All Die Sommer Deines Lebens - Mimi Kylling - E-Book

All Die Sommer Deines Lebens E-Book

Mimi Kylling

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Beschreibung

Wie kann man sterben, wenn man unendlich ist? Kat ist eine Träumerin. Eine, die Abenteuerromane und Zuckerwatte liebt. Eine, die an die Fügung glaubt und große Pläne hat. Eine, die bald tot sein wird. Doch diesen einen perfekten Sommer ist ihr das Leben schuldig. Deshalb hat Kat eine Liste mit all den Dingen geschrieben, die sie erleben möchte. Sie will sich ein Buch vorlesen lassen, im Regen tanzen, verhaftet werden – normale Dinge eben. Und dann wäre da noch die Sache mit der Liebe. Denn Kat ist fest davon überzeugt, dass die noch irgendwo da draußen auf sie wartet. Als Cole auftaucht, ist sie sich sicher: Er oder keiner. Dabei ist ihr egal, dass sein Leben ein einziges Chaos ist. Was zählt das schon in einer Welt, die aus Wolkenschlössern gebaut ist? Denn Cole ist ein Träumer, genau wie Kat. Er weiß es nur noch nicht. Mit jedem Tag wird er mehr zu dem Helden, den Kat längst in ihm sieht. Es wird ein Sommer voller Liebe und Abenteuer, tiefer Freundschaft und großer Hoffnungen. Doch egal, wie sehr man es versucht, das Schicksal kann man nicht betrügen.

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Inhalt

Inhalt

Impressum

Triggerwarnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Potentielle Trigger

Ein paar Worte zum Schluss …

Impressum

© 2023 Rinoa Verlag

c/o Emilia Cole

Pater-Delp-Straße 20, Geldern

 

ISBN 978-3-910653-17-7

 

© Covergestaltung: Coverstube

Korrektur: Lektorat Zeilenschmuck

 

rinoaverlag.de

mimikylling.de

 

Alle Personen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeit zu lebenden Personen ist rein zufällig.

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält potentiell triggernde Inhalte, deshalb findest Du am Ende des Buchs die Themen, die im Roman behandelt werden, damit Du dich vorbereiten kannst, wenn Du möchtest.

 

 

 

 

 

Für alle Kats und alle Coles.

Für alle, die das Leben lieben und die Liebe feiern.

Für alle, die in ihren Träumen leben.

Für alle, die die Unendlichkeit wollten.

Kapitel 1

Kat

 

 

Meine Eltern von etwas zu überzeugen ist in etwa so schwer, wie Excalibur aus dem Stein zu ziehen. Wenn man Artus ist, hat man gute Chancen, dass es klappt.

Ich bin Artus. Schon eine ganze Weile.

In den Fernsehshows, die ich mit Mom schaue, nennen sie das, was ich habe, eine Wild Card.

Narrenfreiheit.

Ein Ticket für den direkten Durchmarsch in die letzte Runde. Denn für manche von uns kommt das Finale leider schneller als für andere.

Aber mal ehrlich, das ist doch ein verdammter Trugschluss. Wer weiß schon, was wann und wie passiert. Keiner. Alles ist jederzeit möglich. Das ist ja das Schöne am Leben. Kein Masterplan, keine Spielanleitung, nur der pure Wahnsinn. Und Wahnsinn ist wohl das, was die letzten Jahre am besten beschreibt. Wahnsinnig viel Leid, wahnsinnig viele Tränen, wahnsinnig viel Hoffnungslosigkeit.

Aber ich habe gekämpft.

Damals haben mein Körper und meine Seele noch an einem Strang gezogen. Für einen Moment sah es sogar danach aus, als hätte ich einen Sieg eingefahren. Dass ich dabei zeitweise meine Haare und Wimpern eingebüßt habe – geschenkt. Von jedem Kampf trägt man Spuren davon. Nur leider war ich nicht auf eine Revanche eingestellt. Mein Gegner hat sich als hartnäckig erwiesen und diesmal hat er die Nase vorn.

Weit vorn.

Er ist überall.

Erst war ich verzweifelt, fast schon nachtragend. Mittlerweile bin ich darüber hinaus.

Was bringt das? Warum soll ich mich mit Gedanken an etwas quälen, das ich nicht ändern kann?

Denn das kann ich nicht. Egal, wie sehr ich will. Ich habe meinen Zenit überschritten, die Zielgerade erreicht. Ich nenne es den Point of no Return. Das ist der Moment, ab dem niemand mehr von Hoffnung spricht. Aus »Wir tun alles, was möglich ist« wird »Vielleicht schafft sie es bis zum nächsten Sommer.«

Scheiß auf vielleicht.

Scheiß auf die Endlichkeit des Seins.

Scheiß aufs Bedauern.

Ich will nichts bedauern und auf gar keinen Fall will ich zurückblicken. Ab jetzt geht es nur noch vorwärts. Nur noch der Sonne entgegen.

Einen Sommer sind sie mir alle schuldig. Die Ärzte, das Universum, diese verdammte Krankheit. Alles andere wäre unfaires Spiel.

Dieser Sommer wird mein Sommer.

Ich habe noch so viel vor. Dinge, die man tut, wenn man endlich achtzehn ist und einem die Welt offensteht. Ich habe sogar eine Liste angelegt.

 

1. Den perfekten Typen finden

2. Sich ein Buch vorlesen lassen

3. Aus einem Restaurant abhauen, ohne zu bezahlen

4. In ein Schwimmbad einbrechen

5. Ein echtes Date

6. Auf eine Party gehen und von der Polizei nach Hause gebracht werden.

7. Sex am Strand

8. Im Regen tanzen (am besten zu einem kitschigen Song)

 

Eigentlich wäre Punkt 1 die Liebe finden, aber das kann man sich wohl kaum als Lebensziel setzen. Das kann man schließlich nicht beeinflussen.

Meine beste Freundin Viola hat auch so eine Liste. Nur, dass dort andere Dinge stehen. Das ist auch gut so. Denn jeder sollte sein Leben so leben, wie er es für richtig hält. Jeder hat seine ganz persönliche Bucketlist.

Das eben war meine.

Was soll ich mit einem verdammten Fallschirmsprung, wenn das Gute so nahe liegt?

