Alive! - Marc Hofmann - E-Book

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Marc Hofmann

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Beschreibung

Deutschland, Anfang der 90er Jahre: Der ambitionslose Zivildienstleistende Richie lebt in der südbadischen Provinz, ohne Idee, was er mit seinem Abitur anfangen soll. Seine Existenz dreht sich darum, viel zu schlafen, Musik zu hören und ausufernde Auftritte mit seiner Coverband zu feiern. Richies Liebesleben ist ein Trauerspiel und seine Eltern, bei denen er immer noch lebt, treiben ihn in den Wahnsinn. Da entdeckt er Pearl Jam, Nirvana und das Lebensgefühl des Grunge, und schlagartig ist alles da: Die Liebe, der Traum vom Erfolg und die größte Fehlentscheidung seines Lebens. Eine ebenso ernst gemeinte wie humorvolle Zeitreise in die frühen 90er und eine Liebeserklärung an jugendliche Dummheiten, die verdammten Träume und die Musik. Muss man ganz laut lesen!

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Zum Buch:

Deutsch­land, An­fang der 90er-Jah­re: Der am­bi­ti­ons­lo­se Zi­vil­dienst­leis­ten­de Ri­chie lebt in der süd­ba­di­schen Pro­vinz, oh­ne Idee, was er mit sei­nem Ab­itur an­fan­gen soll. Sei­ne Exis­tenz dreht sich dar­um, viel zu schla­fen, Mu­sik zu hö­ren und aus­ufern­de Auf­trit­te mit sei­ner Co­ver­band zu fei­ern. Ri­chies Lie­bes­le­ben ist ein Trau­er­spiel, und sei­ne El­tern, bei de­nen er im­mer noch lebt, trei­ben ihn in den Wahn­sinn. Da ent­deckt er Pearl Jam, Nir­va­na und das Le­bens­ge­fühl des Grun­ge, und schlag­ar­tig ist al­les da: die Lie­be, der Traum vom Er­folg und die größ­te Feh­lent­schei­dung sei­nes Le­bens.

Ei­ne eben­so ernst ge­mein­te wie hu­mor­vol­le Zeit­rei­se in die frü­hen 90er und ei­ne Lie­bes­er­klä­rung an ju­gend­li­che Dumm­hei­ten, die ver­damm­ten Träu­me und die Mu­sik.

Muss man ganz laut le­sen!

 

Zum Au­tor:

Marc Hof­mann, Jahr­gang 1972, ist Gym­na­si­al­leh­rer, Au­tor, Ka­ba­ret­tist und Lie­der­ma­cher und lebt in Frei­burg.

Vor ei­ni­gen Jah­ren sorg­te der Är­ger dar­über, dass ei­ne Ur­laubs­lek­tü­re nicht sei­nen Er­war­tun­gen ent­sprach, da­für, dass er be­gann, selbst ei­nen Ro­man zu schrei­ben. Die­ser Ro­man wur­de im Ja­nu­ar 2016 un­ter dem Ti­telAl­les kann war­tenbei CON­BOOK ver­öf­fent­licht. Da­zwi­schen schrieb Marc Hof­mann ei­ne Sa­ti­re über den Schul­be­trieb, die im Som­mer 2015 bei Tro­pen un­ter dem Ti­telDer Klas­sen­feindver­öf­fent­licht wur­de und in An­leh­nung dar­an ein gleich­na­mi­ges Ka­ba­rett­pro­gramm, das er re­gel­mä­ßig live spielt. In sei­ner vie­len Frei­zeit tritt er als Ka­ba­ret­tist, Lie­der­ma­cher und Vor­le­ser auf. Er hat kei­ne wei­te­ren Hob­bys.

2021 er­schie­nen die ers­ten bei­den Tei­le sei­ner Kri­mi­rei­he um den er­mit­teln­den Gym­na­si­al­leh­rer Gre­gor Hor­vath:Der Ma­the­leh­rer und der Todund

Marc Hofmann

 

 

 

Alive!

 

Im­pres­s­um Ver­öf­fent­licht im Kirsch­buch Ver­lag,ein Im­print der Qua­li­Fic­ti­on GmbHNeß 1, 20457 Ham­burgMai 2022Co­py­right © 2022by Qua­li­Fic­ti­on GmbH, Ham­burgUm­schlag­ge­stal­tung: Qua­li­Fic­ti­on GmbHSatz: Qua­li­Fic­ti­on GmbHISBN 9783948736217

 

Vor­wort des Au­tors

Die hier be­schrie­be­nen Er­eig­nis­se sind ei­ne Mi­schung aus Fan­ta­sie und mehr oder we­ni­ger ver­schwom­me­ner Er­in­ne­rung. Man­ches hat viel­leicht wirk­lich so oder so ähn­lich statt­ge­fun­den.

Wir sind unterwegs, unterwegs zur MusikBis an die Grenzen unserer Physik.Wir bringen sie zum Klingen, sie bringt uns durcheinander.Wir verstehn sie so wenig wie wir uns untereinander.Denn in manchen Momenten ist sie für eine WeileMehr als die Summe der einzelnen Teile.Wir leben von einem Glauben, der unserer Gegenwart vorauseilt.

 

Kante, Die Summe der einzelnen Teile

 

 

 

 

I tell you, folks,It’s harder than it looks.It’s a long way to the top if you wanna rock ’n’ roll.It’s a long way to the top if you wanna rock ’n’ roll.

 

AC/DC, It’s a long way to the top (if you wanna rock ’n’ roll)

 

Pro­log

Es war ein Fi­as­ko.

Ich hat­te mir von die­sem Abend so viel ver­spro­chen, hat­te ge­glaubt, heu­te al­les klar­ma­chen zu kön­nen, und jetzt das. Wie durch ei­nen Fil­ter nahm ich die Din­ge um mich her­um wahr, wäh­rend mein Ge­hirn ver­such­te, so zu tun, als wä­re mein Kör­per gar nicht an­we­send, als wä­re ich ein un­sicht­ba­rer Be­ob­ach­ter die­ser Tra­gö­die.

Ich sah, wie Man­ni sich un­ten am Misch­pult mit dem Sound­mann von Ali­ce in Chains prü­gel­te. Ich sah den Mo­ni­tor­tech­ni­ker am lin­ken Büh­nen­rand, wie er die­se Ges­te, bei der man so tut, als wür­de man sich die Keh­le durch­schnei­den, in mei­ne Rich­tung mach­te. Das Pu­bli­kum hat­te sich be­reits ab­ge­wandt. Sie buh­ten nicht ein­mal mehr.

Ich sah Chris, der sich rechts von mir am Mi­kro­stän­der fest­hielt und nach Atem rang wie ein be­trun­ke­ner See­mann. Zwan­zig Mi­nu­ten lang hat­te er sich die See­le aus dem Leib ge­schri­en und ver­geb­lich ver­sucht, das Un­heil ab­zu­wen­den. Wir wa­ren nicht ein­mal nur schlecht, wir wa­ren ein­fach nur pein­lich. Schließ­lich hör­te der Lärm auf, ich ver­nahm kurz ein arm­se­li­ges Plop­pen und Chris’ hei­se­res Kräch­zen, und dann: war es still.

Sie hat­ten uns den Saft ab­ge­dreht.

 

Ich ver­ließ wort­los und mit ge­senk­tem Blick die Büh­ne und steu­er­te am Back­s­ta­ge­raum vor­bei auf das Ka­buff zu, in dem un­se­re In­stru­men­ten­kof­fer la­gen.

»Star­ker Auf­tritt, Ri­chie«, sag­te ei­ne Stim­me hin­ter mir.

Ich er­starr­te.

