Algebra für Frettchen - Ferdinand Steiner - E-Book

Algebra für Frettchen E-Book

Ferdinand Steiner

0,0

Beschreibung

Ehe wir den Gesamtplan der Schöpfung verstehen, lernt ein Frettchen Algebra! Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise zwischen den Weltkriegen erhält ein junger Mann in schwierigen Lebensumständen Führung durch einen alten Weisen, der sich den Denkweisen des Schamanismus verbunden fühlt. In einem raschen Wachstumsprozess lernt der Junge die Maßstäbe der bäuerlichen Kultur ebenso zu verstehen wie die oft konflikthaften Verhaltensweisen seiner Frau aus dem Bauernstand. Die meisten der bis dahin gültigen Werte werden dabei auf ihre Sinnhaftigkeit hinterfragt und ein neues Modell von Antworten zu den ewigen Fragen von Religion und Spiritualität wird entwickelt. Der Humor kommt nicht zu kurz, wenn die konventionellen Pfade der menschlichen Einfalt durchleuchtet werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 325

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Lauter Fremde?

Perspektivenwahl

Reflexionen

Konvergent - Divergent

Doppelbruch

Das Vermächtnis des Schamanen

1. Lauter Fremde?

Ein seltsames Geräusch ließ den jungen Mann aufhorchen. Es klang ein bisschen sirrend und schabend, daneben aber auch wie ein Schnaufen. Er spähte aufmerksam zwischen die ersten Bäume am Waldrand, konnte aber in der beginnenden Dämmerung keine wirkliche Kontur ausmachen. Es war nicht echte Neugier, es war nicht einmal wirklich Absicht, dass er über den Straßengraben in den Wald sprang. Rasch hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und eben so rasch erkannte er den verzweifelten Kampf eines jungen Rehbocks gegen die Tücken eines Zaunes, wie man ihn einst an manchen Stellen des Waldes fand.

Als er sich näherte, verstärkte das Tier seine Anstrengungen, um dem Menschen zu entkommen. Und der hörte wieder das Schnaufen, das ihn letztlich bewogen hatte, die Straße zu verlassen. Aus einem unerfindlichen Grund hatte sich der Bock mit seinem Gehörn im oberen Strang des Stacheldrahtes verfangen, dem er mit aller Macht zu entkommen suchte. Doch der Draht lief zwischen den beiden Krickeln durch und hatte dem Tier bereits blutige Spuren über den Kopf gezogen. Je mehr er stieß und zog, umso schmerzhafter wurden seine Wunden. Offenbar war er auch dem unteren Strang des Drahtes schon zu nahe gekommen, denn ein blutiges Rinnsal lief über seine Nüstern.

Als der Junge nahe genug war, schlug der Bock mit seinen Hinterläufen aus, um ihn zu vertreiben. Und der gab seinerseits ganz schnell den Versuch auf, ihn an den Krickeln festzuhalten, damit er ihn befreien könnte. Er erinnerte sich, schon einmal gehört zu haben, dass auch ein sehr starker Mann einen Rehbock nicht fixieren konnte. Ratlos blickte er sich um. Er brauchte eine Zange, um den Zaun zu durchschneiden, anders konnte er das arme Tier nicht befreien. Doch er hatte keine Zange und wusste nicht, woher er in der Schnelligkeit eine nehmen sollte. Er konnte doch nicht warten, bis das scheue Wesen vor Erschöpfung keinen Widerstand mehr leisten würde. Und dann fiel ihm ein, dass es da ganz in der Nähe ein Haus gab, in dem er zwar noch nie war und dessen Besitzer er praktisch nicht kannte, doch der würde sicher ein solches Werkzeug besitzen, das bei keinem Haus fehlte.

Er setzte sich in Bewegung und kaum um die nächste Straßenbiegung kam ihm ein Mann entgegen und hielt ihm eine Zange hin. Der Junge nahm sie und rannte zurück zu seinem Rehbock. Mit der Hüfte drängte er das verängstigte Tier seitlich an den Zaun, gerade so viel, dass es noch nicht streifte. Der Draht durfte sich nicht um das Gehörn schlingen und er tat es auch nicht. Ein geschickter Griff, ein harter Druck und die Zange schnitt scharf. Wie von der Sehne geschossen flog der Bock davon. „Danke hättest schon sagen können!“ rief der Junge lachend hinterher.

Das Tier blieb stehen, schon im großen Abstand, wandte sich um und sah ihn an. Dem blieb der Mund offen, doch dann setzte der Bock seine Flucht fort. Kopfschüttelnd drehte sich der Junge um und stand Auge in Auge mit dem Fremden, der ihm die Zange gegeben hatte. Er reichte das Werkzeug mit einem leisen Dank zurück und trat den Heimweg an. Er hatte ein eigentümliches Gefühl an den Fingern und dann bemerkte er erst das Blut. Rotes Blut vom Rotwild, dachte er und dass ihn kein Jäger hören hätte dürfen mit dieser schrecklichen Laiensprache. Er wischte sich die Hände im Gras ab und setzte seinen Weg mit gehobenen Gefühlen fort.

Es gibt Menschen, für die ist alles Zufall, und es gibt Menschen, die keinen Zufall gelten lassen wollen. Die letzteren sind für gewöhnlich gläubige Menschen, auch wenn sie vielleicht nicht exklusiv an Jesus oder Allah glauben. Wenn erstere etwas anschauen, dann glauben sie an die Existenz von Atomen und Molekülen und an die Kräfte, die sie zusammen halten. Die anderen glauben an höhere Mächte. In einem Punkt sind beide gleich. Jungverliebt schauen sie in den gleichen Nachthimmel und der ist einfach nur schön.

