Ali und Nino - Kurban Said - E-Book

Ali und Nino E-Book

Kurban Said

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Beschreibung

'In der russischen Stadt Baku, auf der Grenze zwischen Orient und Okzident, verlieben sich am Vorabend der Russischen Revolution der temperamentvolle Muslim Ali und die schöne Christin Nino ineinander. Die Hochzeit rückt trotz aller Widerstände in greifbare Nähe - da wird Nino entführt ... Zum ersten Mal seit über 60 Jahren liegt jetzt die Originalfassung der tragischen Liebesgeschichte vor, die 'nichts von ihrem Charme und ihrer Brisanz verloren hat.' (Brigitte)

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Seitenzahl: 350

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Das Buch

Die russische Stadt Baku, eine Welt zwischen Orient und Okzident, ist der Schauplatz dieser tragischen Liebesgeschichte: Am Vorabend der Russischen Revolution verlieben sich der temperamentvolle Muslim Ali und die schöne Christin Nino ineinander. Eine Verbindung scheint unmöglich, denn Religion und Sitte verbieten es. Mit Hilfe eines Vermittlers, der bei den Eltern vorspricht, rückt die von beiden so ersehnte Hochzeit in greifbare Nähe. Doch dann wird Nino entführt und Ali muß nach islamischem Gesetz den Nebenbuhler und seine Braut töten …

Ali und Nino erschien erstmals 1937. Lange war das Buch verschollen und tauchte erst in den 70er Jahren wieder auf – dennoch hat es bis heute nichts von seinem Zauber eingebüßt.

Der Autor

Kurban Said ist ein Pseudonym, hinter dem sich die 1894 geborene Publizistin Elfriede von Ehrenfels und vermutlich der Kaffeehausliterat Lev Nussimbaum (1905–1942) verbergen. Beide bewegten sich in der Wiener Boheme; der Jude Nussimbaum konvertierte zum Islam. Wer welchen Anteil an der Liebesgeschichte hatte, wird wohl immer ein Geheimnis bleiben.

Kurban Said

Ali und Nino

Roman

List Taschenbuch

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Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,

wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,

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können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 5. Auflage 2010 © für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007 © 2003 für die deutsche Ausgabe by Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG © 2000 für die deutsche Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München / Ullstein Berlin © 1937 by Leela Ehrenfels (published by arrangement with The Overlook Press, Peter Mayer Publishers, Inc., New York) Die Originalausgabe erschien 1937 in Wien, Leipzig Umschlaggestaltung und Konzeption: RME Roland Eschlbeck und Kornelia Rumberg (nach einer Vorlage von Jorge Schmidt) Titelabbildung: Archiv Christian von Ehrenfels, Privatbesitz - Lichtenau Elfriede von Ehrenfels von Bodmershof & Umar Rolf von Ehrenfels

1. KAPITEL

Im Norden, Süden und Westen ist Europa von Meeren umgeben. Das Nördliche Polarmeer, das Mittelmeer und der Atlantische Ozean bilden die natürlichen Grenzen dieses Kontinents. Als die Nordspitze Europas betrachtet die Wissenschaft die Insel Wagera, die Südspitze bildet die Insel Kreta und die Westspitze die Inselgruppe Dunmore Head. Die Ostgrenze Europas zieht sich durch das Russische Kaiserreich den Ural entlang, durchschneidet das Kaspische Meer und läuft dann durch Transkaukasien. Hier hat die Wissenschaft ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Während manche Gelehrte das Gebiet südlich des kaukasischen Bergmassivs als zu Asien gehörig betrachten, glauben andere, insbesondere im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung Transkaukasiens, auch dieses Land als Teil von Europa ansehen zu müssen. Es hängt also gewissermaßen von Ihrem Verhalten ab, meine Kinder, ob unsere Stadt zum fortschrittlichen Europa oder zum rückständigen Asien gehören soll.«

Der Professor lächelte selbstgefällig. Den vierzig Kindern der dritten Klassen des kaiserlich russischen humanistischen Gymnasiums zu Baku, Transkaukasien, stockte der Atem vor den Abgründen des Wissens und der Last der Verantwortung.