»Na, Schatz? Geht es dir noch gut?« Mom dreht sich von vorn zu mir um und hat ihren Dackelblick drauf. Den bekommt sie jedes Mal, wenn sie mich anschaut. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich meinen, dass ich einfach besonders gut gelungen bin und sie im Stillen der Schöpfung für das wunderschöne Kind dankt, das sie erschaffen hat.

Aber nein, ich bin ein Mängelexemplar.

Ich lächle zustimmend und lasse mir das Knie tätscheln. Mom dreht sich wieder nach vorn und schaltet das Radio lauter, weil sie immer so gern die Nachrichten hört. Ich nicht. Ich hasse die Nachrichten. Ständig passieren schlimme Dinge auf der Welt. Manchmal wünsche ich mir, dass wir alle ein bisschen positiver wären. Dass alle Menschen friedlich leben würden und sicher sein könnten. Das kann doch nicht so schwer sein, oder?

»Wie lange fahren wir noch, Dad?«, frage ich und Dad lächelt mich über den Rückspiegel an.

»Wir sind bald da. Vielleicht in zehn Minuten. Kannst du noch sitzen?«

Verdammt, ja. Ich kann noch sitzen. Ist ja nicht so, als hätte ich Schwerstarbeit geleistet.

Mom legt eine Hand auf Dads Oberschenkel. »Mein Gott, wie lange waren wir nicht hier? Doch bestimmt fünf Jahre, oder?«

Sechs Jahre.

Wir waren sechs Jahre nicht hier.

Als ich ein Kind war, sind wir jeden Sommer nach Santa Cruz gefahren. Ich habe den Freizeitpark und den Strand geliebt. Daddy musste stundenlang mit mir Sandburgen bauen und mich einbuddeln. Die Erinnerungen an diese unbeschwerten Sommer duften nach Sonnencreme und den reifen Pfirsichen, die Mom immer mit an den Strand genommen hat. Ich höre noch genau das Lachen der Leute und die Musik im Hintergrund. Das Rauschen der Wellen.

Damals habe ich mich gefühlt, als wäre ich die Königin der Welt.

Das Gefühl hole ich mir diesen Sommer zurück.

Ich hoffe, dass das Haus noch so aussieht, wie ich es in Erinnerung habe. Anders wäre es nicht das Gleiche. Ich mag es nicht, wenn man eine ganz genaue Vorstellung von etwas hat und die Realität ist eine andere. Das ist vergleichbar mit dem Gefühl, wenn man ein bestimmtes Buch ein zweites Mal liest und mit Schrecken feststellt, dass es in Wirklichkeit gar nicht so bahnbrechend und markerschütternd ist.

Tja. Manchmal ist die Realität eben scheiße. Und ich sage das nicht nur so dahin – ich kenne mich damit aus.

Ich atme durch und lasse den Blick aus dem Fenster schweifen. Die Landschaft sieht viel schöner aus als zu Hause in Wyoming. Überall wachsen Palmen und ich bilde mir ein, dass sogar der Horizont ein anderer ist. Als würde das Meer etwas vom Kontrast verschlucken.

Als würde der Himmel eins werden mit dem Ozean.

Ich ziehe mein Notizbuch hervor und notiere In Santa Cruz wird der Himmel eins mit dem Meer.

Wegen Momenten wie diesem habe ich mein Notizbuch immer dabei. Ich habe mal gelesen, dass es für die Seele wichtig ist, gute Gefühle festzuhalten, damit das Hirn nicht ständig damit überfordert ist, sich daran festzuklammern. Wer weiß, ob es stimmt, aber ich möchte es nicht darauf ankommen lassen. Also schreibe ich obsessiv mit.

Außerdem habe ich die Hoffnung, dass es mir hilft, die schönen Momente zu rekapitulieren, wenn es mal so weit ist. Dann kann ich das Büchlein hervorziehen und mir die Dinge ins Gedächtnis rufen, die ich liebe. Ich kann dann in all den wunderbaren Erinnerungen schwelgen und jeden dieser Momente vor meinem geistigen Auge auferstehen lassen.

»Ach, schau mal. Da ist ja endlich eine Tankstelle.« Dad tritt auf die Bremse und Mom tadelt ihn leise, als könnte er etwas dafür, dass diese merkwürdige Tankstelle kein größeres Schild hat. Er fährt an die Zapfsäule. Sofort kommt ein junger Mann angesprungen. Er tankt das Auto voll, während Dad aussteigt.

Carters Carservice steht in großen Lettern auf einem ausgeblichenen Schild über der Autowerkstatt, die sich direkt an die Tankstelle anschließt. Mein Blick gleitet über die Reifenstapel, die Autoteile und bleibt an einem weiteren jungen Mann hängen, der vor der Tür steht und eine Zigarette raucht. Er sieht irgendwie … Moment.

Ich werfe einen Blick durch das andere Fenster zu unserem Tankwart zurück und ja, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Ist Rauchen an Tankstellen nicht verboten? Vielleicht gehen wir ja gleich alle in Flammen auf, wenn er die Zigarette wegschnippt. Wie in einem dieser übertriebenen Actionfilme. Richtig mit Explosion.

»Cole!«, ruft jemand. Der Raucher hebt den Blick.

»Was?«, brüllt er und der Tankwart nuschelt Dad etwas Unverständliches zu.

Mein verkappter Actionheld zieht so tief an der Zigarette, als würde er dem Leben damit seinen Mittelfinger zeigen. Ich bin für einen Moment wie gebannt von seinem Blick und der Art, wie er da steht. Er sieht aus wie jemand, dem nichts und niemand etwas anhaben kann.

Der Fremde trägt schwarze Jeans und ein weißes Shirt. Die Ärmel sind hochgekrempelt. Er sieht aus wie diese Typen in den Rockabilly-Tanzfilmen. Grease oder so.

Er wirft die Zigarette weg und stößt sich von der Wand ab. Dabei schweift sein Blick umher und versinkt genau in meinem. Ich gucke nicht weg.

Mache ich schon lange nicht mehr.

In meinen Büchern würden die Mädchen jetzt rot werden und wegschauen, aber warum zur Hölle? Warum sollte mir peinlich sein, dass ich von ihm fasziniert bin? So eine Zeitverschwendung. Ich werde schon lange nicht mehr rot und mir ist auch schon lange nichts mehr peinlich.

