7,99 €
Deutschland, Anfang der 90er Jahre: Der ambitionslose Zivildienstleistende Richie lebt in der südbadischen Provinz, ohne Idee, was er mit seinem Abitur anfangen soll. Seine Existenz dreht sich darum, viel zu schlafen, Musik zu hören und ausufernde Auftritte mit seiner Coverband zu feiern. Richies Liebesleben ist ein Trauerspiel und seine Eltern, bei denen er immer noch lebt, treiben ihn in den Wahnsinn. Da entdeckt er Pearl Jam, Nirvana und das Lebensgefühl des Grunge, und schlagartig ist alles da: Die Liebe, der Traum vom Erfolg und die größte Fehlentscheidung seines Lebens. Eine ebenso ernst gemeinte wie humorvolle Zeitreise in die frühen 90er und eine Liebeserklärung an jugendliche Dummheiten, die verdammten Träume und die Musik. Muss man ganz laut lesen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Zum Buch:
Deutschland, Anfang der 90er-Jahre: Der ambitionslose Zivildienstleistende Richie lebt in der südbadischen Provinz, ohne Idee, was er mit seinem Abitur anfangen soll. Seine Existenz dreht sich darum, viel zu schlafen, Musik zu hören und ausufernde Auftritte mit seiner Coverband zu feiern. Richies Liebesleben ist ein Trauerspiel, und seine Eltern, bei denen er immer noch lebt, treiben ihn in den Wahnsinn. Da entdeckt er Pearl Jam, Nirvana und das Lebensgefühl des Grunge, und schlagartig ist alles da: die Liebe, der Traum vom Erfolg und die größte Fehlentscheidung seines Lebens.
Eine ebenso ernst gemeinte wie humorvolle Zeitreise in die frühen 90er und eine Liebeserklärung an jugendliche Dummheiten, die verdammten Träume und die Musik.
Muss man ganz laut lesen!
Zum Autor:
Marc Hofmann, Jahrgang 1972, ist Gymnasiallehrer, Autor, Kabarettist und Liedermacher und lebt in Freiburg.
Vor einigen Jahren sorgte der Ärger darüber, dass eine Urlaubslektüre nicht seinen Erwartungen entsprach, dafür, dass er begann, selbst einen Roman zu schreiben. Dieser Roman wurde im Januar 2016 unter dem TitelAlles kann wartenbei CONBOOK veröffentlicht. Dazwischen schrieb Marc Hofmann eine Satire über den Schulbetrieb, die im Sommer 2015 bei Tropen unter dem TitelDer Klassenfeindveröffentlicht wurde und in Anlehnung daran ein gleichnamiges Kabarettprogramm, das er regelmäßig live spielt. In seiner vielen Freizeit tritt er als Kabarettist, Liedermacher und Vorleser auf. Er hat keine weiteren Hobbys.
2021 erschienen die ersten beiden Teile seiner Krimireihe um den ermittelnden Gymnasiallehrer Gregor Horvath:Der Mathelehrer und der Todund
Die hier beschriebenen Ereignisse sind eine Mischung aus Fantasie und mehr oder weniger verschwommener Erinnerung. Manches hat vielleicht wirklich so oder so ähnlich stattgefunden.
Es war ein Fiasko.
Ich hatte mir von diesem Abend so viel versprochen, hatte geglaubt, heute alles klarmachen zu können, und jetzt das. Wie durch einen Filter nahm ich die Dinge um mich herum wahr, während mein Gehirn versuchte, so zu tun, als wäre mein Körper gar nicht anwesend, als wäre ich ein unsichtbarer Beobachter dieser Tragödie.
Ich sah, wie Manni sich unten am Mischpult mit dem Soundmann von Alice in Chains prügelte. Ich sah den Monitortechniker am linken Bühnenrand, wie er diese Geste, bei der man so tut, als würde man sich die Kehle durchschneiden, in meine Richtung machte. Das Publikum hatte sich bereits abgewandt. Sie buhten nicht einmal mehr.
Ich sah Chris, der sich rechts von mir am Mikroständer festhielt und nach Atem rang wie ein betrunkener Seemann. Zwanzig Minuten lang hatte er sich die Seele aus dem Leib geschrien und vergeblich versucht, das Unheil abzuwenden. Wir waren nicht einmal nur schlecht, wir waren einfach nur peinlich. Schließlich hörte der Lärm auf, ich vernahm kurz ein armseliges Ploppen und Chris’ heiseres Krächzen, und dann: war es still.
Sie hatten uns den Saft abgedreht.
Ich verließ wortlos und mit gesenktem Blick die Bühne und steuerte am Backstageraum vorbei auf das Kabuff zu, in dem unsere Instrumentenkoffer lagen.
»Starker Auftritt, Richie«, sagte eine Stimme hinter mir.
Ich erstarrte.
In der geöffneten Tür zum Backstage stand sie und war schön und cool wie immer. Um ihre Mundwinkel kräuselte sich ein seltsames Lächeln, während sie Zigarettenrauch nach oben blies.
TEIL EINS
Yes!«, schrie Gringo und ballte die Faust. »So hab ich mir das vorgestellt, Mann! Genau so!«
Er saß hinter seinem Schlagzeug und hatte gerade die ersten Trommelschläge in unserem neuen Proberaum zelebriert.
»Geile Eierkartons, geiler Estrich, geile Arbeit, geiler Sound, geile Band!«
Ich nickte zufrieden, während ich meine Sachen aufbaute.