In der ge­öff­ne­ten Tür zum Back­s­ta­ge stand sie und war schön und cool wie im­mer. Um ih­re Mund­win­kel kräu­sel­te sich ein selt­sa­mes Lä­cheln, wäh­rend sie Zi­ga­ret­ten­rauch nach oben blies.

TEIL EINS

 

1  High­way Star

Yes!«, schrie Grin­go und ball­te die Faust. »So hab ich mir das vor­ge­stellt, Mann! Ge­nau so!«

Er saß hin­ter sei­nem Schlag­zeug und hat­te ge­ra­de die ers­ten Trom­mel­schlä­ge in un­se­rem neu­en Pro­be­raum ze­le­briert.

»Gei­le Ei­er­kar­tons, gei­ler Estrich, gei­le Ar­beit, gei­ler Sound, gei­le Band!«

Ich nick­te zu­frie­den, wäh­rend ich mei­ne Sa­chen auf­bau­te.

Zwei Jah­re lang hat­ten wir in den Räum­lich­kei­ten der ört­li­chen Blas­ka­pel­le ge­probt, muss­ten vor je­der Pro­be al­les auf- und da­nach al­les wie­der ab­bau­en. Vor ei­ni­gen Wo­chen nun hat­te uns ein ört­li­cher Gas­tro­nom na­mens Horst, von al­len nur Horst with no na­me ge­nannt, freund­li­cher­wei­se sei­nen Kel­ler an­ge­bo­ten. Horst war ein gro­ßer Freund der nordame­ri­ka­ni­schen In­di­a­ner und hat­te in sei­ner Knei­pe Ma­ni­tou al­ler­hand in­di­a­ni­sche De­ko­ra­ti­on und Schil­der mit Zi­ta­ten gro­ßer Häupt­lin­ge an­ge­sam­melt.

»Aber ihr müsst nach der Pro­be bei mir trin­ken!«, hat­te Horst with no na­me auf die­se merk­wür­di­ge süd­deut­sche Art hin­zu­ge­fügt, bei der man oft nicht wuss­te, ob je­mand ei­nen Witz mach­te oder nicht.

»Kein Pro­blem, das krie­gen wir hin«, hat­ten wir ihm freu­dig ent­ge­gen­ge­ru­fen.

Dar­an hat­te es nun wirk­lich nicht schei­tern sol­len. Eher dar­an, dass un­ser zu­künf­ti­ger Pro­be­raum da noch ein düs­te­res, al­tes Kel­ler­ge­wöl­be ge­we­sen war, mit feuch­ten Stein­wän­den und Lehm­bo­den. Rat­los hat­ten wir uns um­ge­se­hen. Nur ei­ner hat­te, wie so oft, ei­ne Vi­si­on ge­habt: Grin­go, un­ser Schlag­zeu­ger und Mann für al­les.

»Jungs, das wird ein Kin­der­spiel!«, hat­te er selbst­be­wusst ge­ru­fen und in das Ge­wöl­be ge­zeigt.

»Aha«, hat­ten wir ge­mur­melt und wie Maul­wür­fe in das dunk­le Loch ge­starrt.

»Da ma­chen wir ei­nen Estrich rein, ver­klei­den die Wän­de und däm­men das al­les. Das sind ein paar Aben­de und zwei Wo­chen­en­den. In zwei Wo­chen pro­ben wir hier drin, am Sams­tag geht’s los. Ar­beits­dienst. Aus­re­den wer­den nicht ge­dul­det.«

So war er, der Grin­go. Sah Din­ge, die sonst kei­ner sah, und er hat­te recht be­hal­ten sol­len. Und nun war es tat­säch­lich al­les ge­nau so ge­kom­men, wie er vor­her­ge­sagt hat­te. Grin­go war ein Mann der Tat, dar­an gab es nichts zu rüt­teln. Von Haus aus Au­to­me­cha­ni­ker, fun­gier­te er bei uns als Tech­ni­ker, Or­ga­ni­sa­tor und Lo­gis­ti­ker. Er or­ga­ni­sier­te die Auf­trit­te, war­te­te und er­gänz­te un­se­re Sound- und Licht­an­la­gen, beauf­sich­tig­te und fuhr un­se­ren Band­bus, ei­nen grü­nen T2 Bul­li, und war der Band­buch­hal­ter. Au­ßer­dem war er zu­stän­dig für den Hö­he­punkt un­se­rer Auf­trit­te: Zwei AC/DC-Lie­der, zu de­nen er hin­ter sei­nem Schlag­zeug her­vor­kam, zum ei­nen, um Bon Scott täu­schend echt zu imi­tie­ren, zum an­de­ren, um wäh­rend­des­sen ei­nen Strip bis auf die Un­ter­ho­se hin­zu­le­gen, was ihm ein­mal in be­trun­ke­nem Zu­stand spon­tan ein­ge­fal­len war und was so gut beim Pu­bli­kum an­kam, dass man ihn seit­her nicht von der Büh­ne ließ, ehe er nicht blank­ge­zo­gen hat­te.

 

»Ein we­nig bes­ser rie­chen könn­te es hier un­ten noch«, mein­te ich, denn un­ser neu­er Pro­be­raum müf­fel­te doch arg nach feuch­tem, mod­ri­gem Kel­ler.

»Ri­chie, ich will jetzt hier kei­ne ne­ga­ti­ven Vi­bes von dir«, rief Grin­go, »da hän­gen wir ein paar Duft­bäu­me rein, dann riecht das im Nu tip­pi­top­pi, und au­ßer­dem, al­le Pro­be­räu­me der Welt rie­chen so. Sag mir lie­ber mal, wie­so die Pen­ner schon wie­der zu spät kom­men, wenn ich schon mal pünkt­lich bin.«

Grin­go wies mit sei­nem Drum­stick auf die Uhr, die über der Ein­gangs­tür hing.

Vor der Tür pol­ter­te es, dann ver­nahm man Stöh­nen und Schmer­zens­schreie.

»Mach mal auf!«, wies Grin­go mich an.

Im Gang vor der Tür lag Kil­li, der im Dun­keln, be­packt mit Ver­stär­ker und Gi­tar­re, über ein paar Ge­trän­ke­kis­ten und Fäs­ser ge­stol­pert war.

»Das Licht ist im­mer noch ka­putt«, maul­te er vor­wurfs­voll, er­hob sich müh­sam und wuch­te­te sei­nen Ver­stär­ker in den Pro­be­raum.

»Ich bin Ab­itu­ri­ent, ich kann so was nicht«, sag­te ich und hob mei­ne zwei lin­ken Hän­de in die Luft.

Grin­go lach­te. »Da hat er recht, der Gi­tar­ren­mann, da müs­sen ech­te Haupt­schü­ler ran, sonst wird das nichts. Kil­li, wie wär’s, das wär doch mal ein Job für dich am Wo­chen­en­de.«

»Am Wo­chen­en­de tre­ten wir auf, nach­her ver­letz ich mich noch, auf kei­nen Fall«, mur­mel­te Kil­li hin­ter sei­nem Schnauz­bart, wäh­rend er be­gann, sein Equip­ment auf­zu­bau­en.

