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Im Sommer 1990 scheint alles möglich für den jungen Niels. Deutschland steht im WM-Finale, er ist verliebt und die Welt liegt ihm zu Füßen. Heute, 30 Jahre später, steht Niels vor dem Grab seines Vaters und betritt erstmals wieder das Dorf seiner Kindheit. Zweifel kommen auf, an den vermeintlich sicheren Tatsachen der eigenen Vergangenheit. Was passierte wirklich, an jenem letzten Sommertag 1990, an dem er sein Heimatdorf abrupt verließ und nie wieder zurückkehren wollte? Eine Geschichte über Freundschaft und Rache, Liebe und Schuld – und über die Augenblicke, die unser Leben für immer verändern.
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Zum Buch:
Als Niels Cerny nach dreißig Jahren in sein Heimatdorf zurückkehrt, ist er nicht nur gekommen, um seinen Vater zu beerdigen. Er muss etwas klären, das ihn seit dem Sommer 1990 wie ein Schatten verfolgt. Wieder trifft er auf seine Jugendfreunde Ralf und Volker, und er ahnt, dass sie tiefer in die Geschehnisse jener Tage verstrickt sind, als ihm lieb ist … Was ist wirklich passiert an jenem Sommertag, der alles veränderte?
Ein Roman über das Erwachsenwerden, Freundschaft und Schuld und über die Hoffnung auf einen Neuanfang.
Zum Autor:
Marc Hofmann, Jahrgang 1972, ist Gymnasiallehrer, Autor, Kabarettist und Liedermacher und lebt in Freiburg.
Vor einigen Jahren sorgte der Ärger darüber, dass eine Urlaubslektüre nicht seinen Erwartungen entsprach, dafür, dass er begann, selbst einen Roman zu schreiben. Dieser Roman wurde im Januar 2016 unter dem Titel ›Alles kann warten‹ bei CONBOOK veröffentlicht. Dazwischen schrieb Marc Hofmann eine Satire über den Schulbetrieb, die im Sommer 2015 bei Tropen unter dem Titel ›Der Klassenfeind‹ veröffentlicht wurde, und in Anlehnung daran ein gleichnamiges Kabarettprogramm, das er regelmäßig live spielt. In seiner vielen Freizeit tritt er als Kabarettist, Liedermacher und Vorleser auf. Er hat keine weiteren Hobbys.
Seine Krimireihe um den ermittelnden Gymnasiallehrer Gregor Horvath erschien ab 2021 bei Knaur. ›Alive!‹ und ›Der letzte Sommertag‹ erschienen beide im Kirschbuch Verlag.
Mit sechs Jahren sagt der Sohn: »Der Papa kann alles.« Mit neun: »Der Papa kann fast alles.« Mit 15: »Mein Papa ist ein ziemlicher Trottel.« Mit 21: »Der ist und bleibt ein Volltrottel.« Mit 28: »Wenn ich so drüber nachdenke: So blöd ist der alte Herr eigentlich gar nicht.« Und mit 40: »Wenn ich nur noch mit dem Vater reden könnte.«
Diese Sätze, irgendwann einmal gehört oder gelesen, fallen ihm ein, als er in der Trauerhalle am offenen Sarg seines toten Vaters steht und auf ihn hinabblickt. Eingefallen sieht er aus, dieser übergroße Mann seiner Kindheit, und viel kleiner, als er ihn in Erinnerung hat. Sie haben sich nur noch einmal gesehen, seit er vor ziemlich genau dreißig Jahren von hier weggegangen ist. Ein grandios gescheiterter Versuch der Aussprache, eine Aneinanderreihung von Schuldzuweisungen, falsch gewählten Worten und schließlich Sprachlosigkeit, Zorn und ein Abschied ohne Verabschiedung. Danach noch ein paar Telefonate, oberflächlicher Smalltalk, und jetzt ist er tot.
Und Niels Cerny ist zum ersten Mal wieder zu Hause. Dort, wo einmal sein Zuhause gewesen ist. Vor langer Zeit.
Novalis fällt ihm ein und seine Zeilen Wohin gehen wir? Immer nach Hause.
Er verlässt den Friedhof, idyllisch gelegen, ein wenig oberhalb am Dorfrand, geht zu seinem Auto, einem schwarzen 240er Volvo, Baujahr 92, und fährt los. Er will nicht zu seinem jetzt leerstehenden Elternhaus, dafür ist später noch Zeit. Stattdessen fährt er am Haus seiner Großeltern vorbei, das immer noch steht und dem Verfall trotzt, und dann die Hauptstraße entlang, die sich sehr verändert hat. Das alte Rathaus mit dem Kino ist noch da. Wie viele Stunden er als Kind vor dem Schaukasten mit den Filmplakaten verbracht hat. Und später dann auch in diesem Kino selbst. Bevor er den Führerschein hatte, fast jeden Samstagabend. Es gab sonst ja nicht viel hier.
