All die Farben zwischen uns - Katharina Ferihumer - E-Book

All die Farben zwischen uns E-Book

Katharina Ferihumer

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Beschreibung

*Vielleicht war ihre Liebe nie stark genug für die Wahrheit* Melanie hätte nie gedacht, dass Samuel mehr für sie empfinden könnte, als nur Freundschaft. Immerhin ist sie nur das Mädchen von der Buchhaltung. Doch sie ist ihm aufgefallen, mehr als ihr bewusst war. Ein einziger Moment jedoch reicht aus, um alles zu zerstören. Ein Feuer, das nicht nur Samuels Club niederbrennt, sondern auch Geheimnisse ans Licht bringt, die lieber im Verborgenen geblieben wären ...

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2025

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All die Farben – Reihe:All die Farben am Horizont All die Farben um mich herum All die Farben zwischen uns (alle Bänder sind unabhängig voneinander lesbar)

An dem Tag, an dem die Farben zwischen uns verloren gingen, habe ich auch mich verloren. Und als wir uns wiederfanden, fügte sich alles zusammen, wie ein wunderschönes Mosaik.

Für alle, die sich manchmal verlieren, um sich dann selbst wiederzufinden.

Der perfekte Song zu diesem Buch: Montez, LEA; Wenn du mich lässt

Bester Ort und Zeit: An einem schönen Sommertag im Garten

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.Die Triggerwarnung findet ihr auf Seite →. Achtung: Spoiler!

Ich wünsche euch traurig-schöne Lesemomente.

Inhaltsverzeichnis

TEIL 1

TEIL 2

Kapitel 1

-MELANIE-

-SAMUEL-

Kapitel 2

-MELANIE-

-SAMUEL-

Kapitel 3

-MELANIE-

Kapitel 4

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 5

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 6

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 7

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 8

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 9

-SAMUEL-

-MELANIE-

TEIL 3

Kapitel 10

-MELANIE-

-SAMUEL-

Kapitel 11

-MELANIE-

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 12

-MELANIE-

-SAMUEL-

Kapitel 13

-MELANIE-

Kapitel 14

-MELANIE-

Kapitel 15

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 16

-SAMUEL-

-MELANIE-

Kapitel 17

-MELANIE-

-SAMUEL-

Kapitel 18

-MELANIE-

Kapitel 19

-MELANIE-

-SAMUEL-

-MELANIE-

TEIL 1

10 JAHRE ZUVOR

20.09.2013

Liebes Tagebuch,

mein Papa ist wieder einmal grundlos wütend. Er läuft fluchend im Haus herum und zerstört Dinge. Mamas Porzellan zum Beispiel. Sie würde weinen, wenn sie das sehen könnte. Aber weil sie nicht da ist, weine ich für sie.

Diese Tassen mit den rosa Blümchen fand ich eigentlich immer total kitschig und ich hätte niemals daraus getrunken. Aber sie waren eben wie Mama, etwas Besonderes. Und Besonderheiten zerstört man doch nicht. Oder?

Aber wenn er wütend ist, denkt er nicht darüber nach, wie wichtig manche Dinge für andere sind. Erst hinterher, wenn er all die Scherben bemerkt, die er hinterlassen hat ...

Ich würde ihn gerne fragen, was los ist, aber er erzählt mir nie etwas. In wenigen Monaten werde ich 14, ich bin also kein kleines Kind mehr und ich will doch nur wissen, warum er schon wieder die halbe Küche demoliert und ob ich schuld daran bin. Ich fühle mich immer schuldig, wenn er ausrastet.

Ich vermisse Mama. Ich vermisse es eine Mama zu haben. Ich glaube, Papa wäre anders, wenn sie noch hier wäre. Aber das ist sie nicht und deshalb muss ich stark sein. Papa hasst Schwäche, er hasst Trauer und Tränen. Manchmal denke ich, dass er auch mich hasst, weil ich ihn an Mama erinnere - an ihre sanfte Art und ihre Locken, die ich niemals zeigen darf ...

Liebes Tagebuch, danke, dass du mir immer zuhörst. Du bist nicht einmal ein Mensch und trotzdem mein bester Freund.

Mel*

Ich höre Papas Schritte näher kommen und klappe mein Tagebuch schnell zu. Ein simpler Code wie meiner würde ihn nie daran hindern, es zu öffnen. Trotzdem fühle ich mich ein wenig sicherer, als das vertraute Klicken an mein Ohr dringt.

Erst als ich es zwischen meinen Unterhosen in der untersten Lade versteckt habe, kann ich wieder durchatmen. Ich weiß nicht, was er tun würde, wenn er davon wüsste. Aber ich brauche mein Tagebuch, um all die Gefühle aufzuschreiben, die ich vor ihm nicht zeigen darf.

Es klopft an der Tür. Vier mal. Wie immer.

„Ich komme schon“, rufe ich durch die verschlossene Tür. Er betritt mein Zimmer niemals. Nicht, wenn ich verschlafen habe, nicht wenn ich krank bin und vermutlich nicht einmal, wenn ich sterbend am Boden liegen würde. Ich weiß nicht, ob es am Foto von Mama liegt, das auf meinem Schreibtisch steht, oder an dem Schaukelstuhl, in dem sie immer mit mir gekuschelt hat. Aber dieses Zimmer bewahrt etwas von Mama, das ich mir behalten möchte und Papa am liebsten verdrängt.

Ich eile in die Küche und finde ein Scherbenmeer aus Porzellan und Glas vor. Heute ist er richtig wütend. Er weicht meinem Blick aus und deutet auf die Pfanne am Ofen.

„Essen ist fertig.“

Ich erkenne Spiegelei mit Speck. Papas Lieblingsessen. Dabei hoffe ich, dass es keine Glassplitter bis ins Essen geschafft haben. Die Scherben am Boden ignorierend, wie wir es immer machen, nehme ich mir meine Portion aus der Pfanne und setze mich zu ihm an den Tisch. Wir essen stillschweigend, dabei entgeht mir nicht, wie er mich mustert.

„Du wirst bald 14“, brummt er, nachdem er das Besteck abgelegt hat.

Seine Stimme ist rau, als hätte er stundenlang geschrien.

„Ich weiß.“

Verunsichert, was jetzt kommen wird, lasse ich den Kopf lieber gesenkt.

„Du solltest langsam mehr Verantwortung übernehmen.“

Da blicke ich doch auf und sehe ihm direkt in die Augen. Normalerweise vermeide ich das, aber heute will ich wissen, ob er es ernst meint. Ich will mehr Verantwortung, ich will mehr Bescheid wissen, ich will helfen und mich nicht mehr so nutzlos fühlen.

Es gibt nur noch Papa und mich. Und es ist an der Zeit, dass er mich in manche Dinge einweiht. Denn meist komme ich mir hier nur wie ein Eindringling vor, obwohl es mein Zuhause ist.

„Die Geschäfte laufen schlecht. Es gibt Konkurrenten, die sich gegen mich verschworen haben und ich muss etwas unternehmen, bevor es zu spät ist und ich dir nichts mehr hinterlassen kann.“

Meine Eltern haben vor über zehn Jahren eine Reihe von Bars eröffnet. In jeder umliegenden Stadt eine und jede davon ist einzigartig. Die Ideen dafür kamen von Mama. Wenn Papa von ihr spricht, dann von ihrer Kreativität und ihrem Weitblick. Er ist der absolute Geschäftsmann, der dafür sorgt, dass alles läuft.

Da ich diese Bars irgendwann übernehmen soll, will er, dass ich BWL studiere und mich darauf vorbereite. Er hatte gehofft, ich würde den kreativen Part von Mama übernehmen, aber das habe ich leider nicht von ihr geerbt. Dafür bin ich in Mathematik und analytischem Denken ein Ass. Ins Familiengeschäft, miteinzusteigen stand für mich nie außer Frage. Ich will weiterführen, was meine Eltern aufgebaut haben und vor allem, was meine Mama mit ihrem Herzblut erschaffen hat. In jeder Bar lebt ein Stück von ihr weiter.

„Was kann ich tun?“

Meine Laune erhellt sich. Ich freue mich, dass er meine Hilfe möchte.