Zwei Jahre lang hatten wir in den Räumlichkeiten der örtlichen Blaskapelle geprobt, mussten vor jeder Probe alles auf- und danach alles wieder abbauen. Vor einigen Wochen nun hatte uns ein örtlicher Gastronom namens Horst, von allen nur Horst with no name genannt, freundlicherweise seinen Keller angeboten. Horst war ein großer Freund der nordamerikanischen Indianer und hatte in seiner Kneipe Manitou allerhand indianische Dekoration und Schilder mit Zitaten großer Häuptlinge angesammelt.
»Aber ihr müsst nach der Probe bei mir trinken!«, hatte Horst with no name auf diese merkwürdige süddeutsche Art hinzugefügt, bei der man oft nicht wusste, ob jemand einen Witz machte oder nicht.
»Kein Problem, das kriegen wir hin«, hatten wir ihm freudig entgegengerufen.
Daran hatte es nun wirklich nicht scheitern sollen. Eher daran, dass unser zukünftiger Proberaum da noch ein düsteres, altes Kellergewölbe gewesen war, mit feuchten Steinwänden und Lehmboden. Ratlos hatten wir uns umgesehen. Nur einer hatte, wie so oft, eine Vision gehabt: Gringo, unser Schlagzeuger und Mann für alles.
»Jungs, das wird ein Kinderspiel!«, hatte er selbstbewusst gerufen und in das Gewölbe gezeigt.
»Aha«, hatten wir gemurmelt und wie Maulwürfe in das dunkle Loch gestarrt.
»Da machen wir einen Estrich rein, verkleiden die Wände und dämmen das alles. Das sind ein paar Abende und zwei Wochenenden. In zwei Wochen proben wir hier drin, am Samstag geht’s los. Arbeitsdienst. Ausreden werden nicht geduldet.«
So war er, der Gringo. Sah Dinge, die sonst keiner sah, und er hatte recht behalten sollen. Und nun war es tatsächlich alles genau so gekommen, wie er vorhergesagt hatte. Gringo war ein Mann der Tat, daran gab es nichts zu rütteln. Von Haus aus Automechaniker, fungierte er bei uns als Techniker, Organisator und Logistiker. Er organisierte die Auftritte, wartete und ergänzte unsere Sound- und Lichtanlagen, beaufsichtigte und fuhr unseren Bandbus, einen grünen T2 Bulli, und war der Bandbuchhalter. Außerdem war er zuständig für den Höhepunkt unserer Auftritte: Zwei AC/DC-Lieder, zu denen er hinter seinem Schlagzeug hervorkam, zum einen, um Bon Scott täuschend echt zu imitieren, zum anderen, um währenddessen einen Strip bis auf die Unterhose hinzulegen, was ihm einmal in betrunkenem Zustand spontan eingefallen war und was so gut beim Publikum ankam, dass man ihn seither nicht von der Bühne ließ, ehe er nicht blankgezogen hatte.
»Ein wenig besser riechen könnte es hier unten noch«, meinte ich, denn unser neuer Proberaum müffelte doch arg nach feuchtem, modrigem Keller.
»Richie, ich will jetzt hier keine negativen Vibes von dir«, rief Gringo, »da hängen wir ein paar Duftbäume rein, dann riecht das im Nu tippitoppi, und außerdem, alle Proberäume der Welt riechen so. Sag mir lieber mal, wieso die Penner schon wieder zu spät kommen, wenn ich schon mal pünktlich bin.«
Gringo wies mit seinem Drumstick auf die Uhr, die über der Eingangstür hing.
Vor der Tür polterte es, dann vernahm man Stöhnen und Schmerzensschreie.
»Mach mal auf!«, wies Gringo mich an.
Im Gang vor der Tür lag Killi, der im Dunkeln, bepackt mit Verstärker und Gitarre, über ein paar Getränkekisten und Fässer gestolpert war.
»Das Licht ist immer noch kaputt«, maulte er vorwurfsvoll, erhob sich mühsam und wuchtete seinen Verstärker in den Proberaum.
»Ich bin Abiturient, ich kann so was nicht«, sagte ich und hob meine zwei linken Hände in die Luft.
Gringo lachte. »Da hat er recht, der Gitarrenmann, da müssen echte Hauptschüler ran, sonst wird das nichts. Killi, wie wär’s, das wär doch mal ein Job für dich am Wochenende.«
»Am Wochenende treten wir auf, nachher verletz ich mich noch, auf keinen Fall«, murmelte Killi hinter seinem Schnauzbart, während er begann, sein Equipment aufzubauen.
