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Als Barkeeperin in einer Gilde bin ich einiges gewohnt – exzentrische Magier, überhebliche Hexen, sogar der ein oder andere Dämon bringt mich nicht aus der Ruhe. Aber sobald es um Familie geht, bin ich raus. Und das gilt auch für fremde Familien. Warum ich also zugestimmt habe, mit Aaron über die Feiertage zu seinen Eltern zu fahren – den berühmten Leitern der Sinclair Academy –, ist mir ein Rätsel. Kaum angekommen, wird klar: Etwas stimmt hier ganz und gar nicht. Schüler der Akademie werden angegriffen, aber niemand hat die Täter je gesehen. Unerklärliche Spuren führen in den dunklen Wald, es kursieren Gerüchte über verbotene Alchemie – und Ezra benimmt sich merkwürdiger als sonst. Irgendetwas Böses regt sich im Schatten der Akademie. Und wenn wir nicht herausfinden, was es ist, wird dieses Weihnachten alles andere als fröhlich enden …
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2025
ANNETTE MARIE
ALCHEMIE UND EIN AMARETTO
GUILD CODEX: SPELLBOUND 5
Aus dem Englischen von Jeannette Bauroth
Über das Buch
Als Barkeeperin in einer Gilde bin ich einiges gewohnt – exzentrische Magier, überhebliche Hexen, sogar der ein oder andere Dämon bringt mich nicht aus der Ruhe. Aber sobald es um Familie geht, bin ich raus. Und das gilt auch für fremde Familien.
Warum ich also zugestimmt habe, mit Aaron über die Feiertage zu seinen Eltern zu fahren – den berühmten Leitern der Sinclair Academy – ist mir ein Rätsel.
Kaum angekommen, wird klar: Etwas stimmt hier ganz und gar nicht. Schüler der Akademie werden angegriffen, aber niemand hat die Täter je gesehen. Unerklärliche Spuren führen in den dunklen Wald, es kursieren Gerüchte über verbotene Alchemie – und Ezra benimmt sich merkwürdiger als sonst.
Irgendetwas Böses regt sich im Schatten der Akademie. Und wenn wir nicht herausfinden, was es ist, wird dieses Weihnachten alles andere als fröhlich enden …
Über die Autorin
Annette Marie schreibt leidenschaftlich gern Fantasy mit starken Heldinnen und hat eine Schwäche für spannende Abenteuer und verbotene Liebesgeschichten. Auch Drachen findet sie faszinierend und baut sie deshalb in (fast) jeden ihrer Romane ein.
Sie lebt in der eisigen Winterwüste (okay, ganz so schlimm ist es nicht) von Alberta in Kanada, zusammen mit ihrem Mann und ihrem pelzigen Diener der Dunkelheit – alias Kater – Caesar. In ihrer Freizeit steckt sie oft ellbogentief in einem Kunstprojekt und vergisst dabei gern mal die Zeit.
Die englische Ausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Alchemist and an Amaretto« bei Dark Owl Fantasy.
Deutsche Erstausgabe Oktober 2025
© der Originalausgabe 2019: Annette Marie
© für die deutschsprachige Ausgabe 2025:
Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,
Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg
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Umschlaggestaltung: Makita-Diandra Hirt
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lianasgreenroom und bunnyhop, beide www.freepik.com
Lektorat: Julia Funcke
Satz & Layout: Second Chances Verlag
ISBN E-Book: 978-3-98906-076-0
ISBN Klappenbroschur: 978-3-98906-075-3
Auch als Hörbuch erhältlich!
www.second-chances-verlag.de
Titel
Über die Autorin
Impressum
Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Magieklassen
Spiritalis
Psychica
Arcana
Dämonica
Elementaria
Mythiker
Eine Person mit magischen Fähigkeiten
MPD/Magipol
Die Regulationsbehörde für Mythiker und ihre Aktivitäten
Abtrünniger
Ein Mythiker, der sich nicht an die MPD-Gesetze hält
»Aufgepasst«, sagte Kai, die tiefe Stimme gedämpft durch den schwarzen Kopfschutz, der den unteren Teil seines Gesichts bedeckte. »Das wird knifflig.«
Ich nickte eifrig und drückte meine Waffe an die gepanzerte Weste. Wir kauerten hinter einer brüchigen Mauer, unser Versteck lag im Schatten eines Holzturms auf der anderen Seite. Jenseits der dürftigen Barriere aus bröckelndem Mauerwerk hallten Schreie und Hilferufe durch die verfallenen Gebäude.
Kai beugte sich so nah an mich heran, dass sein Visier meines berührte. »Die Feinde haben die bessere Position, aber sie sind eingekesselt und können sich nicht bewegen. Wir schon.«
»Ich bin getroffen!«, jaulte jemand links neben mir.
»Team Zwei ist ausgeschaltet«, stellte Kai mit einem prüfenden Blick in Richtung des Schreis fest. »Jetzt liegt es bei uns. Unsere Primärziele sind im zweiten Turm. Wie sollen wir vorgehen?«
Das fragte er mich? Ich schluckte und reckte den Kopf über die Mauer, um das Gelände zu sondieren. Der bewölkte Himmel warf ein diffuses Licht auf die Körper, die zwischen zerbrochenen Mauern und kleinen Gebäuden mit leeren Fensteröffnungen auf dem Boden lagen. Der zweite Turm ragte in fünfundzwanzig Meter Entfernung auf, umgeben von freiem Raum, bis auf einen rostigen Van, der beinahe unmittelbar darunter geparkt war.
Der Feind befand sich im Inneren des Turms – unter dem niedrigen Dach bewegten sich zwei Schatten in der Dunkelheit.
Ohne jede Deckung wäre es unmöglich, zum Turm zu schleichen und die Leiter hochzuklettern. Mit mehr Teammitgliedern hätten wir für Ablenkung sorgen können, doch es waren nur Kai und ich, und vielleicht machte mich das zu einem Feigling, aber ich blieb lieber dicht beim kompetentesten Mann auf dem Schlachtfeld.
Ich betrachtete noch einmal die Gebäude, dann duckte ich mich wieder. »Wenn wir das zweistöckige Haus südlich vom Turm erreichen könnten, wie stehen dann die Chancen, dass du es bis zum Van schaffst?«
Kai spähte über die Mauer. »Wenn du mir Deckung gibst, könnte es klappen, aber der Van ist vom Turm aus gut zu erkennen. Sie werden mich von oben erwischen.«
»Deshalb musst du ja auch in den Van.« Ich grinste hinter der Plastikabdeckung, die mein unteres Gesicht schützte. »Die Schiebetür ist offen, siehst du? Wenn ich dir Deckung gebe, kannst du in den Van steigen, über den Beifahrersitz klettern, und zack, bist du unten am Turm.«
»Hmm.« Er überprüfte seine Waffe, um sich zu vergewissern, dass sie einsatzbereit war. »In Ordnung, tun wir’s. Nach dir.«
Ich wusste, warum er entschieden hatte, dass ich die Führung übernehmen würde, aber trotzdem – wollte er das hier überhaupt lebend überstehen?!