„Du musst jetzt ganz genau zuhören, das ist wichtig!“ Er setzt sich aufrecht hin und durchbohrt mich mit seinem Blick. Ich wage es kaum, zu atmen. „Ich muss heute Abend etwas erledigen. Mein Handy werde ich zuhause lassen, du kannst mich also nicht erreichen. Wenn ich weg bin, wartest du eine Stunde und gehst dann zu Frau Peterson rüber. Frag sie um ein paar Eier und sag ihr, dass wir gerade dabei sind einen Kuchen zu backen. Die alte Tratschtante wird am nächsten Tag jedem erzählen, dass wir zusammen gebacken haben. Da bin ich mir sicher!“

Irritiert starre ich meinen Vater an. Ich verstehe nicht, inwiefern ihm das eine Hilfe sein könnte.

„Soll ich wirklich backen?“

„Nein. Also du kannst, wenn du möchtest. Wichtig ist nur, dass unsere Nachbarin glaubt, ich wäre zuhause gewesen. Sie kann sehr überzeugend sein und das wird mir helfen.“

„Aber das wäre gelogen ...“

„Manchmal sind Lügen wichtiger als Wahrheiten, Melanie. Das musst du noch lernen. Also wiederhole, was hast du zu tun?“

Ich schlucke die bittere Enttäuschung hinunter und spreche nach, was er mir vorsagt.

„Sehr gut. Und sollte dennoch jemand nachfragen, ich war heute Abend nie weg. Hast du verstanden?“

Seine Stimme ist so eindringlich, dass ich eine Gänsehaut bekomme.

„Aber wo fährst du denn hin?“

„Je weniger du weißt, desto weniger kannst du verraten.“

„Ich würde dich nie verraten!“

Meine Augen beginnen zu tränen. Warum glaubt er, ich würde nicht zu ihm stehen? Traut er mir so wenig zu?

„Das weiß ich. Und wenn du die Sache gut machst, wirst du beim nächsten Mal eine größere Aufgabe bekommen. Gemeinsam werden wir dafür sorgen, dass uns niemand mehr etwas wegnehmen kann!“

Ich bin mir nicht sicher, ob er dabei von Mama spricht oder von etwas anderem. In die Familiengeschäfte bin ich nicht eingeweiht. Wie die Bars aussehen, weiß ich nur von Bildern. Mama hat für jede davon eine Mappe angelegt, die im Wohnzimmer verstauben würden, wenn ich sie mir nicht hin und wieder ansähe. So habe ich zumindest das Gefühl, ihr ein wenig näher zu sein.

Er atmet hörbar aus und erhebt sich langsam. Sein Blick bleibt auf dem leeren Teller haften - er wird ihn bestimmt stehen lassen. Mein Vater kocht, ich mache den Abwasch. Irgendwann hat sich das so eingespielt.

Nach einem knappen Nicken verschwindet er nach unten in den Keller, den ich aus Angst vor der Dunkelheit nie betrete. Dort bleibt er eine ganze Weile, währenddessen ich die Scherben aufräume, die er hinterlassen hat. Wie immer.

21.09.2013

Liebes Tagebuch,

ich musste für Papa lügen. Dabei weiß ich selbst nicht einmal, wo er war. Als er mitten in der Nacht zurückkam, bin ich kurz aufgewacht. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft, etwas Scharfes, Unbekanntes, das mir in der Nase brannte. Ich konnte es nicht einordnen, aber es ließ mich nicht wieder einschlafen. Ich wollte fragen, wo er gewesen war, doch ich wusste, dass er mir nichts verraten würde.

Als ich heute Morgen aufstand, war alles wie immer. Der Geruch war verschwunden, Papa saß am Küchentisch, trank seinen Kaffee und lächelte. Er war gut gelaunt, scherzte mit mir, als wäre nichts gewesen. Ich sollte erleichtert sein, sollte mich freuen, dass er zufrieden ist. Aber da ist dieses Gefühl in meiner Brust - schwer wie ein Stein.

Er hat mir nichts erzählt, nur dass ich ihm sehr geholfen habe. Ich habe genickt und gelächelt, denn genau das wollte ich. Ihn stolz machen, ihm zeigen, dass er sich auf mich verlassen kann, stark sein. So, wie er es von mir erwartet.

Aber warum fühlt es sich dann so falsch an?

Ich mache mir Sorgen, aber das kann ich ihm nicht sagen. Denn Sorgen machen sich nur die Schwachen, sagt er immer. Die Starken handeln. Und ich will stark sein, ich will handeln, ich will ihn stolz machen.

Ich wünschte, ich könnte mit jemandem reden. Aber es gibt niemanden, der es verstehen würde. Also schreibe ich es dir, liebes Tagebuch. Und ich hoffe, dass dieses Gefühl irgendwann wieder verschwindet.

Mel*

10.10.2013

Liebes Tagebuch,

heute habe ich bereits das dritte Mal für ihn gelogen. Nur eine kleine Lüge, die ich einem unserer Nachbarn erzählen sollte. Trotzdem fühlt es sich jedes Mal so an, als würde ich etwas Schlimmes tun.

Ich dachte, vielleicht würde es mit der Zeit leichter werden, dass ich mich daran gewöhne. Aber genau das Gegenteil passiert. Jedes Mal, wenn er mich bittet, spüre ich, wie mein Magen sich zusammenzieht.

Ich frage mich, was er in dieser Zeit macht. Erst verschwindet er im Keller, bleibt dort eine Weile, dann fährt er irgendwohin und kommt spät nachts wieder.

Papa sagt, ich soll nicht weiter darüber nachdenken, aber das ist nicht so leicht. Denn mit jedem Mal wird meine Angst größer. Dabei weiß ich nicht einmal, wovor ich mich überhaupt fürchte. Es ist so ein komisches Gefühl, als würde bald etwas passieren und ich habe keine Ahnung was.

Wenn ich nur wüsste, warum ich für ihn lüge, wäre es einfacher. Dann würde ich nicht so im Dunkeln tappen. Vielleicht könnte ich es besser verstehen, könnte einen Sinn darin sehen. So habe ich nur das Gefühl, dass er mir nicht traut.

Mel*

„Melanie!“, höre ich die tiefe Stimme meines Vaters. Ich zucke zusammen, noch bevor sich die Tür zu meinem Zimmer öffnet. Er hat nicht geklopft. Das ist neu.

„Zieh dir etwas Unauffälliges an, wir haben etwas vor.“

Er mustert mich einen Moment lang, bevor er die Tür wieder schwungvoll schließt. Als sich seine Schritte entfernen, atme ich hörbar aus.

Angst breitet sich in mir aus. Ich weiß nicht, was er vorhat. Manchmal versucht er mich stärker zu machen. Ich soll unseren Familiennamen „Tropat“ mit Stolz tragen und mich dementsprechend verhalten. Doch das endet jedes Mal im Desaster. Und hinterher bekomme ich Albträume davon.

Ich habe noch immer schreckliche Angst vor Wasser, obwohl es acht Jahre her ist, dass er mir auf seine Art das Schwimmen beibringen wollte. Es endete mit einem Krankenhausaufenthalt und einem enttäuschten Vater.

Mit einem Kloß im Hals durchsuche ich meinen gut gefüllten Kleiderschrank nach unauffälligen Klamotten. Ich frage mich, was er dieses Mal geplant hat.

Will er mich wieder irgendwo aussetzen, um mein Orientierungsvermögen zu stärken? Hat er eine Mutprobe für mich vorbereitet, in der ich beweisen soll, wie tough ich bin? Muss ich dieses Mal mitkommen und ihm bei was auch immer helfen?

Mit einer schwarzen Jeans und gleichfarbigem Shirt trete ich hinaus in den Flur. Er wartet bereits an der Tür, hat eine große Tasche in der Hand und verengt die Augen, als er mich erblickt.

„Was machen wir?“

Ich versuche nicht ängstlich zu klingen, aber es scheint mir nicht zu gelingen. Sein Blick wird noch ernster.

„Du wirst mich heute stolz machen!“, ist alles, was ich von ihm zu hören bekommen.