Tags darauf war der junge Mensch wieder unterwegs zu seiner Arbeitsstelle. Er war einer von jenen, die sich noch nicht festgelegt hatten auf Zufall oder Fügung. Er war ein fröhliches Menschenkind mit wenig Besitz und daher auch wenig Sorgen. Aber er hatte eine hübsche junge Frau und seine Gedanken an den Vorabend waren mit ein Grund für den vergnügten Schritt, den er heute wie jeden Tag auf diesem Weg vorlegte. Er sah seine Füße sich rechts und links vorwärts bewegen und dann waren seine Augen schneller und eilten den Weg voraus, der in den kleinen Wald hineinführte. Der war nicht groß, ein Waldschopf wie die Leute sagten. Seine Augen kehrten zu den Schuhspitzen zurück. Links – rechts – links – rechts. Der Takt der Schritte hatte etwas Magisches. Er war in der Alpha-Welle, hätte man Jahrzehnte später über seinen Zustand gesagt. Er war in Trance, von seinen eigenen Schritten hypnotisiert.

Wie nach einem Kurzschlaf erwachend stellte er überrascht fest, dass er schon fast durch die kleine Lichtung durch war, die im Volk nur der Anger hieß. Da drüben stand das kleine Haus des Angerfranz, den er nur vom Hörensagen kannte und der wegen seines Äußeren und seines schrulligen Wesens bei den Leuten nicht sonderlich geachtet war. In Wahrheit war er mehr gefürchtet als respektiert, weil er offenbar über eine messerscharfe Beobachtungsgabe verfügte. Seine trockenen Bemerkungen hatten im Dorf schon seit Jahren so manchen Wutausbruch zur Folge gehabt.

Noch nie hatte er den Angerfranz bei seinem Haus gesehen, doch heute war er heraußen. Er stand neben der Tür und blickte ohne jede Regung zu ihm herüber. Es war der Mann von gestern Abend. Verwirrt nahm er eine Veränderung an der ganzen Szene wahr, als läge ein unsichtbares Feld über dem Haus, so wie wenn im Sommer die Luft in der Hitze wabert. Und doch auch wiederum nicht, es war anders, es musste mehr Helligkeit im Spiel sein. Als er den Blick wieder auf den Alten lenkte, hatte ihm dieser den Rücken gedreht. Er stolperte, musste die Augen wieder auf die Straße richten. Jetzt war der Alte weg. Erstaunt lugte er nochmals auf das fremde Anwesen, doch alles war jetzt wie es immer war. Kein alter Mann, kein Lichtschimmer, kein Energiefeld.

„Aber!“ sagte er unwirsch zu sich selbst „Du wirst dich doch nicht von diesem Männchen verunsichern lassen!“ Trotzdem, seine Gedanken kamen nicht von dem alten Waldschrat los. Wovon mochte der eigentlich leben? Die Leute sagten, er hole sich alles, was er zum Leben brauche, aus dem Wald. Dabei schaute er nicht aus wie ein Pflanzenfresser. Er war zwar nicht groß, aber dafür breit und untersetzt. Absolut nicht unterernährt. Jetzt kam ihm fast vor, dass er neugierig war auf den alten Mann. Wer weiß, vielleicht würde sich ja eine Gelegenheit ergeben.

Sein Weg war nicht weit, nicht einmal eine Stunde ging er jeden Morgen von zu Hause bis nach Engelbach zu seiner Tischlerei. Es schien ihm bemerkenswert, dass er immer die Sonne im Gesicht hatte, wenn er morgens und abends diesen Weg entlang ging. Zumindest jetzt im Spätsommer. Er war heute durchaus zeitgerecht, aber alle waren schon da. Der Meister, ein großer, hagerer Mann, holte ihn gleich zu sich heran: „Du weißt, es gibt bei uns keine Bevorzugung, aber für den Schrank nach Weißenbach brauch ich dich. Die wollen einen doppelten Schwalbenschwanz, da bist du am schnellsten.“ Er deutete auf die bereit liegenden Seitenteile und ging zu seiner Arbeit. Ein wortkarger Mann, der Meister. Wenn er einmal viel redete, dann kamen Sätze wie etwa der: ein Mann muss wissen was er zu tun hat – und er muss es auch tun! Der zweite Teil fiel mit Betonung. Und wenn der Lehrling wieder einmal zu viel redete, kam auch ein Satz: ein Mann sollte reden, wenn er etwas zu sagen hat! Guten Morgen und Gute Nacht ist immer berechtigt! Ja, er war ein wortkarger Mann, doch in seinem Fach war er ungeschlagen. Wenn er eine Platte furnierte, hätte sein ärgster Feind keinen Fehler gefunden.

Als Bert die Feinsäge ansetzte, sah er unwillkürlich seine Schuhspitzen. Wie ein Wild, das einen ungewohnten Laut vernimmt, verhoffte er kurz, schüttelte dann den Kopf im inneren Zwiegespräch und sägte weiter an seiner Verzinkung. Was hatte er mit dem Angerfranz zu tun? Wieso ging ihm der vierschrötige Kerl nicht aus dem Sinn? Er kam sich vor wie in jener Zeit, als seine Mutter ihn noch humorvoll ermahnte: „Schau nicht ins Narrenkastel!“ Wenn ein moderner Mensch glaubt, damit sei vielleicht der Fernseher gemeint gewesen, dann irrt er. Der war zu dieser Zeit noch gar nicht erfunden. Eigentlich wusste keiner so ganz genau, was mit dem Narrenkastel gemeint war. Es kam auf den Unterton an wie so oft im Leben. Kinder ordnen oft ihr Unbewusstes, indem sie für einige Augenblicke völlig abwesend sind. In guten Familien sagte man da gutmütig: schau nicht ins Narrenkastel! Mit scharfem Unterton konnte der Satz jedoch auch die Bedeutung haben: du Träumer, beweg endlich deinen Arsch! Auf Bauernhöfen hörte man diese Art Aufforderung deutlich öfter. Auf Bauernhöfen war der freundliche Unterton grundsätzlich nicht so üblich.