Daneben ein absurd unpassender Glasbau der Sparkasse. Er denkt an Knax-Hefte, Weltspartag und Fahndungsposter mit Schwarzweißporträts von Terroristen. Die alte Metzgerei ist jetzt ein Döner-Imbiss und der alte HL-Supermarkt – Eldorado seiner Kindheit, die erste Bravo mit Nena auf dem Cover, das erste Päckchen Zigaretten, Chesterfield, ein Riesenpack Wrigley’s Spearmint Kaugummis mit Aufklebern aller Bundesligavereine, so viele, dass er sie verschenken musste, weil er keine Kaugummis mehr sehen konnte – ist jetzt ein kalt und anonym aussehender Pizza-Lieferservice. Der Ort wirkt wie die schlecht gealterte Kulisse eines Films, der nur in seiner Erinnerung läuft.
Einige Häuser kennt er aus seiner Kindheit, er sieht Gesichter, Kinder- und Jugendzimmer, Videoabende, Schallplattensammlungen.
Er biegt ab, um einen Blick auf den Sportplatz zu werfen, diesen so wichtigen Ort seiner Jugend, und erschrickt, als er dort ein Neubaugebiet vorfindet, aber dann fällt ihm wieder ein, dass Volker ihm das schon einmal erzählt hat.
Er fährt aus der Ortschaft hinaus zu dem großen Supermarkt an der Bundesstraße, um sich für die nächsten Tage mit dem Nötigsten einzudecken, da er nicht weiß, was er in seinem Elternhaus vorfinden wird: Kaffee, Milch, Toastbrot, Klopapier.
Vor der Kasse wirft er einen Blick auf die Zeitschriften. Er zählt neun Magazine über Traktoren und andere Landmaschinen, aber kein 11 Freunde, kein Cinema, kein Rolling Stone oder Musikexpress. Willkommen zu Hause in der Provinz, denkt er.
Niels fährt zurück ins Dorf und parkt vor dem Hof von Volker und Daniela an der Straße. Er läuft durch den Torbogen, und während er das Haus, den Hof und die Scheune betrachtet, wird ihm beinahe schwindlig davon, wie Vergangenheit und Gegenwart sich vermischen, wie Jahre zusammenschrumpfen, sich überlagern und miteinander ringen, worum auch immer.
Bis auf das Fachwerkhaus, das sichtbar renoviert wurde, sieht alles genauso aus wie vor fast auf die Woche genau dreißig Jahren, als in jener unglückseligen Juli-Nacht nicht nur der ereignisreiche Sommer 1990 endete, sondern von einem Tag auf den anderen auch seine Jugend.
Sie saßen am See im Schatten der großen Weide und ließen den Samstagnachmittag an sich vorbeiziehen. Volker, Ralf und Niels waren Freunde seit dem Kindergarten.
Das Tau, von dem sie sich, seit sie Kinder waren, jeden Sommer unzählige Male ins Wasser geschleudert hatten, hing reglos hinab. Der Sommer kündigte sich langsam an, in der Sonne war es fast schon zu warm, auch wenn das Wasser im See noch zu frisch war, um darin zu baden. Sie lungerten träge und ziellos herum, selbst Volker hatte an diesem Nachmittag nichts zu arbeiten, sein Vater hatte ihm freigegeben. Ralf hing in dem alten Reifen, den sie im Wasser gern als Badeinsel benutzten, Volker lag auf der Holzbank, den Kopf auf der Armlehne, die er mit einem Kapuzenpullover gepolstert hatte, und Niels saß gegen einen Baumstumpf gelehnt auf dem Boden. Aus einem Kassettenrekorder lief Popmusik, ein Tape mit Künstlern, auf die sie sich einigen konnten, obwohl sie eigentlich unterschiedliche Sachen gut fanden: Bowie, Kate Bush, Prince und der alles überstrahlende Soundtrack dieses Jahres: The Boys of Summer, ein Lied, das zwar schon ein paar Jahre alt war, das Ralf aber unlängst wiederentdeckt und auf Autofahrten in die Schule oder nach Hause so lange hatte laufen lassen, bis auch die anderen beiden in seine Begeisterung eingestimmt hatten.
»Ich bleib jetzt erst mal Single, mir reicht’s«, verkündete Ralf unvermittelt, und Volker und Niels jaulten auf, so oft hatten sie diesen Spruch schon gehört, und dann dauerte es höchstens bis zum Wochenende, und Ralf traf ein Mädchen auf einer Party, und vielleicht wurde geknutscht, und er schrie wieder herum, wie verliebt er war und dass es diesmal richtig geknallt habe und diese die Richtige sei, und dann dauerte es noch eine Woche, bis sie ihn abservierte, nervlich zerrüttet von Ralfs erratischem Verhalten, oder ihm kamen die ersten Zweifel, was bei ihm immer ganz schnell gehen konnte, und er sagte etwas wie »Ach, ich weiß nicht so recht, vielleicht klappt das doch nicht mit der, außerdem möchte ich mich jetzt noch nicht so richtig festlegen, wer weiß, vielleicht kommt ja noch etwas Besseres, denn so eine Entscheidung für etwas ist ja auch immer eine Entscheidung gegen alles andere.«
Und damit war eigentlich schon das Wichtigste über Ralf gesagt. Sprunghaft, rastlos, immer auf der Suche oder auf der Flucht, je nachdem. Später hätte man bei ihm wohl ADHS diagnostiziert, in den Achtzigerjahren war er einfach für viele eine Riesennervensäge, die sich auf nichts konzentrieren konnte. Jedes Jahr hing seine Versetzung an einem seidenen Faden, und immer gelang es ihm, entgegen aller Prognosen zum Halbjahr, das Ruder noch einmal herumzureißen. Meist rettete er sich durch mehrere Kraftakte in den letzten Klassenarbeiten, denn wenn er sich einmal hinsetzte, war es eigentlich alles gar kein Problem für ihn, außerdem bestach er durch mündliche Emsigkeit, denn reden konnte er, auch wenn der Inhalt mitunter fragwürdiger Natur war. Dumm war er nicht, wie ein Lehrer einmal bemerkte.