Es fühlt sich jedes Mal so an, als würde ich für einen Test antreten müssen, für den ich nicht lernen konnte.

Ich laufe meinem Vater hinterher, der auf unseren Wagen zusteuert und ohne ein weiteres Wort die Tasche auf den Rücksitz wirft und einsteigt. Meine Beine fühlen sich an wie Gummi, als ich mich neben ihm setze.

„Du wirst genau das tun, was ich dir sage.“

Ich nicke bloß und wende den Blick ab. Während der Fahrt versuche ich herauszufinden, wo wir hinfahren. Es geht eindeutig Richtung Stadt, doch bevor wir sie erreichen, nimmt er eine Seitenstraße. Es ist bereits dunkel und die karge Beleuchtung dieser Gegend lässt mich wenig erkennen. Ich bin verloren.

Meine Angst steigt, während mein Vater vor sich hin summt und irgendetwas vorhat, von dem ich nichts weiß.

„Hier sind wir!“

Wir halten an und ich sehe mich um. Außer einem großen Gebäude, das leer zu sein scheint, kann ich nichts erkennen. Der Himmel ist so dunkel, dass sich nicht einmal ein einzelner Stern zeigt. Vater dreht das Autolicht ab und die Schwärze der Nacht umhüllt uns.

„Warte hier!“, fordert er mich auf und ich bin einen Moment lang erleichtert. Vielleicht komme ich heute glimpflich davon. Aber so, wie ich ihn kenne, hat er wieder etwas vorbereitet, das mich herausfordern soll.

Ich sehe ihm nach, seiner großen, mächtigen, leicht humpelnden Gestalt, bis er das Gebäude erreicht und um die Ecke biegt. Einige Minuten lang sitze ich einfach nur da, starre ins Nichts und versuche nicht panisch zu werden. Ich zähle meine Atemzüge, knete meine Hände, versuche zu hoffen.

Als die Beifahrertür aufgerissen wird, erschrecke ich.

„Komm mit!“

Mit zitternden Knien steige ich aus dem Wagen aus und folge meinem Vater. Die Dunkelheit verschluckt fast alles um uns herum und ich muss aufpassen, dass ich ihn nicht aus den Augen verliere. Warum wir keine Taschenlampe verwenden, traue ich mich nicht zu fragen.

Wir biegen um das Gebäude und ich erkenne eine Tür, die offensteht, als hätte jemand vergessen, sie zu schließen. Er schiebt mich ins Innere. Drinnen ist es noch dunkler, doch ein stechender Geruch hängt in der Luft. Mein Magen zieht sich vor Angst zusammen.

Plötzlich blitzt etwas neben mir auf. Mein Blick schnellt nach links, dorthin wo mein Vater steht. In seiner Hand flackert die Flamme eines Feuerzeugs. Dabei sehe ich sein Gesicht und ich weiß schon jetzt, dass ich diesen Anblick nie wieder vergessen werde. Dieser Ausdruck, dieser Blick in seinen Augen, lässt das Blut in meinen Adern gefrieren.

„Der Besitzer dieses Clubs hat dafür gesorgt, dass wir alles verlieren werden. Aber er hat sich mit dem Falschen angelegt. Er hat mich unterschätzt, hat uns Tropat´s unterschätzt. Wir kämpfen für das, was uns wichtig ist. Und heute bekommst du deine große Aufgabe.“

Ich verstehe nicht, was er mir damit sagen will, kann nicht begreifen, was er von mir erwartet. Mit offenem Mund starre ich ihn an, während er mir das Feuerzeug und ein zusammengeknülltes Stück Papier überreicht.

„Was soll ich damit?“, frage ich stammelnd.

„Du wirst Rache üben und unser Familiengeschäft retten. Ich starte das Auto und warte dort auf dich.“

Er huscht davon, bevor ich etwas sagen kann. Dabei hätte ich so viele Fragen, so viele Bedenken. Ich kann doch nicht einfach einen Club niederbrennen. Was, wenn sich jemand dort aufhält? Ich lausche in die Stille, höre nichts, außer einem Motorengeräusch in der Ferne. Er hat das Auto gestartet und wartet auf mich.

Ich soll ihn stolz machen und das will ich auch. Das wäre meine Chance. Vielleicht wäre ich dann endlich die Tochter, die er sich so sehr wünscht. Vielleicht würde danach alles gut werden. Meine Hände zittern, als ich auf sie hinabblicke. Es wäre ganz leicht. Einfach nur anzünden, fallen lassen, davon laufen. Ein Leben zerstören ... Ich atme tief durch, versuche stark zu sein. Doch alles in mir sträubt sich. Ich kann das nicht. Es fühlt sich falsch an, und auch wenn ich ihn stolz machen will, bringe ich es nicht übers Herz. Meine Mutter hätte so etwas nie zugelassen. Oder?

Plötzlich reißt mich jemand von hinten zurück. Ich pralle gegen die harte Stahltür und verliere dabei das Feuerzeug. Es dauert einen Moment, bis ich meinen Vater neben mir erkenne. Fluchend hebt er es auf, entfacht eine Flamme und wirft das brennende Stück Papier ins Innere. Sofort fängt alles Feuer. Es breitet sich aus, folgt einer unsichtbaren Spur, die vermutlich mein Vater gelegt hat. Ich bin beinahe fasziniert von diesem Anblick und gleichzeitig fühlt es sich so falsch an.

Die Flammen lodern, vernichten alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Hitze strömt mir entgegen, der Gestank von brennendem Benzin steigt mir in die Nase. Ein letzter Blick auf das Feuer, dann werde ich von meinem Vater weggezogen. Er fasst mich am Arm und zieht mich im Lauftempo zurück zum Auto. Ich fühle mich wie in Trance und bekomme die Bilder der Flammen nicht mehr aus meinem Kopf.

Nicht, als wir das brennende Gebäude längst hinter uns gelassen haben, nicht als ich Stunden später geduscht im Bett liege und auch nicht, als mitten in der Nacht die Polizei bei uns läutet.

TEIL 2

GEGENWART

Kapitel 1

-MELANIE-

23.08.2023

Liebes Tagebuch,

Zwischen Samuel und mir wird es ernst.

Zwei Jahre lang war ich quasi unsichtbar, nur das Mädchen von der Buchhaltung. Bis zu dem Tag an dem Samuel seinen Geburtstag gefeiert hat. Du erinnerst dich? Panikattacke? Pool? Party? Aber das ist eine andere Geschichte und längst Vergangenheit.

Es lief nicht wie in den schönen Liebesromanen, die ich gern lese, aber immerhin habe ich seine Aufmerksamkeit erregt. Und jetzt geht er mit mir aus. Mit mir!

Gestern hatten Samuel und ich unser drittes Date. Wir sehen uns zwar andauernd, in seinem Club, im Kreise der Clique, bei einer Party, aber mit ihm allein zu sein, ist etwas ganz anderes.

Er hat mich zum Essen ausgeführt, wir machten einen Spaziergang und schlussendlich landeten wir in seiner Wohnung. Er war so zärtlich, so liebevoll, so romantisch.

Ob wir Sex hatten? Nein.

Sein Vater hat angerufen und damit war die Stimmung im Keller. Aber in seinen Armen zu liegen, ihn zu küssen ... Das war mehr, als ich mir jemals erträumt hatte.

Kann das Leben schön sein? Oh, man, ja. Und ich habe so lange darauf gewartet.

Mel*

„Hey, da bist du ja.“

Samuel grinst über beide Ohren, als er das Büro seines Clubs betritt. Ich bin seit Stunden hier, um die Übergabe an Fiona zu regeln.

Sie wurde vor ein paar Monaten eingestellt, um mir bei der Buchhaltung zu helfen. Die „ Declaires“ besitzen neben dem Club noch eine Bar und ein Restaurant und ich hatte Hilfe mehr als nötig. Vor Kurzem hat Fiona uns allerdings eröffnet, dass sie sich selbstständig macht und uns dennoch gerne unterstützen würde. Wir lagern die Buchhaltung des Clubs somit aus, aber bei Fiona ist sie in guten Händen. Für sie ist der Club, der erste wichtige Kunde ihrer Kanzlei, für mich ist es eine große Entlastung. Und ich habe mehr Zeit für Samuel. Ein Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus, als er näher kommt und mir wie selbstverständlich einen Kuss auf meine Lippen drückt. Es fühlt sich noch so surreal an, doch es ist echt. Er ist mein Freund.