Ich starre ihn an und er starrt mich an.

Eine seiner Augenbrauen wandert Richtung Haaransatz und er schnaubt genervt. Dann kommt er auf das Auto zu.

»Was ist, verdammt?«, ruft er im Laufen zu unserem Tankwart, der sein Bruder sein muss. Wenn das nicht sein Bruder ist, dann weiß ich auch nicht. Solche Ähnlichkeiten ohne Verwandtschaft gibts nicht.

»Gehst du bitte wieder rein?«, fragt der Tankwart-Bruder und Coleverdreht die Augen.

So richtig schön übertrieben.

In diesem Moment wird mir klar: Er ist es.

Er ist der Richtige für meinen Sommer. Jemand, der genervt ist. Jemand, der keine Lust auf Konventionen hat. Jemand, der so einen knackigen Hintern in einer Jeans hat. Ich schlage mein Notizbuch auf.

Cole, schreibe ich rein und male ein Herzchen daneben. Bin ich nicht ein wandelndes Klischee? Ach, ist das schön. Noch einer der Vorteile, wenn man ich ist. Man kann sich einen gewissen Unsinn erlauben.

Cole verschwindet in der Werkstatt und dreht sich nicht mehr um. Er weiß wohl nicht, dass man sich immer noch einmal umdrehen muss.

Ich schaue mir stattdessen seinen Bruder an und überlege, wie die beiden wohl so leben. Ich liebe solche Gedankenspiele. Immer, wenn ich früher von der Schule nach Hause gelaufen bin, habe ich durch die Fenster unserer Nachbarn geschaut und mir vorgestellt, wie ihr Alltag aussieht. Ob sie Sport treiben und welche Gerichte sie kochen. Was sie sich im Fernsehen anschauen und welche Musik sie mögen. Wie sie miteinander am Tisch sitzen und essen.

Diesen Cole sehe ich in einem schäbigen Trailer vor mir. So einen mit Plastikstühlen davor und ausgeblichenen Blümchengardinen. Ich stelle mir vor, dass sein Dad diese Werkstatt führt und er hier in den Ferien jobbt. Dass er so jemand ist, der für immer am Rand der Gesellschaft lebt. Ein unverstandener Außenseiter. Ob er studiert? Er sah aus wie einer, dem man alles zutrauen kann. Er könnte Eisverkäufer auf der Promenade sein oder Kunst studieren. Vielleicht auch beides?

Gott, ich liebe ihn jetzt schon.

Als Dad wieder ins Auto steigt, schrecke ich aus meinem Tagtraum hoch und gelange in die Realität zurück. In Gedanken habe ich die ganze Szenerie noch ein bisschen vertieft. Ich meine, wen interessiert, was der Kerl studiert? Viel spannender ist doch: Hat er eine Freundin? Hat er Interesse an einer und vor allem, wie ist er so … auf diesem Feld? Er ist bestimmt erfahren genug, dass er weiß, worauf es ankommt. Cole ist einer, der Mädchen glücklich machen kann.

Ganz sicher.

»So, alle wieder anschnallen. Jetzt gehts los. Die letzten fünf Minuten und dann machen wir Urlaub! Alle Kennedys zusammen.« Als Dad merkt, was er da gesagt hat, kehrt eine merkwürdige Stille im Auto ein und Mom schaut aus dem Seitenfenster. Ich weiß genau, wie ihr Gesicht jetzt aussieht. Sie presst ihre Lippen aufeinander und trotzdem zittern sie. Ihre Augen werden dann gespenstisch starr und sie sieht insgesamt ein bisschen gruselig aus. Würde ich ihr natürlich niemals sagen.

»Also, ich finde es gut. Wisst ihr noch, damals, als wir immer diese Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt gekauft haben? Und dieses eine Jahr, in dem der Wind den ganzen Bausch in meine Haare gedrückt hat?« Dad lacht leise über meine Ausführungen, also mache ich weiter. »Und dann musste Mom das stundenlang auswaschen. Wisst ihr noch, wie ich gezetert habe? Dad hat gesagt, dass er mir nie wieder Zuckerwatte kauft und dann hat er es doch jedes Jahr wieder gemacht.«

Die Stimmung im Auto entspannt sich merklich und ich danke wem auch immer dafür, dass wir unseren Urlaub jetzt mit einer schönen Erinnerung starten können und nicht mit einer bedrückenden.

»Meint ihr, das Haus sieht noch aus wie damals?«, frage ich ins Leere. Dads Blick findet meinen über den Rückspiegel.

»Weiß nicht. Meinst du? Fändest du das schön?«

Ich zucke die Schultern. »Denke ja. Andererseits … Das Haus hätte auch irgendwie ein Makeover verdient. Ich meine, wenn die immer noch diese rostigen Armaturen haben, gibt das dieses Mal echt einen Abzug in der B-Note.«

Dad lacht. »Werde ich mir merken, wenn ich den Zettel ausfülle.«

 

 

Tatsächlich sieht das Haus noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe. Mitsamt seinen rostigen Armaturen. Aber gut, man kann nicht alles haben. Es gibt dieselben alten Teppiche und denselben Duft nach billigem Raumspray. Und auf eine merkwürdige Art ist das hier der Geruch nach Glückseligkeit. Die Sommer hier waren die schönsten meines Lebens. Eine Zeit lang hat Mom diesen Raumduft sogar nachgekauft, weil ich so darum gebettelt habe. Sie hat morgens immer ein kleines bisschen in meinem Zimmer verteilt und dann schnell das Weite gesucht, weil sie davon Kopfschmerzen bekommt. Wenn sie dann leise die Zimmertür geschlossen hat, habe ich den Kopf aufs Kissen gelegt, die Augen geschlossen und mir vorgestellt, dass ich hier am Meer liege.

Ich habe die Möwen gehört und den Wind und die Aufregung im Bauch gespürt, die ich jedes Jahr am ersten Urlaubstag hatte. Es ist so wunderbar, wenn man weiß, dass ein ganzer Sommer vor einem liegt.

Jeder Tag ist ein neues Abenteuer.

Jetzt bin ich zurück und zum Teufel, ich werde alle Abenteuer mitnehmen, die sich mir bieten.