»Wieso, was ist mit Maren?«, fragte Niels.
»Ach, ich weiß auch nicht, irgendwie ist das nichts«, antwortete Ralf, und das konnte jetzt alles Mögliche heißen, auch, dass sie mit ihm Schluss gemacht hatte.
»Vielleicht solltest du dich mal damit abfinden, dass das mit Susanna Hoffs nichts mehr wird«, meinte Volker und gluckste belustigt ob Ralfs Obsession mit der schönen Sängerin der Bangles. Eine einseitige Angelegenheit, man konnte es nicht leugnen.
»Pah«, machte Ralf. »Das ist noch lange nicht gesagt. Vielleicht schreib ich ihr ja mal. Ihr werdet euch noch wundern.«
»Vielleicht bist du ja doch schwul«, rief Niels und nahm einen Schluck Bier.
Ralf schmiss ihm einen kleinen Kieselstein ans Bein.
»Dadurch, dass man einen Witz unablässig wiederholt, wird er nicht automatisch besser, Niels Cerny.«
»Das mag sein, aber es war auch gar nicht als Witz gedacht. Ich finde, du solltest noch mal in dich gehen und da wirklich drüber nachdenken, warum das mit den Frauen nicht klappt.«
»Ja und mit wem soll ich dann schwul sein? Mit dir am Ende noch? Wenn ich mir dieses Trauerspiel mit dir und den Frauen so anschaue, bist eher du hier der Schwuli.«
Da hatte er teilweise recht. Schwul war er nicht, dessen war Niels sich ziemlich sicher. Aber Niels und die Frauen, das war ein überschaubares Kapitel. Außer ein paar Partyknutschereien hatte er erst eine richtige Freundin gehabt, Steffi, sie waren ein halbes Jahr zusammen gewesen. Vor drei Monaten hatte sie Schluss gemacht. Es hatte erst kurz geschmerzt, er vermisste sie aber nicht sonderlich. Eher das Gefühl, eine Freundin zu haben, das hatte ihm gefallen.
Seit einiger Zeit war er in ein Mädchen verliebt, das davon nichts ahnte. Sibel, die schöne Schwester seines Fußballkollegen Metin, spielte optisch, wie er fand, mindestens eine Liga über ihm, in der sozialen Hierarchie der Gegend als Türkin allerdings eher darunter. Letzteres entsprach nicht seiner eigenen Sicht, es war eher allgemeiner Konsens. Es waren die Kinder der ersten türkischen Gastarbeitergeneration, in Deutschland geboren, die hier zwar wohnten und Klassenkameraden und Fußballkollegen waren, aber doch nie ganz Teil der Dorfgemeinschaft. Sie wurden zwar eher selten diskriminiert, aber auch nie richtig integriert.
Das Problem mit Sibel, die ein Jahr unter ihnen in die 12. Klasse des Kreisgymnasiums ging, war momentan, dass sie nichts von Niels’ Liebe zu ihr ahnte. Er hatte es noch nicht einmal über sich gebracht, seinen beiden besten Kumpels davon zu erzählen. Er sah auch nicht, wie er Sibel jemals ansprechen sollte. Ihre schiere Schönheit schüchterte ihn zu sehr ein.
»Es tut mir leid, euch das so direkt sagen zu müssen«, sagte Volker, »aber es gibt aktuell Wichtigeres als Ralfs und Niels’ sexuelle Orientierung.«
»Ja, verdammt, da hat er recht, der Herr Mayer«, rief Ralf und sprang auf.
Niels grinste nur.
Am nächsten Tag stand das Derby an. Feldhausen gegen Rossbach. A-Jugend.
Die beiden Nachbarorte zeichnete eine Rivalität aus, deren Ursprünge weit vor der Geburt der drei Freunde lagen. Sie wurde seit Generationen von Eltern an Kinder weitergegeben. Vor allem Niels’ Vater, der außerdem ihr Trainer war, lebte sie sehr ausgeprägt.
Feldhausen, ihr Heimatort, hatte etwa dreitausend Einwohner und ging fast nahtlos in einen kleineren Ortsteil namens Rossbach über, der aber aus irgendeinem Grund eine andere Vorwahl hatte und einer anderen Kreisstadt zugeordnet war.
Daher gingen Kinder und Jugendliche in aller Regel auf unterschiedliche weiterführende Schulen. Doch auch neben dieser erzwungenen Trennung herrschte in allen Belangen des Alltags eine seltsame und für die meisten unergründliche Abneigung gegen den jeweils anderen Ortsteil. Geschichtlich ließ sich das daher erklären, dass Feldhausen bis in die Neunzehnhundertfünfzigerjahre ein überregional wichtiges Salzbergwerk und daher auch einen großen Güterbahnhof hatte, was bedeutete, dass die Einwohner größtenteils Bergleute, Fahrer, Bahnhofsbedienstete, also Arbeiter und kaufmännische Angestellte sowie deren Vorgesetzte, waren, während in Rossbach eher Landwirtschaft vorherrschte. Dies konnte man immer noch spüren, auch wenn es längst kein Bergwerk mehr gab. Der Anteil von Kindern aus Feldhausen, die aufs Gymnasium gingen, war ungleich höher als im Nachbarort, woraus die jeweils vorherrschenden Stereotypen entstanden, dass die Rossbacher alles Bauern, die Feldhausener alles eingebildete Lackaffen seien.