Dabei ist Samuel eine ganz andere Liga. Er ist groß, viel größer als ich, hat breite Schultern, starke Arme und einen Körper zum Niederknien. Sein Lächeln haut mich jedes Mal um, allerdings geht er sehr sparsam damit um. Und wenn er mir eines davon schenkt, spüre ich es in meinem ganzen Körper.

„Hast du gut geschlafen?“, fragt er liebevoll und lässt seine Hand dabei auf meiner Schulter ruhen.

„Ja, nach diesem schönen Abend mit dir ...“

Erinnerungen an letzte Nacht lassen mich grinsen. Auch wenn unser Date mit dem Anruf seines Vaters beendet wurde, so vergesse ich dennoch nicht die schöne Zeit davor. Und auch nicht den langen Kuss, den er mir zum Abschied gegeben hat.

„Es tut mir leid, wie es gelaufen ist. Ich wollte dich sicher nicht wegschicken.“

Samuel presst sein Kiefer fest aufeinander.

„Alles okay. Ich hoffe, es ist nichts passiert. Der Anruf kam sehr spät.“

„Oh, nein. Für meinen Vater spielt Zeit einfach keine Rolle.“

Es war wohl noch eine lange Nacht. Samuel wirkt erschöpft. Seine Augen sind schmal und ich erkenne deutlich dunkle Ringe darunter.

„Seit wann bist du hier?“, fragt er weiter, bevor er sich neben mich setzt und gähnt. Seine Nähe löst ein Kribbeln in mir aus. Ich liebe seinen Geruch, der sanft in meine Nase dringt.

Mein Blick fällt auf die Uhr über der Tür. Ich habe die Zeit völlig aus den Augen verloren. Viele hassen die Buchhaltung, aber ich fühle mich hier zu Hause. Zahlen sind berechenbar, sie geben mir das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben, sie beruhigen mich. Und ich liebe die Struktur dahinter, das System, dem ich folgen kann. Und wenn dabei etwas nicht stimmt, fällt das irgendwann einfach auf. Wie ein Rechtschreibfehler in einem Text. Es tut beinahe in den Augen weh. Nur weiß ich dieses Mal nicht, wo ich den Fehler suchen muss. Es ist mehr wie eine Ahnung, als eine klare Sache.

„Eine Weile ...“, schummle ich und schlage die aufgeschlagene Mappe vor mir zu. Ich werde mich später weiter darum kümmern. Samuels Anwesenheit hilft nicht gerade dabei, mich zu konzentrieren.

„Wollen wir Mittagessen gehen?“, fragt er hoffnungsvoll.

„Gern. Sollen wir auch Fiona fragen, sie kommt gleich in den Club.“

„Damit ihr über Buchhaltung reden könnt? Sicher nicht. Außerdem will ich etwas Zeit mit dir allein verbringen.“

Er dreht mich auf dem Schreibtischsessel zu ihm hin und kommt näher. Sein Grinsen beschert mir eine ganze Welle an Gefühlen. Allen voran immer noch Unsicherheit. Ich habe manchmal Angst aufzuwachen und herauszufinden, dass alles nur ein Traum war. So lange war er unerreichbar für mich und mein Gehirn hat wohl noch immer nicht kapiert, dass wir jetzt tatsächlich zusammen sind.

Manchmal wünschte ich, ich wäre so mutig wie Fiona. Oder so tough wie Josie. Sie ist Samuels Schwester, arbeitet ebenfalls im Club und ist eine wahre Erscheinung. Nicht nur äußerlich. Wenn sie den Raum betritt, beherrscht sie ihn. Als würde sie rufen „Hier bin ich, los gehts!“

„Okay.“ Ich schlucke, nicke leicht.

„Worauf hast du Lust?“

Samuel steht auf und zieht mich mit hoch. Ich pralle gegen seine breite Brust und mein Herz schlägt sofort schneller. Wenn ich daran denke, wie er mich letzte Nacht berührt hat, beginnen meine Wangen zu glühen. Samuel scheint an das Gleiche zu denken. Er streicht sanft über meine Schulter bis nach hinten zu meinem Pferdeschwanz. Den umfasst er leicht, lässt ihn wippen.

„Du solltest deine Haare öfter offen tragen.“

Gestern Abend, als wir uns in seinem Schlafzimmer gegenüber standen, hat er meinen Zopf gelöst und als meine Haare sich über meine Schultern ergossen, zog er scharf die Luft ein. Ich mag meine Haare nicht besonders. Sie sind mehr rötlich, als braun, eine komische Mischung. Und meine Locken sind ein Desaster. Nichts Ganzes und nichts Halbes. An manchen Tagen kräuseln sie sich zu verwirrten Schnecken zusammen und an anderen hängen sie lustlos in der Gegend herum. Seit meiner Kindheit trage ich sie zu einem Zopf hochgebunden oder ich glätte sie mühsam, wenn ich zu einer Feier eingeladen werde.

„Ich bin kein Fan von meinen Haaren“, gebe ich zu.

„Ich schon.“

Sein Blick fällt auf meine Lippen. Doch bevor wir uns küssen können, öffnet sich die Tür. Wir sehen beide zu Fiona, die gerade den Raum betritt und kurz stockt, als sie uns erblickt.

„Hey, ihr zwei. Ich wollte nicht stören ...“ Sie grinst.

„Kein Problem. Wir wollten gerade essen gehen. Kommst du ein paar Stunden alleine klar?“

Fiona nickt. Sie trägt einen Dutt, wie fast immer. Doch sie hat keine Probleme damit, ihre Haare auch offen zu zeigen. Dafür wird sie nervös, wenn sie glaubt, zu freizügig zu sein. So hat wohl jede Frau ihre Komplexe.

„Klar doch. Muss ich irgendetwas wissen?“, fragt sie an mich gewandt. Mein Blick verharrt kurz auf der Mappe. Sollte ich ihr von meinem komischen Gefühl erzählen? Fiona braucht Fakten, wie ich. Vermutlich kann sie nur wenig damit anfangen. Dennoch fühle ich mich unbehaglich, wenn ich ihr das verheimliche. Ich schlage eine Mappe auf und zeige auf die Jahresbilanz vom letzten Jahr.

„Kannst du nochmal einen Blick darauf werfen? Ich bin nicht sicher ...“

„Keine Sorge, ich halte hier die Stellung. Los jetzt, genießt euer Mittagessen!“, fordert sie mich auf und schiebt mich vom Schreibtisch weg.

Samuel nimmt meine Hand, ganz selbstverständlich, als wäre es das Normalste der Welt. Für ihn vielleicht. Ich hatte vor ihm nur einen Freund und der hielt absolut nichts von romantischen Gesten. Jede Berührung von Samuel lässt mein Herz hingegen höherschlagen. Wenn er es bricht, ist das mein Ende.

Zwanzig Minuten später sitzen wir beim Italiener. Unser Tisch würde genug Platz bieten, dennoch sitzt Samuel ganz nah bei mir auf der Bank. Seine Hand ruht auf meinem Oberschenkel, während er die Speisekarte durchliest. Mein Blick liegt auf seinem Gesicht. Auf den Konturen seiner vollen Lippen, seinen hohen Wangenknochen und dem breiten Kiefer, den er manchmal zu sehr verspannt. Seine blonden Haare, die er wieder kürzen hat lassen, runden seinen Look perfekt ab. Er hat eine gewisse Coolness, durch die er oft unnahbar wirkt, doch wenn er lächelt, wenn er seinen Charme spielen lässt, erreicht er damit alle Herzen.

Sein Kopf dreht sich in meine Richtung. Er grinst, als er bemerkt, dass ich ihn mustere.

„Schon entschieden?“, fragt er belustigt.