Grin­go und ich blick­ten uns ge­spannt an, und als Kil­li sei­nen Gi­tar­ren­kof­fer öff­ne­te, hiel­ten wir uns the­a­tra­lisch die Au­gen zu und jaul­ten pei­ner­füllt auf. Kil­li hat­te kürz­lich ei­ne neue Gi­tar­re er­stan­den, of­fen­bar mit der Maß­ga­be, dass es das denk­bar häss­lichs­te In­stru­ment sein muss­te, das für Geld zu ha­ben war. Sie war neon­gelb und hat­te ei­nen selt­sa­men Griff oben am Kor­pus, in dem es so­gar vor­ge­stanz­te Ril­len für die ein­zel­nen Fin­ger gab, da­mit der Trä­ger es be­que­mer hat­te, wenn er sei­ne Gi­tar­re durch die Ge­gend tra­gen muss­te, zum Bei­spiel, wenn er ein­mal mit Gi­tar­re auf Wan­der­schaft ging, ihm aber der Kof­fer ge­klaut wur­de. Man frag­te sich auch, ob sich da je­mand ge­dacht hat­te, es gibt so vie­le schö­ne Gi­tar­ren­for­men, Strat, Les Paul, wie sie al­le hei­ßen, schö­ne klas­si­sche In­stru­men­te, die se­xy, edel, ver­we­gen und cool aus­se­hen, al­so lass uns ein In­stru­ment bau­en, das das ge­naue Ge­gen­teil von al­le­dem ist, ein­mal von der Fra­ge ab­ge­se­hen, wie­so aus­ge­rech­net wir ei­nen in der Band hat­ten, der sich sag­te: Das kauf ich mir jetzt! Kil­li war auch sonst ein eher spe­zi­el­ler Vo­gel. Gi­tar­re spiel­te er nur mit ge­senk­tem Kopf, au­ßer­dem war er der ein­zi­ge Gi­tar­rist der Welt, der prin­zi­pi­ell zu lei­se spiel­te. Er ver­trat den Grund­satz, wo­nach er, wenn er von ir­gend­wem au­ßer sich selbst ge­hört wur­de, zu laut sei. Das war höchst un­ge­wöhn­lich. Nor­ma­le­r­wei­se rei­ßen Gi­tar­ris­ten ih­re Ver­stär­ker erst ein­mal oh­ren­be­täu­bend weit auf, denn All men play on ten, und wenn sie vom Sound­mann oder Band­mit­glie­dern ge­be­ten wer­den, doch bit­te ein we­nig lei­ser zu stel­len, dann re­agie­ren sie je nach Cha­rak­ter be­lei­digt, an­ge­ekelt, em­pört oder voll­kom­men fas­sungs­los. In der Re­gel ge­hen sie dann zu ihrem Ver­stär­ker, fum­meln ein we­nig am Vo­lu­men­reg­ler und spie­len in ge­nau der­sel­ben Laut­stär­ke wei­ter. Nach dem drit­ten Ver­such oh­ne we­sent­lich hör­ba­ren Un­ter­schied ge­ben Sound­mann und Band­mit­glie­der dann auf, und man lässt dem Gi­tar­ren­hel­den sei­nen Wil­len, denn Gi­tar­ris­ten sind Di­ven, und man will nicht, dass sie den Rest des Ta­ges, ge­schwei­ge denn wäh­rend ei­nes abend­li­chen Kon­zerts, schlech­te Stim­mung ver­brei­ten, in­dem sie sich in be­lei­dig­te Le­ber­würs­te ver­wan­deln und schmol­lend auf ihr Griff­brett star­ren.

Kil­li war an­ders. Er starr­te zwar auch auf sein Griff­brett, aber er war eher be­lei­digt, wenn man ihn bat, doch mal et­was lau­ter zu stel­len.

Als nächs­ter pol­ter­te Mar­tin durch die Tür, un­term Arm sein Korg-Key­board.

»Das Licht könn­te auch mal je­mand re­pa­rie­ren«, stell­te er fest, dann sah er sich in un­se­rer neu­en Hei­mat um, nick­te erst zu­frie­den, rümpf­te dann aber die Na­se und sag­te: »Gut rie­chen ist an­ders.«

»Nicht so ne­ga­tiv«, sag­te ich, »wir wol­len jetzt po­si­tiv an die Sa­che ran­ge­hen.«

»Ge­nau«, rief Grin­go. »Wenn du erst mal zwei Aben­de in der Wo­che hier un­ten bist, riechst du das bald gar nicht mehr.«

Mar­tin sah erst mich an, dann Grin­go.

»Habt ihr zwei Schnu­ckis ein Eso­te­rik­se­mi­nar be­legt, oder was seid ihr euch jetzt so hip­pie­mä­ßig ei­nig?«

Mar­tin ging aufs Tech­ni­sche Gym­na­si­um, hör­te ger­ne Pink Floyd, in­ter­es­sier­te sich für As­tral­rei­sen und lu­zi­de Träu­me, kiff­te ger­ne mal und wirk­te al­les in al­lem im­mer so, als wür­de er ir­gend­wann ein­mal die Welt­for­mel ent­de­cken. Ihn konn­te nichts aus der Ru­he brin­gen, sei­ne Mei­nung tat er in der Re­gel non­ver­bal kund, und kla­re münd­li­che State­ments wie auch ein­deu­ti­ge Ge­fühls­re­gun­gen wa­ren sei­ne Sa­che nicht. Statt­des­sen han­del­te es sich bei fast all sei­nen Äu­ße­run­gen eher um Ten­den­zen und Nu­an­cen, die sich nur leicht in die ver­schie­de­nen Rich­tun­gen weg von sei­nem Ru­he­pol be­weg­ten. Wie die meis­ten Key­boar­der hat­te er seit frü­hes­ter Kind­heit Kla­vier­un­ter­richt ge­habt und war im Grun­de für un­se­re Art von Mu­sik völ­lig über­qua­li­fi­ziert. Im Ge­gen­satz zu vie­len an­de­ren Key­boar­dern, die un­ter die­sem Zu­stand lit­ten und ihn re­gel­mä­ßig jam­mernd ar­ti­ku­lier­ten oder, was noch schlim­mer war, ir­gend­wann be­gan­nen, Jaz­z­ele­men­te in egal wel­che Mu­sik ein­zu­flech­ten, um sich selbst ein we­nig bei Lau­ne zu hal­ten, mach­te Mar­tin das über­haupt nichts aus. Er war ein Meis­ter der An­pas­sung.

Grin­go sah wie­der auf die Uhr.

»Schon zwan­zig Mi­nu­ten dr­ü­ber, das nervt ab­ar­tig.«

Was er mein­te, war, dass im­mer ei­ner von uns im Wech­sel un­se­ren Sän­ger Tex ab­ho­len muss­te, weil der kei­nen Füh­rer­schein be­saß. Tex wohn­te ei­ne Drei­vier­tel­stun­de ent­fernt.

In dem Mo­ment hör­ten wir drau­ßen Pol­tern, Schreie und Flü­che, und dann ka­men sie her­ein.

Lot­ti und Tex.

»Ganz schön dun­kel da drau­ßen«, sag­te Lot­ti.

»Ja­ja«, mur­mel­ten wir an­de­ren.

Aus ir­gend­ei­nem Grund hat­te man un­se­rem Bas­sis­ten den Vor­na­men sei­ner Mut­ter als Spitz­na­men ge­ge­ben. Lot­ti Ju­ni­or fuhr al­le sechs Mo­na­te ein neu­es Au­to, im­mer ir­gend­wel­che tie­fer­ge­leg­ten Sport­wa­gen, und hat­te re­gel­mä­ßig wech­seln­de Freun­din­nen, die al­le ähn­lich aus­sa­hen: Man konn­te sie grob dem sof­ten Ro­cker­mi­li­eu zu­ord­nen, al­so en­ge Le­der­ho­se und Stie­fel, das aber kom­bi­niert mit Dau­e­r­wel­len und ne­on­far­be­nen bauch­frei­en Ober­tei­len. Da­zu rauch­ten sie aus­nahms­los und kau­ten gleich­zei­tig Kau­gum­mi.