Am deutlichsten wurde die Rivalität zwischen den beiden Ortsteilen beim Fußball. Niels’ Vater war ein Füllhorn an Anekdoten über diesen Zwist und erzählte gern Geschichten aus seiner Jugend, wie die, in der er und seine Kumpels in der Nacht vor einem Spiel eine Kuhherde auf den Rossbacher Sportplatz gelockt hatten, die nicht nur den Platz verwüstete, sondern auch bis zum Anpfiff am nächsten Tag nicht mehr von dort wegzubewegen war, worauf die Feldhausener dann wochenlang den eigenen Platz bewachten, um die Vergeltung zu verhindern. Oder wie sie auf einer Party zwei betrunkene Rossbach-Spieler in einen Gartenschuppen sperrten, wo sie erst am nächsten Abend gefunden wurden und so das Derby am Nachmittag verpassten.
So groß die gegenseitige Abneigung zwischen den Einwohnern auch war, es hatte zumeist auch immer etwas Spielerisches, es war eine Art Volkssport. Wenn es darum ging, das Fastnachtsfeuer der anderen in der Nacht vor der eigentlichen Veranstaltung anzuzünden, dann war das immer auch eine Art Wettbewerb, bei dem es selten zu Handgreiflichkeiten kam.
Dass die Herrenmannschaften beider Vereine in der zweituntersten Kreisklasse spielten, machte in dem Fall überhaupt nichts aus. Während in Rossbach die Fußballbegeisterung der Bewohner insgesamt etwas größer war und man als Junge eigentlich im Fußballverein sein musste, verirrten sich in Feldhausen an manchen Sonntagen gerade mal zwanzig Zuschauer auf den Sportplatz, um sich die Erste Mannschaft anzuschauen. Außer, wenn es gegen Rossbach ging. Dann waren bereits zwei Stunden vor Spielbeginn sämtliche Parkplätze voll, und bis Spielbeginn wurden alle Straßen und sogar Hofeinfahrten der Umgebung zugeparkt, was nicht selten zu wildem Geschrei und Fäusteschütteln mit Anwohnern, die sich nicht für Fußball interessierten, führte.
Bei diesen Spielen lag jedes Mal von Anfang an eine Spannung in der Luft. Menschen, die sich jeden Tag im Laden oder bei der Arbeit begegneten, im Kino, im Schwimmbad, am See oder bei Jugendfreizeiten, die vielleicht sogar miteinander verwandt waren, beschimpften einander aufs Übelste. Es waren diese Momente, in denen aus dem Spiel der gegenseitigen Abneigung für einen Moment unbändiger Hass werden konnte.
Vor zwei Jahren musste ein Spiel zwischen den beiden Mannschaften abgebrochen werden, es hatte vier rote Karten gegeben, Zuschauer waren auf Spieler losgegangen, und am Ende musste der Schiedsrichter sich noch in seiner Kabine verschanzen, bis die Polizei ihn hinauseskortierte.
Das alles konnte man, wenngleich meist in abgemilderter Form, auch bei den Jugendspielen beobachten.
Und am nächsten Tag stand ein solches von besonderer Brisanz an. Beide Mannschaften spielten noch um die Meisterschaft. Das Hinspiel hatten die Rossbacher knapp gewonnen. Es war eine hart geführte Begegnung gewesen, die ein paar Mal kurz vor dem Abbruch gestanden hatte, so sehr hatten sich Spieler und Zuschauer bekriegt. Ein Rossbacher Zuschauer war Ralf sogar über den Platz gefolgt und hatte versucht, ihn mit seinem Regenschirm zu malträtieren.
Aber es gab eine Sache, auf die man sich bisher immer hatte verlassen können. Egal, wie es ausartete, wenn alles vorbei war, gab man sich die Hand und trank ein Bier zusammen.
Auf der anderen Seeseite fuhr ein Auto mit hoher Geschwindigkeit über den Feldweg. Außer den drei Freunden war niemand am See, das Wasser war noch zu kalt. Das Auto war ein aufgemotzter weißer Golf GTI. Die drei sahen sich an. Sie wussten, wer da auf sie zukam.
Der Golf näherte sich der Stelle, an der sie saßen.
Der Fahrer bremste so stark, dass es staubte, das Auto rutschte noch ein paar Meter über den Feldweg und kam kurz vor Niels’ mintgrünem Kadett zum Stehen, den ihm sein Opa vermacht hatte, der ihn nicht mehr brauchte. »Ich fahr sowieso nirgends mehr hin«, hatte er verkündet und war eine Woche später friedlich in seinem Bett eingeschlafen, ein Verlust, der Niels auch nach einem Jahr noch immer unendlich schmerzte. Es hatte ein besonderes Band bestanden zwischen ihm und seinem Opa.