Eine Weile schwiegen wir alle, wir dreißig Mohammedaner, vier Armenier, zwei Polen, drei Sektierer und ein Russe. Dann hob Mehmed Haidar in der letzten Bank die Hand und sagte:

»Herr Professor, bitte, wir wollen lieber in Asien bleiben.«

Schallendes Gelächter ertönte. Mehmed Haidar drückte schon zum zweiten Male die Bank der dritten Klasse. Er hatte alle Aussicht, auch das dritte Jahr in derselben Klasse zu verbringen, sofern Baku weiterhin zu Asien gehörte. Überdies gestattete ein ministerieller Erlaß den Eingeborenen des asiatischen Rußland, so lange in einer Klasse sitzenzubleiben, als es ihnen paßte.

Professor Sanin, in der goldbestickten Uniform eines russischen Gymnasiallehrers, runzelte die Stirn.

»So, Mehmed Haidar, du willst also Asiate bleiben? Tritt mal vor. Kannst du deine Ansicht begründen?«

Mehmed Haidar trat vor, wurde rot und schwieg. Sein Mund stand offen, seine Stirn war gerunzelt, seine Augen blickten blöd vor sich hin. Er schwieg. Und während vier Armenier, zwei Polen, drei Sektierer und ein Russe sich an seiner Blödheit freuten, hob ich die Hand und erklärte:

»Herr Professor, auch ich will lieber in Asien bleiben.«

»Ali Khan Schirwanschir! Auch du! Schön, tritt vor.«

Professor Sanin schob die Unterlippe vor und verfluchte innerlich sein Schicksal, das ihn an die Ufer des Kaspischen Meeres verbannt hatte. Dann räusperte er sich und sagte gewichtig:

»Kannst wenigstens du deine Ansicht vertreten?«

»Ja, ich fühle mich in Asien ganz wohl.«

»So, so. Na, warst du schon einmal in wirklich wilden asiatischen Ländern, zum Beispiel in Teheran?«

»Jawohl, vorigen Sommer.«

»Na also. Gibt es dort die großen Errungenschaften der europäischen Kultur, zum Beispiel Autos?«

»O ja, sogar sehr große. Für dreißig Personen und mehr. Sie fahren nicht durch die Stadt, sondern von Ort zu Ort.«

»Das sind Autobusse, und sie verkehren in Ermangelung der Eisenbahn. Das nennt man Rückstand. Setz dich, Schirwanschir!«

Die dreißig Asiaten frohlockten und warfen mir zustimmende Blicke zu.

Professor Sanin schwieg verdrossen. Es war seine Pflicht, seine Schüler zu guten Europäern zu erziehen.

»War jemand von euch zum Beispiel in Berlin?« fragte er plötzlich.

Er hatte seinen Unglückstag: Der Sektierer Maikow meldete sich und gestand, als ganz kleines Kind in Berlin gewesen zu sein. Er konnte sich noch sehr gut an eine dumpfige, unheimliche Untergrundbahn erinnern, an eine lärmende Eisenbahn und an ein Schinkenbrot, das ihm seine Mutter zurechtschnitt.

Wir dreißig Mohammedaner waren tief entrüstet. Seyd Mustafa bat sogar, austreten zu dürfen, da ihm bei dem Wort Schinken übel wurde. Damit war die Diskussion über die geographische Zugehörigkeit der Stadt Baku erledigt.

Es läutete. Professor Sanin verließ erleichtert die Klasse. Die vierzig Schüler eilten hinaus. Es war große Pause, und da hatte man drei Möglichkeiten: in den Hof zu rennen und die Schüler des benachbarten Realgymnasiums zu verprügeln, weil sie goldene Knöpfe und goldene Kokarden trugen, während wir uns mit silbernen begnügen mußten, laut miteinander tatarisch zu reden, damit es die Russen nicht verstünden und weil es verboten war, oder: über die Straße zu eilen, in das Mädchenlyzeum der hl. Königin Tamar. Ich entschloß mich für das letztere.