Dad bringt meinen Koffer in das Schlafzimmer, das jedes Jahr meins war. Das mit Blick aufs Meer. Es ist ebenerdig und wenn man durchs Fenster steigt, gelangt man auf die Veranda. Von dort aus sieht man die rauschenden Wellen und all die Badeurlauber, die sich im Wasser tummeln. Die salzige Luft strömt in meine Lunge und ich bilde mir ein, dass sie eine reinigende und heilende Wirkung hat. Eine kathartische Energie, die alles Schlechte aus einem verdrängt.

»Packst du allein aus?«, fragt Dad in meinem Rücken und ich drehe mich zu ihm.

»Klar, Dad. Das bekomme ich gerade noch so hin.«

Er sieht aus, als würde er das bezweifeln. Vermutlich sieht er nicht nur so aus, vermutlich bezweifelt er das sogar. Aussprechen würde er es nie. Stattdessen wendet er sich zum Gehen.

Bevor er die Tür öffnen kann, trete ich einen Schritt auf ihn zu. »Danke, Dad. Für alles.« Meine Stimme ist mit einem Mal ganz heiser und merkwürdig verzerrt. Dad macht zwei Schritte zurück und schließt mich fest in die Arme.

»Immer, Kleine. Für dich immer.«

 

 

Später gibt es Abendbrot auf der Veranda. Die Sonne küsst beinahe den Horizont und wirft blutrotes Licht über den Strand. Bevor Mom und Dad herauskommen und sich zu mir setzen, schieße ich schnell ein Handyfoto von der Landschaft und schicke es Viola.

Tag eins. Stand der Dinge: Hottie an der Tankstelle gesehen, schreibe ich dazu. Und einen Smiley, der sabbert.

Ich habe Viola versprochen, dass ich sie newstickerartig auf dem Laufenden halte. Am liebsten hätte ich sie jetzt bei mir, aber sie lebt mit ihrer Familie in Kanada und ist leider terminlich verhindert. Grob gesagt. Viola und ich kennen uns schon jahrelang. Virtuell. Wir haben uns über ein Forum im Internet kennengelernt und mehr Gemeinsamkeiten, als gut für uns wäre. Zudem haben wir dieselbe Weltanschauung und waren mit vierzehn beide in den Sänger von Melrose Ave verliebt. Jetzt ist der in der vierten Entzugsklinik und hat seine Karriere beendet. Viola und ich allerdings lieben uns immer noch heiß und innig.

Oha! Erzähl mir alles!, lautet ihre Antwort.

Ich tippe ein Er lehnte an der Wand und rauchte. Sehr cool. Dann hat er mich angeguckt, als würde er mich ätzend finden. Er ist der Richtige.

Optik?

Mischung aus James Dean und Sodapop Curtis. Nur mit dunklen Haaren.

Sie antwortet mit einem GIF, in dem eine Frau guckt, als würde sie den Betrachter sofort anspringen wollen vor lauter geballter sexueller Energie. Oh yes, Schwester.

Bevor ich antworten kann, kommt Mom mit einem Teller voller Grillgut aus dem Haus und stellt ihn auf den Tisch. Dad folgt ihr mit Grillzange und Getränken.

»So, und jetzt Handyverbot für den Rest des Abends.« Mom zwinkert und ich packe das Telefon weg.

»War das Viola?« Dad setzt sich mir gegenüber an den runden Tisch. Ich schaue ihm ins Gesicht und es ist ein bisschen wie in den Spiegel zu sehen. Das gleiche braune Haar, die gleichen braunen Augen. Nur dass sich bei Dad noch ein Dreitagebart und ein paar buschige Augenbrauen dazugesellen. Ich habe meine Augenbrauen im Griff, nur mal so nebenbei.

Mom ist das genaue Gegenteil. Sie ist ein bisschen größer als Dad und wirklich eine Schönheit. Ihre kurzen blonden Haare liegen auf wundersame Weise immer perfekt und ihre Haut ist rosig und frisch. Sie hat diese Fähigkeit, alles, was sie am Körper trägt, hochwertig aussehen zu lassen. Ich stelle sie mir manchmal bei der Arbeit vor, wie sie über den Uni-Campus wandelt und den Studierenden erhaben zunickt. Meine Mom ist nämlich Doktorin der Physik. Sie forscht, sie unterrichtet, sie ist quasi die neue Marie Curie.

Dad nicht. Dad ist auch Lehrer. Aber an der Elementary School bei uns im Ort. Er kann froh sein, dass Mom ihn damals genommen hat. Er sagt immer, das sei nur seinem Charme zu verdanken, dabei ist Dad weder charmant noch witzig. Dad ist einfach nur aufdringlich und offensiv. Wir lieben ihn trotzdem.

Während des Essens erzählen wir uns die Geschichten von damals. Ich kann mich gar nicht satthören an den ganzen Ausführungen über meine Kindheit und über Moms und Dads Leben, das sie hatten, bevor sie mich bekamen. Sie erzählen von ihren Reisen und ihren Abenteuern. Es ist schön, dass sie auch zu zweit so glücklich waren.

Ich hoffe, dass sie sich das behalten.

Für die Zeit, die sie noch haben, wenn ich fort bin.

Nach dem Essen verabschiede ich mich in mein Zimmer. Ich liege auf dem Bett, schaue in mein aktuelles Buch, ohne wirklich zu lesen. Stattdessen lausche ich dem leisen Flüstergespräch meiner Eltern, das durch das geöffnete Zimmerfenster dringt. Wenn ich nicht dabei bin, sagt Dad immer Sachen wie: »Es ist gut, dass wir noch einmal hergekommen sind.« Und: »Es war die richtige Entscheidung für Kaitlyn.«

Mom sagt eher: »Hoffentlich war das richtig.« Oder: »Wir sollten sie im Blick haben.«

Als hätten sie das jemals nicht. Gut, dass sie nicht ahnen, wie schnell ich das ändern werde.

Denn diesen Sommer wird alles anders.

Diesen Sommer kann mich das Universum mal. Diesen Sommer hole ich mir mein Leben zurück.