Ich verzog das Gesicht, richtete meinen Helm, hob meine schwere schwarze Waffe an und stürmte los. Kai folgte mir dicht auf den Fersen, während ich mich von der schützenden Wand entfernte und geradewegs auf eine offene Tür zusteuerte.
Auf dem Turm brach feindliches Feuer aus. Leuchtend bunte Geschosse zischten an uns vorbei und explodierten auf dem festgestampften Erdboden. Ich sprang nach vorne, landete auf einer Schulter und rollte mich durch die Türöffnung, bevor ich auf der anderen Seite wieder auf die Füße kam.
Kai rollte sich nach mir herein, und gemeinsam durchquerten wir den Raum und sprangen durch den leeren Fensterrahmen am anderen Ende. Ich duckte mich hinter einen Stapel Fässer, als die feindlichen Geschosse in einem Sprühnebel aus pinkfarbener und grüner Flüssigkeit auf uns niederprasselten. Kai eröffnete seinerseits das Feuer auf den Turm. Ich sprintete zur nächsten Tür und schoss von dort aus, während Kai zu mir herüberrannte.
Wir befanden uns in dem zweistöckigen Gebäude. Jetzt mussten wir das Fenster nach Norden erreichen, damit Kai auch das letzte Stück des Wegs zurücklegen konnte. Wir schlichen durch leere Räume, deren Wände mit den bunten Spuren vergangener Kämpfe bedeckt waren. Der Boden des Geschosses über uns war durchgebrochen, und ich betrachtete nervös die dunkle Öffnung in der Decke, während Kai und ich uns auf das Nordfenster zubewegten.
Knirschende Schritte ertönten über uns.
Kai wirbelte herum, hob blitzschnell sein Gewehr und feuerte, bevor ich die dunkle Silhouette hinter dem klaffenden Loch in der Decke auch nur wahrgenommen hatte. Gelbe Flüssigkeit spritzte auf die Brust des Mannes, und er taumelte zurück gegen eine Wand und rutschte dann schlaff an ihr herunter. Seine Waffe landete klappernd auf dem Boden.
Weitere Schüsse fielen – und auf Kais Rücken explodierte Grün. Er warf sich nach vorne, ich riss meine Waffe hoch und kreischte ohne besonderen Grund, während ich in Richtung des zweiten Mannes abdrückte. Farbkugeln flogen ihm wild über den Kopf, als er von der gegenüberliegenden Seite der Öffnung absprang und mit einer Rolle neben mir landete. Er schwang ein Bein seitwärts, fegte meine Füße vom Boden, und ich stürzte.
Er fing mich auf, drehte mich auf den Bauch und drückte mich mit seinem Knie nach unten.
»Hab dich«, erklärte er.
Es klickte. Kai, der einen Meter entfernt auf der Seite lag, zielte mit einer schwarzen Pistole und drückte ab. Plopp, plopp, plopp.
Das Gewicht verschwand von meinem Rücken, und das Geräusch eines zusammenbrechenden Körpers folgte. Ich sprang auf und griff nach Kais Arm, der gefährlich wackelte.
»Kai!«, keuchte ich. »Kai, bleib bei mir!«
Er stöhnte, und die Pistole fiel ihm aus der Hand. Fluchend drehte ich mich zu meinem Angreifer um und zog ihm den Helm ab.
Ezra grinste benommen, die Brust voller gelber Spritzer.
»Ich wusste, dass du es bist«, beschwerte ich mich.
Er packte mich am Arm und blickte mich eindringlich an. »Tori … räche mich.«
»Wir sind in verschiedenen Teams, Ezra.«
Er grinste noch einmal, dann fielen ihm die Augenlider zu, und seine Hand rutschte von mir ab. Ich schluckte eine Welle der Beklemmung hinunter. Mythiker brachten Paintball auf eine ganz neue, extreme Ebene – und ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel. Es war geradezu beängstigend.
Ich nahm meine Waffe, schlich zum Fenster und hielt sie am Griff hinaus.
»Ich ergebe mich!«, rief ich und ließ sie draußen auf den Boden fallen.
Ein versteckter Feind pfiff laut. Ich verdrehte die Augen, duckte mich und griff nach Ezras Paintball-Gewehr, das voll geladen war. Oh ja, Baby. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand neben dem Fenster und wartete mit gespitzten Ohren und einem boshaften Lächeln auf den Lippen.
Als ich hörte, wie sich Schritte auf mein Fenster zubewegten, sprang ich aus der Deckung. Mit einem spitzen Banshee-Schrei schoss ich auf die vier feindlichen Mythiker, die auf mich zukamen.
Sie kreischten auf und schlugen um sich, völlig überrascht von meinem Angriff. Ich lachte wild und besprühte alle vier mit grüner Farbe, bevor sie auch nur ihre Waffen heben konnten.
Brennender Schmerz durchzuckte meinen Oberkörper, während sich pinke Flüssigkeit auf meiner Weste verteilte. Vom Turm her fielen weitere Schüsse – verdammte Scharfschützen –, und ich stolperte vom Fenster weg. Rasend schnell breitete sich Taubheit in meinen Gliedmaßen aus, ich sank auf meine Knieschoner.
»Gemeinsam«, lallte ich und brach neben der leblosen Gestalt meines Teamkameraden zusammen. »Gemeinsam in die süße Erlösung des Todes.«
Das Nächste, was in mein Bewusstsein drang, war eine kalte Flüssigkeit auf meiner Stirn.
Ich keuchte auf und bekam etwas schrecklich Bitteres in den Mund. Als ich die Augen aufschlug, entdeckte ich Sin, deren grinsendes Gesicht, umrahmt von langen türkisfarbenen Haaren, über meinem schwebte. Sie hielt ein Fläschchen über meine Stirn.
»Schöner Abschluss«, kommentierte sie.
»Danke«, erwiderte ich heiser. Mein Hals tat weh. Ich durfte nicht jedes Mal schreien, wenn ich meine Waffe abfeuerte.
Während Sin Kai den Helm abnahm und ihm das Gegenmittel ins Gesicht schüttete, stemmte ich mich hoch auf die Ellbogen. Ezra saß bereits aufrecht, den Kopfschutz neben sich, und zog sich die Handschuhe aus. Seine dunkelbraunen Locken waren zerzaust und feucht, seine Stirn mit Sins Trank benetzt.