Im Lyzeum der hl. Tamar gingen die Mädchen in züchtigen, blauen Uniformkleidern mit weißer Schürze durch den Garten. Meine Kusine Aische winkte mir zu. Ich schlüpfte durch das Gartentor. Aische ging Hand in Hand mit Nino Kipiani, und Nino Kipiani war das schönste Mädchen der Welt. Als ich den beiden von meinen geographischen Kämpfen berichtet hatte, rümpfte das schönste Mädchen der Welt die schönste Nase der Welt und sagte:

»Ali Khan, du bist dumm. Gottlob sind wir in Europa. Wären wir in Asien, so wäre ich schon längst verschleiert, und du könntest mich nicht sehen.«

Ich gab mich geschlagen. Die geographische Fragwürdigkeit der Stadt Baku rettete mir den Anblick der schönsten Augen der Welt.

Ich ging weg und schwänzte betrübt den Rest der Schule. Ich wanderte durch die Gassen der Stadt, blickte auf die Kamele und das Meer, dachte an Europa, an Asien, an Ninos schöne Augen und ward traurig. Ein Bettler mit verfaultem Gesicht kam mir entgegen. Ich gab ihm Geld, und er wollte mir die Hand küssen. Erschrocken zog ich sie zurück. Dann lief ich zwei Stunden durch die Stadt und suchte den Bettler, damit er mir die Hand küssen könne. Denn ich glaubte, ihn beleidigt zu haben. Er war nicht zu finden, und ich hatte Gewissensbisse.

Das Ganze spielte sich vor fünf Jahren ab.

In diesen fünf Jahren war allerlei geschehen. Wir bekamen einen neuen Direktor, der uns mit Vorliebe am Kragen packte und rüttelte, denn das Ohrfeigen von Gymnasiasten war streng verboten. Der Religionslehrer erklärte uns sehr genau, wie gnädig Allah uns sei, daß er uns als Mohammedaner zur Welt kommen ließ. Zwei Armenier und ein Russe traten ein, und zwei Mohammedaner schieden aus; der eine, weil er mit seinen sechzehn Jahren geheiratet hatte, der andere, weil er in den Ferien von Blut rächern umgebracht wurde. Ich, Ali Khan Schirwanschir, war dreimal in Daghestan, zweimal in Tiflis, einmal in Kislowodsk, einmal beim Onkel in Persien und wäre einmal beinahe sitzengeblieben, weil ich das Gerundium nicht vom Gerundivum unterscheiden konnte. Mein Vater sprach sich darüber mit dem Mullah aus, und dieser erklärte, daß das ganze Latein eitler Wahn sei. Daraufhin legte mein Vater türkische, persische und russische Orden an, fuhr zum Direktor, spendete für die Schule irgendein physikalisches Instrument, und ich wurde versetzt. In der Schule hing neuerdings ein Plakat mit der Aufschrift, daß den Gymnasiasten das Betreten des Schulgebäudes mit geladenen Revolvern verboten sei, in der Stadt wurden Telephone eingeführt und zwei Kinos eröffnet, und Nino Kipiani war immer noch das schönste Mädchen der Welt.

Das alles sollte nun zu Ende gehen, nur noch eine Woche trennte mich von der Maturaprüfung, und ich saß zu Hause in meinem Zimmer und grübelte über die Sinnlosigkeit des lateinischen Sprachunterrichts an der Küste des Kaspischen Meeres.

Es war ein schönes Zimmer im zweiten Stock unseres Hauses. Dunkle Teppiche aus Buchara, Ispahan und Koschan bedeckten die Wände. Die Linien des Teppichmusters gaben Gärten und Seen, Wälder und Flüsse wieder, so wie sie sich in der Phantasie des Teppichwebers spiegelten – unerkennbar für den Laien, hinreißend schön für den Fachmann. Nomadenfrauen aus fernen Wüsten sammelten im wilden Dornengebüsch die Kräuter für diese Farben. Schmale längliche Finger preßten den Saft der Kräuter aus. Jahrhundertealt ist das Geheimnis der zarten Farben, und ein Jahrzehnt dauerte es oft, bis der Weber sein Kunstwerk vollendet hat. Dann hängt es an der Wand, voll geheimnisvoller Symbole, Andeutungen von Jagdszenen und Ritterkämpfen, mit einer gezierten Schrift am Rande, einem Vers von Firdausi oder einem Weisheitsspruch von Saadi. Durch die vielen Teppiche wirkt das Zimmer dunkel. Ein niedriger Diwan, zwei kleine mit Perlmutter belegte Hocker, viele weiche Kissen – und zwischen all dem, sehr störend und sehr sinnlos, Bücher des westlichen Wissens: Chemie, Latein, Physik, Trigonometrie – läppisches Zeug, von Barbaren erfunden, um ihre Barbarei zu verdecken.