Gringo und ich blickten uns gespannt an, und als Killi seinen Gitarrenkoffer öffnete, hielten wir uns theatralisch die Augen zu und jaulten peinerfüllt auf. Killi hatte kürzlich eine neue Gitarre erstanden, offenbar mit der Maßgabe, dass es das denkbar hässlichste Instrument sein musste, das für Geld zu haben war. Sie war neongelb und hatte einen seltsamen Griff oben am Korpus, in dem es sogar vorgestanzte Rillen für die einzelnen Finger gab, damit der Träger es bequemer hatte, wenn er seine Gitarre durch die Gegend tragen musste, zum Beispiel, wenn er einmal mit Gitarre auf Wanderschaft ging, ihm aber der Koffer geklaut wurde. Man fragte sich auch, ob sich da jemand gedacht hatte, es gibt so viele schöne Gitarrenformen, Strat, Les Paul, wie sie alle heißen, schöne klassische Instrumente, die sexy, edel, verwegen und cool aussehen, also lass uns ein Instrument bauen, das das genaue Gegenteil von alledem ist, einmal von der Frage abgesehen, wieso ausgerechnet wir einen in der Band hatten, der sich sagte: Das kauf ich mir jetzt! Killi war auch sonst ein eher spezieller Vogel. Gitarre spielte er nur mit gesenktem Kopf, außerdem war er der einzige Gitarrist der Welt, der prinzipiell zu leise spielte. Er vertrat den Grundsatz, wonach er, wenn er von irgendwem außer sich selbst gehört wurde, zu laut sei. Das war höchst ungewöhnlich. Normalerweise reißen Gitarristen ihre Verstärker erst einmal ohrenbetäubend weit auf, denn All men play on ten, und wenn sie vom Soundmann oder Bandmitgliedern gebeten werden, doch bitte ein wenig leiser zu stellen, dann reagieren sie je nach Charakter beleidigt, angeekelt, empört oder vollkommen fassungslos. In der Regel gehen sie dann zu ihrem Verstärker, fummeln ein wenig am Volumenregler und spielen in genau derselben Lautstärke weiter. Nach dem dritten Versuch ohne wesentlich hörbaren Unterschied geben Soundmann und Bandmitglieder dann auf, und man lässt dem Gitarrenhelden seinen Willen, denn Gitarristen sind Diven, und man will nicht, dass sie den Rest des Tages, geschweige denn während eines abendlichen Konzerts, schlechte Stimmung verbreiten, indem sie sich in beleidigte Leberwürste verwandeln und schmollend auf ihr Griffbrett starren.
Killi war anders. Er starrte zwar auch auf sein Griffbrett, aber er war eher beleidigt, wenn man ihn bat, doch mal etwas lauter zu stellen.
Als nächster polterte Martin durch die Tür, unterm Arm sein Korg-Keyboard.
»Das Licht könnte auch mal jemand reparieren«, stellte er fest, dann sah er sich in unserer neuen Heimat um, nickte erst zufrieden, rümpfte dann aber die Nase und sagte: »Gut riechen ist anders.«
»Nicht so negativ«, sagte ich, »wir wollen jetzt positiv an die Sache rangehen.«
»Genau«, rief Gringo. »Wenn du erst mal zwei Abende in der Woche hier unten bist, riechst du das bald gar nicht mehr.«
Martin sah erst mich an, dann Gringo.
»Habt ihr zwei Schnuckis ein Esoterikseminar belegt, oder was seid ihr euch jetzt so hippiemäßig einig?«
Martin ging aufs Technische Gymnasium, hörte gerne Pink Floyd, interessierte sich für Astralreisen und luzide Träume, kiffte gerne mal und wirkte alles in allem immer so, als würde er irgendwann einmal die Weltformel entdecken. Ihn konnte nichts aus der Ruhe bringen, seine Meinung tat er in der Regel nonverbal kund, und klare mündliche Statements wie auch eindeutige Gefühlsregungen waren seine Sache nicht. Stattdessen handelte es sich bei fast all seinen Äußerungen eher um Tendenzen und Nuancen, die sich nur leicht in die verschiedenen Richtungen weg von seinem Ruhepol bewegten. Wie die meisten Keyboarder hatte er seit frühester Kindheit Klavierunterricht gehabt und war im Grunde für unsere Art von Musik völlig überqualifiziert. Im Gegensatz zu vielen anderen Keyboardern, die unter diesem Zustand litten und ihn regelmäßig jammernd artikulierten oder, was noch schlimmer war, irgendwann begannen, Jazzelemente in egal welche Musik einzuflechten, um sich selbst ein wenig bei Laune zu halten, machte Martin das überhaupt nichts aus. Er war ein Meister der Anpassung.
Gringo sah wieder auf die Uhr.
»Schon zwanzig Minuten drüber, das nervt abartig.«
Was er meinte, war, dass immer einer von uns im Wechsel unseren Sänger Tex abholen musste, weil der keinen Führerschein besaß. Tex wohnte eine Dreiviertelstunde entfernt.
In dem Moment hörten wir draußen Poltern, Schreie und Flüche, und dann kamen sie herein.
Lotti und Tex.
»Ganz schön dunkel da draußen«, sagte Lotti.
»Jaja«, murmelten wir anderen.
Aus irgendeinem Grund hatte man unserem Bassisten den Vornamen seiner Mutter als Spitznamen gegeben. Lotti Junior fuhr alle sechs Monate ein neues Auto, immer irgendwelche tiefergelegten Sportwagen, und hatte regelmäßig wechselnde Freundinnen, die alle ähnlich aussahen: Man konnte sie grob dem soften Rockermilieu zuordnen, also enge Lederhose und Stiefel, das aber kombiniert mit Dauerwellen und neonfarbenen bauchfreien Oberteilen. Dazu rauchten sie ausnahmslos und kauten gleichzeitig Kaugummi.
Was seine musikalische Neigung anging, hatte er sich, wie viele unserer Altersgenossen, im Bereich Rock und Hardrock der 60er- und 70er-Jahre eingerichtet, was ihm vollauf genügte, sodass er keinerlei Grund sah, sich für irgendetwas anderes zu interessieren. Er vertrat die Ansicht, dass musikalisch zu jener Zeit alles Wesentliche gesagt worden war, warum sollte man sich also mit etwas anderem, vielleicht sogar etwas Neuem, befassen? Mit dieser Meinung war er nicht der Einzige in unserer Band.