»Fuck«, sagte Ralf.
»Na, ihr kleinen Wichser!« Der Fahrer sprang aus dem Auto und strahlte die drei an. Wie er wirklich hieß, war ihnen gar nicht bekannt, alle nannten ihn Chuck. Vermutlich, so glaubte Niels, hatte es etwas mit Chuck Norris zu tun, wie sonst kam man auf so einen beknackten Namen? Außerdem passte er zu ihm. Jemand, der hieß, wie er aussah. Ein untersetzter Typ mit kurzgeschorenen Haaren, dessen Augen bösartig funkelten, auch wenn er grinste. Er trug immer Armeehosen mit schweren Stiefeln, heute ein weißes Unterhemd dazu. Aus den anderen Türen schälten sich drei weitere Rossbacher, alles Fußballer. Beifahrer war der irre Diego mit seinem Pferdeschwanz, heute hatte er ein Bandana mit Totenkopf-Muster über seine schwarzen Haare gezogen. Es ging das Gerücht, dass er kokste und eine Pistole mit sich trug. Keiner der drei hatte sie je gesehen, aber es wurde immer wieder davon berichtet. Diego provozierte gern Schlägereien auf Partys und Festen und flog bei Spielen regelmäßig vom Platz.
Ralf und er waren vor einigen Monaten auf einer Party aneinandergeraten, weil Ralf mit einem Mädchen gekommen war, in das sich offenbar auch Diego verguckt hatte. Der Abend endete damit, dass Diego dem Mädchen ein Bier ins Gesicht schüttete, Ralf auf ihn losging, Diego ihn lautstark nach draußen zum Kampf beorderte und schließlich Volker dem Ganzen in seiner unmissverständlichen Art ein Ende bereitete. Wenn Volker der Kragen platzte, was nach außen kaum erkennbar war und sich ganz tief in seinem Inneren abspielte, dann strahlte er eine kompromisslose Gefährlichkeit aus, die selbst Diego an diesem Abend instinktiv wahrnahm, weshalb er wutschnaubend die Party verlassen hatte.
Hinter Diego stieg Erik aus dem Golf, ein rothaariger, sommersprossiger, drahtiger Mitläufer. Neben ihm kam Klotz, ein Bulle von Typ, dessen Kopf immer zu klein im Vergleich zum Rest seines Körpers wirkte. Klotz hieß tatsächlich so mit Nachnamen, Ironie des Schicksals.
»Macht ihr wieder mal das, was ihr am besten könnt?«, fragte Chuck mit schmierigem Grinsen. »Bescheuert aussehen und vor euch hin gammeln?«
»Das waren aber viele Wörter auf einmal«, konterte Ralf, »hast du das auf dem Weg hierher auswendig gelernt, oder was?«
»Morgen könnt ihr was erleben, da verhauen wir euch die Ärsche«, wechselte Klotz das Thema, es brannte ihm wohl zu sehr unter den Nägeln.
Erik hatte ein blaues Auge, wie Niels in dem Moment auffiel.
»Nettes Auge«, sagte Ralf auch prompt, »hat dich dein Vater mit deiner Mutter erwischt?«
In Eriks Augen loderte etwas auf, aber Volker, der alte Mediator, deeskalierte, indem er fragte: »Wollt ihr ein Bier oder was?«
So war Volker. Er konnte übel austeilen, wenn ihm was gegen den Strich ging, Ungerechtigkeit machte ihn rasend, und man wollte nicht in sein Visier geraten, wenn er richtig wütend wurde, aber sonst war er ein Mann des Ausgleichs.
Und tatsächlich löste seine Frage die Spannung auf.
»Da sagen wir nicht Nein«, erwiderte Chuck, der Wortführer.
Ralf stand langsam auf, ging zum Wasser, holte das Netz mit den Flaschen heraus, nahm eine und hielt sie den Rossbachern hin.
»Teilt sie euch.«
Chuck und Diego blickten ihn finster an. Ralf blieb seelenruhig stehen. Zu lange, wie Niels schien, der etwas unruhig wurde. Gerade mit Diego machte man solche Späße eigentlich nicht. Man konnte sehen, wie sich etwas in ihm aufstaute, und es würde nicht mehr lange dauern, bis es herausbrach.
Ralf zögerte bis zum letzten Moment, dann sagte er: »Witz! Nehmt euch, was ihr braucht.«
Niels atmete erleichtert aus und sah zu Volker, der die Augenbrauen hochzog und von Ralf zu Diego sah und dann zu Niels.
Die Rossbacher murrten, holten sich ihre Biere und öffneten sie mit Feuerzeugen und Taschenmessern, die sie aus ihren Hosentaschen holten. Wenn man auf dem Land eines wusste, dann, wie man ohne Öffner eine Bierflasche aufbekam. Diego nahm seine Flasche in den Mund und knackte den Kronkorken mit den Zähnen. Alle vier holten Zigaretten hervor und zündeten sie an. Volker bot ihnen Plätze auf dem Boden im Schatten an, aber die vier blieben stehen.
»Also, wie sieht’s aus, ihr Penner, habt ihr schön trainiert?«, meinte Ralf. »Wir wollen morgen Gegner, keine Opfer so wie sonst.«
»Ihr habt keine Chance«, knurrte Diego mit leichtem spanischen Akzent. Er war als Kind mit seinen Eltern hierhergezogen, und Niels vermutete, der Akzent sei eher eine Masche, als dass er wirklich so sprach.