Ich klappte die Bücher zu und verließ das Zimmer. Die schmale Glasveranda mit dem Blick auf den Hof führte zum flachen Dach des Hauses. Ich ging hinauf. Von dort überblickte ich meine Welt, die dicke Festungsmauer der alten Stadt und die Ruinen des Palastes mit der arabischen Aufschrift am Eingang. Durch das Gewirr der Straßen schritten die Kamele mit so zarten Fesseln, daß man sie zu streicheln versucht war. Vor mir erhob sich der plumpe, runde Mädchenturm, um den Legenden und Fremdenführer kreisten. Weiter, hinter dem Turm, begann das Meer – das völlig geschichtslose, bleierne und unergründliche Kaspische Meer, und im Rücken war die Wüste – zackige Felsen, Sand und Dorn, ruhig, stumm, unüberwindlich, die schönste Landschaft der Welt.

Ich saß still auf dem Dach. Was ging es mich an, daß es andere Städte, andere Dächer und andere Landschaften gab? Ich liebte das flache Meer und die flache Wüste und dazwischen diese alte Stadt, das zerfallene Palais und die lärmende Menschheit, die in die Stadt kam, Öl suchte, reich wurde und davonzog, weil sie die Wüste nicht liebte.

Der Diener brachte Tee. Ich trank und dachte an die Maturaprüfung. Sie machte mir keine großen Sorgen. Sicherlich würde ich durchkommen. Würde ich aber sitzenbleiben, so wäre es auch kein Malheur. Die Bauern auf unsern Gütern würden dann sagen, daß ich mich im gelehrten Eifer vom Hause des Wissens nicht trennen wolle. Es war auch in der Tat schade, die Schule zu verlassen. Die graue Uniform mit silbernen Knöpfen, Achselstücken und Kokarde war schön. In Zivil würde ich mir verkommen erscheinen. Ich würde aber nicht lange Zivil tragen. Nur einen Sommer lang und dann – ja, dann ging es nach Moskau ins Lazarewsche Institut für orientalische Sprachen. Ich habe es selber so beschlossen, dort werde ich vor den Russen einen schönen Vorsprung haben. Was sie mühselig erlernen müssen, kann ich von klein auf. Außerdem gibt es keine schönere Uniform als die des Lazarewschen Instituts: roter Rock, goldener Kragen, ein schmaler, vergoldeter Degen und Glacéhandschuhe auch an den Wochentagen. Uniform muß ein Mensch tragen, sonst achten einen die Russen nicht, und wenn mich die Russen nicht achten, nimmt mich Nino nicht zum Mann. Ich muß aber Nino heiraten, obwohl sie Christin ist. Georgische Frauen sind die schönsten auf Erden. Und wenn sie nicht will? Nun – dann hole ich mir ein paar wackere Männer, werfe Nino über den Sattel, und rasch hinaus über die persische Grenze nach Teheran. Dann wird sie schon wollen, was bliebe ihr sonst übrig?

Das Leben war schön und einfach, vom Dache unseres Hauses in Baku gesehen.

Kerim, der Diener, berührte meine Schulter.

»Es ist Zeit«, sagte er.

Ich erhob mich. Es war wirklich Zeit. Am Horizont, hinter der Insel Nargin, zeigte sich ein Dampfer. Wenn man bedrucktem Papier, vom christlichen Telegraphenbeamten ins Haus zugestellt, glauben kann, befand sich auf diesem Schiff mein Onkel mit drei Frauen und zwei Eunuchen. Ich sollte ihn abholen. Ich lief die Treppe hinab. Der Wagen fuhr vor. Rasch ging es zum lärmenden Hafen hinunter.