Killi hatte ihn vor vielen Jahren überredet, Bass zu lernen, also hatte er sich die erstbeste Bass-Verstärker-Kombination gekauft und einige Wochen geübt, bis er die Grundtöne beherrschte. Seither verweigerte er sich kategorisch jeder musikalischen Weiterentwicklung, sodass er, unbelastet von jeglichen Harmoniekenntnissen und vollauf zufrieden, seinen Bass hart mit dem Plektrum zu bearbeiten, ein unspektakuläres, zumeist aus Grundtönen bestehendes Fundament unseres Sounds beisteuerte.
»Lotti, wie nennt man nochmal diese Typen, die immer mit Musikern rumhängen?«, fragte ich ihn regelmäßig. Die Antwort, »Bassisten«, erübrigte sich mittlerweile.
Jetzt erst sahen wir, was Tex in der Hand hielt. Es war ein Tablett mit einer Cola, zwei Bier und drei Weinschorlen darauf.
»Kaltgetränke für die Herren Musikanten«, rief er und verteilte die Gläser, was freudiges Grunzen im Rund zur Folge hatte.
»Es sei dir alles verziehen«, sagte Gringo grinsend und griff nach seiner Schorle. »So, die Damen, hoch die Tassen, auf unseren neuen Raum. Möge uns ewiger Ruhm beschieden sein.«
Wir hoben die Gläser.
»Und Sex«, rief Tex.
»Auch das, mein Sohn«, meinte Gringo.
»Übrigens«, sagte Tex aufgeregt, »habt ihr schon mal zwei rohe Schnitzel zwischen die Rillen eines Heizungsradiators geklemmt und dann mit eurem …«
»Nein!« riefen Killi und ich gleichzeitig. »Wir wollen deine abartigen Fantasien nicht hören.« Gringo und Lotti beömmelten sich schenkelklopfend, Martin grinste.
»Das sind eigentlich gar keine …«
»Das ist ja das Schlimme«, rief ich dazwischen, »schweig still, das Bild krieg ich jetzt wieder wochenlang nicht aus dem Kopf.«
»Ist aber geil«, murmelte Tex und baute seinen Notenständer auf.
Tex war ein großartiger Rocksänger und gleichzeitig ein Quartalsirrer. Unter der Woche ging er ungeregelten Handwerkerjobs nach. Eine Festanstellung war bei ihm nicht möglich, kein Arbeitgeber hätte das länger als zwei Wochen mitgemacht. Einerseits konnte man sich gut mit ihm unterhalten, er war witzig und sympathisch und, wenn er nüchtern war, durchaus rational zugänglich, wenn auch mit einem Hang zu mehr oder weniger absurden Theorien.
An den Wochenenden jedoch, und das war die andere Seite seines Charakters, drehte Tex regelmäßig völlig durch. Er trank ohne jedes Maß, und nicht selten verschwand er dann einfach für ein paar Tage. Niemand wusste genau, was da passierte. Montags war er grundsätzlich unauffindbar und unerreichbar. Seinen Führerschein hatte man ihm gleich nach Erhalt wieder abgenommen, vermutlich, weil er bei der Fahrprüfung zu viel Promille hatte. Deshalb mussten wir ihn nicht nur zu den Proben, sondern auch zu den Auftritten abholen, was vor allem Gringo immer mehr aufregte.
Wenn sie, wie meist, am Samstag stattfanden, glich das Abholen einer Lotterie, denn dann konnte es sein, dass er seit Freitagabend noch nicht zurückgekehrt und daher nicht zu Hause war. Prinzipiell gab es dann nur zwei Möglichkeiten: vor seiner Tür warten, bis er auftauchte, oder, wenn das nicht geschah, zum Gig fahren in der Hoffnung, er würde dort irgendwann eintrudeln, chauffiert zumeist von einer weiblichen Bekanntschaft vom Vorabend, denn darauf lief es bei ihm meistens hinaus. Er war da insgesamt nicht allzu anspruchsvoll. Da Tex immer einer der letzten Gäste auf einer Party oder in einer Kneipe war, handelte es sich also zwangsläufig um eine eher reife und ebenso trinkfeste Frau, die bis zum Schluss durchhielt, also eine Übriggebliebene, den Rest vom Fest, wie man bei uns sagte, oder den Ausschuss, wie Gringo das nannte.
Einmal war er sogar nicht von der Frau vom Vorabend selbst zum Auftritt gebracht worden, sondern von deren Freund. Wie das genau zugegangen war, blieb unklar, es zeigte aber eine Sache ganz deutlich: Niemand konnte Tex ernsthaft böse sein, egal, wie sehr man sich über ihn ärgerte.
Mittlerweile hatten alle ihren Kram aufgebaut. Die Verstärker brummten hinter uns in den Ecken, die Gitarren waren einigermaßen gestimmt. Wir waren bereit. Ich sah von einem zum anderen und musste grinsen. Wir sahen uns wirklich bemerkenswert ähnlich: Vokuhila, den Voku-Teil mit ein wenig Gel zum Stehen gebracht, enge Röhrenjeans, halbhohe weiße Turnschuhe, ein mehrere Nummern zu großes T-Shirt und als Krönung: der obligatorische Schnäuzer.
Hierin zumindest unterschied ich mich aber doch gewaltig. Ich hatte keinen. Weniger aus innerer Überzeugung, sondern, weil mir einfach keiner wachsen wollte.
Gringo zählte ein.
Ich spielte die ersten Akkorde, der Bass marschierte darunter mit seinen Achteln los, von Killi war wie immer nichts zu hören, Gringo stampfte den Beat und Martin gurgelte die Jon-Lord-Akkorde dazu, sein Korg-Keyboard klang mit einiger Fantasie sogar fast wie eine Hammond-Orgel.