Ich räuspere mich verlegen und zeige wahllos auf ein Gericht auf der Karte. Gnocchi. Nicht mein Leibgericht, aber okay. Ansonsten hätte ich zugeben müssen, dass ich keine Sekunde damit verschwendet habe, auf die Speisekarte zu schauen.

„Gute Wahl“, bestätigt Samuel, nachdem wir die Bestellung aufgegeben haben.

„Weißt du, was mir heute Morgen bewusst geworden ist?“

Sein Blick wird ernst und ich bekomme ein mulmiges Gefühl.

„Was denn?“, frage ich nervös.

„Wir kennen uns über zwei Jahre, du arbeitest schon lange für mich, wir haben viel Zeit im Büro miteinander verbracht, bist Teil der Clique ... und dennoch weiß ich nur so wenig über dich.“

Als Teil der Clique habe ich mich nie gesehen. Ich bin eben manchmal dabei, weil Josie mich eingeladen hat. Doch ich fühle mich unter Menschen immer ein wenig unwohl. Ich beobachte sie und merke, wie anders ich bin. Und das frustriert mich.

Josie ist bunt und laut, aber auf eine gute Art und Weise. Sie sagt, was sie denkt, nimmt sich, was sie will. Auch wenn sie oft eine Weile braucht, um zu merken, was das ist. Es gab da so eine Geschichte mit ihrem Freund Alex. Das war ganz schön turbulent.

Fiona ist besonnen und introvertiert, aber sie lässt sich nicht beeinflussen und geht ihren Weg. Ben, mit dem sie zusammen ist, ist auch Samuels bester Freund und ich mag ihn wirklich gern. Aber wir finden selten ein gemeinsames Thema. Außerdem klebt er regelrecht an Fiona.

Dann gibt es noch die Zwillinge Andrea und Marie. Sie sind nicht übel, aber sie ignorieren mich weitgehend. Ich glaube nicht absichtlich. Ich falle ihnen nur einfach nicht auf. Darin bin ich gut.

Paul arbeitet wie Ben als Fitnesstrainer und ist noch nicht lange dabei. Er kommt mit jedem sofort ins Gespräch, hat sich schnell integriert und keine Probleme damit, Anschluss zu finden.

Es gibt einen Grund, warum ich Samuel nie aufgefallen bin. Weil ich das so wollte. Weil ich mich gerne unter dem Radar bewege. Weil ich nie dachte, eine Chance zu haben.

„Was willst du wissen?“, frage ich nervös. Es gibt so vieles, das ich nicht sagen will oder erzählen darf.

„Wie bist du aufgewachsen?“

Gleich die erste Frage ein Volltreffer. So ist Samuel. Er verschwendet keine Zeit mit Floskeln, mit Unwichtigem. Er redet nicht um den heißen Brei. Niemals.

„Meine Mutter starb, als ich fünf war. Ich bin bei meinem Vater aufgewachsen.“

Dass ich mit fast vierzehn von dort wegmusste, lasse ich lieber aus.

„Oh, das tut mir leid, Mel. Wie bist du damit klar gekommen?“

Ich will nicht darüber reden. Seit mein Vater im Gefängnis ist, versuche ich die Jahre davor zu verdrängen. Es ist schwer und ich hasse es, immer wieder daran erinnert zu werden.

„Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Und ich hatte ja auch noch meine Tante mütterlicherseits. Sie hat mich unterstützt.“

Wieder nur die halbe Wahrheit. Eigentlich musste ich mit vierzehn Jahren zu ihr ziehen, weil sie meine einzige überlebende Verwandte war, die nicht im Gefängnis saß. Wie traurig.

Ich schlucke. Mein Leben ist so verkorkst. Viel zu verkorkst für so einen Mann wie Samuel.

„Keine Geschwister?“

Ich schüttle den Kopf und kann dabei nicht verhindern, dass meine Augen glasig werden. Samuel greift nach meiner Hand und drückt sie fest.

„Tut mir leid, ich wollte nichts aufwühlen.“

„Schon gut. Das ist alles lange her.“

Ich versuche zu lächeln.

„Und jetzt wohnst du alleine? Ich will mir deine Wohnung unbedingt einmal ansehen.“

Samuel grinst schelmisch und zwinkert mir zu. Als mir ein Seufzen entkommt, runzelt er die Stirn.

„Das geht leider nicht. Ich wohne noch bei meiner Tante. Sie hat eine kleine Tochter, auf die ich regelmäßig aufpasse. Das ist unser Deal. Nur erlaubt sie keinen Besuch.“

Samuel hebt beide Brauen.

„Sie erlaubt dir keinen Besuch? Du bist keine vierzehn mehr.“

„Ihr Haus, ihre Regeln.“

Ich weiche seinem fragenden Blick aus. Er möchte noch so viel mehr wissen, das kann ich spüren. Doch ich bin nicht bereit dazu, von all dem zu erzählen. Ich will ihn in meiner Gegenwart, im Jetzt. Die Vergangenheit hat mich genug geprägt und ich habe nicht vor sie wieder hervorzuholen.

„Du hast BWL studiert, oder?“, lenkt er das Gespräch in eine andere Richtung und darüber bin ich erleichtert.

„Ja. Mir war bald klar, als was ich einmal arbeiten möchte. Ich weiß, du hasst alles mit Zahlen.“ Ich muss grinsen bei dem Gedanken, wie er sich immer schüttelt, wenn es um die Buchhaltung geht. „Aber ich liebe alles daran. Die Struktur dahinter, das System ... Alles folgt einem unsichtbaren Faden und macht am Ende Sinn.“

Samuel blickt mir tief in die Augen und grinst.

„Und welche Hobbys hast du sonst noch?“

Ich lache auf.

„Das ist kein Hobby. Ich arbeite, was ich ohnehin gerne mache. Das nennt man wohl eher Berufung. Ansonsten lese ich viel. Den Großteil meiner Freizeit verbringe ich mit meiner Cousine Somalia. Also ja, ich bin 25 und spiele mit Barbies.“

Samuel mustert mich eingehend, dabei lässt er seinen Blick über mein ganzes Gesicht wandern, als wolle er sich jeden einzelnen Zentimeter davon einprägen.

„Siehst du, das sind Dinge, die ich nicht wusste. Warum bist du mir nicht früher aufgefallen?“, fragt er mehr an sich gerichtet, als an mich.

„Ich bin auch ziemlich unscheinbar.“

„Nur auf den ersten Blick, Mel. Aber, wenn man dich einmal ins Auge gefasst hat, kann man den Blick nicht mehr von dir abwenden. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dich nicht zu sehen ...“

Ich schlucke. So etwas Schönes hat noch nie jemand zu mir gesagt. Und dennoch fällt es mir sehr schwer, ihm zu glauben. Ich verfluche nicht nur meine Haare, sondern auch meine kleine Größe, meine zierliche Gestalt, die wenig Weibliches an sich hat und dass ich geschminkt, meist wie ein Flittchen aussehe. Vielleicht bin ich aber auch einfach völlig unbegabt darin, Make-up aufzulegen. Deshalb bleibe ich meist ohne.

„Du kannst so etwas nicht sagen, Samuel.“

„Warum nicht?“

„Weil ich dir dann vielleicht irgendwann doch noch glauben würde.“

„Das hoffe ich!“ Samuel hebt seine Hand und führt sie an mein Kinn. Er hebt mein Gesicht an, bis ich in seine Augen blicke. „Ich meine es nämlich ernst.“

Wir werden unterbrochen, als uns die Getränke serviert werden. Ich vermisse seine Berührung, in dem Moment, in dem er mich loslässt. Doch seine Hand landet schnell wieder auf meiner.

„Verstehst du dich gut mit deinem Vater?“, hakt er nach. Ich will diese Frage nicht beantworten, denn sie wird unweigerlich viele Weitere aufwerfen. Also umgehe ich sie gekonnt und hoffe, dass er nicht mehr darauf zurückkommt.