Mein Onkel war ein vornehmer Mann. Schah Nassr ed-Din verlieh ihm in seiner Gnade den Titel Assad ed Dawleh – »Löwe des Kaiserreiches«. Anders durfte man ihn gar nicht nennen. Er hatte drei Frauen, viele Diener, ein Palais in Teheran und große Güter in Mazendaran. Einer seiner Frauen wegen kam er nach Baku. Es war die kleine Zeinab. Sie war erst achtzehn Jahre, und der Onkel liebte sie mehr als seine anderen Frauen. Sie war krank, sie bekam keine Kinder, und gerade von ihr wollte der Onkel Kinder haben. Zu diesem Zweck war sie bereits nach Hamadam gereist. Dort steht mitten in der Wüste, aus rötlichem Stein gehauen, mit rätselhaftem Blick die Statue eines Löwen. Alte Könige mit verwitterten Namen haben sie errichtet. Seit Jahrhunderten pilgern Frauen zu diesem Löwen, küssen sein gewaltiges Glied und versprechen sich davon Muttersegen und Kinderfreuden. Der armen Zeinab hatte der Löwe nicht geholfen. Ebensowenig wie die Amulette der Derwische aus Kerbela, die Zaubersprüche der Weisen aus Mesched und die geheimen Künste der alten, in Liebe erfahrenen Weiber von Teheran. Nun fuhr sie nach Baku, um durch die Geschicklichkeit der westlichen Ärzte das zu erreichen, was der einheimischen Weisheit versagt blieb. Armer Onkel! Die zwei andern Frauen, ungeliebt und alt, mußte er mitnehmen. So verlangte es die Sitte: »Du kannst eine, zwei, drei oder vier Frauen haben, wenn du sie gleich behandelst.« Gleich behandeln heißt aber, allen dasselbe bieten, zum Beispiel eine Reise nach Baku.

Von Rechts wegen ging mich aber das Ganze nichts an. Frauen gehören in den Anderun, ins Innere des Hauses. Ein wohlerzogener Mensch spricht nicht über sie, fragt nicht nach ihnen und läßt ihnen keine Grüße bestellen. Sie sind die Schatten ihrer Männer, auch wenn die Männer sich oft nur im Schatten dieser Frauen wohl fühlen. So ist es gut und weise. »Eine Frau hat nicht mehr Verstand als ein Hühnerei Haare«, lautet bei uns ein Sprichwort. Geschöpfe ohne Verstand müssen bewacht werden, sonst bringen sie Unheil, sich selber und andern. Ich glaube, es ist eine weise Regel.

Der kleine Dampfer näherte sich dem Pier. Matrosen mit haariger, breiter Brust legten die Falltreppe an. Passagiere strömten herunter: Russen, Armenier, Juden, in hastiger Eile, als ob es auf jede Minute ankäme, die sie früher an Land gingen. Mein Onkel zeigte sich nicht. »Die Geschwindigkeit ist des Teufels«, sagte er immer. Erst als alle Reisenden das Schiff verlassen hatten, erschien die stattliche Gestalt des »Löwen des Kaiserreichs«.

Er trug einen Gehrock mit seidenem Revers, eine kleine runde, schwarze Pelzmütze auf dem Kopf und Pantoffeln an den Füßen. Sein breiter Bart war mit Henna gefärbt, desgleichen seine Nägel, beides in Erinnerung an das Blut, das der Märtyrer Hussein vor tausend Jahren für den wahren Glauben vergossen hatte. Er hatte müde, kleine Augen und langsame Bewegungen. Hinter ihm schritten, sichtbar erregt, drei Gestalten, vom Kopf bis zu den Fersen in dichte, schwarze Schleier gehüllt: die Frauen. Dann kamen die beiden Eunuchen, der eine mit dem gelehrten Gesicht einer ausgetrockneten Eidechse, der andere klein, aufgedunsen und stolz, die Hüter der Ehre seiner Exzellenz.

Langsam schritt der Onkel über die Falltreppe. Ich umarmte ihn und küßte ihn ehrfürchtig auf die linke Schulter, obwohl es auf der Straße gar nicht so unbedingt notwendig war. Seine Frauen würdigte ich keines Blickes. Wir bestiegen den Wagen. Frauen und Eunuchen folgten hinterher in geschlossenen Karossen. Es war ein so imposanter Anblick, daß ich dem Kutscher befahl, den Umweg über die Strandpromenade zu machen. Damit die Stadt meinen Onkel gebührend bewundern könne.

An der Strandpromenade stand Nino und blickte mich mit lachenden Augen an.