»Du warst fantastisch«, lobte er und lächelte breit. »Hoffentlich sind wir beim nächsten Mal im selben Team.«
Ich wusste nicht, ob es an dem Lächeln, dem Kompliment oder der seidenweichen Stimme lag, aber mein Magen flatterte wie ein betrunkener Schmetterling. Verdammt noch mal.
»Wo ist Aaron?«, fragte Sin, während Kai wach wurde.
»Oben«, antwortete Ezra. »Kai hat ihn erwischt. Normalerweise bin ich derjenige, der Probleme mit dem Anschleichen hat.«
Kichernd machte sich Sin auf die Suche nach der Treppe.
»Tori.« Cearras Kopf und ihre Schultern erschienen im leeren Fensterrahmen. Ihr blonder Pferdeschwanz war mit grüner Farbe bespritzt. »Ich fasse es nicht, dass du das getan hast.«
»Was getan?«, wollte Ezra wissen.
Der Zauberlehrling funkelte mich böse an. »Sie hat sich lauthals ergeben und ihre Waffe nach draußen geworfen, doch als wir sie festsetzen wollten, hat sie auf uns geschossen.«
Ezra blinzelte – und brach in schallendes Gelächter aus. Mein Magen machte einen weiteren albernen Salto.
»Das ist nicht witzig«, ereiferte sich Cearra. »Es war hinterhältig und unehrlich und …«
»Und etwas, womit du hättest rechnen sollen.« Andrew, der Teamleiter Mitte fünfzig, blieb neben ihr stehen, umrahmt von der Fensteröffnung. Er schob sich seine Schutzbrille auf die Stirn. »Das ist genau die Art von Trick, die ein in die Enge getriebener Feind anwenden könnte.«
Ich versuchte, nicht allzu selbstgefällig zu wirken.
»Aber«, warf Kai ein, der sich gerade aufsetzte und die Schulter rieb, »in einem echten Kampf stirbst du lieber nicht bei einem ruhmreichen Angriff, Tori. Wir können dich nicht retten, wenn du tot bist.«
»Habe ich da gerade richtig gehört?« Aaron beugte sich über den Rand der Öffnung in der Decke und spähte mit seinen leuchtend blauen Augen zu uns herunter. Seine kupferfarbenen Haare waren zerzaust. Hinter ihm schloss Sin die Flasche mit dem Gegenmittel. »Wie viele hast du ausgeschaltet, Tori?«
»Vier«, antwortete ich und grinste Cearra noch selbstgefälliger an.
Aaron lachte, und die blonde Zauberin stürmte mit wehendem Pferdeschwanz davon.
Wir packten unsere Sachen ein und kehrten als große, plappernde Gruppe zum Startpunkt zurück. Teamkameraden fanden einander und beklagten ihre unglücklichen »Tode«, während Sin sie über die Wirkung des Zaubertranks ausfragte.
»Ich verstehe immer noch nicht, wie er uns durch unsere Ausrüstung hindurch außer Gefecht setzen kann«, sagte Liam, unser kleiner und wendiger Telekinetiker, und rieb sich die Schulter, als täte sie ihm weh. Was vermutlich auch so war. Ich erinnerte mich, dass ich diesen Schuss ziemlich zu Anfang unseres Spiels abgegeben hatte. »Schlaftränke brauchen doch Hautkontakt, oder nicht?«
»Es ist gar nicht der Paintball, der euch ausknockt«, erklärte Sin. »Es ist das, was ich euch alle habe trinken lassen, bevor wir angefangen haben. Das Einatmen der Paintball-Dämpfe aktiviert es.«
Eine Sicherheitsmaßnahme, nahm ich an. Damit kein zufälliger Passant von unseren Paintballs ausgeschaltet wurde.
»Beeilt euch!«, rief Andrew den siebzehn Mitgliedern des Crow and Hammer zu – zwei Achterteams plus Sin, die für die Tränke und Gegenmittel zuständig war –, als wir nach dem Ablegen unserer Ausrüstung auf den Parkplatz strömten. »Wir müssen zurück zur Gilde und uns sauber machen, bevor das monatliche Treffen beginnt.«
Sin und ich stiegen zusammen mit Aaron, Kai und Ezra in Aarons SUV. Ich überließ Sin den mittleren Platz und streckte schuldbewusst die Beine aus. Aarons alten Sportwagen mit der nahezu nicht existierenden Rückbank vermisste ich nicht, und das machte mir ein noch schlechteres Gewissen wegen seines vorzeitigen Ablebens. Aaron suchte immer noch halbherzig nach einem neuen Fahrzeug und hatte sich übergangsweise einen langweiligen SUV gemietet.
Die Fahrt ging schnell vorbei, während die Jungs sich über ihre Strategien, Erfolge und Misserfolge austauschten. Von meinem Platz neben Kai und Sin aus ließ ich meinen Blick auf Ezra ruhen, der sich auf seinem Sitz umgedreht hatte, um Aaron anzusehen. Die Narbe, die über seine Stirn, sein blasses linkes Auge und einen Teil seiner Wange verlief, hob sich deutlich von seiner Haut mit dem warmen Bronzeton ab.
»Nun, Tori«, fragte Kai, »was hast du bei deiner Strategie falsch gemacht?«
Ich ließ den Kopf zurück gegen die Lehne sinken. »Ähm. Das Gebäude, das wir benutzt haben, war als Wahl zu offensichtlich. Es lag dem Turm am nächsten, also haben unsere Feinde erwartet, dass wir dorthin gehen würden.«
»Und«, schloss Aaron triumphierend, »ihr seid direkt in unseren Hinterhalt gelaufen.«
»Wolltest du nicht gerade sagen, dass du direkt in Kais Paintball gelaufen bist?«, gab ich spitz zurück.
Kai und Ezra lachten. Eine Minute später fuhr Aaron auf den Parkplatz des Crow and Hammer. Andrews SUV und der riesige Monstervan der Gilde quetschten sich nach uns auf den winzigen Platz, und alle stiegen aus. Ich steuerte automatisch auf die Hintertür zu, die in die Küche führte, aber Andrew und Kai trieben unsere Gruppe zum Vordereingang. Wir marschierten über die Schwelle, und ich bemerkte kaum den ekligen Schwall von Angst, den der Zauber an der Tür, mit dem Menschen ferngehalten werden sollten, bei mir hervorrief.
Der Pub erwartete uns. Die Decke war mit dunklen Balken durchzogen, holzgetäfelte Wände umgaben die polierten Tische, die sich im Raum verteilten, und die Bar erstreckte sich an der hinteren Wand, sodass die Barkeeperin – also ich – ihre Gäste und die Tür gleichzeitig im Auge behalten konnte.
