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'In der russischen Stadt Baku, auf der Grenze zwischen Orient und Okzident, verlieben sich am Vorabend der Russischen Revolution der temperamentvolle Muslim Ali und die schöne Christin Nino ineinander. Die Hochzeit rückt trotz aller Widerstände in greifbare Nähe - da wird Nino entführt ... Zum ersten Mal seit über 60 Jahren liegt jetzt die Originalfassung der tragischen Liebesgeschichte vor, die 'nichts von ihrem Charme und ihrer Brisanz verloren hat.' (Brigitte)
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2011
Das Buch
Die russische Stadt Baku, eine Welt zwischen Orient und Okzident, ist der Schauplatz dieser tragischen Liebesgeschichte: Am Vorabend der Russischen Revolution verlieben sich der temperamentvolle Muslim Ali und die schöne Christin Nino ineinander. Eine Verbindung scheint unmöglich, denn Religion und Sitte verbieten es. Mit Hilfe eines Vermittlers, der bei den Eltern vorspricht, rückt die von beiden so ersehnte Hochzeit in greifbare Nähe. Doch dann wird Nino entführt und Ali muß nach islamischem Gesetz den Nebenbuhler und seine Braut töten …
Ali und Nino erschien erstmals 1937. Lange war das Buch verschollen und tauchte erst in den 70er Jahren wieder auf – dennoch hat es bis heute nichts von seinem Zauber eingebüßt.
Der Autor
Kurban Said ist ein Pseudonym, hinter dem sich die 1894 geborene Publizistin Elfriede von Ehrenfels und vermutlich der Kaffeehausliterat Lev Nussimbaum (1905–1942) verbergen. Beide bewegten sich in der Wiener Boheme; der Jude Nussimbaum konvertierte zum Islam. Wer welchen Anteil an der Liebesgeschichte hatte, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben.
Kurban Said
Im Norden, Süden und Westen ist Europa von Meeren umgeben. Das Nördliche Polarmeer, das Mittelmeer und der Atlantische Ozean bilden die natürlichen Grenzen dieses Kontinents. Als die Nordspitze Europas betrachtet die Wissenschaft die Insel Wagera, die Südspitze bildet die Insel Kreta und die Westspitze die Inselgruppe Dunmore Head. Die Ostgrenze Europas zieht sich durch das Russische Kaiserreich den Ural entlang, durchschneidet das Kaspische Meer und läuft dann durch Transkaukasien. Hier hat die Wissenschaft ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Während manche Gelehrte das Gebiet südlich des kaukasischen Bergmassivs als zu Asien gehörig betrachten, glauben andere, insbesondere im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung Transkaukasiens, auch dieses Land als Teil von Europa ansehen zu müssen. Es hängt also gewissermaßen von Ihrem Verhalten ab, meine Kinder, ob unsere Stadt zum fortschrittlichen Europa oder zum rückständigen Asien gehören soll.«
Der Professor lächelte selbstgefällig. Den vierzig Kindern der dritten Klassen des kaiserlich russischen humanistischen Gymnasiums zu Baku, Transkaukasien, stockte der Atem vor den Abgründen des Wissens und der Last der Verantwortung.
Eine Weile schwiegen wir alle, wir dreißig Mohammedaner, vier Armenier, zwei Polen, drei Sektierer und ein Russe. Dann hob Mehmed Haidar in der letzten Bank die Hand und sagte:
»Herr Professor, bitte, wir wollen lieber in Asien bleiben.«
Schallendes Gelächter ertönte. Mehmed Haidar drückte schon zum zweiten Male die Bank der dritten Klasse. Er hatte alle Aussicht, auch das dritte Jahr in derselben Klasse zu verbringen, sofern Baku weiterhin zu Asien gehörte. Überdies gestattete ein ministerieller Erlaß den Eingeborenen des asiatischen Rußland, so lange in einer Klasse sitzenzubleiben, als es ihnen paßte.
Professor Sanin, in der goldbestickten Uniform eines russischen Gymnasiallehrers, runzelte die Stirn.
»So, Mehmed Haidar, du willst also Asiate bleiben? Tritt mal vor. Kannst du deine Ansicht begründen?«
Mehmed Haidar trat vor, wurde rot und schwieg. Sein Mund stand offen, seine Stirn war gerunzelt, seine Augen blickten blöd vor sich hin. Er schwieg. Und während vier Armenier, zwei Polen, drei Sektierer und ein Russe sich an seiner Blödheit freuten, hob ich die Hand und erklärte:
»Herr Professor, auch ich will lieber in Asien bleiben.«
»Ali Khan Schirwanschir! Auch du! Schön, tritt vor.«
Professor Sanin schob die Unterlippe vor und verfluchte innerlich sein Schicksal, das ihn an die Ufer des Kaspischen Meeres verbannt hatte. Dann räusperte er sich und sagte gewichtig:
»Kannst wenigstens du deine Ansicht vertreten?«
»Ja, ich fühle mich in Asien ganz wohl.«
»So, so. Na, warst du schon einmal in wirklich wilden asiatischen Ländern, zum Beispiel in Teheran?«
»Jawohl, vorigen Sommer.«
»Na also. Gibt es dort die großen Errungenschaften der europäischen Kultur, zum Beispiel Autos?«
»O ja, sogar sehr große. Für dreißig Personen und mehr. Sie fahren nicht durch die Stadt, sondern von Ort zu Ort.«
»Das sind Autobusse, und sie verkehren in Ermangelung der Eisenbahn. Das nennt man Rückstand. Setz dich, Schirwanschir!«
Die dreißig Asiaten frohlockten und warfen mir zustimmende Blicke zu.
Professor Sanin schwieg verdrossen. Es war seine Pflicht, seine Schüler zu guten Europäern zu erziehen.
»War jemand von euch zum Beispiel in Berlin?« fragte er plötzlich.
Er hatte seinen Unglückstag: Der Sektierer Maikow meldete sich und gestand, als ganz kleines Kind in Berlin gewesen zu sein. Er konnte sich noch sehr gut an eine dumpfige, unheimliche Untergrundbahn erinnern, an eine lärmende Eisenbahn und an ein Schinkenbrot, das ihm seine Mutter zurechtschnitt.