Er hatte bei diesem Meister schon gelernt und er mochte ihn sehr, obwohl er oft muffig erschien. Er wusste, sein Meister war nicht muffig, er redete bloß nicht sehr viel. Da meinte er dann bei sich, das sei ohnehin gescheiter. Und außerdem kannte man sich aus bei ihm. Das was er sagte, das meinte er auch. Flink und präzise glitt die Säge durch das Holz und als er einen neuen Schnitt ansetzte, fiel sein Blick erneut auf seine Schuhspitzen. Warum kamen seine Gedanken heute immer wieder zu dem alten Waldläufer zurück? Jetzt sägte er auch wie in Trance, so wie er gelaufen war in Trance, in der Nähe des alten Mannes. Er hätte nicht sagen können, dass es ihm schlecht ging dabei, seine veränderten Sinne waren aber nicht in der Lage zu begreifen, ob der Alte etwas mit ihm getan hatte. Aber was hätte der ….? Es war wie ein inneres Kopfschütteln, oder hatte er wirklich den Kopf geschüttelt?

In der Mittagspause, während sie ihre Jause verzehrten, sagte der Meister so nebenbei: „In Amerika soll es eine Wirtschaftskrise geben. Da sind so viele arbeitslos.“ Darauf meinte Walter, der zweite Geselle: „Gut dass Amerika so weit weg ist!“ Der Lehrbub verstand nichts und sagte: „Kann uns egal sein!“

Etwas war anders auf dem Heimweg. So oft war er ihn schon gegangen und eigentlich immer gerne. Aber heute war etwas anders. Er schaute auf seine Fußspitzen und nichts geschah. Heute Morgen war das so besonders wie noch nie. Seine Schuhspitzen, vielleicht waren es gar nicht die. Es war das Gehen, ja das Gehen selber hatte ihn in diese Stimmung versetzt. Er legte alle Aufmerksamkeit auf das Gehen, ganz rhythmisch wie er es beim Militär gelernt hatte. Nach nicht einmal hundert Metern war er wieder in dieser Welle. Gehen, gehen … „Komm her!“ Er schrak auf aus seiner Konzentration auf das Gehen. Er war auf der Lichtung und der Angerfranz stand vor seinem Haus. „Du bist stark!“

Wie Nordlichter zog es vor sein Hirn. Was war jetzt passiert? Der Alte hatte ihn angerufen und behauptet, dass er stark wäre. Wie kam er bloß dazu? Was meinte der? Warum redete er überhaupt mit ihm? Was sollte er jetzt tun? Normal war er nicht so unsicher, aber was sollte er jetzt wirklich tun? „Komm her!“

Er bog ein in den schmalen Pfad, der zur Hütte des Alten führte. Da stand er und seine listigen Schweinsäuglein funkelten. „Heute in der Früh hättest du ja eine ganze Kompanie allein verjagt, so stark warst du!“

„Äh?“

„Ich schau dir schon eine ganze Weile zu, weil du jeden Tag zweimal bei mir vorbei gehst. Ich weiß wie es dir geht, ich sehe es daran wie du gehst. Du gehst wie es dir geht! Wie alt bist du?“

„Siebenundzwanzig.“ Was soll ich jetzt bloß sagen?

„Du brauchst nicht so nervös zu sein, du bist nicht irgendwer! Du weißt bloß noch nicht, wer du wirklich bist!“

„Und wer bin ich wirklich?“

„Da darauf zu kommen, ist die wahre Lebensaufgabe. Nicht wie viel Geld man hat. Du bist nervös, weil du nicht weißt wie du mich einschätzen sollst. Und du hast keine Ahnung, was ich von dir will, stimmt es?“

Als sein junger Gast zögernd zugestimmt hatte, lud er ihn ein, in seinem Garten Platz zu nehmen. Als Bewirtung gab es ein Glas Wasser. Dann fuhr er fort: „Du hast wohl schon gehört, dass ich eine Zunge habe wie ein Schlachtschwert. Das sagen aber nur die, denen ich gezeigt habe, dass ich nicht blind bin. Vielleicht weiß ich am meisten von allen Leuten hier im Dorf. Auch von dir. Aber mach dir keine Sorgen, du bist vielleicht ein bisschen naiv und wirst daher noch einige Püffe aushalten müssen, aber in dir sehe ich auch ein großes Potenzial für die Zukunft. Denk einmal drüber nach und wenn du mit mir reden willst, brauchst du nur herein zu kommen.“

Der Junge wusste nicht, wohin der Mann verschwunden war, als er wieder aufblickte. Er war nicht ins Haus gegangen und er war nicht aus dem Garten gegangen, er war einfach nur weg. Verwirrt stand er auf und machte sich auf den Heimweg. Jetzt hatte er etwas nachzudenken, vor allem beschäftigte ihn die Frage, welche besonderen Gaben der Angerfranz in ihm wohl erkannt haben mochte. Er war sich selber keiner besonderen Fähigkeiten bewusst. Gewiss, er war ein guter Tischler und auch sonst nicht ungeschickt in Hof und Haus. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass das nicht gemeint war und dass der Alte von ganz anderen Talenten geredet haben musste. Gut, mit ihm reden konnte man ja, das würde ja nicht gleich den Kopf kosten. Und wenn die Leute meinten, dass er ein komischer Kauz sei, dann stimmte aber schon auch, dass er sich nicht gescheut hatte, Dinge laut auszusprechen, die ohnehin jeder wusste. Also Feigling war er ganz gewiss keiner. Er würde sich eben einmal eine Stunde auf dem Nachhauseweg aussparen und sehen, was ein solches Gespräch bringen würde.