Was sei­ne mu­si­ka­li­sche Nei­gung an­ging, hat­te er sich, wie vie­le un­se­rer Al­ters­ge­nos­sen, im Be­reich Rock und Hard­rock der 60er- und 70er-Jah­re ein­ge­rich­tet, was ihm voll­auf ge­nüg­te, so­dass er kei­ner­lei Grund sah, sich für ir­gend­et­was an­de­res zu in­ter­es­sie­ren. Er ver­trat die An­sicht, dass mu­si­ka­lisch zu je­ner Zeit al­les We­sent­li­che ge­sagt wor­den war, war­um soll­te man sich al­so mit et­was an­de­rem, viel­leicht so­gar et­was Neu­em, be­fas­sen? Mit die­ser Mei­nung war er nicht der Ein­zi­ge in un­se­rer Band.

Kil­li hat­te ihn vor vie­len Jah­ren über­re­det, Bass zu ler­nen, al­so hat­te er sich die erst­bes­te Bass-Ver­stär­ker-Kom­bi­na­ti­on ge­kauft und ei­ni­ge Wo­chen ge­übt, bis er die Grund­tö­ne be­herrsch­te. Seit­her ver­wei­ger­te er sich ka­te­go­risch je­der mu­si­ka­li­schen Wei­te­rent­wick­lung, so­dass er, un­be­las­tet von jeg­li­chen Har­mo­nie­kennt­nis­sen und voll­auf zu­frie­den, sei­nen Bass hart mit dem Plek­trum zu be­ar­bei­ten, ein un­spek­ta­ku­lä­res, zu­meist aus Grund­tö­nen be­ste­hen­des Fun­da­ment un­se­res Sounds bei­steu­er­te.

»Lot­ti, wie nennt man noch­mal die­se Ty­pen, die im­mer mit Mu­si­kern rum­hän­gen?«, frag­te ich ihn re­gel­mä­ßig. Die Ant­wort, »Bas­sis­ten«, er­üb­rig­te sich mitt­ler­wei­le.

Jetzt erst sa­hen wir, was Tex in der Hand hielt. Es war ein Ta­blett mit ei­ner Co­la, zwei Bier und drei Wein­schor­len dar­auf.

»Kalt­ge­trän­ke für die Her­ren Mu­si­kan­ten«, rief er und ver­teil­te die Glä­ser, was freu­di­ges Grun­zen im Rund zur Fol­ge hat­te.

»Es sei dir al­les ver­zie­hen«, sag­te Grin­go grin­send und griff nach sei­ner Schor­le. »So, die Da­men, hoch die Tas­sen, auf un­se­ren neu­en Raum. Mö­ge uns ewi­ger Ruhm be­schie­den sein.«

Wir ho­ben die Glä­ser.

»Und Sex«, rief Tex.

»Auch das, mein Sohn«, mein­te Grin­go.

»Üb­ri­gens«, sag­te Tex auf­ge­regt, »habt ihr schon mal zwei ro­he Schnit­zel zwi­schen die Ril­len ei­nes Hei­zungs­ra­di­a­tors gek­lemmt und dann mit eu­rem …«

»Nein!« rie­fen Kil­li und ich gleich­zei­tig. »Wir wol­len dei­ne ab­ar­ti­gen Fan­ta­si­en nicht hö­ren.« Grin­go und Lot­ti be­öm­mel­ten sich schen­kel­klop­fend, Mar­tin grins­te.

»Das sind ei­gent­lich gar kei­ne …«

»Das ist ja das Schlim­me«, rief ich da­zwi­schen, »schweig still, das Bild krieg ich jetzt wie­der wo­chen­lang nicht aus dem Kopf.«

»Ist aber geil«, mur­mel­te Tex und bau­te sei­nen No­ten­stän­der auf.

Tex war ein groß­ar­ti­ger Rock­sän­ger und gleich­zei­tig ein Quar­tals­ir­rer. Un­ter der Wo­che ging er un­ge­re­gel­ten Hand­wer­ker­jobs nach. Ei­ne Fest­an­stel­lung war bei ihm nicht mög­lich, kein Ar­beit­ge­ber hät­te das län­ger als zwei Wo­chen mit­ge­macht. Ei­ner­seits konn­te man sich gut mit ihm un­ter­hal­ten, er war wit­zig und sym­pa­thisch und, wenn er nüch­tern war, durch­aus ra­ti­o­nal zu­gäng­lich, wenn auch mit ei­nem Hang zu mehr oder we­ni­ger ab­sur­den The­o­ri­en.

An den Wo­chen­en­den je­doch, und das war die an­de­re Sei­te sei­nes Cha­rak­ters, dreh­te Tex re­gel­mä­ßig völ­lig durch. Er trank oh­ne je­des Maß, und nicht sel­ten ver­schwand er dann ein­fach für ein paar Ta­ge. Nie­mand wuss­te ge­nau, was da pas­sier­te. Mon­tags war er grund­sätz­lich un­auf­find­bar und un­er­reich­bar. Sei­nen Füh­rer­schein hat­te man ihm gleich nach Er­halt wie­der ab­ge­nom­men, ver­mut­lich, weil er bei der Fahr­prü­fung zu viel Pro­mil­le hat­te. Des­halb muss­ten wir ihn nicht nur zu den Pro­ben, son­dern auch zu den Auf­trit­ten ab­ho­len, was vor al­lem Grin­go im­mer mehr auf­reg­te.

Wenn sie, wie meist, am Sams­tag statt­fan­den, glich das Ab­ho­len ei­ner Lot­te­rie, denn dann konn­te es sein, dass er seit Frei­tag­abend noch nicht zu­rück­ge­kehrt und da­her nicht zu Hau­se war. Prin­zi­pi­ell gab es dann nur zwei Mög­lich­kei­ten: vor sei­ner Tür war­ten, bis er auf­tauch­te, oder, wenn das nicht ge­schah, zum Gig fah­ren in der Hoff­nung, er wür­de dort ir­gend­wann ein­tru­deln, chauf­fiert zu­meist von ei­ner weib­li­chen Be­kannt­schaft vom Vor­abend, denn dar­auf lief es bei ihm meis­tens hin­aus. Er war da ins­ge­samt nicht all­zu an­spruchs­voll. Da Tex im­mer ei­ner der letz­ten Gäs­te auf ei­ner Par­ty oder in ei­ner Knei­pe war, han­del­te es sich al­so zwangs­läu­fig um ei­ne eher rei­fe und eben­so trink­fes­te Frau, die bis zum Schluss durch­hielt, al­so ei­ne Üb­rig­ge­blie­be­ne, den Rest vom Fest, wie man bei uns sag­te, oder den Aus­schuss, wie Grin­go das nann­te.

Ein­mal war er so­gar nicht von der Frau vom Vor­abend selbst zum Auf­tritt ge­bracht wor­den, son­dern von de­ren Freund. Wie das ge­nau zu­ge­gan­gen war, blieb un­klar, es zeig­te aber ei­ne Sa­che ganz deut­lich: Nie­mand konn­te Tex ernst­haft bö­se sein, egal, wie sehr man sich über ihn är­ger­te.

Mitt­ler­wei­le hat­ten al­le ihren Kram auf­ge­baut. Die Ver­stär­ker brumm­ten hin­ter uns in den Ecken, die Gi­tar­ren wa­ren ei­ni­ger­ma­ßen ge­stimmt. Wir wa­ren be­reit. Ich sah von ei­nem zum an­de­ren und muss­te grin­sen. Wir sa­hen uns wirk­lich be­mer­kens­wert ähn­lich: Vo­ku­hi­la, den Vo­ku-Teil mit ein we­nig Gel zum Ste­hen ge­bracht, en­ge Röh­ren­jeans, halb­ho­he wei­ße Turn­schu­he, ein meh­re­re Num­mern zu gro­ßes T-Shirt und als Krö­nung: der ob­li­ga­to­ri­sche Schnäu­zer.