Wir dreißig Mohammedaner waren tief entrüstet. Seyd Mustafa bat sogar, austreten zu dürfen, da ihm bei dem Wort Schinken übel wurde. Damit war die Diskussion über die geographische Zugehörigkeit der Stadt Baku erledigt.
Es läutete. Professor Sanin verließ erleichtert die Klasse. Die vierzig Schüler eilten hinaus. Es war große Pause, und da hatte man drei Möglichkeiten: in den Hof zu rennen und die Schüler des benachbarten Realgymnasiums zu verprügeln, weil sie goldene Knöpfe und goldene Kokarden trugen, während wir uns mit silbernen begnügen mußten, laut miteinander tatarisch zu reden, damit es die Russen nicht verstünden und weil es verboten war, oder: über die Straße zu eilen, in das Mädchenlyzeum der hl. Königin Tamar. Ich entschloß mich für das letztere.
Im Lyzeum der hl. Tamar gingen die Mädchen in züchtigen, blauen Uniformkleidern mit weißer Schürze durch den Garten. Meine Kusine Aische winkte mir zu. Ich schlüpfte durch das Gartentor. Aische ging Hand in Hand mit Nino Kipiani, und Nino Kipiani war das schönste Mädchen der Welt. Als ich den beiden von meinen geographischen Kämpfen berichtet hatte, rümpfte das schönste Mädchen der Welt die schönste Nase der Welt und sagte:
»Ali Khan, du bist dumm. Gottlob sind wir in Europa. Wären wir in Asien, so wäre ich schon längst verschleiert, und du könntest mich nicht sehen.«
Ich gab mich geschlagen. Die geographische Fragwürdigkeit der Stadt Baku rettete mir den Anblick der schönsten Augen der Welt.
Ich ging weg und schwänzte betrübt den Rest der Schule. Ich wanderte durch die Gassen der Stadt, blickte auf die Kamele und das Meer, dachte an Europa, an Asien, an Ninos schöne Augen und ward traurig. Ein Bettler mit verfaultem Gesicht kam mir entgegen. Ich gab ihm Geld, und er wollte mir die Hand küssen. Erschrocken zog ich sie zurück. Dann lief ich zwei Stunden durch die Stadt und suchte den Bettler, damit er mir die Hand küssen könne. Denn ich glaubte, ihn beleidigt zu haben. Er war nicht zu finden, und ich hatte Gewissensbisse.
Das Ganze spielte sich vor fünf Jahren ab.
In diesen fünf Jahren war allerlei geschehen. Wir bekamen einen neuen Direktor, der uns mit Vorliebe am Kragen packte und rüttelte, denn das Ohrfeigen von Gymnasiasten war streng verboten. Der Religionslehrer erklärte uns sehr genau, wie gnädig Allah uns sei, daß er uns als Mohammedaner zur Welt kommen ließ. Zwei Armenier und ein Russe traten ein, und zwei Mohammedaner schieden aus; der eine, weil er mit seinen sechzehn Jahren geheiratet hatte, der andere, weil er in den Ferien von Blut rächern umgebracht wurde. Ich, Ali Khan Schirwanschir, war dreimal in Daghestan, zweimal in Tiflis, einmal in Kislowodsk, einmal beim Onkel in Persien und wäre einmal beinahe sitzengeblieben, weil ich das Gerundium nicht vom Gerundivum unterscheiden konnte. Mein Vater sprach sich darüber mit dem Mullah aus, und dieser erklärte, daß das ganze Latein eitler Wahn sei. Daraufhin legte mein Vater türkische, persische und russische Orden an, fuhr zum Direktor, spendete für die Schule irgendein physikalisches Instrument, und ich wurde versetzt. In der Schule hing neuerdings ein Plakat mit der Aufschrift, daß den Gymnasiasten das Betreten des Schulgebäudes mit geladenen Revolvern verboten sei, in der Stadt wurden Telephone eingeführt und zwei Kinos eröffnet, und Nino Kipiani war immer noch das schönste Mädchen der Welt.
Das alles sollte nun zu Ende gehen, nur noch eine Woche trennte mich von der Maturaprüfung, und ich saß zu Hause in meinem Zimmer und grübelte über die Sinnlosigkeit des lateinischen Sprachunterrichts an der Küste des Kaspischen Meeres.
Es war ein schönes Zimmer im zweiten Stock unseres Hauses. Dunkle Teppiche aus Buchara, Ispahan und Koschan bedeckten die Wände. Die Linien des Teppichmusters gaben Gärten und Seen, Wälder und Flüsse wieder, so wie sie sich in der Phantasie des Teppichwebers spiegelten – unerkennbar für den Laien, hinreißend schön für den Fachmann. Nomadenfrauen aus fernen Wüsten sammelten im wilden Dornengebüsch die Kräuter für diese Farben. Schmale längliche Finger preßten den Saft der Kräuter aus. Jahrhundertealt ist das Geheimnis der zarten Farben, und ein Jahrzehnt dauerte es oft, bis der Weber sein Kunstwerk vollendet hat. Dann hängt es an der Wand, voll geheimnisvoller Symbole, Andeutungen von Jagdszenen und Ritterkämpfen, mit einer gezierten Schrift am Rande, einem Vers von Firdausi oder einem Weisheitsspruch von Saadi. Durch die vielen Teppiche wirkt das Zimmer dunkel. Ein niedriger Diwan, zwei kleine mit Perlmutter belegte Hocker, viele weiche Kissen – und zwischen all dem, sehr störend und sehr sinnlos, Bücher des westlichen Wissens: Chemie, Latein, Physik, Trigonometrie – läppisches Zeug, von Barbaren erfunden, um ihre Barbarei zu verdecken.