„Du hast mir noch gar nicht erzählt, wie das letzte Treffen zwischen dir und deinem Vater gelaufen ist?“

Samuel hat vor wenigen Jahren die Leitung vom Club seines Vaters übernommen. Dieser hat erst kürzlich versucht, den Club hinter dem Rücken seiner Kinder loszuwerden. Sowie auch die Bar, die nicht mehr viel abwarf. Nur das schicke Restaurant sollte bleiben. Die Declaires haben sich einen Namen gemacht und sie wollen sich mehr auf Nobelrestaurants und teure Cafés konzentrieren. Samuel und Josie haben um den Club gekämpft und durch einen geschickten Schachzug gewonnen. Sie könnten erleichtert sein. Samuel glaubt allerdings, dass sein Vater etwas plant, denn John-Paul Declaire ist niemand, der so leicht aufgibt. Er hat weitergeführt, was er von seiner eigenen Mutter geerbt hat, bis er keinen Sinn mehr darin sah und es verkaufen wollte. Jetzt fühlt er sich in seinem Ego gekränkt, das durfte auch ich bei seinem letzten Besuch deutlich spüren.

„Es ist alles geklärt. Der Club gehört bald offiziell Josie und mir. In zwei Wochen haben wir den Termin beim Notar.“

Doch er klingt weniger glücklich, als er sein sollte.

„Das sind doch gute Nachrichten?“

„Ja, schon. Aber ich wollte nie einen Zwist in meiner Familie. In der Vergangenheit hat uns schon so vieles gespalten. Ich wollte immer nur, dass wir zusammenhalten, dass wir eine Einheit sind und ich wollte, dass mein Vater stolz auf mich ist. Das fühlt sich an wie Verrat ...“

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Das Verhältnis zu seiner Familie war schon immer angespannt, aber in letzter Zeit meidet er sogar seine Eltern. Das tut mir leid für ihn.

„Ich kann dich verstehen, Samuel. Andererseits habt ihr den Club zu dem gemacht, was er heute ist. Ihn zu verkaufen wäre eine Schande gewesen. Er wird schon noch merken, dass er bei euch in guten Händen ist.“ Ich streiche sanft über seinen Arm. Samuel lächelt gequält. „Wenn ich etwas tun kann ...“

Es sind nur leere Worte, was sollte ich schon bewirken?

„Oh, du tust schon sehr viel, Mel.“ Ich liebe es, wie er meinen Namen sagt. Sein Lächeln lässt mein Herz höherschlagen. „Lass uns essen, damit du rechtzeitig zurück zu deiner Buchhaltung kommst. Und heute Abend, wenn dein Kopf wieder frei für andere Dinge ist, hole ich dich ab. Nichts lenkt mich von all dem Mist so sehr ab, wie du!“

Mein Bauch kribbelt bei dem Gedanken daran. Doch leider wird daraus nichts.

„Meine Tante muss heute Abend arbeiten. Ich habe Babysitter-Dienst.“

„Ich könnte mitkommen“, schlägt er vor. „Wenn deine Tante nicht zuhause ist, merkt sie doch gar nicht, wenn ich da bin.“

So schön die Vorstellung auch ist, Somalia würde mit ihren vier Jahren nicht dichthalten und meine Tante würde durchdrehen. Sie hat es noch nie gern gesehen, wenn ich Männerbesuch bekam. Selbst als ich mit meinem Ex schon fast fünf Jahre zusammen war, durfte er nur zu besonderen Anlässen vorbeischauen.

„Am Wochenende könnte ich bei dir übernachten!“, umgehe ich seine Frage und ein Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab.

Ich liebe seine Wohnung. Er hat einen guten Geschmack. Alles ist in hellem beige und weiß gehalten und dennoch wirkt nichts davon kalt oder steril. Der offene Wohnbereich hat etwas Gemütliches an sich und die riesige Couch lädt zum Verweilen ein. Aber am meisten gefällt mir der Kamin. Ich kenne keine Wohnung, die solch ein Schmuckstück beherbergt. Ich freue mich schon auf den kalten Winter, wenn wir ihn endlich beheizen können.

„Schade. Aber am Wochenende gehörst du ganz mir.“ Samuel schlingt seine Arme um mich. „Und ich werde dafür sorgen, dass du gar nicht mehr wegwillst.“

-SAMUEL-

Ich sitze in meinem Büro und starre auf die blöde Tür durch die Melanie gerade verschwunden ist. Sie musste nach Hause zu ihrer Cousine. Dabei hätte ich sie noch gern hier bei mir gehabt. Wie sehr habe ich dieses Büro und alles, was damit verbunden ist, immer gehasst. Doch seit ich mir über meine Gefühle für sie bewusst geworden bin, kann ich es kaum erwarten dienstags und donnerstags hierher zu kommen. An den anderen Tagen ist sie in der Bar und im Restaurant meiner Eltern. Wir sehen uns viel zu selten.

Mit Melanie ist alles anders. Sie ist anders. Besonders. Ich hatte bislang immer Freundinnen, die selbstbewusst und stürmisch waren. Sie wussten genau, was sie wollten. Und ich gab es ihnen. In allen Belangen. Und so schnell jede dieser Beziehung begann, so schnell endete sie auch wieder. Es war wie ein Heißhunger, den wir stillten und sobald wir zufrieden waren, verloren wir das Interesse aneinander.

Für keine dieser Frauen hatte ich solche Gefühle. Das erste Mal in meinem Leben will ich es langsam angehen, es genießen und das ist völlig neu für mich.

Melanie arbeitet schon einige Zeit hier, sie gehört zu der Clique, die Josie aufgebaut hat und doch ist sie mir nie richtig aufgefallen. Sie war einfach da.

Als ich von ihren Gefühlen für mich erfahren habe, war ich sprachlos. Ich kann mich noch an jedes Wort von ihr erinnern, an ihren schockierten Blick, als sie bemerkte, dass ich es mitangehört habe. Ihr Geständnis war nicht für mich bestimmt. Sie hat sich Fiona anvertraut, und dabei nicht mitbekommen, dass ich in der Tür stand.

Genau in diesem Moment hat sie sich in meinen Kopf geschlichen. Ich habe darüber nachgedacht, warum sie ausgerechnet für mich Gefühle hat. Niemals hätte ich gedacht, dass ich ihr Typ bin. Melanie war einfach Melanie. Ein sanftmütiges, feines Wesen, das immer zuhörte und eine ganz eigene Ruhe mit sich brachte. Man fühlte sich wohl in ihrer Nähe.

Und nun sehe ich sie mit völlig anderen Augen und ich frage mich, wie ich sie so lange übersehen konnte. Denn sie ist so viel mehr. Ihre Augen haben diese Tiefe, die man erst bemerkt, wenn man einen zweiten Blick wagt. Und ihre Lippen sind so fein und zart, dass ich sie ständig berühren möchte. Wenn ich sie an mich ziehe, passt sie perfekt zwischen meine Arme. Und ihr Geruch, verdammt. Wie konnte mir das all die Zeit über entgehen?

Doch das Allerschönste an ihr ist ihr Lächeln. Wenn Mel lächelt, erhellt sich die Welt um sie herum. Sie vertreibt die Dunkelheit, die mich so oft umfängt, die dummen Gedanken, die mir das Leben schwer machen und die Last auf meinen Schultern. Melanie ist so viel mehr, als mir bewusst war. Und ich könnte mich ohrfeigen, dass ich so lange dafür gebraucht habe.

Was sie in mir sieht, ist mir unerklärlich. Aber ich werde dafür sorgen, dass sie es nicht bereut. Melanie gehört jetzt zu mir und ich beschütze, was mir gehört.

„Wir müssen reden!“

Meine Mutter stürmt in mein Büro. Ich bin so überrascht, dass ich sie bloß mit offenem Mund anstarre.

So ein Ausbruch ist untypisch für sie. Meine Mutter hält sehr viel auf die höfliche Etikette. Niemals würde sie in einen Raum stürmen. Bis jetzt.

„Hallo. Was für eine Überraschung. Setz dich doch.“

Ich beobachte sie, wie sie sich mit einem Stirnrunzeln umsieht, kurz den Sessel beäugt und dann doch lieber stehen bleibt. Sie hat ihre Tasche eng an sich geschlungen, als fühle sie sich unwohl hier unten. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass sie diesen Club je betreten hat. Vermutlich hat sie beim Hereingehen eine Perücke und Sonnenbrille getragen, damit sie ja niemand erkennt.