 

 

Nachdem endlich Ruhe eingekehrt ist und die Dunkelheit vor dem Fenster jegliche Sicht nimmt, stehe ich wieder aus dem Bett auf. Es ist beinahe Mitternacht. Ich frage mich ernsthaft, wie meine Eltern nach der Fahrt noch so topfit sein konnten. Sie haben ewig auf der Veranda gesessen. Nachdem sie dann auch noch eine Flasche Wein geholt haben, war mir klar, dass das eine langer Abend wird. Also habe ich doch richtig gelesen und abgewartet. Aber jetzt ist alles ruhig und meine Stunde hat geschlagen.

Ich hole eine frische Leggings aus dem Schrank und werfe einen Hoodie über. Obwohl es selbst nachts ziemlich warm ist, ist mir subjektiv leider trotzdem oft kalt. Aufregung kribbelt in meinen Adern, als ich das Fenster und den Fensterladen aus Holz öffne. Früher habe ich hier mit meinen Eltern immer Kaufmannsladen gespielt, jetzt bin ich im Begriff, zum echten Supermarkt aufzubrechen. Oder zumindest zu einem Kiosk. Falls der hier um diese Zeit geöffnet hat.

Vorsichtig steige ich aus dem Fenster, doch das Knarren der Holzbohlen wird von den Geräuschen der Nacht verschluckt. Ich ziehe den zweiten Fuß nach und ärgere mich ein bisschen, dass ich so klein bin. Mom könnte hier lässig aus dem Fenster steigen. Ich sehe eher aus wie ein Panzerknacker auf Abwegen. Auf leisen Sohlen schleiche ich um das Haus herum und ducke mich unnötigerweise, während ich über die Einfahrt auf die Straße laufe. Als könnten meine Eltern mich in der Dunkelheit nur sehen, wenn ich aufrecht laufe. Trotzdem fühlt es sich verbotener an, wenn ich so tue, als wäre es verboten.

Wenn schon, denn schon.

Die Straße ist leergefegt und ich laufe auf die Fahrbahn, balanciere entlang der Mittellinie. Ich stelle mir für einen Moment vor, was passieren würde, wenn jetzt auf einmal Scheinwerfer vor mir aufleuchten würden.

Ein Aufprall.

Ein Ruck.

Ein schnelles Ende.

Aber es kommen keine. Nur die Straßenlaternen erhellen in regelmäßigen Abständen den Boden.

Im Ortskern gehe ich weiter in Richtung Promenade. Die Flaniermeile mit den Eiscafés und Souvenirläden sieht noch aus wie in meiner Erinnerung.

Von hier aus kann ich bis zu dem gewaltigen Riesenrad gucken, das sich in den Nachthimmel erstreckt. Es ist selbst um diese Uhrzeit noch schwach beleuchtet und wirkt anziehend und gespenstisch zugleich.

Im Hintergrund rauscht das Meer und der salzige Wind streichelt sanft durch meine Haare. Mit einem tiefen Durchatmen spüre ich dem Gefühl in mir nach.

Ich bin wieder hier.

Alles ist möglich.

Während ich auf der ausgestorbenen Touristenmeile entlangschlendere, schaue ich mir jedes Schaufenster ganz genau an. Den Schmuckladen mit dem billigen Silberschmuck, der hier überteuert angeboten wird. Den Laden, der Badezubehör und hübsche Bikinis verkauft. Ich sehe meine Reflexion in der Scheibe und schaue mir fest in die Augen, lege meine Hand an das kühle Glas und spüre alles.

Kälte, Glätte, das Prickeln auf meiner Haut.

Dann löse ich mich davon und gehe weiter. Es gibt tatsächlich einen Kiosk, der geöffnet hat. Ich trete ein und die Türklingel kündigt mich an. Es ist, als käme man von der Dunkelheit in eine andere Welt. In eine, die mit Neonröhren jeden Winkel ausleuchtet.

»N’abend«, ruft mir der ältere Herr hinter der Kasse zu. Er mustert mich abschätzig und verzieht die Mundwinkel. Ich wirke vermutlich wie die prädestinierte Diebin. Gar kein so schlechter Plan. Sollte ich vielleicht auf meiner Liste ergänzen. Klaue was Belangloses im Supermarkt.

Vielleicht mache ich das.

Vielleicht auch nicht.

Vielleicht sollte ich mich lieber nur mit den wichtigen Dingen aufhalten und das Karma nicht mit solch profanen Sachen wie geklautem Kaugummi herausfordern.

Meine Schuhe erzeugen auf dem Kunststoffboden ein leises Quietschen, während ich durch die Reihen wandere. Von den Konserven zu den Süßwaren zu den Zeitungen zu den Getränken.

»Ey, Cole. Bier, oder was?«, ruft auf einmal jemand nah vor mir. Ich ducke mich hinter das Regal. Sofort beschleunigt sich mein Herzschlag auf ein ungesundes Maß. Wie viele Coles kann es in einem Ort wie diesem geben? Die Coladosen vor mir sind schnell beiseitegeschoben und als ich freie Sicht habe, bekomme ich fast einen Herzinfarkt. Auf der anderen Seite des Regals taucht das Gesicht eines blonden Typen auf. Unendlich nah und doch so fern. Seine wilden Locken hängen ihm ins Gesicht. Er sieht zu cool für die Welt aus.

»Fuck«, flucht er leise. »Cole, Mann!« Er dreht sich in Richtung des Gangs und ich halte die Luft an. Schritte nähern sich. Schwere Schritte. Man kann sie trotz der merkwürdigen Hintergrundmusik hören.

»Ja, sicher keine Brause«, sagt eine zweite Stimme und ich beuge mich vor.

Als könnte ich dadurch besser sehen, schon klar.

Eine Hand kommt in mein Sichtfeld und ich ducke mich wieder, weil sie das Sixpack Bier greift, das bis eben mein Gesicht verdeckt hat.

»Und jetzt beeil dich, verdammt. Ist das hier ein Kaffeekränzchen? Zoe kriegt einen Nervenzusammenbruch, wenn wir wieder so lange brauchen.« Das ist die Stimme von dem Blonden.

Zoe?

»Die soll sich nicht immer so anstellen. Könnte ihren Arsch ja auch mal selbst hier hochschwingen.«

Ist das Cole?