Ich klappte die Bücher zu und verließ das Zimmer. Die schmale Glasveranda mit dem Blick auf den Hof führte zum flachen Dach des Hauses. Ich ging hinauf. Von dort überblickte ich meine Welt, die dicke Festungsmauer der alten Stadt und die Ruinen des Palastes mit der arabischen Aufschrift am Eingang. Durch das Gewirr der Straßen schritten die Kamele mit so zarten Fesseln, daß man sie zu streicheln versucht war. Vor mir erhob sich der plumpe, runde Mädchenturm, um den Legenden und Fremdenführer kreisten. Weiter, hinter dem Turm, begann das Meer – das völlig geschichtslose, bleierne und unergründliche Kaspische Meer, und im Rücken war die Wüste – zackige Felsen, Sand und Dorn, ruhig, stumm, unüberwindlich, die schönste Landschaft der Welt.
Ich saß still auf dem Dach. Was ging es mich an, daß es andere Städte, andere Dächer und andere Landschaften gab? Ich liebte das flache Meer und die flache Wüste und dazwischen diese alte Stadt, das zerfallene Palais und die lärmende Menschheit, die in die Stadt kam, Öl suchte, reich wurde und davonzog, weil sie die Wüste nicht liebte.
Der Diener brachte Tee. Ich trank und dachte an die Maturaprüfung. Sie machte mir keine großen Sorgen. Sicherlich würde ich durchkommen. Würde ich aber sitzenbleiben, so wäre es auch kein Malheur. Die Bauern auf unsern Gütern würden dann sagen, daß ich mich im gelehrten Eifer vom Hause des Wissens nicht trennen wolle. Es war auch in der Tat schade, die Schule zu verlassen. Die graue Uniform mit silbernen Knöpfen, Achselstücken und Kokarde war schön. In Zivil würde ich mir verkommen erscheinen. Ich würde aber nicht lange Zivil tragen. Nur einen Sommer lang und dann – ja, dann ging es nach Moskau ins Lazarewsche Institut für orientalische Sprachen. Ich habe es selber so beschlossen, dort werde ich vor den Russen einen schönen Vorsprung haben. Was sie mühselig erlernen müssen, kann ich von klein auf. Außerdem gibt es keine schönere Uniform als die des Lazarewschen Instituts: roter Rock, goldener Kragen, ein schmaler, vergoldeter Degen und Glacéhandschuhe auch an den Wochentagen. Uniform muß ein Mensch tragen, sonst achten einen die Russen nicht, und wenn mich die Russen nicht achten, nimmt mich Nino nicht zum Mann. Ich muß aber Nino heiraten, obwohl sie Christin ist. Georgische Frauen sind die schönsten auf Erden. Und wenn sie nicht will? Nun – dann hole ich mir ein paar wackere Männer, werfe Nino über den Sattel, und rasch hinaus über die persische Grenze nach Teheran. Dann wird sie schon wollen, was bliebe ihr sonst übrig?
Das Leben war schön und einfach, vom Dache unseres Hauses in Baku gesehen.
Kerim, der Diener, berührte meine Schulter.
»Es ist Zeit«, sagte er.
Ich erhob mich. Es war wirklich Zeit. Am Horizont, hinter der Insel Nargin, zeigte sich ein Dampfer. Wenn man bedrucktem Papier, vom christlichen Telegraphenbeamten ins Haus zugestellt, glauben kann, befand sich auf diesem Schiff mein Onkel mit drei Frauen und zwei Eunuchen. Ich sollte ihn abholen. Ich lief die Treppe hinab. Der Wagen fuhr vor. Rasch ging es zum lärmenden Hafen hinunter.
Mein Onkel war ein vornehmer Mann. Schah Nassr ed-Din verlieh ihm in seiner Gnade den Titel Assad ed Dawleh – »Löwe des Kaiserreiches«. Anders durfte man ihn gar nicht nennen. Er hatte drei Frauen, viele Diener, ein Palais in Teheran und große Güter in Mazendaran. Einer seiner Frauen wegen kam er nach Baku. Es war die kleine Zeinab. Sie war erst achtzehn Jahre, und der Onkel liebte sie mehr als seine anderen Frauen. Sie war krank, sie bekam keine Kinder, und gerade von ihr wollte der Onkel Kinder haben. Zu diesem Zweck war sie bereits nach Hamadam gereist. Dort steht mitten in der Wüste, aus rötlichem Stein gehauen, mit rätselhaftem Blick die Statue eines Löwen. Alte Könige mit verwitterten Namen haben sie errichtet. Seit Jahrhunderten pilgern Frauen zu diesem Löwen, küssen sein gewaltiges Glied und versprechen sich davon Muttersegen und Kinderfreuden. Der armen Zeinab hatte der Löwe nicht geholfen. Ebensowenig wie die Amulette der Derwische aus Kerbela, die Zaubersprüche der Weisen aus Mesched und die geheimen Künste der alten, in Liebe erfahrenen Weiber von Teheran. Nun fuhr sie nach Baku, um durch die Geschicklichkeit der westlichen Ärzte das zu erreichen, was der einheimischen Weisheit versagt blieb. Armer Onkel! Die zwei andern Frauen, ungeliebt und alt, mußte er mitnehmen. So verlangte es die Sitte: »Du kannst eine, zwei, drei oder vier Frauen haben, wenn du sie gleich behandelst.« Gleich behandeln heißt aber, allen dasselbe bieten, zum Beispiel eine Reise nach Baku.
Von Rechts wegen ging mich aber das Ganze nichts an. Frauen gehören in den Anderun, ins Innere des Hauses. Ein wohlerzogener Mensch spricht nicht über sie, fragt nicht nach ihnen und läßt ihnen keine Grüße bestellen. Sie sind die Schatten ihrer Männer, auch wenn die Männer sich oft nur im Schatten dieser Frauen wohl fühlen. So ist es gut und weise. »Eine Frau hat nicht mehr Verstand als ein Hühnerei Haare«, lautet bei uns ein Sprichwort. Geschöpfe ohne Verstand müssen bewacht werden, sonst bringen sie Unheil, sich selber und andern. Ich glaube, es ist eine weise Regel.
Der kleine Dampfer näherte sich dem Pier. Matrosen mit haariger, breiter Brust legten die Falltreppe an. Passagiere strömten herunter: Russen, Armenier, Juden, in hastiger Eile, als ob es auf jede Minute ankäme, die sie früher an Land gingen. Mein Onkel zeigte sich nicht. »Die Geschwindigkeit ist des Teufels«, sagte er immer. Erst als alle Reisenden das Schiff verlassen hatten, erschien die stattliche Gestalt des »Löwen des Kaiserreichs«.