Hier­in zu­min­dest un­ter­schied ich mich aber doch ge­wal­tig. Ich hat­te kei­nen. We­ni­ger aus in­ne­rer Über­zeu­gung, son­dern, weil mir ein­fach kei­ner wach­sen woll­te.

Grin­go zähl­te ein.

Ich spiel­te die ers­ten Ak­kor­de, der Bass mar­schier­te dar­un­ter mit sei­nen Ach­teln los, von Kil­li war wie im­mer nichts zu hö­ren, Grin­go stampf­te den Beat und Mar­tin gur­gel­te die Jon-Lord-Ak­kor­de da­zu, sein Korg-Key­board klang mit ei­ni­ger Fan­ta­sie so­gar fast wie ei­ne Ham­mond-Or­gel.

Dann setz­te Tex ein.

No­bo­dy gon­na take my car

I’m gon­na race it to the ground.

De­ep Pur­ple. High­way Star. Ja, wir co­ver­ten Clas­sic Rock. Vor­sätz­lich igno­rier­ten wir so gut wie al­le Strö­mun­gen der Acht­zi­ger- und frü­hen Neun­zi­ger­jah­re, bei uns gab es kei­nen Wa­ve, kei­nen Post-Punk, kei­ne Charts und schon gar kei­nen Syn­t­hie-Pop. Wir spiel­ten Rock­klas­si­ker der 70er-Jah­re, viel­leicht auch mal das ei­ne oder an­de­re neu­e­re Lied, wenn es ge­wis­se Auf­la­gen er­füll­te, und sonst nichts. Wir wa­ren Fun­da­men­ta­lis­ten.

Ich selbst war der No­ten­wart der Mu­sik­for­ma­ti­on, hör­te die Ak­kor­de und Tex­te der Songs her­aus und schrieb sie für al­le auf. Wenn ich ein Wort, ei­ne Zei­le oder, wie bei man­chen Lie­dern der Fall, den gan­zen Text nicht ver­stand, schrieb ich es so auf, wie ich es hör­te, wenn nö­tig, er­fand ich ein­fach Wör­ter. Mein Lieb­lings­über­set­zungs­feh­ler aus der Zeit war die Zei­le I gi­ve her the car keys aus dem Lied Won­der­ful to­night, wor­aus ich aus ir­gend­ei­nem Grund I gi­ve her Du­ka­kis mach­te, viel­leicht, weil ein Mann die­ses Na­mens 1988 US-Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat ge­we­sen und mir das Wort da­her va­ge be­kannt vor­ge­kom­men war.

2  Light my Fi­re

Hast du mit­be­kom­men, was ges­tern pas­siert ist?«, frag­te mich mein Va­ter un­ver­mit­telt zwi­schen zwei Ga­beln Voll­korn­reis.

»Was jetzt?«, ant­wor­te­te ich, ob­wohl ich ahn­te, was er mein­te. Die Ame­ri­ka­ner hat­ten am Per­si­schen Golf die Ope­ra­ti­on De­sert Storm be­gon­nen.

»Der kriegt nichts mit! Ihr jun­gen Leu­te kriegt ja nichts mit. Lest ihr denn kei­ne Zei­tung? Hört ihr kei­ne Nach­rich­ten?«

»Was meinst du denn? Das mit dem Golf­krieg?«

»Die krie­gen nichts mit, die Jun­gen!«, er­ei­fer­te sich mein Va­ter nun an mei­ne Mut­ter ge­wandt. Mei­nen letz­ten Satz hat­te er gar nicht ge­hört. Er woll­te ihn nicht hö­ren.

»Das ist wie mit den Schei­dun­gen«, fuhr er fort, er nahm jetzt Fahrt auf, »al­le las­sen sich jetzt schei­den, das ist auch so ei­ne Mo­de. Die ei­nen krie­gen nix mit, die an­de­ren las­sen sich schei­den. Über­all das Glei­che!« Je­des sei­ner Wor­te un­ter­strich er mit wil­dem Ge­fuch­tel sei­ner Ga­bel, auf der noch ein Reis­korn steck­te, das sich wei­ger­te zu fal­len.

»Und was hat das jetzt mit dem Krieg zu tun?«, frag­te ich, be­rech­tig­ter­wei­se, wie ich fand.

»Das war klar, dass du so­gar Schei­dun­gen ver­tei­di­gen wür­dest! Lass dich doch auch gleich schei­den.«

»Ich bin gar nicht ver­hei­ra­tet, ich ha­be ja nicht mal ei­ne Freun­din.«

»Ich sag’s ja.«

»Schließ­lich bin ich ja auch erst 18«, sag­te ich.

»18.18! Mit 18 war ich schon in Kriegs­ge­fan­gen­schaft«, er­ei­fer­te sich mein Va­ter wei­ter. Er stach mit der Ga­bel in mei­ne Rich­tung, aber das Reis­korn hielt sich wa­cker.

»Du warst 20!«, sag­te mei­ne Mut­ter.

»Schrei mich doch nicht so an«, sag­te mein Va­ter, und die Ga­bel zeig­te nun an­kla­gend auf mei­ne Mut­ter, das Reis­korn im­mer vor­ne­weg. Bei Wi­der­sprü­chen fühl­te er sich im­mer an­ge­schri­en, da­bei war er der Ein­zi­ge in un­se­rer Fa­mi­lie, der hin und wie­der her­um­brüll­te.

»Ihr seid mir die Rich­ti­gen«, fuhr er fort, »nix mit­krie­gen, den gan­zen Tag rum­gam­meln, und dann die­se schreck­li­che Mu­sik, die da im­mer aus dei­nem Zim­mer kommt.«

»Guns n’ Ro­ses«, sag­te mei­ne Mut­ter. Mein Va­ter und ich sa­hen sie über­rascht an.

»Jetzt schaut nicht so«, sag­te sie. »Denkt ihr, ich be­kom­me nicht mit, wie die­se lang­haa­ri­gen Gamm­ler hei­ßen, die mich im­mer von den gan­zen Pos­tern her­ab an­glot­zen, wenn ich Ri­chies dre­cki­ge Un­ter­ho­sen vom Bo­den klau­be?«

»Wie­so ei­gent­lich im­mer dre­cki­ge Un­ter­ho­sen? So dre­ckig sind die nun auch wie­der nicht. Und au­ßer­dem, hab ich dich je ge­be­ten, mei­ne Un­ter­ho­sen auf­zu­he­ben? Ers­tens musst du das nicht, du machst es frei­wil­lig, und zwei­tens weiß ich gar nicht, was das jetzt schon wie­der soll?«

»Hah!«, mach­te mein Va­ter grund­los und ent­schloss sich end­lich da­zu, wei­ter­zues­sen.

»Die­ser Sän­ger«, wech­sel­te mei­ne Mut­ter zwi­schen zwei Bis­sen un­ver­mit­telt das The­ma, »Äxel, rich­tig, al­so der ge­fällt mir nicht.«

Ich starr­te sie an. Nun hat­te sie sich al­so über Guns n’ Ro­ses Ge­dan­ken ge­macht, und sie kann­te so­gar den Na­men des Sän­gers? Was war hier los?