Keine Ahnung, denn mal ganz ehrlich, ich habe Mister Sodapop einmal gehört. Durch die geschlossene Tür eines Autos. Während er geschrien hat. Wie sollte ich seine Stimme verdammt noch mal wiedererkennen? Ich spähe weiter durch die Regalreihen, aber die Typen sind nicht mehr zu sehen.

»Sie könnte ihren Arsch auch mal wieder wo anders schwingen«, sagt der Blonde und lacht dunkel.

Bezahlen die jetzt? Klauen die auch? Sicher kein ganzes Sixpack Bier. In meiner Vorstellung gehen sie an der Kasse vorbei und der Kassierer sagt etwas wie: »Hey, ihr Rüpel. Das müsst ihr bezahlen!« Und dann antwortet Cole ganz lässig: »Ich muss gar nichts, Earl – ich glaube, der Kassierer ist ein Earl – , und wenn du mich nicht durchlässt, wirst du es bereuen!« Dann würde Earl erschrocken an sein Herz fassen und sagen: »Ja, geht nur, aber verschont mich.« Die beiden Typen würden total cool rausgehen und sich ein High Five geben.

In der Realität stehen sie beide vor dem Kassentresen und reden mit dem Kassierer. Sie lachen und das Kleingeld klimpert. Dann steckt der blonde Typ sein Portemonnaie in seine hintere Hosentasche zurück, während sich Cole das Sixpack Bier schnappt. Denn ja, es ist wirklich Cole.

Ich glaube, mein Herz bleibt stehen.

Beide nicken dem Kassierer zu und verlassen unter dem Klingeln der Türglocke den Laden.

»Hey, kleine Miss. Was ist mit dir? Willst du was?«

Ich reiße den Blick von Coles Rücken in dem weißen T-Shirt los, der vor der Tür in der Dunkelheit verschwindet, und wende mich zum Kassierer um.

»Haben Sie Oreos?«

Kapitel 2

Cole

 

 

»Heilige Scheiße, hat das lange gedauert.« Zoe klatscht in die Hände und hält sie in Richtung Himmel, als hätte sie für unser baldiges Erscheinen gebetet.

»Ach, hab dich nicht so.« Jax lässt sich neben sie in den Sand fallen. Er zerrt sie am Träger ihres Tops näher an sich und presst ihr Gesicht an sein verschwitztes T-Shirt.

»Bah, du ekliger Wicht«, beschwert sie sich und schubst ihn weg. Er lacht rau und ich kann mein Grinsen nicht zurückhalten.

»Lacht mal nicht so. Ich war schon ganz einsam ohne euch. Schmalzlocke, das gilt auch für dich.«

»Ach, Baby, jeder ist einsam ohne mich«, antworte ich und beuge mich zu ihr. Sie gibt mir einen kurzen Kuss auf den Mund. Macht sie immer. Keine Ahnung, wann sie damit begonnen hat, aber jetzt ist das unser Ding. Gleich danach schubst sie mich ebenso in den Sand wie Jax vor mir.

»Also, Männer, was haben wir?«

»Bestes Bud Light.«

»Seit wann trinken wir denn so ein Gebräu?«

Jax lacht über Zoes angewidertes Gesicht und zieht die Nase kraus. Antworten tut er nicht.

Sie nimmt sich trotzdem eine Flasche und öffnet sie mit den Zähnen. Macht sie jedes Mal und ich warte innerlich auf den Tag, an dem sie einen Schneidezahn weniger hat. Würde sie vermutlich auch nicht davon abhalten. Denn Zoe ist tough. Sie würde auf den abgebrochenen Zahn scheißen und die Flaschen einfach mit dem nächsten öffnen. So lebt sie ihr ganzes Leben. Wenn es mit der einen Sache nicht klappt, geht sie zu Plan B über. So macht sie das mit den Männern, mit den Jobs und mit den Wohnungen.

Aktuell lebt sie in einem Zimmer über Cashs Werkstatt, wo sie auch arbeitet. Sie ist zwar keine ausgebildete Mechanikerin, aber bisher hat sie jede Karre zum Laufen gebracht. Ich glaube, wenn mein Bruder nicht schon mit Prissy verheiratet wäre, hätte er Zoe längst an sich gekettet.

Dabei ist Zoe niemand, den man festkettet. War sie noch nie. Sie ist frei wie der Wind und deshalb liebe ich sie so. Sie steht irgendwie über den Dingen. Jax und ich nicht. Wir sind mittendrin. Keine Ahnung, wem von uns das Leben bisher mehr in den Arsch getreten hat.

Ihm, weil er noch keine Ausbildung zu Ende gebracht hat, oder mir, weil ich nicht mal eine gefunden habe. Okay, ich habe mich auch nicht so richtig bemüht. Doch das ist einfach nichts für mich.

Cash sagt immer, dass ich doch bei ihm in der Werkstatt arbeiten könnte. Mein Leben lang Autos reparieren, so wie er es macht und Dad vor ihm.

Nein, danke. Nicht mein Ding.

Ich will mehr vom Leben. Ich will alles. Ich will raus in die Welt, raus aus dieser Stadt, raus aus den zu kleinen Schuhen.

Bisher habe ich es höchstens bis vor die Tür geschafft – metaphorisch gesehen.

»Ey, Schmalzlocke? Träumst du von besseren Zeiten?« Ein Ellenbogen donnert in meine Rippen.

»Verflucht, Jax!«

»Sorry, Prinzessin, wir machen gerade Pläne und du hörst nicht zu.«

Ich reibe mir ächzend die Seite und bekomme als Friedensangebot eine brennende Zigarette zwischen die Lippen gesteckt.

»Jungs, was ist jetzt mit dem Wochenende? Gehen wir zu dieser Gruselparty bei Tiff oder machen wir es uns am Strand gemütlich?«

Zoe schaut in die Runde und Jax schnaubt abschätzig. »Denke, mit Tiff bist du durch?«

Sie verdreht die Augen. »Ja, und? Ich kann auch mit Menschen reden, ohne gleich in der Kiste zu landen. Ich bin ja nicht du, Jax.«

»Autsch, der hat wehgetan, Baby. Dabei waren es doch nur ein paar Mal.«

»Ein paar Mal zu viel, Mr. Großkotz. Und jetzt nimmst du mich nicht mehr ernst. Ich wusste, dass so was passiert.« Sie lacht. Er auch.