Er trug einen Gehrock mit seidenem Revers, eine kleine runde, schwarze Pelzmütze auf dem Kopf und Pantoffeln an den Füßen. Sein breiter Bart war mit Henna gefärbt, desgleichen seine Nägel, beides in Erinnerung an das Blut, das der Märtyrer Hussein vor tausend Jahren für den wahren Glauben vergossen hatte. Er hatte müde, kleine Augen und langsame Bewegungen. Hinter ihm schritten, sichtbar erregt, drei Gestalten, vom Kopf bis zu den Fersen in dichte, schwarze Schleier gehüllt: die Frauen. Dann kamen die beiden Eunuchen, der eine mit dem gelehrten Gesicht einer ausgetrockneten Eidechse, der andere klein, aufgedunsen und stolz, die Hüter der Ehre seiner Exzellenz.
Langsam schritt der Onkel über die Falltreppe. Ich umarmte ihn und küßte ihn ehrfürchtig auf die linke Schulter, obwohl es auf der Straße gar nicht so unbedingt notwendig war. Seine Frauen würdigte ich keines Blickes. Wir bestiegen den Wagen. Frauen und Eunuchen folgten hinterher in geschlossenen Karossen. Es war ein so imposanter Anblick, daß ich dem Kutscher befahl, den Umweg über die Strandpromenade zu machen. Damit die Stadt meinen Onkel gebührend bewundern könne.
An der Strandpromenade stand Nino und blickte mich mit lachenden Augen an.
Der Onkel streichelte sich vornehm den Bart und fragte, was es Neues in der Stadt gebe.
»Nicht viel«, sagte ich, meiner Pflicht bewußt, mit Unwichtigem anzufangen, um dann zum Wichtigen überzugehen, »Dadasch Beg hat vorige Woche den Achund Sadé erdolcht, weil Achund Sadé in die Stadt zurückkam, obwohl er vor acht Jahren die Frau des Dadasch Beg entführt hat. Am selben Tage, an dem er ankam, hat Dadasch Beg ihn erdolcht. Jetzt sucht ihn die Polizei. Wird ihn aber nicht finden, obwohl jeder Mann weiß, daß Dadasch Beg im Dorfe Mardakjany sitzt. Kluge Leute sagen, Dadasch Beg habe recht gehandelt.«
Der Onkel nickte zustimmend mit dem Kopf. Ob es noch was Neues gebe?
»Ja, in Bibi-Eibat haben die Russen viel neues Öl entdeckt. Nobel hat eine große deutsche Maschine ins Land gebracht, um ein Stück des Meeres zuzuschütten und nach Öl zu bohren.«
Der Onkel war sehr erstaunt. »Allah, Allah«, sagte er und preßte besorgt die Lippen zusammen.
»… Zu Hause bei uns ist alles in Ordnung, und so Gott will, verlasse ich nächste Woche das Haus des Wissens.«
So sprach ich die ganze Zeit, und der Alte hörte andächtig zu. Erst als der Wagen sich dem Hause näherte, blickte ich zur Seite und sagte gleichgültig:
»In der Stadt ist ein berühmter Arzt aus Rußland angekommen. Die Leute sagen, er sei sehr wissend und sehe im Gesicht der Menschen die Vergangenheit und die Gegenwart, um daraus die Zukunft abzuleiten.«
Die Augen des Onkels waren vor würdevoller Langeweile halb geschlossen. Ganz teilnahmslos fragte er nach dem Namen des weisen Mannes, und ich sah, daß er mit mir sehr zufrieden war.
Denn das alles nannte man bei uns gutes Benehmen und vornehme Erziehung.
Wir saßen auf dem flachen, windgeschützten Dache unseres Hauses: mein Vater, mein Onkel und ich. Es war sehr warm. Weiche, vielfarbige Teppiche aus Karabagh mit barbarisch-grotesken Mustern waren auf dem Dach ausgebreitet, und wir saßen mit gekreuzten Beinen darauf. Hinter uns standen Diener mit Laternen. Vor uns auf dem Teppich lag die ganze Sammlung orientalischer Leckerbissen – Honigkuchen, kandiertes Obst, Hammelfleisch am Spieß und Reis mit Huhn und Rosinen.
Ich bewunderte, wie schon oft, die Eleganz meines Vaters und meines Onkels. Ohne die linke Hand zu rühren, rissen sie breite Brotfladen ab, formten daraus eine Tüte, füllten sie mit Fleisch und führten sie zum Munde. Mit vollendeter Grazie steckte der Onkel drei Finger der rechten Hand in die fette, dampfende Reisspeise, nahm ein Häuflein, quetschte es zu einer Kugel und führte diese zum Mund, ohne auch nur ein Körnchen Reis fallen zu lassen.
Bei Gott, die Russen bilden sich so viel ein auf ihre Kunst, mit Messer und Gabel zu essen, obwohl es auch der Dümmste in einem Monat erlernen kann. Ich esse bequem mit Messer und Gabel und weiß, was sich am Tische der Europäer gehört. Aber obwohl ich schon achtzehn bin, kann ich nicht mit so vollendeter Vornehmheit wie mein Vater oder mein Onkel mit bloß drei Fingern der rechten Hand die lange Reihe der orientalischen Speisen vertilgen, ohne auch nur die Handfläche zu beschmutzen. Nino nennt unsere Eßart barbarisch. Im Hause Kipiani ißt man immer am Tisch und europäisch. Bei uns nur, wenn russische Gäste geladen sind, und Nino ist entsetzt bei dem Gedanken, daß ich auf dem Teppich sitze und mit der Hand esse. Sie vergißt, daß ihr eigener Vater erst mit zwanzig Jahren die erste Gabel in die Finger bekam.