Dann setzte Tex ein.
Nobody gonna take my car
I’m gonna race it to the ground.
Deep Purple. Highway Star. Ja, wir coverten Classic Rock. Vorsätzlich ignorierten wir so gut wie alle Strömungen der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre, bei uns gab es keinen Wave, keinen Post-Punk, keine Charts und schon gar keinen Synthie-Pop. Wir spielten Rockklassiker der 70er-Jahre, vielleicht auch mal das eine oder andere neuere Lied, wenn es gewisse Auflagen erfüllte, und sonst nichts. Wir waren Fundamentalisten.
Ich selbst war der Notenwart der Musikformation, hörte die Akkorde und Texte der Songs heraus und schrieb sie für alle auf. Wenn ich ein Wort, eine Zeile oder, wie bei manchen Liedern der Fall, den ganzen Text nicht verstand, schrieb ich es so auf, wie ich es hörte, wenn nötig, erfand ich einfach Wörter. Mein Lieblingsübersetzungsfehler aus der Zeit war die Zeile I give her the car keys aus dem Lied Wonderful tonight, woraus ich aus irgendeinem Grund I give her Dukakis machte, vielleicht, weil ein Mann dieses Namens 1988 US-Präsidentschaftskandidat gewesen und mir das Wort daher vage bekannt vorgekommen war.
Hast du mitbekommen, was gestern passiert ist?«, fragte mich mein Vater unvermittelt zwischen zwei Gabeln Vollkornreis.
»Was jetzt?«, antwortete ich, obwohl ich ahnte, was er meinte. Die Amerikaner hatten am Persischen Golf die Operation Desert Storm begonnen.
»Der kriegt nichts mit! Ihr jungen Leute kriegt ja nichts mit. Lest ihr denn keine Zeitung? Hört ihr keine Nachrichten?«
»Was meinst du denn? Das mit dem Golfkrieg?«
»Die kriegen nichts mit, die Jungen!«, ereiferte sich mein Vater nun an meine Mutter gewandt. Meinen letzten Satz hatte er gar nicht gehört. Er wollte ihn nicht hören.
»Das ist wie mit den Scheidungen«, fuhr er fort, er nahm jetzt Fahrt auf, »alle lassen sich jetzt scheiden, das ist auch so eine Mode. Die einen kriegen nix mit, die anderen lassen sich scheiden. Überall das Gleiche!« Jedes seiner Worte unterstrich er mit wildem Gefuchtel seiner Gabel, auf der noch ein Reiskorn steckte, das sich weigerte zu fallen.
»Und was hat das jetzt mit dem Krieg zu tun?«, fragte ich, berechtigterweise, wie ich fand.
»Das war klar, dass du sogar Scheidungen verteidigen würdest! Lass dich doch auch gleich scheiden.«
»Ich bin gar nicht verheiratet, ich habe ja nicht mal eine Freundin.«
»Ich sag’s ja.«
»Schließlich bin ich ja auch erst 18«, sagte ich.
»18.18! Mit 18 war ich schon in Kriegsgefangenschaft«, ereiferte sich mein Vater weiter. Er stach mit der Gabel in meine Richtung, aber das Reiskorn hielt sich wacker.
»Du warst 20!«, sagte meine Mutter.
»Schrei mich doch nicht so an«, sagte mein Vater, und die Gabel zeigte nun anklagend auf meine Mutter, das Reiskorn immer vorneweg. Bei Widersprüchen fühlte er sich immer angeschrien, dabei war er der Einzige in unserer Familie, der hin und wieder herumbrüllte.
»Ihr seid mir die Richtigen«, fuhr er fort, »nix mitkriegen, den ganzen Tag rumgammeln, und dann diese schreckliche Musik, die da immer aus deinem Zimmer kommt.«
»Guns n’ Roses«, sagte meine Mutter. Mein Vater und ich sahen sie überrascht an.
»Jetzt schaut nicht so«, sagte sie. »Denkt ihr, ich bekomme nicht mit, wie diese langhaarigen Gammler heißen, die mich immer von den ganzen Postern herab anglotzen, wenn ich Richies dreckige Unterhosen vom Boden klaube?«
»Wieso eigentlich immer dreckige Unterhosen? So dreckig sind die nun auch wieder nicht. Und außerdem, hab ich dich je gebeten, meine Unterhosen aufzuheben? Erstens musst du das nicht, du machst es freiwillig, und zweitens weiß ich gar nicht, was das jetzt schon wieder soll?«
»Hah!«, machte mein Vater grundlos und entschloss sich endlich dazu, weiterzuessen.
»Dieser Sänger«, wechselte meine Mutter zwischen zwei Bissen unvermittelt das Thema, »Äxel, richtig, also der gefällt mir nicht.«
Ich starrte sie an. Nun hatte sie sich also über Guns n’ Roses Gedanken gemacht, und sie kannte sogar den Namen des Sängers? Was war hier los?
»Also«, fuhr sie fort, »das ist ja schon ein hübscher Bengel, gell, aber in seinen Augen, da …«, jetzt fuchtelte sie mit der Gabel durch die Luft, »da blitzt etwas ganz Ungutes auf. Da lauert etwas.« Sie stieß mit der Gabel in meine Richtung. »Und das will da raus.«
Ich hatte aufgehört zu kauen und versuchte zu verarbeiten, was da eben geschehen war. Hatte irgendeine Kreatur von meiner Mutter Besitz ergriffen, war das nur noch ihr Körper, und dahinter verbarg sich etwas, ein Wesen, das sich jetzt plötzlich mit zeitgenössischer Rockmusik auskannte?