»Hey!«, rief ich, als zwei Männer gegen einen Tisch stießen, während sie lautstark über etwas diskutierten. »Cooper, Bryce! Passt auf!«
Cooper, unser fauler Wochenendkoch mit den fettigen Haaren, und Bryce, ein gut aussehender Telepath um die dreißig, warfen mir über die Schultern schuldbewusste Blicke zu, und alle rückten näher zusammen, damit sie nicht mehr gegen meine Tische stießen. Ja, so war es richtig. Fürchtet euch vor Toris Zorn.
Ramsey steckte den Kopf zwischen den Saloontüren zur Küche hindurch. Er grinste. Sein schwarzes Haar hing ihm ins Gesicht, und dunkler Eyeliner betonte seine Augen. »Wie lief’s?«
»Team Rot hat gewonnen!«, jubelte Cameron, und die Hälfte der Mythiker reckte jubelnd die Fäuste in die Höhe.
Während Aaron und Ezra ihren Sieg feierten, tauschten Kai und ich einen düsteren Blick.
»Wir haben eine tolle Demonstration einer neuen Technik bekommen«, verkündete Laetitia. »Sie heißt Tori-Finte.«
Ich drehte mich ruckartig um. »Was?«
Liam zwängte sich zwischen Aaron und Sin durch und legte mir einen schmalen Arm um die Schultern. »Nein, wir sollten sie die Tori-Bluff-und-Schuss-Technik nennen.«
»Wie wäre es denn mit Tori-Beschiss?«, schlug Cearra boshaft vor.
»Da ist wohl jemand eine schlechte Verliererin«, sagte ich und schüttelte Liams Arm ab.
Sie versteifte sich. »Mein Team hat gewonnen!«
»Aha.« Ich warf mir den Pferdeschwanz über die Schulter, zeigte Cameron und Darren den Finger, weil sie weitere Namen für meine patentierte Strategie der vorgetäuschten Kapitulation vorschlugen, und ging voran zur Treppe. Die lachende Gruppe folgte mir.
Wir verteilten uns auf die Männer- und Frauenduschen im Untergeschoss, und ich schloss mich Sin an, während wir darauf warteten, dass Gwen, Laetitia, Cearra und Alyssa ihre Diskussion um die beiden Duschkabinen beendeten. Gedankenverloren zog ich mir mein T-Shirt über den Kopf.
»Tori?«
»Ja?« Ich merkte, dass ich nur im BH dastand und das T-Shirt vor meinem Körper in die Höhe hielt. Schnell ließ ich es sinken. »Was ist?«
Sin runzelte die Stirn. »Geht’s dir gut? Keine Nachwirkungen vom Zaubertrank?«
»Ich bin nur müde. Die Gang nimmt dieses Spiel viel zu ernst.«
»Nun ja, es ist eher ein Training als ein Spiel«, erwiderte Sin. Sie schlüpfte aus ihrem eigenen feuchten Oberteil. Obwohl sie nicht herumgerannt und auch nicht auf sie geschossen worden war, hatte sie die gleiche warme Schutzkleidung getragen wie der Rest von uns. »Apropos Training, wie läuft es da?«
Ich schälte mich aus meiner Jeans. »Gut, denke ich. Aaron sagt, ich mache ausgezeichnete Fortschritte. Das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, wie sehr Kai und er mich fordern.«
Sin setzte sich auf die Bank vor den verkratzten grünen Spinden, um sich die Socken abzustreifen. Gwen und Laetitia kamen in Handtücher gewickelt aus den Duschkabinen, und Alyssa und Cearra nahmen ihre Plätze ein.
»Was ist mit Ezra?«, hakte Sin nach. »Hilft er bei deinem Training auch mit?«
»Nein.« Ich verzog den Mund. »Er hilft nicht. Er …«
Sie wartete einen Moment. »Er was?«
Er war nicht mal dabei. Nicht mehr. Was verdammt merkwürdig war, wenn man bedachte, dass er in dem Haus wohnte, in dem ich vier Tage die Woche jeweils zwei Stunden trainierte.
Ich hatte geglaubt, zwischen uns sei alles in Ordnung. Er wusste, ich warf es ihm nicht vor, dass er ein illegaler Dämonenmagier war. Es machte mir nichts – okay, fast nichts – aus, dass er einen echten, lebenden Dämon in sich trug, der gelegentlich versuchte, die Kontrolle zu übernehmen. Ezra war mein Freund, und das war alles, was zählte.
Da ich gelernt hatte, Dinge, die mich störten, nicht zu ignorieren, hatte ich Aaron und Kai gefragt, was los war. Ezra habe Schlafprobleme, hatten sie behauptet. Anscheinend waren seine Schlafprobleme so schlimm, dass er Trainingseinheiten verpasst hatte und zu merkwürdigen Zeiten einschlief – wie vor meinen zweimal wöchentlich stattfindenden Abendessen. Als ich wissen wollte, ob er deshalb bei einem Heiler gewesen sei, zögerten sie. Jeder Mythiker, der Ezra zu genau unter die Lupe nahm, war ein Risiko – was, wenn er dabei irgendwie den dämonischen Geist in seinem Inneren bemerkte?
Vor meinem Gesicht erschien eine winkende Hand. Ich richtete mich auf und blinzelte, bis die Umkleide und Sins besorgtes Gesicht wieder in mein Blickfeld gerieten.
»Tut mir leid«, platzte ich heraus und beeilte mich, das Thema zu wechseln. »Freust du dich auf Montag?«
Ihre Augen leuchteten auf. Themenwechsel erfolgreich.
»Ich kann es kaum erwarten!«, schwärmte sie. »Es wird so cool sein, eine Woche mit dir und den Jungs zu verbringen. Ich wollte die Sinclair Academy schon sehen, seit meine Schwester dort angefangen hat. Es war wirklich nett von Aaron, das für mich zu ermöglichen.«
Beim letzten Satz errötete sie leicht.
»Er ist ein ziemlich cooler Typ«, sagte ich. »Wir werden eine Menge Spaß haben. Schade, dass du nicht die ganzen zwei Wochen bleiben kannst.«
»Meine Eltern fänden es nicht gut, wenn wir Weihnachten nicht mit ihnen feiern«, entgegnete sie. »Sie blasen seit September Trübsal, dabei ist es erst Lilys erstes Schuljahr. Wird das jetzt die nächsten fünf Jahre so weitergehen?«
Ich schnaubte. Mein Vater hätte seine Kinder nur allzu gern in einem Internat abgeladen.
»Außerdem«, fügte Sin hinzu, »möchte Aaron wahrscheinlich etwas Zeit mit seinen Eltern und seinen besten Freunden verbringen, ohne dass ich und meine Schwester dabei sind.«
Ich wand mich innerlich. Meine Weihnachtspläne bereiteten mir immer noch Kopfzerbrechen. Es war nicht so, dass mir die Aussicht auf zwei Wochen mit den Jungs in einer schicken Magier-Akademie nicht gefiel, aber es gab … Komplikationen.