Das Essen war zu Ende. Wir wuschen uns die Hände, und der Onkel betete kurz. Dann wurden die Speisen weggebracht. Kleine Teetassen mit schwerem, dunklem Tee wurden gereicht, und der Onkel begann zu sprechen, wie alle alten Leute nach einem guten Mahl zu sprechen pflegen – breit und etwas geschwätzig. Mein Vater sagte nur wenige Worte, ich schwieg, denn so verlangt es die Sitte. Nur mein Onkel sprach, und zwar, wie immer, wenn er nach Baku kam, von den Zeiten des großen Nassr-ed-Din-Schah, an dessen Hofe er eine wichtige, doch mir nicht ganz klare Rolle gespielt hatte.
»Dreißig Jahre«, sagte der Onkel, »saß ich auf dem Teppich der Gunst des Königs der Könige. Dreimal hat mich Seine Majestät auf seine Reisen ins Ausland mitgenommen. Während dieser Reisen habe ich die Welt des Unglaubens besser kennengelernt als irgendeiner. Wir besuchten kaiserliche und königliche Paläste und die berühmtesten Christen der Zeit. Es ist eine seltsame Welt, und am seltsamsten behandelt sie die Frauen. Die Frauen, selbst Frauen von Königen und Kaisern, gehen sehr nackt durch die Paläste, und niemanden empört es, vielleicht weil die Christen keine richtigen Männer sind, vielleicht aus einem andern Grund. Gott allein weiß es. Dafür empören sich die Ungläubigen über ganz harmlose Dinge. Einmal war Seine Majestät beim Zaren zum Essen geladen. Neben ihm saß die Zarin. Auf dem Teller Seiner Majestät lag ein sehr schönes Stück Huhn. Seine Majestät nahm das schöne, fette Stück ganz vornehm mit drei Fingern der rechten Hand und legte es von seinem Teller auf den Teller der Zarin, um ihr dadurch gefällig zu sein. Die Zarin wurde ganz blaß und begann vor Schreck zu husten. Später erfuhren wir, daß viele Höflinge und Prinzen des Zaren über die Liebenswürdigkeit des Schahs ganz erschüttert waren. So niedrig steht die Frau im Ansehen der Europäer! Man zeigt ihre Nacktheit der ganzen Welt und braucht nicht höflich zu sein. Der französische Botschafter durfte sogar nach dem Essen die Frau des Zaren umarmen und sich mit ihr bei den Klängen gräßlicher Musik durch den Saal drehen. Der Zar selbst und viele Offiziere seiner Garde schauten zu, doch keiner schützte die Ehre des Zaren.
In Berlin bot sich uns ein noch seltsameres Schauspiel. Wir wurden in die Oper geführt. Auf der großen Bühne stand eine sehr dicke Frau und sang abscheulich. Die Oper hieß ›Die Afrikanerin‹. Die Stimme der Sängerin mißfiel uns sehr. Kaiser Wilhelm bemerkte es und bestrafte die Frau auf der Stelle. Im letzten Akt erschienen viele Neger und legten auf der Bühne einen großen Scheiterhaufen an. Die Frau wurde gefesselt und langsam verbrannt. Wir waren darüber sehr befriedigt. Später sagte uns jemand, das Feuer wäre symbolisch. Doch wir glaubten nicht daran, denn die Frau schrie dabei genau so gräßlich wie die Ketzerin Hürriet ül Ain, die der Schah kurz vorher in Teheran verbrennen ließ.«
Der Onkel schwieg, in Gedanken und Erinnerungen versunken. Dann seufzte er tief und fuhr fort:
»Eines aber kann ich von den Christen nicht verstehen: Sie haben die besten Waffen, die besten Soldaten und die besten Fabriken, die alles Notwendige erzeugen, um Feinde zu erschlagen. Jeder Mensch, der etwas erfindet, um andere Menschen bequem, schnell und in Massen umzubringen, wird hoch geehrt, bekommt viel Geld und einen Orden. Das ist schön und gut. Denn Krieg muß es geben. Auf der andern Seite aber bauen die Europäer Krankenhäuser, und ein Mensch, der etwas gegen den Tod erfindet, oder ein Mensch, der im Kriege feindliche Soldaten kuriert und ernährt, wird gleichfalls hoch geehrt und bekommt einen Orden. Der Schah, mein hoher Herr, hat sich immer darüber gewundert, daß man Menschen, die Entgegengesetztes leisten und Entgegengesetztes wollen, gleich hoch belohnt. Er sprach darüber einmal mit dem Cäsar in Wien, doch auch der Cäsar konnte ihm dies nicht erklären. Uns dagegen verachten die Europäer sehr, weil uns die Feinde Feinde sind, weil wir sie töten und nicht schonen. Sie verachten uns, weil wir vier Frauen haben dürfen, obwohl sie selbst oft mehr als vier haben, und weil wir so leben und regieren, wie uns Gott befohlen hat.«
Der Onkel verstummte. Es wurde dunkel. Sein Schatten glich einem hageren, alten Vogel. Er richtete sich auf, hüstelte greisenhaft und sagte inbrünstig:
»Und trotzdem, obwohl wir alles tun, was unser Gott von uns verlangt, und die Europäer nichts, was ihr Gott von ihnen verlangt, nimmt ihre Macht und ihre Kraft dauernd zu, während unsere abnimmt. Wer kann mir erklären, woher das kommt?«
Wir konnten es ihm nicht sagen. Er erhob sich, ein alter, müder Mann, und torkelte hinunter in sein Zimmer.
Mein Vater folgte ihm. Die Diener nahmen die Teetassen weg. Ich blieb allein auf dem Dach. Ich wollte nicht schlafen gehen.
Dunkelheit lag über unserer Stadt, die einem Tier glich, das auf der Lauer liegt, sprung- und spielbereit. Es waren eigentlich zwei Städte, und die eine lag in der andern wie die Nuß in der Schale.
Die Schale, das war die Außenstadt, außerhalb der alten Mauer. Die Straßen waren dort breit, die Häuser hoch, die Menschen geldgierig und lärmend. Diese Außenstadt entstand aus dem Öl, das aus unserer Wüste kommt und Reichtum bringt. Dort waren Theater, Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken, Polizisten und schöne Frauen mit nackten Schultern. Wenn in der Außenstadt geschossen wurde, so geschah es immer nur des Geldes wegen. In der Außenstadt begann die geographische Grenze Europas. Nino lebte in der Außenstadt.