»Nee, wirklich, das müsst ihr einfach einsehen. Ihr könnt nicht gegen uns gewinnen«, sagte Chuck grinsend.
Im Gegensatz zu dem unberechenbaren Diego konnte man Chuck einordnen: Hauptschule mit Ach und Krach, Automechaniker, hörte Böhse Onkelz und fiel immer mal durch rechte Sprüche auf. Hatte auch schon einige Begegnungen mit Polizei und Jugendrichter gehabt und einen Hang zu körperlichen Auseinandersetzungen bei zu viel Alkohol. Aber man wusste, wie er tickte. Er war in seiner kleinkriminellen Arschigkeit einigermaßen auszurechnen. Dazu hatte er eine natürliche Ausstrahlung, die ihn zum Alpharüden der Rossbacher machte, und an der Art, wie er redete, verriet er mitunter, dass er intelligenter war, als seine Biografie glauben machte.
»Abwarten«, sagte Volker.
»Nein, du verstehst mich nicht«, sagte Diego leise und trat ganz nah an Volker heran. »Ihr werdet leiden.«
Chuck grinste breit und hob seine Bierflasche. »Ihr habt es gehört. Dann schlaft mal gut, die Damen.«
Er schmiss die Flasche auf den Boden, wo sie im Dreck liegen blieb, die Kippe warf er hinterher, die anderen taten es ihm gleich, und sie liefen zurück zum Golf an Niels’ Kadett vorbei.
»Dieses Auto ist eine Beleidigung für jeden Fachmann«, sagte Chuck kopfschüttelnd. »Von dieser Farbe bekommt man Augenkrebs. Aber es passt zu euch.«
»Ich nehm das als Kompliment«, rief Niels.
Die vier lachten gehässig, stiegen in ihr Auto, Chuck ließ den Motor heulen und die Reifen durchdrehen, und dann fuhren die Rossbacher in einer großen Staubwolke davon.
Auf einmal steht Volker in der Tür, in jeder Hand eine Bierflasche, und er sieht genauso aus wie damals, als wäre bei ihm die Zeit stillgestanden.
Zumindest auf den ersten Blick ist es sein alter Kumpel, dann, als Volker die Stufen hinabsteigt, altert er im Zeitraffer, fast bis zur Unkenntlichkeit, das Haar schütterer, Falten, wo früher keine waren, die Gesichtszüge irgendwie kantiger, ausgeprägter, aber als Volker den Mund aufmacht, ist er mit einem Mal wieder jung.
»Der Künstler«, sagt Volker, und Niels sucht nach Anzeichen von Ironie, denn in der süddeutschen Provinz gelten nichthandwerkliche Berufe, zumindest war das früher so gewesen, als nicht ganz ernst zu nehmen, aber so wie Volker das sagt, klingt es wie eine wertfreie Feststellung. Der Künstler. Das ist er. Niels Cerny, Schriftsteller und Musiker. Nach seinem Weggang von hier nach Berlin schrieb er ein Jahr lang an seinem ersten Roman, gleichzeitig gründete er seine Band. Der Roman Der Mitternachtsmann verkaufte sich gut, die Band ergatterte einen Plattenvertrag. Die ersten beiden Platten in den Neunzigern charteten ordentlich, ein kleiner Indiehit mit dem Titel Milena – beim Schreiben hatte er an Sibel gedacht – war dabei, dann ein Auftritt bei Rock am Ring 1993, nachmittags zwar, aber immerhin. Er hatte weitere Romane veröffentlicht, die Verkaufszahlen seines Debüts aber nie mehr erreicht. Die Band löste sich 1997 auf, seither veröffentlichte er ein paar Soloalben und tourte solo, die Verkäufe wurden über die Jahre immer weniger, die Clubs kleiner, aber bisher reichte es zum Überleben. Ralf und Volker waren einige Male zu Lesungen oder Konzerten nach Freiburg und Basel gekommen, zweimal hatten sie ihn in Berlin besucht.
Er ist zum ersten Mal seit dreißig Jahren in Feldhausen. Und er plant nicht, lange zu bleiben.
»Der Bio-Bauer«, sagt Niels.
»Ja«, sagt Volker und atmet vielsagend ein und wieder aus. »Das bin ich wohl.«
Kurz zögern beide, ob sie sich umarmen sollen, seit Corona überdenkt man diese Art von Berührung, aber dann winken beide ab, nehmen sich in die Arme und klopfen einander auf Männerart auf Schultern und Rücken.
»Ralf schon da?«, fragt Niels.
Volker schnaubt. »War der schon jemals pünktlich?«
Niels zuckt mit den Schultern und schaut sich um. Neben dem Wohnhaus sieht er die Scheune und darin einen roten McCormick-Traktor, den schon Volkers Vater hatte.
»Ist das derselbe?«, fragt Niels.
Volker nickt.
»Sind unverwüstlich, die Dinger.«
»Bier?«, fragt Volker.
»Unbedingt.«
Während Volker die Flaschen öffnet und ihm eine reicht, muss Niels an einen Tag denken, den er als perfekt abgespeichert hat. Sie waren vielleicht zehn gewesen. Weinlese oder Herbsten, wie man es hier nannte, in den Reben von Volkers Familie.