»Stimmt was nicht?«, fragte Sin, die mich genau beobachtete.
Cearra und Alyssa kamen gerade aus den Duschkabinen, also lächelte ich Sin beruhigend an und griff nach meinem Handtuch. »Alles gut. Machen wir uns frisch.«
Unter der Dusche grübelte ich, was bedeutete, dass ich ziemlich lange brauchte. Als ich nach draußen trat, zog sich Sin bereits an. Ich drückte meine leuchtend roten Haare mit einem zweiten Handtuch aus. Sin ging nach oben, und ich blieb allein zurück und schlüpfte rasch in eine Jeans und einen königsblauen Pullover mit V-Ausschnitt.
Einige Jungs hingen um die Fitnessgeräte in der Mitte des großen Raums herum, dessen Wände mit Postern von Actionfilmen aus den Achtzigerjahren bedeckt waren. Da insgesamt mehr Männer duschen wollten, musste man dort vermutlich noch Schlange stehen.
Oben wurde ich von Stimmengewirr begrüßt. Neben unserer Paintball-Truppe waren noch weitere Mitglieder zum monatlichen Treffen in den Pub gekommen, sodass sich die Zahl der Anwesenden auf fast dreißig erhöht hatte. Mit frischer Energie marschierte ich hinter die Theke und schnappte mir meine Schürze. Ramsey stand an meinem üblichen Platz und füllte eine Reihe von Gläsern mit Eiswürfeln.
»Hey«, grüßte ich ihn und musterte die Ansammlung von Mythikern am anderen Ende der Bar. Sie standen um etwas herum, doch ich konnte nicht sehen, was es war. »Danke, dass du für mich übernommen hast.«
»Kein Problem«, erwiderte er grinsend. »Erzähl mir vom Tori-Lockmanöver.«
»Warum braucht es einen Namen?« Ich gab ihm einen kurzen Überblick über das Geschehene und beobachtete weiterhin die Gruppe, zu der auch Darren, Cameron, Cearra und Alyssa gehörten, die Gildetyrannen, die ich am wenigsten mochte. Keine Gemeinschaft war perfekt.
Ich deutete mit dem Kopf in ihre Richtung. »Was ist denn da drüben los?«
Ramsey schob mir zwei Gläser mit Eis zu. »Moscow Mules«, sagte er und goss Bourbon in einen Shaker. »Da drüben … Nun, das ist …«
In diesem Moment bewegte sich die Gruppe, eine Lücke tat sich auf, und ich erkannte, dass es kein Objekt war, worauf sich alle konzentrierten. Es war eine Person. Eine so zierliche Person, dass ich sie über die Köpfe und Schultern der anderen hinweg nicht gesehen hatte.
»Unsere scheue neue Kontraktorin«, beendete Ramsey seinen Satz. »Sie ist gerade gekommen.«
Meine aufkeimende gute Laune verflüchtigte sich sofort wieder. Ich nahm zwei Limettenspalten und drückte sie energisch über den Gläsern aus.
Unsere neue Dämonenkontraktorin, Robin Page, war der letzte Grund, aus dem ich Ezra kaum noch zu Gesicht bekam. Wegen ihr mied er die Gilde komplett. Das zumindest verstand ich: Ezra war ein illegaler Dämonenmagier, also ging er Kontraktoren vorsichtshalber aus dem Weg.
Sie hatte ihm seinen einzigen Zufluchtsort außerhalb des Hauses genommen, und obwohl sie das gar nicht wusste, war ich trotzdem sauer auf sie.
Ich griff an Ramsey vorbei nach einer Flasche Wodka. »In den fünf Wochen, seit sie bei uns ist, ist sie wie oft aufgetaucht, zweimal? Das zeigt echtes Engagement, oder?«
»Ich habe gehört, sie war krank«, erwiderte Ramsey achselzuckend. Er schob mir eine Dose Ingwerbier zu.
»Sehr wahrscheinlich«, murmelte ich düster, goss Wodka in die beiden Gläser und gab anschließend das Bier dazu.
Robin stand mit hängenden Schultern zwischen den Mythikern. Sie war kaum größer als eins fünfzig, mit schmalen Gesichtszügen und einer zierlichen Figur. Ihre dichten brünetten Haare reichten ihr bis auf die Schultern, und sie hatte die Hände in die langen Ärmel ihres schwarzen Pullovers gekrallt. Sie schien sich schmerzlich unwohl zu fühlen.
»Also?«, fragte Darren aggressiv, wobei seine Stimme die anderen Gespräche übertönte. »Welche Ausbildung hast du abgeschlossen? Wie lange bist du schon Kontraktorin?«
Robin schrumpfte in sich zusammen, und Gereiztheit durchzuckte mich. Darren mit diesem Mist durchkommen zu lassen, war ein großer Fehler.
»Du hast den ungebundenen Dämon getötet, nicht wahr?«, wollte Cearra wissen und wirkte so, als hätte sie das problemlos selbst erledigen können, wenn sie die Chance dazu gehabt hätte. Dabei hatte sie an der Jagd zu Halloween nicht mal teilgenommen. »Wie hast du das geschafft?«
Ich kannte die Antwort, aber nur Robin wusste, dass Aaron, Kai, Ezra und ich dabei gewesen waren, als sie und ihr Dämon die ungebundene Bestie erledigt hatten.
Robin murmelte etwas, so leise, dass ich es nicht verstehen konnte.
»Warum bist du überhaupt Kontraktorin?«, spottete Darren. Seine Arschigkeit wurde immer schlimmer, je länger man ihn gewähren ließ. »Was will ein kleines Mädchen wie du mit einem Dämon?«
»Wer hat die Moscow Mules bestellt?«, rief ich. »Kommt her und holt sie, bevor ich sie nach euch werfe.«
Gwen und Cameron eilten herbei. Darren ragte über Robin auf und wartete auf ihre Antwort, während sie auf den Boden starrte. Du liebe Zeit, was war mit diesem Mädchen los? Wie schwer konnte es sein, ein Gespräch zu führen?
Ich ließ meinen Blick über die Mythiker um sie herum schweifen und stellte fest, dass niemand lächelte. Keine Freundlichkeit in ihren Blicken oder ihren Fragen. Darren war am offensichtlichsten aggressiv, aber niemand strahlte Wärme oder etwas Willkommenheißendes aus.
Alles klar.
Bis vor Kurzem war ich die Neue gewesen, und die vergangenen sieben Monate hatten nicht gereicht, um die schlechten Erinnerungen an meine erste Woche hier abzuschwächen. Die Feindseligkeit war enorm gewesen. Für die meisten seiner Mitglieder war das Crow and Hammer ein Zufluchtsort, und wir mochten es nicht, wenn sich Fremde hereindrängten.