»Al­so«, fuhr sie fort, »das ist ja schon ein hüb­scher Ben­gel, gell, aber in sei­nen Au­gen, da …«, jetzt fuch­tel­te sie mit der Ga­bel durch die Luft, »da blitzt et­was ganz Un­gu­tes auf. Da lau­ert et­was.« Sie stieß mit der Ga­bel in mei­ne Rich­tung. »Und das will da raus.«

Ich hat­te auf­ge­hört zu kau­en und ver­such­te zu ver­ar­bei­ten, was da eben ge­sche­hen war. Hat­te ir­gend­ei­ne Kre­a­tur von mei­ner Mut­ter Be­sitz er­grif­fen, war das nur noch ihr Kör­per, und da­hin­ter ver­barg sich et­was, ein We­sen, das sich jetzt plötz­lich mit zeit­ge­nös­si­scher Rock­mu­sik aus­kann­te?

»Und was das Strom braucht«, mel­de­te sich mein Va­ter ab­rupt wie­der zu Wort, als hät­te mei­ne Mut­ter gar nichts ge­sagt, »und das Licht, das muss ich auch im­mer hin­ter dir aus­dre­hen. Da ist es ja kein Wun­der, dass man we­gen Öl Krieg füh­ren muss, da­mit die Herr­schaf­ten im­mer ge­nug Ener­gie ver­schwen­den kön­nen für nichts und wie­der nichts.«

Ich merk­te, dass ich seit Län­ge­rem mit dem Mund voll tro­cke­nem Voll­korn­reis da­saß, der mir lang­sam in die Keh­le rutsch­te. Schnell schluck­te ich ihn her­un­ter.

»Du gibst al­so mir die Schuld an dem Ein­marsch der Ira­kis in Ku­weit, ver­ste­he ich das jetzt rich­tig?«

»Jetzt komm mir nicht so! Oh­ne mich wüss­test du ja nicht mal, dass da über­haupt et­was pas­siert ist.«

Na­tür­lich wuss­te ich das. Ich hat­te ein­fach nur be­schlos­sen, dass es mir egal war. Ich hat­te ge­nü­gend ei­ge­ne Pro­ble­me. Die Pflich­ten des All­tags wi­der­spra­chen mei­nem Bio­rhyth­mus, ich mach­te Zi­vil­dienst in ei­ner Ster­be­kli­nik, hat­te Trieb­stau und kei­ne Ah­nung, was ich nach dem Zi­vil­dienst tun soll­te.

So war es mir schon 1986 nach dem Un­glück in Tscher­no­byl ge­gan­gen. Da­mals hat­te ich mei­ne ers­ten Scham­haa­re be­kom­men und ge­ra­de die Rock­mu­sik ent­deckt, konn­te mich al­so nicht wei­ter mit die­ser Ka­ta­stro­phe be­fas­sen.

Und dann wie­der drei Jah­re spä­ter beim Fall der Ber­li­ner Mau­er. Auch dort hat­te ich mir kurz die Bil­der der fei­ern­den Men­schen mit noch schlim­me­ren Fri­su­ren als den un­se­ren an­ge­se­hen und nichts da­bei emp­fin­den kön­nen. Im Un­ter­richt war dar­über ge­spro­chen wor­den, un­se­re Ge­schichts­leh­re­rin hat­te ver­zwei­felt ver­sucht, uns die Di­men­si­on des Ge­sche­hens zu ver­deut­li­chen, aber wenn man völ­lig über­mü­det stun­den­lang auf ei­nem Stuhl sit­zen muss­te, die gan­ze Zeit an Sex dach­te, den man nicht ha­ben konn­te, und an­sons­ten kon­tem­pla­tiv über Fra­gen wie Bon Scott oder Bri­an John­son, Rain­bow oder De­ep Pur­ple, wel­ches Led-Zep­pe­lin-Al­bum für die ein­sa­me In­sel oder Was zie­he ich am Wo­chen­en­de auf der Büh­ne an? ver­sun­ken war, dann hat­te man kei­ne Ka­pa­zi­tät üb­rig für der­lei Din­ge, die au­ßer­dem auch noch so un­end­lich weit weg von uns vor sich ge­gan­gen wa­ren.

»Der Paul Mc­Cart­ney«, riss mich das We­sen, das aus­sah wie mei­ne Mut­ter, wie­der aus mei­nen Ge­dan­ken. »Das ist ein sü­ßer Kerl. Oder auch der Phil Col­lins. Aber die­ser Äxel Ro­se …«, sie sprach den Nach­na­men deutsch aus, »ich weiß nicht, ich weiß nicht, mit dem stimmt et­was nicht. Nimm dich vor dem mal lie­ber in Acht.«

Ich sah auf die Kü­chen­uhr.

»Lie­be El­tern«, sag­te ich und ließ die Ga­bel fal­len, »es war wie im­mer ein gro­ßes Ver­gnü­gen, mit euch zu plau­dern, aber jetzt ent­schul­digt mich, wich­ti­ge Ver­pflich­tun­gen har­ren mei­ner.«

Mein Le­ben war zu der Zeit äu­ßerst über­schau­bar. Hat­te ich die letz­ten Jah­re mei­nes Le­bens gleich­mü­tig das Gym­na­si­um in der Kreiss­tadt be­sucht und mir dort ein mit­tel­präch­ti­ges Ab­itur er­schlaf­wan­delt, so war es nun ein zeit­lich äu­ßerst über­schau­ba­rer Halb­tags-Zi­vil­dienst, von dem ich an Wo­chen­ta­gen mit­tags völ­lig er­schöpft und tod­mü­de nach Hau­se kam, wo, wenn ich Glück hat­te, ei­ne war­me Mahl­zeit auf mich war­te­te.

Aber mei­ne El­tern hat­ten ge­ra­de ih­re Er­näh­rung um­ge­stellt. Ir­gend­ein Er­we­ckungs­er­leb­nis, das mei­ne Mut­ter wäh­rend ei­nes Kur­auf­ent­halts im All­gäu ge­habt hat­te, trug dar­an Schuld. Sie aßen jetzt Voll­wert­kost. Im Kel­ler sta­pel­te sich sä­cke­wei­se Ge­trei­de, das sie abends oh­ren­be­täu­bend laut mit ei­ner Art Press­luft­ham­mer­müh­le zer­klei­ner­ten, dann ein­weich­ten, um am nächs­ten Tag ir­gend­et­was dar­aus zu fa­bri­zie­ren: Müs­li, Brot oder Brat­lin­ge, al­les mit der Kon­sis­tenz von halb ge­här­te­tem Ze­ment. Ei­ne Wei­le spiel­te ich not­ge­drun­gen mit, würg­te mor­gens tro­cke­ne und kleb­ri­ge Wei­zen­pam­pe hin­un­ter, aß hun­dert­pro­zen­ti­ges Voll­korn­brot, das be­reits ei­ne Stun­de, nach­dem es aus dem Ofen ge­nom­men wur­de, alt war, und da­zu ki­lo­wei­se Roh­kost und Sa­lat. Aber das wa­ren Bei­la­gen. Ich als jun­ger Mann in der Blü­te mei­ner Kraft woll­te Koh­len­hy­dra­te und Fleisch ha­ben, al­les an­de­re war für den hoh­len Zahn. Ich hat­te ei­nen enor­men Ener­gie­ver­brauch, was glaub­ten die denn, wie der ge­deckt wer­den woll­te? Durch Möh­ren?