Innerhalb der Mauer waren die Häuser eng und krumm wie die Klingen der orientalischen Degen. Gebettürme der Moscheen durchstachen den milden Mond und waren ganz anders als die Bohrtürme des Hauses Nobel. An der östlichen Mauer der alten Stadt erhob sich der Mädchenturm. Mehmed Jussuf Khan, Herrscher zu Baku, erbaute ihn zu Ehren seiner Tochter, die er ehelichen wollte. Die Ehe wurde nicht vollzogen. Die Tochter stürzte sich vom Turm, als der liebesgierige Vater die Treppe zu ihrem Gemach emporeilte. Der Stein, an der ihr Mädchenhaupt zerschellte, heißt der Stein der Jungfrau. Bräute bringen ihm vor der Hochzeit manchmal Blumen dar.
Viel Blut rann durch die Gassen unserer Stadt – Menschenblut. Und dieses vergossene Blut macht uns stark und tapfer.
Dicht vor unserem Haus erhebt sich die Pforte des Fürsten Zizianaschwili, und auch hier floß einmal Blut, schönes, edles Menschenblut. Es war vor Jahren, als unser Land noch zu Persien gehörte und dem Gouverneur von Aserbaidschan tributpflichtig war. Der Fürst war General in der Armee des Zaren und belagerte unsere Stadt. In der Stadt herrschte Hassan Kuli Khan. Er öffnete die Tore der Stadt, ließ den Fürsten herein und erklärte, er ergebe sich dem großen, weißen Zaren. Der Fürst ritt, nur von wenigen Offizieren begleitet, in die Stadt hinein. Auf dem Platze hinter dem Tor wurde ein Gelage veranstaltet. Scheiterhaufen brannten, ganze Ochsen wurden am Spieß geröstet. Fürst Zizianaschwili war bezecht, er legte sein müdes Haupt auf die Brust Hassan Kuli Khans. Da zog mein Urahne, Ibrahim Khan Schirwanschir, einen großen, krummen Dolch und reichte ihn dem Herrscher. Hassan Kuli Khan nahm den Dolch und durchschnitt langsam die Kehle des Fürsten. Blut spritzte auf sein Gewand, aber er schnitt weiter, bis der Kopf des Fürsten in seiner Hand blieb. Der Kopf wurde in einen Sack mit Salz gelegt, und mein Ahne brachte ihn nach Teheran zum König der Könige. Der Zar aber beschloß, den Mord zu rächen. Er sandte viele Soldaten. Hassan Kuli Khan schloß sich im Palast ein, betete und dachte an das Morgen. Als die Soldaten des Zaren über die Mauer stiegen, floh er durch den unterirdischen Gang, der heute verschüttet ist, ans Meer und dann nach Persien. Bevor er den unterirdischen Gang betrat, schrieb er an die Eingangstüre einen einzigen, aber sehr weisen Satz: »Wer an morgen denkt, kann nie tapfer sein.«
Auf dem Heimweg von der Schule streifte ich oft durch den zerfallenden Palast. Seine Gerichtshalle mit den mächtigen maurischen Säulengängen liegt öde und verlassen da. Wer in unserer Stadt Recht sucht, muß zum russischen Richter außerhalb der Mauer gehen. Das tun aber nur wenige Querulanten. Nicht etwa, weil die russischen Richter schlecht oder ungerecht wären. Sie sind milde und gerecht, aber auf eine Art, die unserem Volke nicht behagt. Ein Dieb kommt ins Gefängnis. Er sitzt dort in einer sauberen Zelle, bekommt Tee, ja sogar Zucker zum Tee. Niemand hat etwas davon, am wenigsten der Bestohlene. Das Volk zuckt darüber die Achseln und macht sich sein Recht selber. Am Nachmittag kommen die Kläger in die Moschee, die weisen Alten sitzen im Kreis und richten nach dem Gesetze der Scharia, nach dem Gesetze Allahs: »Aug um Aug, Zahn um Zahn.« In der Nacht huschen manchmal durch die Gassen vermummte Gestalten. Ein Dolch blitzt auf, ein kleiner Schrei, und die Gerechtigkeit ist vollzogen. Blutfehden ziehen sich von Haus zu Haus. Doch selten läuft jemand zum russischen Richter, und tut er es, so verachten ihn die Weisen, und die Kinder strecken ihm auf der Straße die Zunge heraus.
Manchmal wird durch die nächtlichen Gassen ein Sack getragen. Aus dem Sack tönt unterdrücktes Stöhnen. Am Meer ein leises Aufplätschern, der Sack verschwindet. Am nächsten Tag sitzt dann ein Mann auf dem Boden seines Zimmers, sein Gewand ist zerfetzt, sein Auge voll Tränen, er hat das Gesetz Allahs erfüllt – der Ehebrecherin den Tod.
Viele Geheimnisse birgt unsere Stadt. Ihre Winkel sind voll seltsamer Wunder. Ich liebe diese Wunder, diese Winkel, das nächtlich raunende Dunkel und das stumme Meditieren an den glutstillen Nachmittagen im Hofe der Moschee. Gott hat mich hier zur Welt kommen lassen als Muslim schiitischer Lehre, der Glaubensrichtung des Imam Dschafar. So er mir gnädig ist, möge er mich hier auch sterben lassen, in derselben Straße, in demselben Haus, in dem ich zur Welt kam. Mich und Nino, die eine georgische Christin ist, mit Messer und Gabel ißt, lachende Augen hat und dünne, duftige Seidenstrümpfe trägt.
Die Galauniform der Abiturienten hatte einen silberbetreßten Kragen. Die silberne Schnalle des Gurtes und die silbernen Knöpfe waren blankgeputzt. Der steife, graue Stoff noch warm vom Bügeleisen. Wir standen barhäuptig und still im großen Saal des Gymnasiums. Der feierliche Akt der Prüfung begann, indem wir alle den Gott der orthodoxen Kirche um Hilfe anflehten, wir vierzig, unter denen nur zwei der Staatskirche angehörten.