Ich betrachtete Robins gesenkten Kopf, stieß einen angewiderten Seufzer aus und rief laut: »Hey, Neuling! Hier rüber!«
Blaue Augen hinter einer dunkel gerahmten Brille schauten in meine Richtung, dann schlüpfte Robin so schnell um Darren herum, dass er verblüfft zurückblieb. Sie kam zur Bar herüber.
Ich deutete auf den Hocker vor meinem Arbeitsplatz, und sie kletterte gehorsam darauf – und war so klein, dass sie wie ein Kind auf einer Sitzerhöhung wirkte. Mit gesenktem Blick wartete sie eine Weile, bevor sie durch die dichten Wimpern zu mir aufsah.
Wir betrachteten einander. Sechs Wochen waren vergangen, seit ich Zeuge des unglaublichen Sieges von ihr und ihrem Dämon über den ungebundenen Dämon geworden war – und sie war Zeuge gewesen, als ich und die Jungs vom Tatort flohen. Wenn sie irgendjemandem erzählte, dass wir dort gewesen waren, würde das eine Menge unangenehmer Fragen aufwerfen. Möglicherweise gefährlicher Fragen.
Unter meiner Musterung sank sie in sich zusammen. Du liebe Zeit. Wie hatte ein so leicht einzuschüchterndes Mädchen Kontraktorin werden können?
Ich streckte die Hand aus. »Ich bin Tori.«
Sie ließ ihre kleine Hand in meine gleiten und schüttelte sie. »Robin.«
»Möchtest du etwas trinken?«
»Äh …«
»Hey!« Darren drängte sich heran, gefolgt von Alyssa und Cearra. »Wo ist dein Infernus? Bist du überhaupt Kontraktorin, oder tust du nur so …«
»Darren«, blaffte ich ihn an. »Halt die Klappe, bevor du mit deinem Geschwafel die ganze Bar kontaminierst.«
Er machte ein finsteres Gesicht. »Ich sage nur, was alle denken …«
»Niemand hat dich gefragt.« Ich beugte mich näher zu Robin, die große Augen machte, und flüsterte ihr zu: »Lass dich von ihm nicht herumschubsen.«
Die Unsicherheit in ihrer Miene verschwand, und sie wirkte nachdenklich. Dann richtete sie sich auf ihrem Hocker auf, wandte sich den anderen zu und ließ eine Hand in den Ausschnitt ihres Pullovers gleiten. Sie holte eine flache Metallscheibe mit eingravierten Runen hervor, die an einer silbernen Kette hing – ihr Infernus, der den Geist ihres Dämons beherbergte.
»Möchtest du meinen Dämon sehen?«, erkundigte sie sich bei Darren. »Jetzt gleich?«
Ich widerstand dem Drang, mir die Hände vors Gesicht zu schlagen. Höflich das zu tun, was Darren wollte, war nicht das, was ich gemeint hatte. Nicht mal annähernd.
Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust. »Ja, zeig mal.«
Sie fuhr mit dem Daumen an der Seite des Anhängers entlang. Karmesinrotes Licht schimmerte, dann brach das unheimliche Glühen aus dem Metall hervor. Energie ergoss sich auf den Boden neben ihrem Hocker und dehnte sich nach oben aus, wobei sie eine menschenähnliche Form annahm. Das Glühen verfestigte sich und erlosch.
Ein Dämon stand im Pub.
Ein Keuchen ging durch die Menge der Anwesenden. Ich rührte mich nicht und umklammerte eine Flasche Wermut, so fest, dass mir die Finger wehtaten. Im Vergleich zu den anderen Dämonen, die ich bisher erlebt – und bekämpft – hatte, wirkte dieser hier wie ein Welpe neben einem Wolf. Er war ungefähr einen Meter achtzig groß und der Inbegriff von »klein und gefährlich«, feste Muskeln an einem schlanken Körper. Er sah schnell aus, selbst im Ruhezustand – oder vielleicht dachte ich das auch nur, weil ich mit eigenen Augen verfolgt hatte, wie flink und wendig diese Kreatur war.
Im Park hatte ich nicht die beste Sicht auf ihn gehabt, doch nun studierte ich seine seltsame Kleidung – eine Mischung aus leichter Rüstung, Lederriemen und dunklem Stoff, die viel von seiner rötlich braunen Haut frei ließ. Aus seinen zerzausten schwarzen Haaren ragten kleine Hörner, und ein dünner Schwanz schlängelte sich hinter ihm.
Ich warf einen Blick in die glühenden karmesinroten Augen des Dämons und wandte den Blick ab. Schlechte Erinnerungen.
»Ist das dein Ernst?« Darrens spöttische Stimme durchbrach die angespannte Stille. Er trat näher an den Dämon heran, als wollte er allen zeigen, dass er, ein bloßer Mythiker-Mistkerl, größer und breiter war als das furchterregende Wesen aus der Hölle. »Das ist dein Dämon? In meinem ganzen Leben ist mir noch kein so kleines, erbärmliches Exemplar untergekommen.«
Ich hielt meine Miene unter Kontrolle. Außer mir hatte niemand diesen Dämon in Aktion gesehen. Sie wussten nicht, wie tödlich er war.
Cearra flüsterte Cameron laut zu: »Glaubst du, sie hat ihn billig gekriegt, weil er so ein Wicht ist?«
Robin verzog unglücklich den Mund, doch sie sagte nichts.
»Habt ihr nicht was vergessen, ihr Knalltüten?«, warf ich bissig ein. Warum hatte ich das Bedürfnis, dieses Mädchen zu verteidigen? »Robin und ihr Dämon haben an Halloween den Ungebundenen getötet. Offensichtlich sind sie nicht schwach.«
»Nicht schwach?«, spielte sich Darren auf und griff nach dem Dämon. »Dieses Ding könnte nicht mal …«
»Fass ihn nicht an«, unterbrach ihn Robin milde.
Darren zögerte, dann stieß er verächtlich die Handfläche gegen die gepanzerte Brust des Dämons – und geriet beinahe aus dem Gleichgewicht, als sein Gegenüber nicht zurückwich, sondern fest stehen blieb wie eine Mauer.
Robin rieb mit dem Daumen über den Infernus.
Die Hand des Dämons schoss vor. Er packte Darren an der Kehle, wirbelte den größeren Mann herum und knallte ihn mit dem Rücken auf die Theke. Ich sprang zur Seite, während er den Zauberer über die Bar beugte, die Wirbelsäule gekrümmt und mit hilflos strampelnden Beinen, was schon beim Zusehen weh tat.