»Ich konnte doch nicht ahnen, wo das mit uns hinführt.«

Sie bekriegen sich lautstark und ich betrachte erst Zoe und dann Jax mit einem Schmunzeln. Ich erinnere mich nicht an einen Abend, an dem es mit den beiden nicht irgendwann ausgeartet wäre. Sie sind ähnlich zügellos und eine Zeit lang haben sie die Bezeichnung Freundschaft plus exzessiv ausgereizt.

Ich muss sagen, dass ich es wirklich bewundernswert finde, dass ihre gemeinsamen Bettgeschichten unsere Freundschaft niemals beeinträchtigt haben. Das hier ist so etwas wie meine zweite Familie, wenn mir meine eigentliche Familie auf die Nerven geht – was oft der Fall ist. Ich lebe mit meinen beiden Brüdern in der Wohnung meiner Eltern. Ohne meine Eltern. Denn die haben vor ein paar Jahren beschlossen, dass sie sich jetzt lange genug für uns aufgeopfert haben und die Fürsorgepflicht irgendwann erschöpft ist. Sie haben sich noch nett verabschiedet und sind auf Nimmerwiedersehen ans andere Ende des Landes gezogen. Cash war damals ganz frisch mit Prissy zusammen und es tut mir wirklich leid, dass er Cane und mich immer noch mit durchfüttern muss. Denn seien wir mal ehrlich, so stellt man sich sein Leben doch nicht vor? Aber Cash ist ein Typ, der solche Geschehnisse mit stoischer Ruhe erträgt. Cane wird er noch mindestens zwei weitere Jahre zu Hause haben, denn der muss erst seine Schule beenden.

Und mich? Wer weiß.

Ich bin seit diesem Sommer mit der Schule fertig, keine Ahnung, was als Nächstes passieren wird.

Mein Blick schweift über den Strand, während Jax und Zoe sich im Hintergrund immer noch liebevolle Gemeinheiten an den Kopf werfen.

Selbst zu dieser späten Stunde ist hier unten ordentlich was los, denn die Surfer treffen sich jeden Abend für ihre Strandpartys. Das sind die Typen, die einmal im Jahr für ein paar Wochen herkommen und meinen, dass sie sich alles herausnehmen können. Dummerweise haben die auch schnell erkannt, dass diese Stelle hier am Fuß der Seebrücke, direkt unter dem Freizeitpark, besonders schön ist.

Die Lichter am Riesenrad sowie an den Buden leuchten hell in der Nacht und werfen einen bunten Schein auf den Sand und die rauschenden Wellen. Und das, obwohl es am Park gerade Wartungsarbeiten gibt.

Ein Lagerfeuer brennt unten am Wasser und ich schnippe meine Zigarette weg. Das ausgelassene Lachen der Leute erhebt sich über die Gitarrenklänge im Hintergrund. Die Menschen sind nur schemenhaft auszumachen. Bis auf eine Silhouette. Eine schmale, kleine Gestalt. Und sie kommt direkt auf uns zu. Immer näher und näher.

»Hey«, sagt das Mädchen schlicht, als sie vor meinen Füßen stehen bleibt. Ich schaue von ihren dürren Beinen über ein riesenhaftes Sweatshirt direkt in ihr Gesicht. In regelmäßigen Abständen leuchtet es in roten und blauen Lichtern auf. Sie schaut mir fest in die Augen, ohne auch nur einmal zu blinzeln oder den Blick zu senken.

Das Gespräch von Zoe und Jax verstummt abrupt. Beide mustern sie ähnlich, wie ich es eben getan habe.

»Ey, wer bist’n du?«, fragt Jax rau und Zoe lacht.

Das Mädchen stört sich daran nicht im Geringsten. Sie fixiert mein Gesicht weiter.

»Bist du Cole?«, fragt sie und ich kann ihren Blick überhaupt nicht deuten. Sie schaut einfach nur starr auf mich herab.

»Kleine, was hast du für ein Problem? Zieh Leine«, blafft Zoe von der Seite.

Die Kleine dreht sich langsam um und lächelt milde. »Sorry, aber mit dir habe ich nicht geredet.«

Jax lacht. »Autsch, Zoe. Das lässt du dir bieten?«

Zoe verengt die Augen. Die Luft lädt sich merklich auf.

»Und? Bist du’s?«, fragt das Mädchen wieder an mich gewandt.

»Warum willst du das wissen?«

»Ich habe dich an der Tankstelle gesehen.«

Jax kreischt beinahe schon auf vor Lachen. »Verdammt, sie hat ihn an der Tankstelle gesehen. Zoe, sie hat ihn an der Tankstelle gesehen.« Er wendet sich an das Mädchen. »Scheiße, Kleine, was ist los mit dir? Bist du irgendwie drauf?«

Keine Reaktion. Immer noch schaut sie mich an. Was für ein Mut.

»Bist du Cole oder nicht?«

»Ja, bin ich. Was willst du von mir?«

»Gut. Ich bin …« Sie scheint zu überlegen. »Kat.«

»Schön, Kätzchen. Und jetzt?«

»Fährst du mit mir Riesenrad?«

Sie fragt es einfach so.

Ohne Umschweife, ohne Schnörkel, ohne Small Talk.

Ich glaube, mich hat noch nie jemand dermaßen direkt angegraben. Für einen Moment bin ich so geplättet, dass ich gar nicht weiß, was ich sagen soll. Aber da bin ich wohl der Einzige.

»Scheiße, Baby, die will Riesenrad fahren. Das Riesenrad ist zu, verdammt«, grölt Zoe und hält sich den Bauch. Jax stimmt mit ein. »Du hast Mut. Krass.«

Ich lache nicht.

Ich starre das Mädchen an. Sie lächelt jetzt leicht.

»Und? Würdest du?«, fragt sie.

»Warum?«

»Weil das Leben schön ist.«

Okay, sie ist hundertpro auf irgendwelchen Drogen.

»Sorry, das Riesenrad ist geschlossen. Nächsten Sommer vielleicht, Süße.«

Vielleicht auch nicht. Wer weiß, was sie für einen Trip schiebt.