Nach dem Mit­tag­es­sen muss­te ich mich re­gel­mä­ßig erst ein­mal ei­nem aus­führ­li­chen Mit­tags­schlaf hin­ge­ben. Ich schmiss mich da­zu aufs Bett, leg­te ei­ne Rock­plat­te auf, von der ich ma­xi­mal die ers­ten bei­den Lie­der mit­be­kam, be­vor mich ein ko­ma­tö­ser Er­schöp­fungs­schlaf über­mann­te, aus dem ich zwei Stun­den spä­ter, klei­n­äu­gig, ori­en­tie­rungs­los und übel­lau­nig er­wach­te, mich die Trep­pe hin­auf­schlepp­te, kräch­zend Kaf­fee ver­lang­te, der in der Re­gel schon pech­schwarz und gut ab­ge­stan­den in der Kan­ne der el­ter­li­chen Fil­ter­ma­schi­ne auf mich war­te­te. Mei­ne Mut­ter traf sich re­gel­mä­ßig Punkt drei Uhr mit ent­we­der mei­ner gro­ßen Schwes­ter oder an­de­ren se­mi-aus­ge­las­te­ten Haus­frau­en und Müt­tern zum Kaf­fee. Al­le­samt Müt­ter, de­ren Kin­der, wie ich, der Ado­les­zenz an­heim­ge­fal­len wa­ren, was be­deu­te­te, dass der bis­he­ri­ge Le­bens­in­halt die­ser Frau­en, näm­lich die Auf­zucht des Nach­wuch­ses, sich mitt­ler­wei­le auf Ko­chen und Wa­schen be­schränk­te so­wie mehr oder we­ni­ger halb­her­zi­gen Ver­su­chen, Ju­gend­zim­mer zu lüf­ten oder dort die Bet­ten zu ma­chen.

Dann grüß­te ich miss­mu­tig in die Kaf­fee­run­de und zog mich in mein Zim­mer zu­rück, wo ich den Ver­stär­ker an­schal­te­te und in der Re­gel bis zum Abend Gi­tar­re spiel­te.

Mei­ne El­tern, so an­stren­gend sie oft sein konn­ten, hat­ten da­mit kein Pro­blem. Im Ge­gen­teil, sie hat­ten mir mei­ne ers­te Gi­tar­ren­aus­rüs­tung ge­kauft und lie­ßen mich seit­her na­he­zu un­be­hel­ligt in mei­nem Kel­ler­zim­mer in fast je­der Laut­stär­ke mei­ne Riffs prak­ti­zie­ren. Da­zu üb­te ich Po­sen vor dem Spie­gel und tauch­te ab in mei­ne Fan­ta­sie­welt. Ich ver­brach­te gern Zeit in mei­nem Zim­mer. Ins­ge­samt fand ich die Wirk­lich­keit drau­ßen we­sent­lich an­stren­gen­der und we­ni­ger auf­re­gend als mei­ne Vor­stel­lungs­welt, in der ich ein be­gehr­ter und be­wun­der­ter Gi­tar­ren­rock­held war.

Mei­ner Mut­ter vor al­lem war das wahr­schein­lich gar nicht so un­recht, denn so wuss­te sie we­nigs­tens, wo ich war. Ganz im Ge­gen­satz zum Schick­sal man­cher ih­rer müt­te­r­li­chen Lei­dens­ge­nos­sin­nen, de­ren Kin­der tag­ein, tag­aus auf den Stra­ßen her­um­tor­kel­ten oder Bus­hal­te­stel­len be­wach­ten, wie wir das nann­ten, was be­deu­te­te, dass sie dort den gan­zen Nach­mit­tag und Abend auf Bän­ken sa­ßen, rauch­ten, Bier tran­ken und lan­ge Spei­chel­fä­den Rich­tung Bo­den träu­feln lie­ßen.

Ich da­ge­gen woll­te gut Gi­tar­re spie­len kön­nen. Nir­gends sonst hat­te ich je solch ei­nen Ehr­geiz ent­wi­ckelt. Und so üb­te ich aus­nahms­los je­den Tag. Wäh­rend al­les an­de­re, Vo­ka­beln ler­nen, Ma­the, al­so al­les, was man re­gel­mä­ßig ler­nen und üben muss­te, ei­ne sinn­lo­se und lang­wei­li­ge Quä­le­rei für mich war, ras­te die Zeit beim Gi­tar­re­spie­len da­hin. Es kam mir nie­mals vor wie Üben, es mach­te ein­fach Spaß. Es war er­he­bend und eu­pho­ri­sie­rend, wenn man ein be­kann­tes Riff, ein So­lo, ei­nen gan­zen Song mit der Plat­te oder Kas­set­te mit­spie­len konn­te. Es gab kaum et­was Bes­se­res.

 

Vor et­wa drei Jah­ren hat­ten wir un­se­re Band ge­grün­det und Ato­mic ge­nannt, ein Na­me, den al­le au­ßer mir doof fan­den, aber nach­dem ich im Fern­se­hen ei­nen al­ten Auf­tritt von Blon­die mit dem Lied die­ses Ti­tels ge­se­hen hat­te, sorg­te mei­ne Spon­ta­nent­flam­mung für Deb­bie Har­ry da­für, dass ich über­zeu­gen­der als al­le an­de­ren mei­nen Na­mens­vor­schlag ver­tei­dig­te und die an­de­ren schließ­lich ein­knick­ten, zu­mal der Na­me sich auch auf mei­nem gleich an­ge­fer­tig­ten Pla­kat­ent­wurf gut mach­te.

Bei un­se­rem ers­ten Gig, ei­ner Kol­lek­tiv­ge­burts­tags­fei­er von Mar­tin, Grin­go und noch ei­ni­gen Ha­lun­ken aus der Ge­gend, ka­men mehr als 400 Leu­te in die ört­li­che Mehr­zweck­hal­le. Ein Abend, der kei­ne Fra­gen of­fen ließ und der zeig­te, wo es lang ge­hen wür­de. Gab sich das Pu­bli­kum zu­nächst noch re­ser­viert, so sorg­ten der hie­si­ge Wein und vor al­lem Hoch­pro­zen­ti­ges aus der Bar da­für, dass ab 23 Uhr der En­thu­si­as­mus zu­nahm und wir un­ser zwei­stün­di­ges Set di­rekt noch ein­mal wie­der­ho­len muss­ten. Ab 1 Uhr kann­ten sie kein Hal­ten mehr, sie stan­den vor der Büh­ne, skan­dier­ten un­se­re Na­men, ver­lang­ten grö­lend nach mehr TNT oder Smo­ke on the wa­ter und am En­de gar nach un­se­ren T-Shirts. Nach dem Gig schau­ten wir uns un­gläu­big an.

Ja, das war geil. Das woll­te man. Auch wenn es nicht un­se­re Lie­der wa­ren, die wir spiel­ten, in dem Mo­ment war das egal. Wir wa­ren es, de­nen sie zu­ju­bel­ten. Wir zau­ber­ten ih­nen das Glück in die Kör­per und Ge­sich­ter.

Für die­se Mo­men­te leb­te ich von da an. Das war so­gar noch bes­ser als vor dem Spie­gel in mei­nem Zim­mer.

Und so wur­den wir bin­nen kur­z­er Zeit ein be­kann­ter und be­lieb­ter Live-Act in den um­lie­gen­den Ge­mein­den, wo wir in Mehr­zweck­hal­len und auch bald bei Mo­tor­rad­fes­ti­vals und Stra­ßen­fes­ten auf­spiel­ten, über­all dort, wo man ei­ne zünf­ti­ge Ka­pel­le brauch­te, die den Leu­ten zu vor­ge­rück­ter Stun­de den Rock brach­te und vor al­lem da­für sorg­te, dass sie tran­ken.

Die Aben­de wur­den ver­an­stal­tet von ört­li­chen Ver­ei­nen, die die Gas­tro­ein­nah­men be­hiel­ten, und wir be­ka­men den Ein­trittser­lös. Ein für bei­de Sei­ten lu­kra­ti­ves Ge­schäft, das da­für sorg­te, dass bei­spiels­wei­se die ört­li­che Nar­ren­zunft ihren Ver­eins­aus­flug bald nicht mehr, wie bis­her, in den Harz, son­dern mit der kom­plet­ten Be­leg­schaft nach Mal­lor­ca ma­chen konn­te.