„Wo ist Josie?“, fragt sie herrisch.

„Nicht hier.“

„Das sehe ich auch!“ Sie bekommt eine Zornesfalte auf der Stirn. „Sie sollte hier sein. Ich habe ihr extra geschrieben.“

Das wundert mich nicht. Josie macht selten, was unsere Mutter verlangt. Meist aus reinem Selbstschutz.

„Was kann ich für dich tun?“

Ich richte mich auf, straffe die Schultern. Meine Mutter achtet auf solche Dinge. Verhalte dich, wie du gesehen werden willst, ist einer ihrer Ratschläge, den sie mir bei jeder Gelegenheit um die Ohren wirft.

„Ihr müsst damit aufhören!“

„Womit?“

„Ich verstehe, dass ihr euch beweisen wollt. Ihr möchtet etwas Eigenes, das kann ich auch nachvollziehen. Aber es geht um den Ruf der Familie, Samuel. Und deshalb müssen wir ihn loswerden!“

„Den Club?“, frage ich sicherheitshalber nach.

Sie nickt kräftig.

„Tut mir leid, Mutter. Aber Josie und ich ...“

„Josie!“, schnaubt sie verächtlich. „Das war alles ihre Idee oder? Du warst doch immer so vernünftig. Du musst doch sehen, dass ihr euch damit nur schadet.“

Ihre Brust hebt und senkt sich heftig. Ich habe sie selten so außer sich erlebt.

„Wir arbeiten hier, seit wir sechzehn sind. Vor über zwei Jahren habe ich die Leitung übernommen. Der Club ist ein Teil von mir. Ich kann ihn nicht so einfach abgeben.“

Ich stehe auf, umrunde den Tisch und lehne mich dagegen. Diese endlosen Diskussionen habe ich auch schon mit meinem Vater hinter mir. Noch vor einigen Monaten hätte ich mich von ihm umstimmen lassen. Ich habe immer getan, was von mir verlangt wurde. Doch jetzt bin ich einmal dran. Und Josie und ich wollen diesen Club.

„Du hast dich emotional daran gebunden.“ Sie schüttelt seufzend den Kopf, als wäre sie enttäuscht von mir. „Anfängerfehler. Das Beste ist ein klarer Bruch. Du wirst darüber hinweg kommen und lernen, dass man immer mehrgleisig fahren sollte. Niemals nur auf ein Projekt konzentrieren, Samuel. Das müsstest du doch wissen.“

„Warum willst du den Club loswerden?“, frage ich sie geradeheraus.

Sie hebt beide Brauen, als wundere sie sich darüber.

„Sieh dich hier um. Das ist ein Club. Das passt nicht mehr zu den Declaires. Restaurants, Cafés ... Das ist es, worauf wir uns konzentrieren sollten.“

„Der Club ist seit Ewigkeiten ein Teil dieser Familie. Früher ward ihr stolz darauf.“

„Zeiten ändern sich, Samuel. Ein Club ist nicht sonderlich gut für das Image. Wir wollen ganz oben mitmischen und deshalb müssen wir uns auf lukrative Geschäfte fokussieren, die man stolz präsentieren kann. Ein Club, bei dem sich Leute nur sinnlos betrinken, gehört nicht dazu. Wir planen drei weitere Restaurants und eines davon könntest du leiten. Stell dir vor, du im Anzug, der steht dir doch so gut, wie du deine Gäste begrüßt ...“

Die Vorstellung wäre grauenhaft. Aber das sage ich ihr nicht. Wenn sie wüsste, wovon ich wirklich träume, würde sie mich auslachen.

„Es tut mir leid. Das bin nicht ich.“

„Aber wir sind das.“ Sie tritt näher und legt ihre kalte Hand auf meinen Oberarm. „Tu es für mich!“

Ihr Blick ist flehend. Offenbar ist es ihr wirklich sehr wichtig. Ein schlechtes Gewissen breitet sich in meiner Brust aus. Normalerweise wäre spätestens hier Schluss. Ich wäre eingeknickt, hätte nachgegeben. Doch ich habe mich verändert. Josie und ich haben beschlossen, ein Team zu sein, und meine Loyalität gilt jetzt ihr.

Als sie meinen Blick bemerkt, schreckt sie zurück. Damit hat sie nicht gerechnet.

„Samuel“, flüstert sie bestürzt. „Wie kannst du mir das antun?“

„Ihr könnt diese Restaurants aufbauen, Mutter. Macht, was ihr für richtig haltet. Und ich tu das auch.“

Sie schüttelt den Kopf. Immer wieder. So wie sie mich anschaut, könnte man meinen, für sie bricht gerade eine Welt zusammen. Sie war schon immer Meisterin der Dramatik. Aber heute legt sie noch eines drauf.

„Ich bin enttäuscht.“

Das Schlimmste, was eine Mutter wohl sagen könnte und ihre Worte zeigen auch Wirkung. Ich spüre den Schmerz in meiner Brust. Vor allem, da ich mein ganzes Leben lang immer nur meine Eltern stolz machen wollte. Ich habe auf so vieles verzichtet, nur um es ihnen Recht zu machen. Wenn ich vor einigen Jahren mutig genug gewesen wäre, hätte ich einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Aber davon habe ich nur Melanie erzählt.

Als Josie vor Kurzem von meinem eigentlichen Berufswunsch erfahren hat, musste sie lachen. Klar, man kennt mich als den Mann, der alles im Griff hat. Ich leite einen Club, arbeite oft spät nachts und trage nicht selten einen Anzug, um bei wichtigen Meetings mit meinen Eltern den Schein zu wahren. Doch viel lieber würde ich meine Hände in die Erde graben. Schon als Kind wollte ich immer irgendwelche Sachen verbuddeln. Ich habe den Gärtner gern bei seiner Arbeit beobachtet und schnell gelernt, dass es nichts bringt, Matchboxautos zu vergraben, aber Samen durchaus etwas hervorbringen können. Die Natur hat mich schon immer interessiert. Doch als mich meine Mutter mit knapp zehn Jahren mit von Erde beschmutzten Händen erwischt hat, hat sie mir eine Standpauke über die Stellung unserer Familie gehalten und mir wurde klar, ich muss diese Leidenschaft für mich behalten.

„Was willst du?“, fragt meine Mutter plötzlich.

Überrascht starre ich sie an.

„Was meinst du damit?“

„Was willst du, damit du den Club aufgibst?“

„Nichts. Unser Entschluss steht fest.“

„Josie hätte ich so etwas zugetraut. Aber dir ...“

Ich weiß nicht, welches Problem sie immer mit Josie hat. Egal, was schiefläuft, es ist ihre Schuld. So war es schon immer. Und das macht mich traurig. Denn Josie hat eine Mutter verdient, die stolz auf sie ist. Doch unserer Mutter hat nur Missgunst für sie übrig. Und das bringt mich jedes Mal in eine Zwickmühle. Denn ich versuche meiner Schwester zu helfen und gleichzeitig meine Eltern nicht zu enttäuschen.

Es ist das erste Mal, dass ich auf Josies Seite stehe. Das hätte ich schon viel früher tun sollen ...

Kapitel 2

-MELANIE-

01.09.2023

Liebes Tagebuch.

Heute Abend feiern wir Fionas Geburtstag.

Ich sollte mich freuen, vor allem da es lange nicht sicher war, ob sie hierbleibt. Sie ist eine der wenigen, die mich versteht, die so denkt wie ich. Zumindest ansatzweise. Wir sind uns ähnlich und das beruhigt mich. Sie sorgt dafür, dass ich mich in der Clique entspannen kann und mich nicht ganz so sonderbar fühle. Wenn sie dabei ist, unterhalten wir uns über Bücher oder Dinge, die die anderen langweilig finden.

Zurück zum Thema, ich schweife ab. Denn ich will nicht schreiben, was jetzt unweigerlich kommen muss. Ich will es nicht einmal denken, doch es wird dadurch nicht weniger wahr. Und wenn ich mich jemandem anvertrauen kann, dann dir. So war es schon immer.