Der Pope im schweren Gold des festlichen Kirchengewandes, mit langen, duftenden Haaren, das große, goldene Kreuz in der Hand, begann das Gebet. Der Saal füllte sich mit Weihrauch, die Lehrer und die zwei Anhänger der Staatskirche knieten nieder.
Die Worte des Popen, im singenden Tonfall der orthodoxen Kirche gesprochen, klangen dumpf in unseren Ohren. Wie oft haben wir das, teilnahmslos und gelangweilt, im Laufe dieser acht Jahre gehört:
»… Für den Allerfrömmsten, Allermächtigsten, Allerchristlichsten Herrscher und Kaiser Nikolaus II. Alexandrowitsch Gottes Segen … und für alle Seefahrenden und Reisenden, für alle Lernenden und Leidenden, und für alle Krieger, die auf dem Felde der Ehre ihr Leben für Glauben, Zar und Vaterland gelassen, und für alle orthodoxen Christen Gottes Segen …«
Gelangweilt starrte ich auf die Wand. Dort hing im breiten, goldenen Rahmen, lebensgroß, einer byzantinischen Ikone gleichend, unter dem großen Doppeladler das Bildnis des Allerfrömmsten und Allermächtigsten Herrschers und Kaisers. Das Gesicht des Zaren war länglich, seine Haare blond, er blickte mit hellen, kalten Augen vor sich hin. Die Zahl der Orden an seiner Brust war gewaltig. Seit acht Jahren nahm ich mir vor, sie zu zählen, und verirrte mich stets in dieser Ordenspracht.
Früher hing neben dem Bild des Zaren das der Zarin. Dann nahm man es weg. Die Mohammedaner vom Lande nahmen an ihrem ausgeschnittenen Kleide Anstoß und gaben ihre Kinder nicht in die Schule.
Während der Pope betete, wurde unsere Stimmung feierlich. Immerhin, es war ein höchst aufregender Tag. Vom frühesten Morgen an tat ich das Äußerstmögliche, um ihn würdig zu bestehen. In der Frühe nahm ich mir vor, zu allen im Hause nett zu sein. Da aber die meisten noch schliefen, war diese Aufgabe nicht zu lösen. Auf dem Wege zur Schule gab ich jedem Bettler Geld. Sicher ist sicher. In meiner Aufregung gab ich einem sogar statt fünf Kopeken einen ganzen Rubel. Als er überschwenglich dankte, sagte ich mit Würde:
»Danke nicht mir, danke Allah, der meine Hand zum Geben benutzt hat!«
Unmöglich, nach einem so frommen Spruch durchzufallen.
Das Gebet war zu Ende. Im Gänsemarsch wanderten wir zum Prüfungstisch. Die Prüfungskommission glich dem Rachen eines vorsintflutlichen Ungeheuers: bärtige Gesichter, düstere Blicke, goldene Galauniformen. Das Ganze war sehr feierlich und furchterregend. Obwohl die Russen nur ungern einen Mohammedaner durchfallen lassen. Wir alle haben viele Freunde, und unsere Freunde sind kräftige Burschen mit Dolchen und Revolvern. Die Lehrer wissen es und fürchten sich vor den wilden Banditen, die ihre Schüler sind, nicht minder als ihre Schüler vor ihnen. Eine Versetzung nach Baku betrachten die meisten Professoren als eine Strafe Gottes. Fälle, wo Lehrer in dunklen Gassen überfallen und verprügelt wurden, sind nicht allzu selten. Die Folge davon war immer, daß die Täter unbekannt blieben und die Lehrer versetzt werden mußten. Deshalb drücken sie auch ein Auge zu, wenn der Schüler Ali Khan Schirwanschir ziemlich frech die Mathematikaufgabe beim Nachbar Metalnikow abschreibt. Nur einmal mitten im Abschreiben tritt der Lehrer an mich heran und zischt verzweifelt:
»Nicht so auffällig, Schirwanschir, wir sind nicht allein.«
Die schriftliche Mathematik klappte reibungslos. Vergnügt schlenderten wir die Nikolaistraße hinunter, fast schon nicht mehr wie Schüler. Für morgen war das schriftliche Russisch angesagt. Das Thema kam, wie immer, im versiegelten Paket aus Tiflis. Der Direktor erbrach den Umschlag und las feierlich:
»Die weiblichen Gestalten Turgenjews als ideale Verkörperungen der russischen Frauenseele.«
Ein bequemes Thema. Ich konnte schreiben, was ich wollte, ich mußte nur die russischen Frauen loben, dann war das Spiel gewonnen. Schriftliche Physik war schwerer. Doch, wo die Weisheit versagte, half eben die bewährte Kunst des Abschreibens. So klappte auch die Physik, worauf die Kommission den Delinquenten einen Tag Ruhe gewährte.
Dann kam das Mündliche. Da half keine List. Man mußte auf einfache Fragen schwierige Antworten geben. Die erste Prüfung galt der Religion. Der Gymnasial-Mullah, im langen, wallenden Überwurf, mit der grünen Schärpe eines Nachkommen des Propheten umgürtet, sonst immer bescheiden im Hintergrund, saß plötzlich vorne am Tisch. Er hatte für seine Schüler ein mildes Herz. Mich fragte er nur nach der Glaubensformel und entließ mich mit der höchsten Note, nachdem ich brav das schiitische Glaubensbekenntnis hergesagt hatte.
»Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist sein Prophet und Ali der Statthalter Allahs.«
Das letztere war besonders wichtig; denn das allein unterschied den frommen Schiiten von den verirrten Brüdern der sunnitischen Richtung, denen aber immerhin die Gnade Allahs wohl nicht ganz versagt war. So lehrte uns der Mullah; denn er war ein liberaler Mann.
Der Geschichtslehrer war dafür um so weniger liberal. Ich zog den Zettel mit der Frage, las sie, und mir war gar nicht wohl zumute: »Der Sieg Madatows bei Gandscha« stand darauf. Auch dem Lehrer war nicht sehr behaglich. In der Schlacht von Gandscha erschlugen die Russen hinterlistig jenen berühmten Ibrahim Khan Schirwanschir, mit dessen Hilfe Hassan Kuli einst dem Fürsten Zizianaschwili den Kopf abgeschnitten hatte.