»Und was das Strom braucht«, meldete sich mein Vater abrupt wieder zu Wort, als hätte meine Mutter gar nichts gesagt, »und das Licht, das muss ich auch immer hinter dir ausdrehen. Da ist es ja kein Wunder, dass man wegen Öl Krieg führen muss, damit die Herrschaften immer genug Energie verschwenden können für nichts und wieder nichts.«
Ich merkte, dass ich seit Längerem mit dem Mund voll trockenem Vollkornreis dasaß, der mir langsam in die Kehle rutschte. Schnell schluckte ich ihn herunter.
»Du gibst also mir die Schuld an dem Einmarsch der Irakis in Kuweit, verstehe ich das jetzt richtig?«
»Jetzt komm mir nicht so! Ohne mich wüsstest du ja nicht mal, dass da überhaupt etwas passiert ist.«
Natürlich wusste ich das. Ich hatte einfach nur beschlossen, dass es mir egal war. Ich hatte genügend eigene Probleme. Die Pflichten des Alltags widersprachen meinem Biorhythmus, ich machte Zivildienst in einer Sterbeklinik, hatte Triebstau und keine Ahnung, was ich nach dem Zivildienst tun sollte.
So war es mir schon 1986 nach dem Unglück in Tschernobyl gegangen. Damals hatte ich meine ersten Schamhaare bekommen und gerade die Rockmusik entdeckt, konnte mich also nicht weiter mit dieser Katastrophe befassen.
Und dann wieder drei Jahre später beim Fall der Berliner Mauer. Auch dort hatte ich mir kurz die Bilder der feiernden Menschen mit noch schlimmeren Frisuren als den unseren angesehen und nichts dabei empfinden können. Im Unterricht war darüber gesprochen worden, unsere Geschichtslehrerin hatte verzweifelt versucht, uns die Dimension des Geschehens zu verdeutlichen, aber wenn man völlig übermüdet stundenlang auf einem Stuhl sitzen musste, die ganze Zeit an Sex dachte, den man nicht haben konnte, und ansonsten kontemplativ über Fragen wie Bon Scott oder Brian Johnson, Rainbow oder Deep Purple, welches Led-Zeppelin-Album für die einsame Insel oder Was ziehe ich am Wochenende auf der Bühne an? versunken war, dann hatte man keine Kapazität übrig für derlei Dinge, die außerdem auch noch so unendlich weit weg von uns vor sich gegangen waren.
»Der Paul McCartney«, riss mich das Wesen, das aussah wie meine Mutter, wieder aus meinen Gedanken. »Das ist ein süßer Kerl. Oder auch der Phil Collins. Aber dieser Äxel Rose …«, sie sprach den Nachnamen deutsch aus, »ich weiß nicht, ich weiß nicht, mit dem stimmt etwas nicht. Nimm dich vor dem mal lieber in Acht.«
Ich sah auf die Küchenuhr.
»Liebe Eltern«, sagte ich und ließ die Gabel fallen, »es war wie immer ein großes Vergnügen, mit euch zu plaudern, aber jetzt entschuldigt mich, wichtige Verpflichtungen harren meiner.«
Mein Leben war zu der Zeit äußerst überschaubar. Hatte ich die letzten Jahre meines Lebens gleichmütig das Gymnasium in der Kreisstadt besucht und mir dort ein mittelprächtiges Abitur erschlafwandelt, so war es nun ein zeitlich äußerst überschaubarer Halbtags-Zivildienst, von dem ich an Wochentagen mittags völlig erschöpft und todmüde nach Hause kam, wo, wenn ich Glück hatte, eine warme Mahlzeit auf mich wartete.
Aber meine Eltern hatten gerade ihre Ernährung umgestellt. Irgendein Erweckungserlebnis, das meine Mutter während eines Kuraufenthalts im Allgäu gehabt hatte, trug daran Schuld. Sie aßen jetzt Vollwertkost. Im Keller stapelte sich säckeweise Getreide, das sie abends ohrenbetäubend laut mit einer Art Presslufthammermühle zerkleinerten, dann einweichten, um am nächsten Tag irgendetwas daraus zu fabrizieren: Müsli, Brot oder Bratlinge, alles mit der Konsistenz von halb gehärtetem Zement. Eine Weile spielte ich notgedrungen mit, würgte morgens trockene und klebrige Weizenpampe hinunter, aß hundertprozentiges Vollkornbrot, das bereits eine Stunde, nachdem es aus dem Ofen genommen wurde, alt war, und dazu kiloweise Rohkost und Salat. Aber das waren Beilagen. Ich als junger Mann in der Blüte meiner Kraft wollte Kohlenhydrate und Fleisch haben, alles andere war für den hohlen Zahn. Ich hatte einen enormen Energieverbrauch, was glaubten die denn, wie der gedeckt werden wollte? Durch Möhren?