Jetzt kehrten seine Gedanken seit mehr als zwölf Stunden erstmals wieder zu seiner jungen Frau zurück. Schön war das gestern, dachte er, und ungewöhnlich. So war sie noch nie gewesen. Sie hatte sich auch noch nie auf den Bauch gedreht, als sie beisammen lagen. Irgendwie hatte es sich ergeben. War das der Grund für ihre lauten Ausbrüche? Und hinterher brauchte sie eine ganze Weile, bis sie ihre gewohnte Brummigkeit wieder fand und den läppischen Anlass für einen, na nicht gerade Streit, aber eben doch irgendetwas Ähnliches, in der Schärfe Abgemildertes. Landläufig ausgedrückt war sie ein kleines Hähnchen, das gerne auf den Fehlern anderer herumhackte. Das war sicher fast jedes Mal so, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Im harmlosesten Fall tat sie dann so, als wäre jetzt nichts Besonderes geschehen, während ihm vor Zärtlichkeit das Herz überging.

Wenn sie ihn dann wieder ganz freundlich anlachte mit ihren Grübchen in den Wangen, dann verzieh er ihr alles. Die Weiber sind halt so, hatte ihm ein Freund verraten, am besten kümmert man sich überhaupt nicht um diese Launen. Aber so einfach war das dann auch wieder nicht. Es war ihm nicht recht einsehbar, warum eine gute, entspannte Stimmung in der Beziehung nicht von Dauer sein sollte. Er war ja schließlich kein Unmensch. Im Gegensatz zu anderen Männern half er sogar ein bisschen bei der Hausarbeit. Zumindest das Geschirr abzutrocknen, dafür war er sich nicht zu gut.

Sie stand am Herd. „Anna!“ sagte er anstatt eines Grußes, trat auf sie zu und legte die Hand in ihre Taille. „Wenn du was zum Essen willst, dann halt mich jetzt nicht auf.“ Das war nun nicht gerade ein berauschender Empfang, auch wenn er sich auf die Pilze in der Pfanne freute. Sie war gewiss eine ausgezeichnete Köchin. Aber die unwirsche Abweisung seiner zärtlichen Gefühle verletzte ihn. Oder besser gesagt, bevor sie ihn verletzte überrumpelte sie ihn. Es war wie wenn dich jemand mit der flachen Hand unmissverständlich auf Abstand schiebt. Er suchte nach Worten, um die Gemeinsamkeit des Vorabends wieder her zu stellen, fand aber keine. Der nachfolgende Abend geriet ihm wieder einmal etwas linkisch.

Der Angerfranz grinste an diesem Morgen. „Heute verjagst keine Kompanie!“ Ärgerlich schaute er ihn an und sah dann verblüfft wieder diese Aura über ihm und dem Haus.

Links – rechts – links – rechts. Er ging. Rhythmisch, locker, leicht. Er schwebte in Trance und aller Ärger war vergessen. Als er in der Werkstätte anlangte, wunderte er sich, wo er mit seinem Kopf auf dem ganzen Weg gewesen sein mochte. Der Meister schaute ihn nur an und teilte ihm dann seine Arbeit zu. Die Schwalbenschwänze waren noch nicht fertig und würden es auch noch länger nicht sein.

„Ich habe wenig Aufträge“ sagte der Meister in der Mittagspause und bekam dazu keine Antwort. Da hatte ein jeder etwas nachzudenken, das verstand sogar der Lehrbub. Doch dem Bert schien es irgendwie nichts auszumachen, er war nicht bedrückt, er fühlte sich sogar optimistisch. Auf dem Nachhauseweg gelang es ihm schon ganz gut, nicht nur die Strecke zurück zu legen, sondern wirklich zu Gehen. Er war so intensiv im Gefühl seines Gehens, dass er ohne jede Wahrnehmung an der Behausung des Angerfranz vorüber gelaufen wäre, doch plötzlich stand er wie angewurzelt.

Der Alte war nicht zu sehen und Bert entschied sich, ihn heute aufzusuchen. Schließlich hatte er ihn ja eingeladen. Außerdem wollte er wissen, ob seine überraschend verbesserte Laune von heute morgen etwas mit dem komischen Kauz zu tun haben sollte. Die Tür stand offen und so trat er einfach über die Schwelle. Der Franz beugte sich über den Tisch und sortierte Pilze. Offenbar war sein heutiger Fund reichlich, denn der halbe Tisch war dick belegt mit einer großen Vielfalt an Schwämmen. Genauso offenbar war er auch kundig in der Auswahl der Pilze.

„Setz dich nieder!“ Er klaubte ungerührt weiter, war ganz sicher kein bisschen überrascht. Also ließ sich der Bert auf der Bank nieder, die an der Holzwand rund um den Tisch verlief. Die Bank, der Tisch, die Wand, alles war dunkel von den Jahren und die Beleuchtung durch die kleinen Fenster war auch nicht all zu gut. Aber das Haus schien gemütlich. Jetzt war es still, bis der Alte seine Tätigkeit einstellte. Er blinzelte ihn heute durch eine dickrandige Brille aus seinen kleinen Äuglein freundlich an.

„Du bist der Bert.“ stellte er nur gelassen fest. „Ich kenne dich vom Sehen und habe einmal nachgefragt, weil du mich interessiert hast.“ erklärte er ohne Umschweife. „Bist ein guter Tischler, habe ich gehört und ich werde dich vielleicht einmal brauchen. Aber jetzt interessiert mich vorerst, warum du manchen Morgen vorbeigehst, als könntest du Bäume schultern und an manchen Tagen ist dir dein Ranzen fast zu schwer. Wie kommt das?“

Bert war verblüfft. Das war er nicht gewohnt, dass ihn jemand in solch direkter Weise ansprach. Aber gut, dafür war er ja wohl auch bekannt, der Angerfranz. Trotzdem war ihm unbehaglich, mit der gleichen Direktheit zu antworten. Darum brummte er nur kurz: „Ist nicht jeder Tag gleich.“