Robin schob sich die Brille hoch, drehte sich auf ihrem Hocker um und lächelte hoffnungsvoll. »Könnte ich bitte ein Wasser haben, Tori?«
Ich blickte zu ihrem Dämon. Er rührte sich nicht, die karmesinroten Augen starrten vage in Darrens Richtung, während er den Mann mit einer Hand am Hals auf der Theke festhielt. Darren stotterte und zappelte, unfähig, sich zu befreien. Alle anderen standen unsicher herum.
Lachen stieg in mir auf, doch ich schluckte es hinunter. Oh Mann. Das Mädchen hatte mehr Mumm, als ich gedacht hatte. Sie zeigte Darren – und allen anderen –, dass sie sich nicht herumschubsen ließ.
Ich schnappte mir ein Glas und meinen Eiswürfelschöpfer. Darren keuchte und kratzte am Handgelenk des Dämons. Die Höllenkreatur bewegte sich nicht, stand still wie eine Statue – und riss plötzlich den Kopf hoch.
Der Blick aus den karmesinroten Augen glitt an mir vorbei und suchte etwas am anderen Ende der Bar.
Rote Kraft loderte über den Körper des Dämons. Seine Gestalt löste sich in Licht auf und strömte zurück in Robins Infernus, und schon war er wieder verschwunden. Robin schob den Anhänger zurück unter ihren Pullover und spähte aus dem Augenwinkel zu Darren, als der sich von der Theke hochrappelte, fortstolperte und sich dabei den Hals rieb.
Am anderen Ende der Bar standen Aaron, Kai und Ezra in überraschtem Schweigen. Ihre Haare waren noch feucht vom Duschen, und Aaron hielt einen Hoodie in der Hand. Sein weißes T-Shirt war zerknittert. Sie mussten gerade aus dem Untergeschoss aufgetaucht sein. Sie waren hereingekommen, und dann …
… hatte der Dämon sie angeschaut.
Angespannt wandte ich mich wieder Robin zu. Sie betrachtete die Bar um sich herum, wich meinem Blick aus und tat, als wäre nichts Merkwürdiges passiert. Aber ich wusste, was ich beobachtet hatte. Oder zumindest glaubte ich das.
Dämonen konnten ohne den Befehl ihres Kontraktors gar nichts tun. Warum hatte Robin ihren Dämon die Jungs anschauen lassen? Konnte sie durch die Augen des Dämons sehen? Und falls ja, was hatte sie entdeckt? Was auch immer geschehen war, es gefiel mir nicht.
Ich füllte das Glas mit Wasser und Eis und schob es vor sie hin. Früher hatte ich mich gefragt, ob Ezras Vorsicht gegenüber Kontraktoren nicht leicht paranoid war, aber jetzt war ich froh darüber. Er musste sich von Robin fernhalten.
Was leider auch bedeutete, dass er sich von seiner Gilde fernhalten musste.
Wie konnte mich meine Garderobe gerade jetzt im Stich lassen? Verzweifelt wühlte ich zwischen den Bügeln in meinem Kleiderschrank herum. Nein, nein, nein. Warum besaß ich kein Kleid, das gleichzeitig sexy und stilvoll war, formell, ohne spießig zu sein, heiß, aber nicht zu heiß, und am wichtigsten, das teuer aussah?
Ich ließ die Hände sinken. Nun, Letzteres war einfach zu beantworten. Ich besaß keine teuer aussehenden Kleider, weil ich zu pleite und zu geizig war, um ein teures Kleid zu kaufen.
Stöhnend setzte ich mich aufs Bett und fragte mich erneut, warum ich der Sache zugestimmt hatte. Moment, hatte ich überhaupt zugestimmt? An das Gespräch erinnerte ich mich, aber nicht daran, dass ich ausdrücklich zugesagt hatte.
»Noch mal«, hatte Kai während einer Trainingseinheit vor ein paar Wochen verlangt. »Nicht langsamer werden.«
»Ich kann nicht mehr«, keuchte ich. Meine Arme und Beine zitterten und waren so weich wie Marshmallows, kurz bevor sie in heißem Kakao versinken und zu zuckrigem Glibber werden. »Ich brauche eine Pause.«
»Weiter!«, bellte er und hielt die Blocking Pads zwischen uns.
Mit zusammengepressten Zähnen sprang ich vor und ließ die Abfolge von Schlägen daraufprasseln, die wir seit mindestens … Keine Ahnung, wie lange wir sie schon übten. Es waren so viele Wiederholungen gewesen, dass meine Arme noch im Schlaf zucken würden. Angriff, rechter Schlag, linker Haken, Seitenkick, Rückzug. Angriff, rechter Schlag, linker Haken, Seitenkick, Rückzug. Wieder und wieder.
»Gut«, sagte Kai schließlich. »Verschnaufpause.«
Ich stolperte nach hinten und stützte die Hände auf meine brennenden Oberschenkel. »Du bist ein Sadist. Ich bin so froh, dass ich über Weihnachten eine Pause kriege.«
»Wer behauptet denn, dass wir über Weihnachten nicht trainieren?«, fragte Aaron, die Worte von keuchenden Atemzügen unterbrochen, weil er auf dem Laufband sprintete. Schweiß hatte den Rücken seines T-Shirts dunkel verfärbt. »Wir machen nie länger als nur ein paar Tage Trainingspause.«
»Ihr könnt mich nicht zwingen, allein zu trainieren«, informierte ich ihn mit störrischer Zufriedenheit. »Ich werde zwei Wochen lang pausenlos auf dem Sofa Weihnachtsplätzchen essen, solange ihr drei weg seid.«
Kai grinste auf eine Art, die ein warnendes Kribbeln in meinem Nacken verursachte.
»Nein, wirst du nicht.« Das Laufband piepte, als Aaron das Tempo zu einem leichten Joggen reduzierte. »Du kommst mit uns.«
Ich richtete mich aus meiner erschöpften Haltung auf. »Wohin komme ich mit?«
Er zog die Brauen hoch. »Zu meinen Eltern? Worüber wir schon seit November reden?«
»Ja, ich weiß.« Und jedes Mal, wenn sie es erwähnten, nagten Eifersucht und Einsamkeit an mir. »Allerdings verstehe ich nicht, was das mit meinem Weihnachten zu tun hat.«
»Ursprünglich nichts«, gab Aaron zu. »Aber nur, weil du uns den Eindruck vermittelt hast, dass du Weihnachten mit deinem Bruder verbringen willst.«
»Aber dann«, sagte Kai, »ist dir rausgerutscht, dass dein Bruder in den Niederlanden sein wird.«
Äh, das hatte ich erwähnt? Ups. »Ihr habt eure eigenen Feiertagstraditionen, und ich wollte nicht …«
»… unser Weihnachten ruinieren, indem du allein zu Hause bleibst?«, beendete Aaron meinen Satz und verdrehte die Augen. »Natürlich lassen wir dich nicht zurück.«
»Aber …«
»Wir haben dir schon ein Ticket für die Fähre gekauft«, fügte Kai hinzu.