Nach dem Mittagessen musste ich mich regelmäßig erst einmal einem ausführlichen Mittagsschlaf hingeben. Ich schmiss mich dazu aufs Bett, legte eine Rockplatte auf, von der ich maximal die ersten beiden Lieder mitbekam, bevor mich ein komatöser Erschöpfungsschlaf übermannte, aus dem ich zwei Stunden später, kleinäugig, orientierungslos und übellaunig erwachte, mich die Treppe hinaufschleppte, krächzend Kaffee verlangte, der in der Regel schon pechschwarz und gut abgestanden in der Kanne der elterlichen Filtermaschine auf mich wartete. Meine Mutter traf sich regelmäßig Punkt drei Uhr mit entweder meiner großen Schwester oder anderen semi-ausgelasteten Hausfrauen und Müttern zum Kaffee. Allesamt Mütter, deren Kinder, wie ich, der Adoleszenz anheimgefallen waren, was bedeutete, dass der bisherige Lebensinhalt dieser Frauen, nämlich die Aufzucht des Nachwuchses, sich mittlerweile auf Kochen und Waschen beschränkte sowie mehr oder weniger halbherzigen Versuchen, Jugendzimmer zu lüften oder dort die Betten zu machen.
Dann grüßte ich missmutig in die Kaffeerunde und zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich den Verstärker anschaltete und in der Regel bis zum Abend Gitarre spielte.
Meine Eltern, so anstrengend sie oft sein konnten, hatten damit kein Problem. Im Gegenteil, sie hatten mir meine erste Gitarrenausrüstung gekauft und ließen mich seither nahezu unbehelligt in meinem Kellerzimmer in fast jeder Lautstärke meine Riffs praktizieren. Dazu übte ich Posen vor dem Spiegel und tauchte ab in meine Fantasiewelt. Ich verbrachte gern Zeit in meinem Zimmer. Insgesamt fand ich die Wirklichkeit draußen wesentlich anstrengender und weniger aufregend als meine Vorstellungswelt, in der ich ein begehrter und bewunderter Gitarrenrockheld war.
Meiner Mutter vor allem war das wahrscheinlich gar nicht so unrecht, denn so wusste sie wenigstens, wo ich war. Ganz im Gegensatz zum Schicksal mancher ihrer mütterlichen Leidensgenossinnen, deren Kinder tagein, tagaus auf den Straßen herumtorkelten oder Bushaltestellen bewachten, wie wir das nannten, was bedeutete, dass sie dort den ganzen Nachmittag und Abend auf Bänken saßen, rauchten, Bier tranken und lange Speichelfäden Richtung Boden träufeln ließen.
Ich dagegen wollte gut Gitarre spielen können. Nirgends sonst hatte ich je solch einen Ehrgeiz entwickelt. Und so übte ich ausnahmslos jeden Tag. Während alles andere, Vokabeln lernen, Mathe, also alles, was man regelmäßig lernen und üben musste, eine sinnlose und langweilige Quälerei für mich war, raste die Zeit beim Gitarrespielen dahin. Es kam mir niemals vor wie Üben, es machte einfach Spaß. Es war erhebend und euphorisierend, wenn man ein bekanntes Riff, ein Solo, einen ganzen Song mit der Platte oder Kassette mitspielen konnte. Es gab kaum etwas Besseres.
Vor etwa drei Jahren hatten wir unsere Band gegründet und Atomic genannt, ein Name, den alle außer mir doof fanden, aber nachdem ich im Fernsehen einen alten Auftritt von Blondie mit dem Lied dieses Titels gesehen hatte, sorgte meine Spontanentflammung für Debbie Harry dafür, dass ich überzeugender als alle anderen meinen Namensvorschlag verteidigte und die anderen schließlich einknickten, zumal der Name sich auch auf meinem gleich angefertigten Plakatentwurf gut machte.
Bei unserem ersten Gig, einer Kollektivgeburtstagsfeier von Martin, Gringo und noch einigen Halunken aus der Gegend, kamen mehr als 400 Leute in die örtliche Mehrzweckhalle. Ein Abend, der keine Fragen offen ließ und der zeigte, wo es lang gehen würde. Gab sich das Publikum zunächst noch reserviert, so sorgten der hiesige Wein und vor allem Hochprozentiges aus der Bar dafür, dass ab 23 Uhr der Enthusiasmus zunahm und wir unser zweistündiges Set direkt noch einmal wiederholen mussten. Ab 1 Uhr kannten sie kein Halten mehr, sie standen vor der Bühne, skandierten unsere Namen, verlangten grölend nach mehr TNT oder Smoke on the water und am Ende gar nach unseren T-Shirts. Nach dem Gig schauten wir uns ungläubig an.
Ja, das war geil. Das wollte man. Auch wenn es nicht unsere Lieder waren, die wir spielten, in dem Moment war das egal. Wir waren es, denen sie zujubelten. Wir zauberten ihnen das Glück in die Körper und Gesichter.
Für diese Momente lebte ich von da an. Das war sogar noch besser als vor dem Spiegel in meinem Zimmer.
Und so wurden wir binnen kurzer Zeit ein bekannter und beliebter Live-Act in den umliegenden Gemeinden, wo wir in Mehrzweckhallen und auch bald bei Motorradfestivals und Straßenfesten aufspielten, überall dort, wo man eine zünftige Kapelle brauchte, die den Leuten zu vorgerückter Stunde den Rock brachte und vor allem dafür sorgte, dass sie tranken.
Die Abende wurden veranstaltet von örtlichen Vereinen, die die Gastroeinnahmen behielten, und wir bekamen den Eintrittserlös. Ein für beide Seiten lukratives Geschäft, das dafür sorgte, dass beispielsweise die örtliche Narrenzunft ihren Vereinsausflug bald nicht mehr, wie bisher, in den Harz, sondern mit der kompletten Belegschaft nach Mallorca machen konnte.