Der Franz feixte: „Das hätte mir ein Depp auch gesagt, kannst es nicht besser?“

Für den Bert war jetzt klar, dass er nur zwei Möglichkeiten hatte: aufstehen und gehen oder reden. Mittlerweile war er neugierig genug, um sitzen zu bleiben. Er erwartete, dass der Alte noch einmal nachhaken würde. Doch was jetzt kam, war absolut unerwartet: „Glaubst du an Gott? Wärst du gerne Gott? Stell dir vor, du sitzt auf seinem Thron und die Cherubim und Seraphim stehen rund um dich und rufen ohne Ruh: heilig, heilig, heilig bist du! - Also wenn mir das passiert, dann bin ich mir nicht sicher, ob der dienstführende Erzengel nicht spätestens nach zwanzig Minuten eine fängt!“

Den Bert schüttelte es vor Lachen. Mit allem hatte gerechnet, nicht aber mit dem Bild eines geohrfeigten Engels, dem die Laute aus der Hand fällt. Das Eis war gebrochen. „Du brauchst nur einmal die ganzen Liedertexte in der Kirche durchzuschauen, da findest du noch viel mehr zum Lachen!“ Der Bert musste zugeben, dass er eigentlich immer nur gedankenlos mitgesungen hatte. Der Sonntag war ein traditionelles Pflichtereignis, das man als junger Mensch fast nur deshalb willig mitmachte, weil man da junge Menschen sah, na ja Menschen halt, mit denen man sich auch etwas anderes vorstellen konnte, als gemeinsam den Gottesdienst zu besuchen. Die Sonntagsmesse war eine Gelegenheit, sich harmlos kennen zu lernen, vielleicht auch schon einmal etwas zu vereinbaren. So war es ja auch mit Anna gewesen, die irgendwann einmal bereit war, sich zum sonntäglichen Frühschoppen einladen zu lassen. Von da an hatte er die Widerspenstige nicht mehr losgelassen.

Der Franz konnte Gedanken lesen: „Deine Anna ist vom Mühlbauer. Die wievielte ist sie denn? Da sind ja mehrere Kinder?“

„Vier sind sie und Anna ist die dritte.“

„Aha! – Aha, eine Neinsagerin ist sie also!“

„Ja aber so kann man das eigentlich auch nicht sagen, weil immer sagt sie ja nicht gleich nein und außerdem kann ein Mensch auch nein sagen, weil es sein gutes Recht ist und weil - weil“

Der Franz grinste schon ehe Bert ins Stocken geriet. „Die zweiten und dritten Kinder sind schon aus Prinzip gerne dagegen, egal wogegen. Das ist wegen der Demokratie. Weißt du, wir haben ja jetzt seit einigen Jahren eine Demokratie, seit sie den Kaiser abgesetzt haben. Aber das mit den Zweiten und Dritten war schon immer so, mit und ohne Kaiser!“ Was sollte man jetzt darauf wieder sagen? Er selber war ja das erste Kind, wenn auch nicht von Bauern. „Was ist also dann mit dem ersten Kind?“

„Du bist der Kronprinz deiner Eltern, deine zwei Geschwister sind aber dagegen wie gesagt. Macht nichts, kommst aus einem guten Stall!“ Der Alte hatte ihn am Haken. Es entstand eine Pause, als offenbar keiner von beiden die Unterhaltung weiterführen wollte. Bei Bert machte sich das Gefühl breit, dass er dem Alten nicht nur hoffnungslos unterlegen sondern auch fast ausgeliefert war. Gleichzeitig wollte er aber auch herausfinden, was dieser schrullige Sonderling über ihn zu wissen vorgab. Er kämpfte noch ein bisschen mit seiner fehlenden Courage, doch dann nahm er sich ein Herz.

„Machst du das eigentlich öfter, dass du fremde Leute mit versteckten Andeutungen in die Neugier treibst? Mir ist das noch nicht passiert, dass mich jemand so anredet wie du es getan hast.“ Nachdem er einmal den Mut gefunden hatte, kam nun auch noch ein Stück Kühnheit dazu: „Wer oder was gibt dir das Recht, einen jungen Menschen so herauszufordern? Glaubst du, dass du etwas Besseres oder Besonderes bist?“

Der Alte begann mehr und mehr zu schmunzeln, während der Junge seinem Temperament die Zügel hatte schießen lassen. „Beruhige dich, Bert! Ich mache das nicht oft, da kannst du sicher sein! Aber da schau her. Ist das etwas Besonderes? Das gibt es nur einmal auf der Welt!“ Er hatte ihm seine Hand hingestreckt mit den Fingerkuppen nach oben. Damit war der Wind wieder aus den Segeln, denn einen Fingerabdruck gab es tatsächlich immer nur einmal auf der Welt. Er schaute seine eigenen Fingerkuppen an und wusste in dem Moment, dass auch er etwas Besonderes war. Verwirrt hob er den Kopf.

„Wenn jeder von uns etwas Besonderes ist, ich meine jeder Mensch auf der Welt, dann ist aber wieder keiner von uns etwas Besonderes!“ Der Alte lächelte vergnügt und antwortete: „Ja mein Junge, so ist das! Wir sind alle zugleich etwas und nichts Besonderes. Wir haben alle die Chance, etwas Besonderes zu werden, aber von selber kommt es nicht. Aus Nichts wird Nichts! Wir müssen etwas dafür tun. Vor dem Erfolg kommt die Anstrengung. Stell dir vor, du bist ein Rohdiamant. Damit du wirklich etwas wert wirst, musst du geschliffen werden. Da werden die Funken fliegen und du wirst schreien. Viele Menschen vermeiden diesen Schmerz und damit vermeiden sie auch ihre Weiterentwicklung, also ihre Aufwertung.“

„Wer erleidet schon gerne Schmerzen? Ich jedenfalls bin nicht so veranlagt. Aber ich glaube ich kann verstehen, was du mir damit sagen möchtest. Schmerz gehört zum Leben und er ist damit unvermeidbar. Wer das versucht, verstößt irgendwie gegen seine eigene Lebendigkeit.“

„Siehst du Bert, das habe ich an dir gesehen, dass du in der Lage bist, eigene Gedanken zu haben, und zwar solche, die über das übliche Niveau hinausreichen. Ich meine damit, über das Niveau jener Leute, deren Interessen nicht über FSKM hinausreichen: Fressen, Saufen, Kindermachen!“ Bert war von dieser Offenheit nun wieder einigermaßen überrumpelt. Er war so überrumpelt, dass er es vorzog, sich rasch zu verabschieden und den Nachhausweg anzutreten.