»Schirwanschir, Sie können von Ihrem Recht Gebrauch machen und Ihre Frage umtauschen.«
Die Worte des Lehrers klangen sanft. Ich blickte mißtrauisch auf die gläserne Schale, in der wie Lotterielose die Zettel mit den Prüfungsfragen lagen. Jeder Schüler hatte das Recht, den gezogenen Zettel einmal umzutauschen. Er verlor dadurch nur den Anspruch auf die höchste Note. Ich wollte aber das Schicksal nicht herausfordern. Über den Tod meines Ahnen wußte ich wenigstens Bescheid. In der Glasschale lagen aber noch völlig rätselhafte Fragen über die Reihenfolge der Friedrichs, der Wilhelms und der Friedrich Wilhelms in Preußen oder über die Ursachen der amerikanischen Befreiungskriege. Wer sollte sich da noch auskennen? Ich schüttelte den Kopf.
»Danke, ich behalte meine Frage.«
Dann erzählte ich, so artig ich konnte, von dem Prinzen Abbas Mirza von Persien, der mit einer Armee von 40000 Mann von Täbris auszog, um die Russen aus Aserbaidschan zu verjagen. Wie der Armenier General Madatow mit 5000 Mann ihn bei Gandscha traf und mit Kanonen auf die Perser schießen ließ, worauf Prinz Abbas Mizra vom Pferde fiel und sich in einen Graben verkroch, die gesamte Armee auseinanderlief und Ibrahim Khan Schirwanschir mit einer Schar von Recken beim Versuch, über den Fluß zu entkommen, gefangen und erschossen wurde.
»Der Sieg beruhte weniger auf der Tapferkeit der Truppen als auf der technischen Überlegenheit der Kanonen Madatows. Die Folgen des russischen Sieges war der Friede von Turkmentschai, bei dem die Perser einen Tribut zahlen mußten, dessen Eintreibung fünf Provinzen verwüstete.«
Dieser Schluß kostete mich das »Gut«. Ich hätte sagen müssen:
»Die Ursache des Sieges war der beispiellose Mut der Russen, die den achtfach überlegenen Feind in die Flucht zwangen. Die Folge des Sieges war der Friede von Turkmentschai, der den Persern den Anschluß an die westliche Kultur und die westlichen Märkte ermöglichte.«
Wie dem auch sei, die Ehre meines Ahnen war mir so viel wert wie der Unterschied zwischen Gut und Genügend.
Nun war es zu Ende. Der Direktor hielt eine feierliche Ansprache. Voll Würde und sittlichen Ernstes erklärte er uns für reif, und dann sprangen wir wie freigelassene Sträflinge die Treppe hinab. Die Sonne blendete uns. Der gelbe Sand der Wüste bedeckte den Straßenasphalt mit feinsten Körnchen, der Polizist von der Ecke, der uns acht Jahre gnädig beschützt hatte, kam, gratulierte und bekam von jedem fünfzig Kopeken. Wie eine Horde von Banditen ergossen wir uns lärmend und schreiend über die Stadt.
Ich eilte nach Hause und wurde empfangen wie Alexander nach dem Siege über die Perser. Die Diener blickten mich schreckerfüllt an. Mein Vater küßte mich ab und schenkte mir die Gewährung dreier Wünsche, die ich nach Belieben wählen konnte. Mein Onkel meinte, ein so weiser Mann gehöre unbedingt an den Hof von Teheran, wo er es sicherlich weit bringen würde.
Verstohlen schlich ich mich, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, ans Telephon. Zwei Wochen lang hatte ich mit Nino nicht gesprochen. Eine weise Regel gebietet dem Manne, den Umgang mit Frauen zu meiden, wenn er vor wichtigen Lebensfragen steht. Jetzt hob ich den Griff des unförmigen Apparates, drehte die Klingel und rief hinein:
»33-81.«
Ninos Stimme meldete sich:
»Bestanden, Ali?«
»Ja, Nino.«
»Gratuliere, Ali!«
»Wann und wo, Nino?«
»Um fünf am Teich im Gouverneursgarten, Ali.«
Mehr zu sprechen war nicht gestattet. Hinter meinem Rücken lauerten die neugierigen Ohren der Verwandten, Diener und Eunuchen. Hinter Ninos Rücken die vornehme Frau Mama. Also Schluß. Stimme ohne Körper ist sowieso etwas so Ungewöhnliches, daß man an ihr keine richtige Freude hat.
Ich ging hinauf in das große Zimmer meines Vaters. Er saß auf dem Diwan und trank Tee. Neben ihm der Onkel. Diener standen an den Wänden und starrten mich an. Die Matura war noch lange nicht zu Ende. An der Schwelle des Lebens mußte der Vater dem Sohn in aller Form und öffentlich die Weisheit des Lebens übermitteln. Es war rührend und etwas altmodisch.
»Mein Sohn, jetzt, da du ins Leben trittst, ist es notwendig, daß ich dich noch einmal an die Pflichten eines Muslim mahne. Wir leben hier im Lande des Unglaubens. Um nicht unterzugehen, müssen wir an alten Sitten und an alten Bräuchen festhalten. Bete oft, mein Sohn, trink nicht, küsse keine fremden Frauen, sei gut zu den Armen und Schwachen und immer bereit, das Schwert zu ziehen und für den Glauben zu fallen. Wenn du im Felde stirbst, so wird es mir, dem alten Mann, wehe tun, wenn du aber in Unehren am Leben bleibst, werde ich alter Mann mich schämen. Vergib nie den Feinden, mein Sohn, wir sind keine Christen. Denke nicht an morgen, das macht feige, und vergiß nie den Glauben Mohammeds, in schiitischer Auslegung der Richtung des Imam Dschafar.«
Onkel und Diener hatten feierlich verträumte Gesichter. Sie hörten den Worten des Vaters zu, als wären sie eine Offenbarung. Dann erhob sich mein Vater, nahm mich an der Hand und sagte mit plötzlich bebender und unterdrückter Stimme: