als Hans schon mit seiner Luise verlobt gewesen war, mit Komplimenten und kleinen Geschenken an sie herangemacht hatte. Nun stand er in seiner Schuld, sah ihn wohlwollend lächeln und ihm zunicken, und als ihn Katz einmal fragte, ob er ihm nicht den Laden verkaufen wolle, wünschte Hans Burmeister dem Apotheker noch einen schönen Tag und ging davon. Trotz aller Schwierigkeiten sollte er recht behalten: Mit Einführung der Rentenmark zogen die Geschäfte schnell wieder an, es schien, dass die Leute nun all das nachholten, was sie die Jahre zuvor eingebüßt hatten, anscheinend putzten sie sich viermal am Tag die Zähne, cremten und pflegten ihren Körper, wichsten täglich die Schuhe und rauchten wie Kaminschlote.

Hans Burmeister blickt hoffnungsvoll in die Zukunft, die Tochter an der Universität, der Sohn draußen am Flughafen Rebstock in der Ausbildung, einmal im Monat ins Schumanntheater, einmal im Jahr in die Oper. Ein gutes, ein planbares Leben entlang der Jahre: der Krieg, die Euphorie, das Taumeln und der Neuanfang.

*

»Meine liebe Tochter«, beginnt der Vater und stützt sich auf dem Bettpfosten ab, und immer, wenn er so beginnt, dann ist es ihm ernst, dann erwartet er etwas von ihr; er macht eine Pause und zupft an seiner Weste, »meine liebe Ella«, sagt er dann und will von ihr wissen, an wie vielen Tagen der vergangenen Woche sie die Universität besucht habe.

Sie will aufstehen und dem Vater über den Kopf streichen, über die Wange, liebster Papa, dein Leben und mein Leben haben gar nichts miteinander zu tun, verstehst du, Papa, wir wollen keine Untergebenen mehr sein, keine Gehetzten, wir wollen Fahrrad fahren und Champagner trinken, wir wollen tanzen, wir gehen in die Badeanstalten. Lieber, armer Papa. Ella richtet sich auf.

»Die ganze Woche«, sagt sie.

»Die ganze Woche, soso«, sagt der Vater und wackelt mit dem Kopf. »Und du warst nicht mit Franziska in den Lokalen oder bei den Tanzfesten, das also nicht?«

»Und wenn’s so wäre?«

»Wir sind nicht die Goldblums, Ella, wir müssen was tun, um Brot und Kartoffeln auf dem Tisch zu haben«, sagt er, und sie lässt das Kinn etwas nach vorn auf die Brust sinken, denn nun kommt wieder die Geschichte des Mannes, der jeden Morgen Punkt sieben Uhr im Laden steht, bis abends um acht, der Nächte hindurch Cremes und Salben anrührt, der sich mit Vertretern herumplagt; einer, der doch nur ein ehrliches, bescheidenes Leben führen will, der nicht in den Tanzlokalen herumlungern, nicht mal am Main spazieren gehen kann, weil er sich etwas vorgenommen hat für sein Leben. Ella will ihn fragen, warum er glaubt, sich von Heinrich Goldblum so zu unterscheiden, auch der wolle doch Kartoffeln auf dem Tisch haben und stehe morgens früh auf, um seine Klienten zu vertreten, was denn da der Unterschied sei, aber sie schweigt.

»Ich erwarte von dir, dass du dein Studium ernst nimmst, dass du vorankommst. Ich erwarte von dir, dass du diese Lokalbesuche einstellst, dass du künftig wieder in deinem Bett schläfst und ich nicht deinen Bruder losschicken muss, um dich zu suchen.«

»Aber Papa …«

»Deine Mutter und ich erbringen große Opfer, damit du studieren kannst, Ella, wir hatten Kämpfe durchzustehen und Fragen zu ertragen, dass ein Mädel wie du sich doch besser einen Gutsituierten anheiraten sollte, wozu denn so ein Studium überhaupt nötig sei. Aber deine Mutter und ich sind uns einig, dass du diesen Weg gehen sollst, den keiner von uns zuvor gehen konnte.«

Er atmet schwer, sein gutes Sozialistenherz schlägt ihm hektisch in der Brust. Lieber Papa, denkt Ella, ich bin euch für so vieles dankbar, aber ich bin nicht euer Äffchen, nichts, was ihr stolz vor den Nachbarn herumzeigen könnt.

»Und wenn du des Studiums überdrüssig wirst, dann such dir schleunigst eine Arbeit, dann geh nähen, wie deine Mutter, oder werde Kindermädchen oder lerne, auf der Maschine zu schreiben. Aber dass du da herumtändelst in deinem Alltag, noch dazu mit dieser Kamera, und dein Geld für Wein und Filme ausgibst, das ist nicht länger zu tolerieren, Ella, das ist nicht mehr hinzunehmen. Ich habe mir das lange angesehen, und deine Mutter hat mich immer wieder besänftigt, dass du schon zur Vernunft kommen wirst, aber das sehe ich nicht, Ella, diese Vernunft sehe ich nicht bei dir.« Er schnauft, humpelt rüber zum Fenster und sieht auf die Straße.