Heute kam ein Anruf aus dem Gefängnis. Ein Anruf, der alles verändert. Mein Vater liegt im Sterben. Magenkrebs. Ausgerechnet mein Vater, der Schwäche immer so verabscheut hat, liegt nun in einem Bett unfähig noch selbstständig Nahrung aufnehmen zu können.

Er hat die Diagnose vor sieben Monaten bekommen, es aber bislang verheimlicht. Und auch jetzt muss ich Stillschweigen bewahren. Niemand soll erfahren, dass der mächtige Ernst Tropat schwach und gebrechlich ist. Die Menschen sollen ihn weiterhin fürchten, nicht bemitleiden.

Der Stolz macht schon komische Dinge mit den Menschen.

Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen.

Wie soll ich mit dieser Information umgehen?

Was soll ich denn jetzt machen?

Ist es komisch, dass ich Angst habe meinen Vater zu verlieren, obwohl ich ihn bereits mit vierzehn Jahren verloren habe?

Ist es komisch, dass sich meine Schuldgefühle durch seine Krankheit verstärken, weil er meinetwegen überhaupt erst verhaftet wurde?

Ist es komisch, dass ich mir noch immer wünsche, ich könnte ihn stolz machen?

Ja, vermutlich bin ich bekloppt. Aber er ist nun mal mein Vater und er hat versucht sein Bestes zu geben. Oder?

Ja, er war schwierig und unberechenbar. Allerdings glaube ich, dass er es nicht besser gewusst hat.

Bevor meine Mutter starb, war er anders. Ich erinnere mich noch an sein herzhaftes Lachen, an seine albernen Scherze. Es war immer lustig bei uns. Bis zu dem Tag, an dem sie starb.

Ihr Verlust hat ihn hart gemacht und meine Traurigkeit hat er nie ertragen. Ich habe ihn zu sehr an sie erinnert. Manchmal hat er mich angesehen, als würde ich ihm Schmerzen bereiten.

Verdammt, ich heule. Ich sitze hier und heule, weil jemand sterben wird, der zwar mit mir verwandt ist, aber in meinem Leben schon lange keine Rolle mehr spielt.

Wieso tut das nur so furchtbar weh?

Mel*

„Was ist los, Mel?“

Samuel merkt, dass etwas nicht stimmt. Natürlich merkt er das. Er ist feinfühliger und empathischer, als die meisten denken. Ich will ihm nichts verheimlichen, ihn nicht belügen, doch wenn ich ihm davon erzähle, würde das Fragen aufwerfen.

Schlimm genug, dass Josie vor einer Weile herausgefunden hat, wer mein Vater ist und auch noch Fiona eingeweiht hat, aber Samuel darf es nicht erfahren. Ich will nicht, dass er mich mit anderen Augen sieht.

Würde er mich noch wollen, wenn er erfährt, dass ich die Tochter eines bekannten Brandstifters bin? Jener Mann, der unzählige Bars, Lokale und Gebäude aus Rache niedergebrannt hat. Selbst aus dem Gefängnis heraus hat er weitergemacht. Genau aus diesem Grund habe ich den Mädchennamen meiner Mutter angenommen.

Melanie Keiler. So kennt man mich. Ich kann sie noch spüren, die verurteilenden Blicke damals, als mein Vater verhaftet wurde. Sie alle glaubten, dass mit mir etwas nicht stimmt. Das muss doch abfärben, da muss man doch einen Knacks davon bekommen. Vielleicht habe ich das auch. Zu meinem Glück war ich damals noch keine vierzehn Jahre alt und man konnte mir keine Beihilfe nachweisen. Obwohl ich dabei war. Obwohl mich diese Schuldgefühle seit jeher plagen. Ich habe weder meinem Vater geholfen, noch ihn davon abgehalten. Das macht mich zu einer Versagerin, zu einer Lügnerin und einer Enttäuschung obendrein.

„Nichts. Alles gut“.

Das Lügen wurde mir schon als Kind beigebracht, aber Samuel kann man nichts vormachen. Er durchschaut mich, blickt tiefer, als mir lieb ist. Doch ich will weder, dass er davon erfährt, noch dass er sich Sorgen um mich macht.

„Du bist mit dem Kopf ganz wo anders, Mel. Ich merke das doch!“

Er zieht mich an sich, umarmt mich. Ich möchte meinen Kopf an seine Brust legen und heulen. Es wäre so einfach und doch so schwer.

„Momentan ist alles ziemlich viel. Es wird besser, wenn meine Tante wieder mehr zuhause ist und Fiona die Buchhaltung vom Club übernommen hat. Es sind ja nur noch wenige Tage ...“

Als ob mich so etwas stressen würde ... Aber ich brauche irgendeine Ausrede. So wie Samuel mich anblickt, bin ich nahe dran ihm alles zu beichten. Aber was dann?

„Hey, mein Vater ist ein Schwerverbrecher, der im Gefängnis sitzt. Du hast doch kein Problem damit oder?“

Mein Freund ist nicht irgendjemand. Er ist Samuel. Der Mann, der immer alles im Griff hat. Und ich ...?

Ich schüttle den Kopf. Das sind meine Sorgen und damit muss ich selbst irgendwie klarkommen.

„Du brauchst eine Pause, Mel. Was hältst du von einem Ausflug am Samstag? Nur wir zwei ...“

„Ich gehe mit Somalia in den Tierpark. Das habe ich ihr versprochen.“

Kurz angebunden und ausweichend. Denn in jeder Sekunde, in der ich ihm gegenüberstehe, erhöht sich die Gefahr, dass ich zu heulen beginne.

„Ich kann doch mitkommen. Dann kann ich sie kennenlernen und dich ein wenig unterstützen.“

„Sie hat Angst vor fremden Menschen“, lüge ich schnell.

„Noch ein Grund mehr, mich zu einem Bekannten zu machen.“

Samuel zieht mich enger an sich. Seine Wärme ist so angenehm. Ich möchte mich darin einkuscheln, mich geborgen fühlen und der Kälte einen Moment entweichen. Er küsst mich sanft, legt einen Arm um meine Taille und zieht mich noch fester an sich heran. Ganz so, als hätte er Angst mich zu verlieren. Dabei bin ich es, die sich selbst verliert.

Ich schließe meine Augen, erwidere seinen Kuss und gebe mich einen Moment lang diesem berauschenden Gefühl hin.

„Ich vermisse dich“, flüstert er zwischen zwei Küssen.

„Ich bin doch hier.“

„Nicht wirklich.“ Sein Blick wird traurig.

Mein Ex hätte mich nie danach gefragt. Er war froh, wenn ich nicht zu viel geredet habe. Samuel hingegen interessiert sich für alles. Das ist irgendwie süß, aber auch befremdlich. Ich musste schon zu oft wegen meiner Vergangenheit lügen. Langsam bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Denn Samuel ist immer ehrlich zu mir.

„Es wird bald wieder alles beim Alten sein.“

Weil mein Vater nur noch wenige Tage, vielleicht Wochen zu leben hat. Und dann wird es mir wieder besser gehen. Denn dann ist dieser Spuk vorbei, dieses schlechte Gewissen, dieses elendige Warten, dieses komische Gefühl in meiner Magengegend.

„Du könntest mir auch davon erzählen, dann könnte ich dir helfen.“

„Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern, egal wie sehr man es hofft.“

„Also gibst du zu, dass dich etwas bedrückt.“

Ich schließe meine Augen und lege meine Stirn gegen seine.

„Familienangelegenheiten“, murmle ich bloß.

„Und du vertraust mir nicht genug, um mir davon zu erzählen“, schlussfolgert er mit einer gewissen Traurigkeit in der Stimme.

„Nein, so ist es nicht.“

Ich vertraue ihm. Ich will das hier so sehr, dass ich Angst davor habe, was meine Vergangenheit, meine Wahrheit bei ihm auslösen könnte. Vielleicht würde sie alles kaputtmachen, bevor es richtig begonnen hat. Wenn ich daran denke, wie Josie reagiert hat, als sie davon erfahren hat.