Niels’ Opa war dabei gewesen, der ein alter Freund von Volkers Opa war, außerdem Volkers ganze Familie und noch ein paar Bekannte. Sie hatten den ganzen Tag geschnitten und geschleppt, irgendwann sind ein paar Frauen zurück ins Dorf gefahren und kurze Zeit später mit Essen zurückgekommen. Vesper, Bauernbrot, Käse, Wurst, Gurken, Senf, Trauben. Dazu Wasser, Süßer Sprudel, den gab es bei Niels zu Hause nie, und neuen süßen Wein, von dem die Kinder sogar jeder ein Glas trinken durften. Dann zog der Himmel über Frankreich zu, die Sonne fand noch ein paar Stellen, um das ganze Rheintal lila-orange zu färben, Wetterleuchten überm AKW Fessenheim. Alle sahen gespannt zu den Alten, ob das ein Gewitter würde, ob man das Essen abbrechen müsste. Niels’ und Volkers Opas sahen sich an, schüttelten die Köpfe. »Zieht weiter«, stellten sie fest, und so war es.
Volkers Frau Dani erscheint im Türrahmen. Sie ist, soweit Niels weiß, die einzige Frau, die Volker je hatte. In der zwöften Klasse waren sie ein Paar geworden und bis heute geblieben. Am Anfang waren Niels und Ralf überrascht gewesen, Volker, der ruhige, ausgeglichene, vielleicht etwas langweilige Bauernsohn, und die temperamentvolle Daniela, von der man nie gedacht hätte, dass sie hier im Ort hängen bleiben würde; die immer große Pläne hatte, reisen, studieren, im Ausland leben, von Australien hatte sie gern gesprochen, wie Niels sich erinnerte.
Offenbar war der Biobauernhof mit Hofladen der Kompromiss, den sie gefunden hatten. Volker blieb seinen Wurzeln treu, und Daniela konnte sich zumindest ein wenig verwirklichen, indem sie plante, organisierte, das Geschäftliche, den Einkauf, die Buchhaltung regelte.
»Sie hat die Visionen, ich bin der Knecht«, so beschrieb Volker das einmal, und es war, wie immer bei Volker, unklar, wie er das wertete. Niels glaubte, diese Aufteilung war seinem alten Kumpel nicht unrecht.
»Niels.« Daniela kommt die Treppe hinunter und umarmt ihn, ohne zu zögern. »Mein Beileid.«
Niels nickt und sieht zu Volker, der sich verlegen am Kopf kratzt und dann auch etwas von Beileid murmelt. Volker ist, wie viele Männer im süddeutschen Raum, kein Freund von allzu expliziten Gefühlsäußerungen.
»Danke«, sagt Niels. »Ihr wisst ja, war schwierig mit ihm.«
Dani nickt.
»Und danke, dass ihr euch um ihn gekümmert habt.«
»Müssen wir noch etwas regeln wegen der Beerdigung morgen?«, fragt Dani.
Niels spürt mit einem Mal einen heftigen, stechenden Kopfschmerz, der ihn zusammenzucken lässt. Er reibt sich die Schläfe.
»Nein, hab mit dem Bestatter alles geklärt«, presst Niels hervor.
»Alles in Ordnung?«, fragt Dani, und Niels nickt.
»Ich hab noch jemanden gefunden von der Spielgemeinschaft Feldhausen-Rossbach«, Letzteres spricht Volker seltsam gespreizt aus, »der ein paar Worte sagt.«
»Danke«, sagt Niels, »denn ich werde das sicher nicht tun.«
Als Niels nach Hause kam, mähte sein Vater mit Badehose und nacktem Oberkörper den Rasen. Eines musste man ihm lassen: Es war ihm wirklich völlig egal, was irgendjemand über ihn dachte. Leider sagte diese Eigenschaft auch viel über seine Sozialkompetenz und seine Sturheit aus.
Er sah Niels an, als er ihn kommen sah, und stellte den Mäher ab.
»Wo kommst du jetzt her?«
»Vom See.«
»So bereitet ihr euch auf das Spiel morgen vor? Bier trinken, rauchen und am Ende noch kiffen.«
Niels sah seinen Vater an, der auch gleichzeitig sein Trainer war.
»Wir haben nicht geraucht und nicht gekifft, und es waren zwei Bier jeder, und jetzt ist es sieben Uhr abends, ich weiß nicht, was das Scheißproblem ist.«
»Mach, wie du meinst«, murmelte sein Vater, »du spielst sowieso nicht.«
Obwohl sein Vater ihm seine Entscheidung schon am Donnerstag nach dem Training mitgeteilt hatte, durchfuhr Niels ein Schmerz. Genau genommen hatte er sie ihm auch gar nicht mitgeteilt, er hatte einfach in der Besprechung die Aufstellung durchgegeben, und da war Niels’ Name nicht dabei gewesen. Trotzdem tat es weh. Er hätte gern gespielt, auch wenn er selten in der Startelf war. Aber gegen Rossbach, das war einfach etwas Besonderes.