»Dann werde ich mir eben Arbeit suchen, und ein Zimmer gleich dazu«, sagt Ella. »Dann seid ihr mich los.«

»Himmel, Ella«, der Vater stemmt die Arme in die Seiten. »Jetzt werd nicht hysterisch. Deine Mutter hat mich gewarnt. Himmel noch mal, liebes Kind, das alles treibt euch doch nur ins Unglück, dieses Getanze und Gestampfe und was weiß ich noch alles.«

»Und wenn schon«, wehrt Ella sich halbherzig. »So ist eben die neue Zeit, du kannst sie nicht aufhalten.«

Der Vater schweigt, sieht an sich hinab. Schweiß perlt ihm auf der Stirn, ein zartes Rinnsal an den Schläfen. Dann sieht er auf, und in seinem Blick liegen Fürsorge und Bitterkeit zugleich. Schwerfällig geht er zur Tür, drückt die Klinke herunter.

»Halb eins gibt es Mittag«, sagt er und geht hinaus.

*

Ella hat sich die Leica umgehängt und geht die Schweizer Straße hinunter an den Main, vorbei an der Schifferwerft in Richtung Dreikönigskirche zu den Badeanstalten am Eisernen Steg. Sie braucht etwas anderes um sich als den Vater und die Mutter beim schweigenden Mittagessen. Das Wetter hält zum ersten Mal, was vorhergesagt worden ist. Sie bezahlt und geht hinunter auf die Plattform; sie schwankt, alles schwankt immer für einen Augenblick, wenn sie die ersten Schritte auf den schwimmenden Pontons macht; sie kneift die Augen zu, bleibt stehen, und alles beruhigt sich wieder. In riesigen Kübeln stecken Palmen. Man schart sich um die Sprungbretter und sieht zu, wie die Jungs und Mädels ins Wasser platschen. Eine neue Welt, die ihnen gehört! Als hätte man die Jahre davor einfach abgeschnitten, kein Krieg mehr, kein Kaiser mehr, alle Krüppel von den Straßen gefegt, alle Verrückten in die Heilanstalten gesperrt, und die, die noch einigermaßen bei Trost sind, müssen aufs Wohlwollen der Verwandten hoffen. Ella geht vor ans Wasser, die Wimpel der Sonnenschirme flattern nervös. Sie ist jetzt zweiundzwanzig, aber was bedeutet das schon? Sie kann ja nichts vorweisen, keine Auszeichnungen, keine Erfindungen, nicht mal verlobt ist sie, und wann hat sie eigentlich das letzte Mal geküsst, so richtig geküsst? Sie ist nur eine unter vielen, Bubikopf und Hemdkleid und eine Kippe zwischen den Lippen, aber was sich wirklich dahinter verbirgt, davon weiß sie nicht viel, Freiheit, ja, Wahrheit, ja, aber was sind das schon, außer im Kokstaumel hingesagte Worte. Sie plagt sich mit der Mathematik und wohnt noch immer bei den Eltern. Das macht ihr schlechte Laune.

Sie nimmt die Leica, zögert. Wasser spritzt auf, weiße Fontänen. Sie geht vor bis an die Kante und wartet, bis der Nächste vom Sprungbrett hüpft, knipst im Moment, als der Körper aufs Wasser trifft.

Jemand tippt ihr auf die Schulter, sie fährt herum. August Gottlob!

»Was haste denn da Schönes«, er verschränkt die Hände hinterm Rücken.

»Nichts für dich.«

»Och, schade.« August ist bis auf die schwarze Badehose nackt. Sein rotes Haar ist feucht, Sommersprossen tanzen in seinem Gesicht. »Willste nicht auch mal eins von mir machen?«

»Nö.«

»Bin dir nicht schön genug, was?«

»Zu langweilig.«

»Das Fräulein Burmeister hat aber wieder mal bestechende Laune heute. Komm, die anderen sind da drüben!«

August geht voran, und Ella folgt ihm, ganz gegen ihren Willen. Eigentlich hätte sie auf der Stelle kehrtmachen sollen und raus aus dem Bad, aber hier geht wenigstens etwas Wind. Die anderen, das sind alte Jugendfreunde, neben August noch Oskar Körte, Lilly Brenner, Johanna Blanck, sie sitzen in zwei Korbstühlen und auf Handtüchern. Ella hockt sich dazu. Lilly hält ihr eine halb heruntergerauchte Zigarette hin. Ella schüttelt den Kopf.

»Schon mitgekriegt? Georg wurde fast von einem Automobil plattgemacht.«

Ella nickt.

»Die findet uns langweilig«, sagt August und gähnt.