Wir als Band waren nicht so sehr auf Perfektion aus, je fortgeschrittener der Abend, desto höher auch die Promille nicht nur im Publikum, sondern auch auf der Bühne. Aber da kam es dann sowieso nicht mehr darauf an, dass jeder Ton richtig saß, Hauptsache, man erkannte das Lied in groben Zügen.
Bei uns ging es nur um den Spaß. Natürlich verdienten wir auch Geld damit, das wir größtenteils direkt wieder in unser Equipment steckten, aber wir hätten es auch ohne Gage gemacht. Umsonst trinken und Lieder spielen, die wir liebten, mehr brauchten wir nicht für einen Samstagabend, das reichte völlig.
Und heute war wieder ein Auftritt.
Der Wirt unserer Stammkneipe Intensivstation hatte Geburtstag und ein großes Bierzelt aufgebaut. Ich ging in mein Zimmer, riss die Tür meines Kleiderschranks auf und zog verschiedene Hosen, T-Shirts und Hemden heraus, die ich auf meinem Bett verteilte. Dann legte ich eine Rainbow-LP auf und stellte mich vor den Spiegel.
Ich probierte verschiedene Klamotten-Kombinationen, dachte kurz mit Sorge daran, wie genervt vor allem Gringo in letzter Zeit von Tex’ Unzuverlässigkeit war und hoffte, der Abend würde ohne weitere Ausfallerscheinungen unseres Sängers über die Bühne gehen. Schließlich entschied ich mich für eine Jeans mit Rissen und – den mysteriösen Äußerungen meiner Mutter eben zum Trotz – ein Guns-n’-Roses-T-Shirt. Bei den Schuhen gab es nichts zu überlegen, ich hatte nur ein Paar: weiße, halbhohe Adidas Allround.
Dann zog ich neue Saiten auf meine Gitarre, lud alles in den elterlichen Opel Kadett und fuhr zum Proberaum, wo wir unseren Kram, Schlagzeug, Keyboards, Verstärker, Mischpult, Lautsprecher, Lichtanlage, Stative und Kabel die steile Kellertreppe emporschleppten, in den Bully packten und zum Auftrittsort fuhren.
Wir spielten uns an jenem Abend durch unser erstes Set, und beim letzten Lied vor der Pause sah ich zu Martin hinüber. Der hatte mittlerweile eine Technik entwickelt, wie er mittels ausgeklügelter Halterungen und Ablageflächen auf seinem Keyboard mit einer Hand weiterspielen und gleichzeitig mit der anderen einen kompletten Joint bauen konnte. Das fertige Resultat lag bereits an dem dafür vorgesehenen Platz, Martin zwinkerte mir zu, und ich wusste, die Pause war gerettet.
Wir rauchten hinterm Zelt, philosophierten ein wenig darüber, welches die beste Pink-Floyd-Platte war, und kletterten zwanzig Minuten später zurück auf die Bühne. Light my fire stand passenderweise als Nächstes auf der Setlist. Das Lied schwebte los, und bis zum zweiten Refrain ging auch alles gut. Irgendwann während dieses endlosen Keyboardsolos über zwei Akkorde muss etwas in meinem Kopf einen Schalter umgelegt haben, aber ohne, dass ich es gemerkt hatte. Ich begann mich von den Mollakkorden, die ich zu greifen hatte, zu lösen und ging in ein geschmeidiges Gegniedel über, mit dem ich die Keyboardtöne ergänzen, neu einfärben, umspielen wollte. Während ich rockte, wurden meine Finger, das Griffbrett, mein Geist und das Universum eins. Ich sah zu Martin hinüber, der mich gleichzeitig grinsend und kopfschüttelnd ansah, was ich nicht deuten konnte. Ich hörte Gringo irgendetwas rufen, ignorierte es aber großzügig. Excuse me, while I kiss the sky. Ich begann meine Mitmusiker anzurocken, verlor aber immer wieder das Gleichgewicht und stolperte gegen Lotti, der mich wegschubste, so dass ich weiterdudelnd gegen Martins Keyboard stieß. Es rutschte vom Ständer, und er konnte es gerade noch vor dem Sturz retten. Ich ließ ihn und sein Keyboard zurück, ich hatte keine Zeit dafür, ich musste Töne spielen. Töne, die einem die Welt erklärten. Irgendwann spürte ich, dass ein ganz spezieller Ton sich noch besser anfühlte als alle anderen. Ich spielte ihn immer wieder, zog ihn nach oben und ließ die Seite wieder locker, ich wollte nie mehr etwas anderes spielen als diesen Ton. War die Weltformel ein Ton, ich hatte ihn gefunden. Und ich wurde eins mit ihm. Ich war eine Ein-Mann-Galaxie, ich war der Sphärenklang. Ich sah Schiffe brennen nahe dem Tannhäuser Tor. Ich drehte mich um und sah Gringo, der hinter seinem Schlagzeug wütend mit seinen Stöcken herumfuchtelte, während er versuchte, den Beat zu halten.
Martin und zwei Rocker stellten Martins Keyboard samt Ständer wieder auf, es musste wohl irgendwie umgefallen sein. Ich positionierte mich vor meinem Verstärker in der Hoffnung auf ein bewusstseinserweiterndes Feedback. Eine Hand schob sich an mir vorbei und klickte meinen Amp auf Standby. Mitten im Solo! Mitten im Lied! Erzürnt drehte ich mich um.
Die Band stand um mich herum und starrte mich an.
Das Publikum stand unten und starrte mich an.
»Sag mal, geht’s noch?«, schrie Gringo mich an.
»Was denn?«
»Kiff halt nicht so viel, wenn du’s nicht verträgst.«