Der Onkel streichelte sich vornehm den Bart und fragte, was es Neues in der Stadt gebe.

»Nicht viel«, sagte ich, meiner Pflicht bewußt, mit Unwichtigem anzufangen, um dann zum Wichtigen überzugehen, »Dadasch Beg hat vorige Woche den Achund Sadé erdolcht, weil Achund Sadé in die Stadt zurückkam, obwohl er vor acht Jahren die Frau des Dadasch Beg entführt hat. Am selben Tage, an dem er ankam, hat Dadasch Beg ihn erdolcht. Jetzt sucht ihn die Polizei. Wird ihn aber nicht finden, obwohl jeder Mann weiß, daß Dadasch Beg im Dorfe Mardakjany sitzt. Kluge Leute sagen, Dadasch Beg habe recht gehandelt.«

Der Onkel nickte zustimmend mit dem Kopf. Ob es noch was Neues gebe?

»Ja, in Bibi-Eibat haben die Russen viel neues Öl entdeckt. Nobel hat eine große deutsche Maschine ins Land gebracht, um ein Stück des Meeres zuzuschütten und nach Öl zu bohren.«

Der Onkel war sehr erstaunt. »Allah, Allah«, sagte er und preßte besorgt die Lippen zusammen.

»… Zu Hause bei uns ist alles in Ordnung, und so Gott will, verlasse ich nächste Woche das Haus des Wissens.«

So sprach ich die ganze Zeit, und der Alte hörte andächtig zu. Erst als der Wagen sich dem Hause näherte, blickte ich zur Seite und sagte gleichgültig:

»In der Stadt ist ein berühmter Arzt aus Rußland angekommen. Die Leute sagen, er sei sehr wissend und sehe im Gesicht der Menschen die Vergangenheit und die Gegenwart, um daraus die Zukunft abzuleiten.«

Die Augen des Onkels waren vor würdevoller Langeweile halb geschlossen. Ganz teilnahmslos fragte er nach dem Namen des weisen Mannes, und ich sah, daß er mit mir sehr zufrieden war.

Denn das alles nannte man bei uns gutes Benehmen und vornehme Erziehung.

2. KAPITEL

Wir saßen auf dem flachen, windgeschützten Dache unseres Hauses: mein Vater, mein Onkel und ich. Es war sehr warm. Weiche, vielfarbige Teppiche aus Karabagh mit barbarisch-grotesken Mustern waren auf dem Dach ausgebreitet, und wir saßen mit gekreuzten Beinen darauf. Hinter uns standen Diener mit Laternen. Vor uns auf dem Teppich lag die ganze Sammlung orientalischer Leckerbissen– Honigkuchen, kandiertes Obst, Hammelfleisch am Spieß und Reis mit Huhn und Rosinen.

Ich bewunderte, wie schon oft, die Eleganz meines Vaters und meines Onkels. Ohne die linke Hand zu rühren, rissen sie breite Brotfladen ab, formten daraus eine Tüte, füllten sie mit Fleisch und führten sie zum Munde. Mit vollendeter Grazie steckte der Onkel drei Finger der rechten Hand in die fette, dampfende Reisspeise, nahm ein Häuflein, quetschte es zu einer Kugel und führte diese zum Mund, ohne auch nur ein Körnchen Reis fallen zu lassen.

Bei Gott, die Russen bilden sich so viel ein auf ihre Kunst, mit Messer und Gabel zu essen, obwohl es auch der Dümmste in einem Monat erlernen kann. Ich esse bequem mit Messer und Gabel und weiß, was sich am Tische der Europäer gehört. Aber obwohl ich schon achtzehn bin, kann ich nicht mit so vollendeter Vornehmheit wie mein Vater oder mein Onkel mit bloß drei Fingern der rechten Hand die lange Reihe der orientalischen Speisen vertilgen, ohne auch nur die Handfläche zu beschmutzen. Nino nennt unsere Eßart barbarisch. Im Hause Kipiani ißt man immer am Tisch und europäisch. Bei uns nur, wenn russische Gäste geladen sind, und Nino ist entsetzt bei dem Gedanken, daß ich auf dem Teppich sitze und mit der Hand esse. Sie vergißt, daß ihr eigener Vater erst mit zwanzig Jahren die erste Gabel in die Finger bekam.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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