2. Perspektivenwahl

Er begann seine Gedanken neu zu ordnen. Zeit hatte er ja genug auf seinem Weg zur und von der Arbeit. Mit dem Alten hatte er seit einigen Tagen nicht mehr gesprochen. Er wollte jetzt einmal mit sich alleine zurechtkommen. Er wollte wissen, was er selber dachte und er wollte das auch formulieren können, damit ihn der Franz nicht wieder überrumpeln konnte. Er hatte sich sogar ein altes Schulheft zurechtgelegt, damit er dort seine Gedanken festhalten konnte. Vor allem die Gedanken um den Schmerz beschäftigten ihn, weil das beim letzten Gespräch unversehens zum Zentralthema geworden war.

Er glaubte nicht unbedingt, dass er viele Schmerzen zu ertragen hätte, denn er war schon von einer recht robusten Gesundheit. Dabei fiel ihm ein, dass es ja nicht nur körperliche Schmerzen gab, wenn jemand krank war oder sich verletzt hatte. Es gab ja wohl auch andere Schmerzen, die man im Herzen fühlte. Er erinnerte sich plötzlich, dass ihm ein Schulfreund in frühen Tagen die Freundschaft aufgekündigt hatte, weil das ein anderer von ihm verlangt hatte als Bedingung, dass er sein Freund werden könnte. Noch einmal kam ihm das üble Gefühl hoch, mit dem auch er die Freundschaft beendet hatte: „Dann schleich dich!“ Es war kein schönes Gefühl, heute auch noch nicht, obwohl das schon viele Jahre her war.

Seelische Schmerzen, wurden die nicht immer von anderen Leuten verursacht? Waren die nicht schuld am Leid, das man ihm Herzen fühlte? Als seine Großmutter gestorben war, da war das auch sehr schmerzlich für ihn. Aber die Großmutter war sicher nicht schuld daran. War das etwa der liebe Gott, der die Großmutter zu sich genommen hat, wie der Herr Pfarrer beim Begräbnis sagte? Aber auf den lieben Gott konnte man schwer böse sein oder ihn beschuldigen. Menschen starben eben von Zeit zu Zeit. Er musste über seine eigenen Gedanken lachen. Aber der Sinn, den das Leid haben sollte, der war ihm noch nicht ganz aufgegangen. Ja, Leid gehörte zum Leben, aber warum eigentlich? Wofür war es gut? Das waren nun sicher Gedanken, die er mit irgendjemandem teilen wollte.

Diesen Abend regierte wieder das Hähnchen in der Stube. Er hätte hinterher nicht einmal sagen können, worum es ging, noch wer den Streit angefangen hatte. Er fühlte nur den Schmerz in der Seele, von ihr so schroff zurückgewiesen worden zu sein, wo er eigentlich mit offenen Händen auf sie zugegangen war. Es wollte ihm nicht in den Sinn, dass seine Frau bissig werden konnte, wenn man nichts als ein bisschen lieb zu ihr sein wollte. Er fühlte sich hingehalten. Die jeden Tag von neuem aufkommende Unsicherheit, ob sie nun am Abend zugänglich oder abweisend sein werde, verursachte ihm Schmerzen, seelisches Leid. So viel konnte er sich jetzt schon einmal eingestehen. Er hatte sie sogar schon zur Rede gestellt, nachdem er das kapiert hatte. Er hatte ihr ganz offen und ohne Vorwurf mitgeteilt, dass ihre Launen ihn sehr schmerzten. „Andere Leute haben auch Schmerzen!“ hatte sie ihm kalt geantwortet und das verstand er nun schon gar nicht mehr. „Meinst du damit dich?“ fragte er behutsam. „Na, andere halt!“ sagte sie ärgerlich und drehte sich auf die andere Seite. Jetzt ging gar nichts mehr.

Am nächsten Morgen klopfte er an der Tür des Angerfranz und fragte ihn, ob er am Abend eine halbe Stunde Zeit hätte. Im Gesicht des Alten zeigte sich keine Regung, weder Freude noch Abwehr. Ruhig und fest sagte er mit einem Kopfnicken: „Zur gewohnten Zeit.“ Und das war keine Frage. Unruhig war Bert eigentlich den ganzen Tag, die Arbeit lenkte nicht ab und das kommende Gespräch drängte sich immer wieder in seine Gedanken. Mit Mühe und Not vermochte er sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Er konnte den Feierabend kaum erwarten.

„Du hast gesagt, der Diamant muss geschliffen werden. Ich werde jetzt geschliffen – jetzt ist eigentlich nicht ganz richtig, ich werde schon länger geschliffen, habe es aber erst jetzt kapiert. Meine Frau gibt mir ganz schön zu denken. Mir kommt vor, sie sucht andauernd Streit, weil sie es nicht aushält, wenn wir in Frieden leben, als wäre ihr das langweilig. Sie lässt mich eine gewisse Geringschätzung fühlen, wenn ich nach einem Streit einzulenken versuche und manchmal deutet sie an, dass ich eigentlich kein ganzer Mann bin. Mir scheint, sie ist ziemlich unzufrieden in unserer Ehe. Wie ist das mit dir? Du bist wohl nicht verheiratet?“

„Ich war verheiratet und meine Frau ist mir in jungen Jahren weggelaufen. Ich will dich ja nicht verunsichern, aber die Gründe waren ähnlich wie bei dir. Heute verstehe ich, was da passiert ist.“

„Mache ich etwas falsch? Bin ich schuld an unseren Streitereien, ich bin mir eigentlich keiner Schuld bewusst.“

„Weißt du, vor zweihundert Jahren wurden im Theater am Ende immer die Teufel verprügelt, deshalb sagt man auch heute noch: die armen Teufel. In deinem Theater bist du nur der Zuschauer und trotzdem wirst du verprügelt. Schuld bist du aber in keiner Weise. Das mit der Schuld ist überhaupt so ein Thema. Menschen haben scheint es den Drang, für alles und jedes einen Schuldigen zu finden, damit sie ihn dann aufknüpfen können. In Wahrheit liegt die Bedeutung ganz wo anders, denn schuldig wirst du immer. Wenn du bei deiner Frau nicht nachfragst wie es ihr geht, dann ist sie unzufrieden, und wenn du nachfragst, dann passt es auch nicht. Also wie du es auch machst, es ist verkehrt. So kann man einen anderen in die Enge treiben. Und wetten, sie weiß es nicht einmal!“

„Zum Teufel, was hat sie denn davon, wenn sie mich in die Enge treibt? Es geht uns ja beiden nicht besser dabei und sie selber heult oft genug nach dem Streit. Was hat sie denn davon, wenn sie mich in die Enge treibt?“

„Bist du sicher, dass sie wegen dir heult?“

Es entstand eine lange Pause. Bert fühlte sich, als hätte er einen Tornado im Kopf. Die Logik ließ ihn im Stich. Wenn sie einen Streit anfing und dabei eine Niederlage bezog, dann war das noch nachzuvollziehen, wenn sie heulte. Aber einige Male hatte sie auch schon geheult, nachdem sie sich durchgesetzt hatte. War jetzt der Streit so zermürbend oder was ging da ab? Da sollte sich einer auskennen mit den Weibern! Und was sollte das jetzt bedeuten, dass sie gar nicht seinetwegen weinte? Ja warum dann, zum Kuckuck? Zorn und Enttäuschung rauften in ihm um die Vorherrschaft.

„Bist du jetzt selbst am Heulen?“ fragte ihn der Alte. Er merkte sehr genau, dass Bert sich hinten und vorne nicht mehr auskannte. „Du bist zu mir gekommen - sichtbar mit der Frage, was du tun kannst, um deine Beziehung zu verbessern. Dann musst du dir auch gefallen lassen, dass ich dir ein paar unangenehme Fragen stelle, allerdings nicht um dich zu verletzen, sondern um dir die Augen zu öffnen. Du bist ziemlich naiv unterwegs, Junge!“

„Ich verstehe zwar absolut nicht, warum ich ausgerechnet dich das frage, wo ich dich doch überhaupt nicht kenne, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es richtig ist. Also wo bin ich naiv und wo siehst du meine Blindheit?“

„Du weißt selbstverständlich, dass wir Männer die Herren der Schöpfung sind. Und deshalb hat uns das Weib untertan zu sein!“ Sein Gesicht zeigte einen klaren Widerspruch zu seinen martialischen Sprüchen. Es sollte bald klar werden, worüber er sich so sehr amüsierte. „Du weißt aus der Schule, was mit der Drohne passiert, nachdem sie die Bienenkönigin begattet hat. Und nicht anders ergeht es dem Männchen der Gottesanbeterin. Erst kommt der Sex und dann kommt der Tod!“ Das letzte Wort war ironischgruselig gedehnt. „Selbst ein riesiges Bärenmännchen muss fein auf der Hut sein, wenn es dem Nachwuchs seiner Braut vielleicht zu nahe kommen könnte. Alles was die Natur braucht von den Männern, sind ihre Gene und ihre Erbanlagen. Die Aufgaben sind klar zugeteilt, zumindest bei den Weibchen: Kinder kriegen, damit der Stamm nicht ausstirbt! Und bei den Männern? Samen spenden und dann die Flucht ergreifen, damit sie nicht aufgefressen werden.“

Frauen gefällt diese Zuordnung vielleicht nicht ganz so gut. Sie wollen immerhin auch einen Mann, der ihnen bei der Aufzucht ihrer Brut behilflich ist. Eindeutig aber haben sie die sichere Position, sobald man die Dinge biologisch betrachtet. Die Frauen haben eine innere Uhr eingebaut, die sie befähigt, nicht nur Kinder zu bekommen sondern sie auch aufzuziehen. Die Rolle der Männer ist da um vieles unsicherer. Und tief in ihrem kollektiven Unbewussten ist ihnen das voll bewusst. Nicht so wenige machen aus der Not eine Tugend. Es sind die Männer vom Typ „Don Juan“. Sie einfach als egoistische Lustmolche abzustempeln, mag manchen moralisierenden Frauen gefallen, diesen Männern hingegen gefällt ihr Tun ganz eindeutig!

Aus diesem biologischen Unterschied ergibt sich eines der häufigsten Missverständnisse zwischen Mann und Frau. Hatten die zwei ein gutes Gespräch und fanden sie ein gutes Einverständnis, dann bietet der Mann alsbald das Beste an, das er anzubieten hat: ich will mit dir schlafen. Sie hat daran aber wahrscheinlich noch lange nicht gedacht, sie war vielleicht mit dem Gespräch zufrieden. Und so sind jetzt beide unzufrieden: sie, weil er ein Unhold zu sein scheint, und er, weil sie seine scheinbar berechtigten Hoffnungen nicht erfüllt hat.