In meinem Kopf drehte sich alles. »Aber …«
»Außerdem«, schloss Aaron, »wäre es ohne dich kein Familienweihnachten.«
An diesem Punkt hatten mir eventuell Tränen in den Augen gestanden.
Aber momentan war ich alles andere als emotional. Ich starrte in meinen unergiebigen Kleiderschrank und überlegte, ob ich ihre teuflischen Pläne, mich an Weihnachten nicht allein zu lassen, irgendwie durchkreuzen könnte. Nicht dass ich Weihnachten nicht gern mit ihnen feiern wollte, doch wir sprachen hier über Aarons Familie. Genauer gesagt, über seine Eltern.
Seine reichen, mächtigen, berühmten Eltern.
Sie leiteten die Sinclair Academy, die renommierteste Magierschule-Schrägstrich-Gilde an der Westküste. Hatte ich schon erwähnt, dass sie reich waren? Auf die »Aaron hat ein Haus gekauft, und in seinem Treuhandfonds hat das kaum Spuren hinterlassen«-Art reich. Wohingegen ich meine prägenden Jahre damit verbracht hatte, zu lernen, an der Armutsgrenze zu balancieren.
Grummelnd warf ich eine weitere Jeans neben meinem Koffer aufs Bett, dann nahm ich mein Handy und schrieb Sin eine Nachricht. Das verlangte nach einem Notfall-Einkaufstrip, ich brauchte ein Kleid. Welche noble Akademie veranstaltete denn eine formelle Party, um das abgeschlossene Semester zu feiern? Und warum musste ich daran teilnehmen?
»Neiiiiiin!«
Bei dem schrillen Heulen sprang ich so schnell auf, dass ich beinahe ins Taumeln geriet. Ich eilte zur Tür, riss sie auf, während ein Krachen durch meine Wohnung hallte, und schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Wohnzimmer, um zu sehen, wie eine zweite Lampe auf den Boden flog, sodass die Glühbirne zerbrach.
»Stopp!« Der Schrei kam von dem kleinen grünen Feenwesen, das auf der Rückenlehne meiner Couch stand und mit seinen übergroßen Händen fuchtelte. »Gib sie zurück!«
Oben an der Decke schwebte eine zweite Fee mit langem silbernen Schwanz. Ihre rosafarbenen Augen leuchteten, und ihre Fühler zuckten, während sie zuschaute, wie Twiggy die Fäuste schüttelte. In ihren kleinen Vorderpfoten hielt sie die Fernbedienung.
»Meine!«, knurrte Twiggy – und bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, schnappte er sich ein gerahmtes Foto vom Beistelltisch und warf es nach ihr.
Hoshi schwebte aus dem Weg. Der Rahmen schlug gegen die Decke, das Glas zersprang, dann fiel er und zerbrach beim Aufprall in zwei Teile. Zischend schoss die silberne Sylphe im Sinkflug auf Twiggy zu und fegte ihn mit einer schnellen Schwanzbewegung vom Sofa. Er knallte hin, rappelte sich wieder auf und stürzte sich mit einem hohen Schrei auf sie wie ein Wrestler.
Ich sprang nach vorne, pflückte ihn aus der Luft und rief wütend: »Hoshi!«
Schuldbewusst ließ die Sylphe ihre Beute los – während sie immer noch unter der Decke schwebte. Die Fernbedienung stürzte aus zweieinhalb Meter Höhe zu Boden. Plastiksplitter flogen in alle Richtungen.
»Nein«, heulte Twiggy und wand sich aus meinem Griff. Er hob zwei Teile auf und versuchte, sie wieder zusammenzupressen. »Sie ist kaputt! Meine Lieblingssendung läuft gerade. Wenn ich sie verpasse, werde ich nie herausfinden, ob Margarets Lymph-Oma im Entenstadion geheilt wird, bevor …«
»Beruhig dich, Twiggy.« Warum hatte ich die von Popkultur besessene Fee süchtig nach Nachmittagssoaps gemacht? Ich bedauerte diese Entscheidung zutiefst. »Und meinst du ein Lymphom? Ein Lymphom im Endstadium?«
»Lymph-Oma«, wiederholte er mit Bestimmtheit, dann verzog er wieder das Gesicht. »Sie könnte in dieser Folge sterben!«
Jap, Seifenopern musste ich unbedingt als Nächstes verbieten.
»Sie wird nicht sterben«, versicherte ich ihm. »Sie hat eine der Hauptrollen.«
»Aber sie könnte!« Schluchzend blickte er auf. »Das ist alles Hoshis Schuld!«
Er schleuderte die kaputte Fernbedienung nach ihr. Hoshi wich dem Geschoss aus, und es flog durch den Raum und prallte gegen die Wand, wo es einen hübschen Kratzer in der Farbe hinterließ. Die Sylphe wedelte mit dem Schwanz und zischte Twiggy an. Mit einem wütenden Schrei sprang Twiggy auf den Couchtisch.
Ich packte ihn um die Taille und klemmte ihn mir unter den Arm. Er krümmte sich protestierend und kratzte mich dabei mit seinen zweigartigen Haaren. Hoshi tauchte von der Decke nach unten und wirbelte um uns herum, zischte wieder und streckte Twiggy die kleine rosa Zunge raus.
Ich schnappte sie mir ebenfalls und klemmte sie mir unter den anderen Arm. »Ihr zwei seid schlimmer als Kleinkinder! Warum kann ich euch nicht ein Mal …«
»Äh, Tori?«
Keuchend wirbelte ich herum.
Am Fuß der Treppe, die zur Haustür führte, stand ein Mann, eine grün-goldene Geschenktüte in der Hand. Er blickte schockiert zwischen den beiden Feen hin und her.
»Oh«, machte ich atemlos. »Hi, Justin.«
Mein Bruder räusperte sich. »Die Tür war offen, daher bin ich …«
»Kein Problem«, versicherte ich ihm und zwang mich zu einem fröhlichen Ton. »Äh, ich glaube, du hast meine … Mitbewohner noch gar nicht kennengelernt.«
Hoshi schlug mit dem Schwanz, Twiggy schniefte laut und murmelte irgendwas von »Margaret« und »todgeweiht«. Ich wollte es gar nicht wissen.
Ich ließ Hoshi los, und sie wurde unsichtbar, zu schüchtern, um in Gegenwart von Fremden dazubleiben. Twiggy trug ich hinüber zum Fernseher, wo ich nach der versteckten Tastenreihe auf der Rückseite des Geräts griff. Sobald ich den Einschaltknopf gedrückt hatte, erschien Margarets verzweifeltes Gesicht in all seiner Weichzeichner-Seifenoper-Pracht auf dem Bildschirm.