Niels’ Vater war ein guter Fußballer gewesen, er hätte sehr hochklassig spielen können, wurde immer erzählt, aber ein Kreuzbandriss verhinderte seine Karriere, und so blieb ihm nichts weiter, als die Feldhausener Jugend zu trainieren, ein Kompromiss, denn ganz ohne Fußball leben konnte er nicht. Er galt als guter Trainer, war geschätzt für sein Fachwissen und beliebt für seine raue, aber herzliche Art, aber Niels erlebte ihn auch anders, vor allem ihm gegenüber. Verbittert bis zur Bösartigkeit. Immer öfter, wie ihm in diesem Moment wieder bewusst wurde.
Und in letzter Zeit glaubte Niels den Grund oder die Gründe dafür zu verstehen.
Niels war acht gewesen, als seine Mutter verschwunden war.
Es hatte lange gedauert, bis er zumindest im Ansatz verstanden hatte, was passiert war, weil sein Vater nicht darüber sprach.
Sie war im Grunde nicht verschwunden, sie war gegangen. Hatte ihren Mann und ihre Kinder verlassen. Keine Nachricht, kein Brief.
Sein Vater war ein Arbeiter, handwerklich geschickt, körperlich aktiv, bodenständig, pragmatisch. Alles, was er wusste, wusste er seit Langem, er hatte sich eingerichtet in seiner Weltsicht, wusste, was gut war, was schlecht, was funktionierte und was nicht. Wenn er sich mit anderen Männern unterhielt über Fußball oder Politik, dann sagte er Dinge wie ›Komm erzähl mir nichts, ich weiß Bescheid‹ und machte dazu eine passende abwinkende Handbewegung. Er redete von denen da oben, die keine Ahnung hätten vom wirklichen Leben.
Was ihm missfiel, war Scheißdreck, Lob, wenn überhaupt, wurde eher nonverbal geäußert, nach dem süddeutschen Motto: Nicht geschimpft ist genug gelobt.
Seine Frau war völlig anders gewesen, und Niels hatte den Verdacht, dass die beiden so grundverschieden gewesen waren, dass es einfach nicht funktionieren konnte.
Seine Mutter war eine Künstlerin, das wurde ihm immer klarer; nicht als Beruf, aber als Lebenskonzept. Sie hatte zwar auch gemalt, wie er sich erinnerte, aber es war ihre Sicht auf die Dinge, ihre Liebe zu Formen und Farben, die Bücher, die sie las. Sie hatte Niels Gedichte vorgelesen, und in letzter Zeit, wo er selbst immer tiefer eintauchte in die Welt von Baudelaire, Blake, Dylan und Morrison, hatte er immer öfter das Gefühl, dass ihm manches davon bekannt vorkam. Hatte sie ihm solche Gedichte vorgelesen, als er klein war? Wie gern hätte er sich ihre Bücher und Schallplatten angesehen, er meinte, sich an ihr Zimmer mit dem Plattenspieler zu erinnern, denn er war sich sicher, dass ihn mittlerweile dieselben Dinge interessierten, aber es war alles verschwunden. Vielleicht war einiges an ihr auch etwas versponnen, ihr Hang zu Esoterik, Niels erinnerte sich, dass sie immer bestimmte Steine an sich getragen und überall im Haus verteilt hatte, die für oder gegen dies und jenes gut waren, und dass sie bei bestimmten Gartenarbeiten den Mond berücksichtigte.
Niels glaubte, dass sein Vater konkret zwei Probleme mit ihm hatte: Zum einen war er enttäuscht, dass Niels kein besserer Fußballer war. Niels war eigentlich nicht schlecht, aber er dachte zu viel nach. Ihm fehlte der Instinkt, versuchte immer ein wenig zu umständlich die bestmögliche Lösung zu finden, und dadurch war er zu langsam. Zum anderen erinnerte ihn sein Sohn immer mehr an dessen Mutter, die Frau, die ihn verlassen hatte.
Aber nur weil man verstand, warum sich jemand auf eine bestimmte Art verhielt, dachte Niels, machte es das nicht besser oder einfacher, wenn das Verhalten ungerecht war.
»Und sieh zu, dass Heike etwas isst«, rief sein Vater Niels noch hinterher, als dieser ins Haus ging.
Jaaaaa, Heimat!«, ruft Ralf, als er aus seinem absurd orangefarbenen Range Rover springt und dabei die Arme in die Luft reißt.
»I never will forget those nights, I wonder if it was a dream. Remember how you made me crazy, remember how I made you scream«, singt er in voller Lautstärke.
Volker und Niels grinsen sich an.
Niels denkt an den Film Stand by me, in dem der Erzähler sagt, dass man später nie mehr bessere Freunde habe als mit zwölf.
Die Beifahrertür öffnet sich, und eine Frau steigt aus dem Auto. Sie hat einen pechschwarzen Pagenschnitt mit Pony, der ihr bis fast über die Augen reicht. Sie bläst ihre Haare zur Seite und sieht sich um.
»Freunde, das ist Natascha.«
Dani, Volker und Niels sehen sich an. Offenbar wusste niemand etwas davon, dass Ralf jemanden mitbringen würde. Niels wusste bis eben nicht einmal, dass es eine Natascha in Ralfs Leben gibt, auch wenn es nicht leicht war, den Überblick über Ralfs Frauen zu behalten.
»Hallo, Natascha, willkommen«, sagt Dani und versucht, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.