Wir als Band wa­ren nicht so sehr auf Per­fek­ti­on aus, je fort­ge­schrit­te­ner der Abend, des­to hö­her auch die Pro­mil­le nicht nur im Pu­bli­kum, son­dern auch auf der Büh­ne. Aber da kam es dann so­wie­so nicht mehr dar­auf an, dass je­der Ton rich­tig saß, Haupt­sa­che, man er­kann­te das Lied in gro­ben Zü­gen.

Bei uns ging es nur um den Spaß. Na­tür­lich ver­dien­ten wir auch Geld da­mit, das wir größ­ten­teils di­rekt wie­der in un­ser Equip­ment steck­ten, aber wir hät­ten es auch oh­ne Ga­ge ge­macht. Um­sonst trin­ken und Lie­der spie­len, die wir lieb­ten, mehr brauch­ten wir nicht für ei­nen Sams­tag­abend, das reich­te völ­lig.

 

Und heu­te war wie­der ein Auf­tritt.

Der Wirt un­se­rer Stamm­knei­pe In­ten­siv­sta­ti­on hat­te Ge­burts­tag und ein gro­ßes Bier­zelt auf­ge­baut. Ich ging in mein Zim­mer, riss die Tür mei­nes Klei­der­schranks auf und zog ver­schie­de­ne Ho­sen, T-Shirts und Hem­den her­aus, die ich auf mei­nem Bett ver­teil­te. Dann leg­te ich ei­ne Rain­bow-LP auf und stell­te mich vor den Spie­gel.

Ich pro­bier­te ver­schie­de­ne Kla­mot­ten-Kom­bi­na­ti­o­nen, dach­te kurz mit Sor­ge dar­an, wie ge­nervt vor al­lem Grin­go in letz­ter Zeit von Tex’ Un­zu­ver­läs­sig­keit war und hoff­te, der Abend wür­de oh­ne wei­te­re Aus­fall­er­schei­nun­gen un­se­res Sän­gers über die Büh­ne ge­hen. Schließ­lich ent­schied ich mich für ei­ne Jeans mit Ris­sen und – den mys­te­ri­ö­sen Äu­ße­run­gen mei­ner Mut­ter eben zum Trotz – ein Guns-n’-Ro­ses-T-Shirt. Bei den Schu­hen gab es nichts zu über­le­gen, ich hat­te nur ein Paar: wei­ße, halb­ho­he Adi­das All­round.

Dann zog ich neue Sai­ten auf mei­ne Gi­tar­re, lud al­les in den el­ter­li­chen Opel Ka­dett und fuhr zum Pro­be­raum, wo wir un­se­ren Kram, Schlag­zeug, Key­boards, Ver­stär­ker, Misch­pult, Laut­spre­cher, Licht­an­la­ge, Sta­ti­ve und Ka­bel die stei­le Kel­ler­trep­pe em­por­schlepp­ten, in den Bul­ly pack­ten und zum Auf­tritt­s­ort fuh­ren.

 

Wir spiel­ten uns an je­nem Abend durch un­ser ers­tes Set, und beim letz­ten Lied vor der Pau­se sah ich zu Mar­tin hin­über. Der hat­te mitt­ler­wei­le ei­ne Tech­nik ent­wi­ckelt, wie er mit­tels aus­ge­klü­gel­ter Hal­te­run­gen und Ab­la­ge­flä­chen auf sei­nem Key­board mit ei­ner Hand wei­ter­spie­len und gleich­zei­tig mit der an­de­ren ei­nen kom­plet­ten Joint bau­en konn­te. Das fer­ti­ge Re­sul­tat lag be­reits an dem da­für vor­ge­se­he­nen Platz, Mar­tin zwin­ker­te mir zu, und ich wuss­te, die Pau­se war ge­ret­tet.

Wir rauch­ten hin­term Zelt, phi­lo­so­phier­ten ein we­nig dar­über, wel­ches die bes­te Pink-Floyd-Plat­te war, und klet­ter­ten zwan­zig Mi­nu­ten spä­ter zu­rück auf die Büh­ne. Light my fi­re stand pas­sen­der­wei­se als Nächs­tes auf der Set­list. Das Lied schweb­te los, und bis zum zwei­ten Re­frain ging auch al­les gut. Ir­gend­wann wäh­rend die­ses end­lo­sen Key­board­so­los über zwei Ak­kor­de muss et­was in mei­nem Kopf ei­nen Schal­ter um­ge­legt ha­ben, aber oh­ne, dass ich es ge­merkt hat­te. Ich be­gann mich von den Moll­ak­kor­den, die ich zu grei­fen hat­te, zu lö­sen und ging in ein ge­schmei­di­ges Gegnie­del über, mit dem ich die Key­board­tö­ne er­gän­zen, neu ein­fär­ben, um­spie­len woll­te. Wäh­rend ich rock­te, wur­den mei­ne Fin­ger, das Griff­brett, mein Geist und das Uni­ver­sum eins. Ich sah zu Mar­tin hin­über, der mich gleich­zei­tig grin­send und kopf­schüt­telnd an­sah, was ich nicht deu­ten konn­te. Ich hör­te Grin­go ir­gend­et­was ru­fen, igno­rier­te es aber groß­zü­gig. Ex­cu­se me, whi­le I kiss the sky. Ich be­gann mei­ne Mit­mu­si­ker an­zu­ro­cken, ver­lor aber im­mer wie­der das Gleich­ge­wicht und stol­per­te ge­gen Lot­ti, der mich weg­schubs­te, so dass ich wei­ter­du­delnd ge­gen Mar­tins Key­board stieß. Es rutsch­te vom Stän­der, und er konn­te es ge­ra­de noch vor dem Sturz ret­ten. Ich ließ ihn und sein Key­board zu­rück, ich hat­te kei­ne Zeit da­für, ich muss­te Tö­ne spie­len. Tö­ne, die ei­nem die Welt er­klär­ten. Ir­gend­wann spür­te ich, dass ein ganz spe­zi­el­ler Ton sich noch bes­ser an­fühl­te als al­le an­de­ren. Ich spiel­te ihn im­mer wie­der, zog ihn nach oben und ließ die Sei­te wie­der lo­cker, ich woll­te nie mehr et­was an­de­res spie­len als die­sen Ton. War die Welt­for­mel ein Ton, ich hat­te ihn ge­fun­den. Und ich wur­de eins mit ihm. Ich war ei­ne Ein-Mann-Ga­la­xie, ich war der Sphä­ren­klang. Ich sah Schif­fe bren­nen na­he dem Tann­häu­ser Tor. Ich dreh­te mich um und sah Grin­go, der hin­ter sei­nem Schlag­zeug wü­tend mit sei­nen Stö­cken her­um­fuch­tel­te, wäh­rend er ver­such­te, den Beat zu hal­ten.

Mar­tin und zwei Ro­cker stell­ten Mar­tins Key­board samt Stän­der wie­der auf, es muss­te wohl ir­gend­wie um­ge­fal­len sein. Ich po­si­ti­o­nier­te mich vor mei­nem Ver­stär­ker in der Hoff­nung auf ein be­wusst­sein­s­er­wei­tern­des Feed­back. Ei­ne Hand schob sich an mir vor­bei und klick­te mei­nen Amp auf Stand­by. Mit­ten im So­lo! Mit­ten im Lied! Er­zürnt dreh­te ich mich um.

Die Band stand um mich her­um und starr­te mich an.

Das Pu­bli­kum stand un­ten und starr­te mich an.

»Sag mal, geht’s noch?«, schrie Grin­go mich an.

»Was denn?«

»Kiff halt nicht so viel, wenn du’s nicht ver­trägst.«