„Die Sicherheit über die eigene Aufgabe ist somit ganz klar auf Seiten der Frauen und damit die Unsicherheit nicht so weh tut, haben die Männer vor Jahrtausenden das Patriarchat erfunden, um sich der täglichen Todesangst nicht stellen zu müssen. In Träumen und Symbolen ist sie trotzdem da. Dem armen Samson in der Bibel ist zugestoßen, was alle Männer am meisten fürchten: im Augenblick der größten Schwäche, nämlich im Orgasmus, hat ihm die grausame Delilah sein Haupthaar abgeschnitten und ihn damit seiner übernatürlichen Kräfte beraubt. Irgend so ein Psychologe ist dann drauf gekommen, dass die Haare auch nur ein Symbol waren, und seither fürchten sich die Männer vor allem, was Zähne hat. Die Vagina dentata ist zum Fanal geworden. Wenn ihm das Weib im Augenblick seiner größten Schwäche im übertragenen Sinn die Eier abgebissen hat, dann wird er zum Pantoffelhelden. Das ist die Urangst des Mannes vor der weiblichen Sexualität, behaupten die Psychologen. Den Spruch aus dem Volksmund kennt man, der das Gleiche ausdrückt, in der umgekehrten Richtung allerdings. Hier sind nicht die Zähne von oben nach unten gerückt, sondern die Haare von unten nach oben und deshalb sagt man über eine giftige Frau, sie habe Haare auf den Zähnen!“

Weil er noch nicht ganz begriffen hatte, welch heißes Eisen der Alte hier ansprach, zeigte sich Bert vorerst einmal belustigt und grinste in sich hinein. Männer, die auf diese Weise ihre Selbstachtung verloren haben mochten, fielen ihm gleich mehrere ein. Das Bild eines Schoßes mit Zähnen war ja auch all zu drastisch. Aber das alles war außerhalb von ihm selber und er fühlte sich seltsam unberührt in seinen eigenen Gefühlen. Es fiel ihm gar nicht auf, dass sie ganz normal über ein Thema redeten, das in dieser Zeit sonst absolut nicht angesprochen wurde.

Der Franz setzte sich zurecht, blickte ihn eindrücklich an und sagte: „Jetzt zu deiner Frau. Was weißt du über sie, wer ist sie?“

Bert war total verblüfft, der Alte hatte ihn wieder zu sich selber geholt. Er wusste doch, wer seine Anna war. Er kannte sie seit Jungendtagen und sie war, seit er sich in sie verliebt hatte, eigentlich immer die Gleiche gewesen. Ja wie, stimmt natürlich, sie war immer die gleiche gewesen, aber wie war sie nun wirklich? Was wusste er über sie? Ihren Namen, die Schönheit ihres Gesichtes, ihre begehrenswerte Figur und noch ein bisschen mehr, das er erst kennen lernen durfte, nachdem sie ihn geheiratet hatte. Ja, und dann wusste er noch, dass sie die dritte Tochter des Mühlbauern war.

„Viel weiß ich wirklich nicht, da hast du Recht.“ sagte er kleinlaut. „Und was sie kann, das kenne ich auch nur aus dem Haushalt. Sie kann gut kochen und weniger gut Ordnung halten. Ich habe sie ja direkt vom Hof weg geheiratet.“

„Beim Ab-Hof-Verkauf musst du wenigstens keine Steuern zahlen.“ grinste der Alte spöttisch. Es klang nicht bösartig, im Gegenteil, Bert hatte das Gefühl, dass er dadurch nicht mehr so sehr auf der Anklagebank saß, weil er gar so wenig über seine Frau wusste. Und dann kam ihm ein wahrhaft absurder Gedanke: wusste seine Frau vielleicht mehr über ihn als er über sie? Ein erstes Licht ging auf in seinem Hirn. Sie kannten sich so lange und hatten noch nicht einmal wirklich miteinander geredet. Sie hatten nur geschaut, dass jeder seine Sache machte, aber über ihre Gefühle hatten sie sich noch niemals ausgetauscht. Man sagte zwar gelegentlich: ich habe das Gefühl, aber geredet wurde deshalb noch lange nicht über Gefühle. Doch sie waren wichtig.

„Bei Bauern herrschen andere Gesetze und andere Gesetze erzeugen andere Gemütszustände. Vielleicht hast du der Tatsache, dass deine Frau eine Bauerntochter ist, nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt.“

Bert stand eilig auf, sagte ein leises Danke und legte das erste Mal seine Hand in die Pranke des Alten. Der Wald war von einer glasklaren Durchsichtigkeit wie er das noch nie bemerkt hatte. Er ging wieder rechts-links-rechts-links, aber er bemerkte es gar nicht. In der gleichen Trance kam er zu Hause an und traf seine Frau in einem verstörten Zustand an. Die kleine Blase an Glückseligkeit, in der er nach Hause geschwebt war, zerplatzte. „Was ist los, was ist passiert?“

„Wir müssen ausziehen!“

„Warum müssen wir ausziehen?“ In seinem Hirn breitete sich Dumpfheit aus. Seit einem Jahr wohnten sie in Miete bei einem freundlichen Ehepaar in deren geräumigem Haus, er hatte immer die Miete bezahlt und nie gab es irgendwelche Misshelligkeiten. Im Gegenteil, sie durften sogar jederzeit die Räume der Gastgeber betreten. Er hatte es als Überbrückung betrachtet, bis er sich seinen Wunsch, ein kleines Häuschen, erfüllen würde können. Dass er jetzt dieses günstige kleine Quartier verlassen sollte, wollte ihm nicht in den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er von seiner Frau keine Antwort bekommen hatte. Mit dem Ausdruck Red-mich-nicht-an stand sie an der Abwasch und hantierte verloren mit Geschirr. Kurz entschlossen erhob er sich und begab sich zum Hauswirt. Erschrocken sah er den Groll im Gesicht des ehrbaren Mannes.

„Ich habe euch vertraut und jetzt das! Ihr müsst ausziehen und zwar sofort!“ Bert sah hilflos in die Augen des Wütenden und machte eine Geste mit beiden Händen, die seine Ahnungslosigkeit ausdrücken sollte. „Ich lasse mich nicht bestehlen und ich habe deine Frau dabei erwischt, als sie Geld aus meinem Schrank nehmen wollte.“

Benommen kehrte er in seine Wohnung zurück, er war jetzt mindestens so verstört wie seine Frau. Nach einer halben Stunde Qual hatte er endlich seine Frage herausgepresst, aber Antwort hatte er keine bekommen. Die Qual der Wortlosigkeit verlängerte sich über die halbe Nacht und als er am Morgen mit Brechreiz aus dem Bett