Ich erinnere mich noch an diese merkwürdigen Fieberträume, die ich mit Jax hatte, als er mal eine Packung Pillen von irgendwo angeschleppt hat. Cash ist ausgeflippt. Nein, er ist nicht ausgeflippt, er hat mich dem Erdboden gleichgemacht.

»Das ist leider zu spät. Schade.«

Was?

Aber sie hat sich schon umgedreht und schlendert davon. Sie geht an den Surfergrüppchen vorbei und steigt die Holztreppe zur Promenade hoch.

»Alter, was ist das denn für ’ne krasse Tante?« Zoe und Jax haben sich in der Zwischenzeit von ihrem Lachflash erholt und starren Kat oder wie auch immer sie in echt heißt, hinterher. Sie geht über die Promenade und winkt uns im Gehen zu.

Dann nähert sie sich tatsächlich dem Freizeitpark. Dabei hüpft sie ein paar Schritte, als würde sie Käsekästchen spielen. Die Kapuze ihres Hoodies wippt auf ihrem Rücken auf und ab und sie lacht. Nur für sich.

Aus irgendwelchen Gründen kann ich den Blick nicht von ihr nehmen.

Sie bleibt einen Moment stehen und schaut am Riesenrad hoch. Dann steigt sie über die Absperrung und verschwindet aus unserem Sichtfeld.

Was für eine merkwürdige Begegnung.

Ich drehe mich zu Zoe und Jax zurück und nehme meine Bierflasche aus dem Sand. Gerade, als ich sie ansetzen will, zeigt Jax mit dem Finger auf etwas hinter mich.

»Fuck, sie klettert da drauf!« Er lacht schrill auf.

»Was?« Ich fahre herum und folge seinem ausgestreckten Zeigefinger mit meinem Blick. Und tatsächlich. Kat ist schon ein paar Streben über der Erde. Was zu Hölle hat sie vor?

»Was treibt sie da?«, fragt auch Zoe abwesend.

Ich höre mein eigenes »Ach, verdammt!« und bin im nächsten Moment auf den Füßen.

»Cole!«

»Cole, Mann, wo willst du hin?«

»Verhindern, dass sich die Alte umbringt.«

Ich laufe durch den Sand und zu der Treppe, die Kat eben genommen hat. Mittlerweile ist sie sicher schon ein paar Meter über dem Boden. Ich schaue immer wieder zum Riesenrad und auf ihre Silhouette, die sich kaum in der Dunkelheit abhebt und nur durch die blinkenden Lichter sichtbar wird.

Mit einem Satz springe ich über die Absperrung und schaue zu ihr hoch. Ihr Blick ruht auf mir.

Atemlos bleibe ich stehen und lege den Kopf in den Nacken. »Bist du irre? Komm da runter!«, rufe ich und fahre mir über den Mund.

»Ich wusste, dass du hinter mir herkommst«, entgegnet sie strahlend.

»Du bist doch gestört.«

»Und du bist mein Schicksal! Ich wusste es.«

»Was? Hast du was genommen?«

»Von hier oben bist du noch viel hübscher, Cole.«

Sie lacht. Völlig frei und unantastbar. In meinem Magen macht sich etwas breit, das ich vorher erst äußerst selten gespürt habe.

»Komm runter da, das ist gefährlich.«

»Sag meinen Namen.«

Ich stöhne und stemme die Hände auf meine Hüfte auf. Das ist doch bescheuert.

»Nein. Komm da runter.«

Sie lacht. Wieder. Dann klettert sie höher.

»Sei doch nicht albern. Ich will dich nicht vom Boden aufkratzen.«

»Sag meinen Namen, dann komme ich runter.«

»Kat. Kommst du jetzt?«

»Sag noch mal Kätzchen.«

»Kat, du irres Kätzchen. Komm jetzt.«

Sie beginnt tatsächlich mit dem Abstieg. Nicht sehr grazil, aber immerhin. Ich gehe ihr entgegen und helfe ihr die letzten Streben nach unten. Sie taumelt und prallt gegen meine Brust.

»Oops«, macht sie lächelnd. Ihre Hand bleibt auf meinem Shirt liegen. So eine berechnende Hexe. Ihre Fingerspitzen ziehen kleine Kreise und ich habe keine Ahnung, warum ich ihre Hand nicht wegschlage.

»Das hätten wir auch gleich haben können«, sagt sie leichthin. Ich schnaube. »Ist eine schöne Nacht, oder?« Ihre Augen funkeln. Damit sind sie ziemlich allein, denn sonst wirkt alles an Kat eher unscheinbar. Ihre schulterlangen Haare sind stumpf und ihr ungeschminktes Gesicht ist blass.

»Soll ich irgendjemanden anrufen? Soll dich wer abholen?«

Sie überlegt einen Moment, in dem sie durch mich hindurchschaut. Dann scheint sie einen Geistesblitz zu haben, denn sie grinst mit einem Mal wieder breit.

»Ich würde tatsächlich gern nach Hause gehen. Aber es ist so dunkel und unheimlich. Und auch so gefährlich …«

»Du bist auf ein verdammtes Riesenrad geklettert. Du wirst es nach Hause schaffen.«

»Ich weiß nicht.« Ihre Stimme klingt wie die eines hilflosen Kindes und ich bin mir sicher, dass sie das mit Absicht macht.

Sie starrt mich immer noch von unten herauf an und klimpert übertrieben mit den Wimpern.

Der Anblick sieht so künstlich und bescheuert aus, dass ich grinsen muss.

»Was für schöne Zähne du hast«, sagt sie leise, wie zu sich selbst. »Du bist perfekt. Ein Wunderwerk der Schöpfung.«

»Was?«

»Ach, nichts.«

»Also, Flirten ist nicht so dein Ding, oder? Das macht man eigentlich ein bisschen subtiler. Da sagt man Sachen wie: Willst du was trinken, Cole?«

Sie hakt sich bei mir unter und ehe ich es bemerke, sind wir schon auf dem Weg zur Promenade.

»Willst du was trinken, Cole?«

»Ich habe gerade was getrunken. Und dann kamst du und warst im Begriff, dir den Hals zu brechen.«

Sie lacht und drückt sich näher an mich. »Ach, das war nicht gefährlich. Ich wusste, dass du hinter mir herkommst und mich rettest.«

»Warum?«

»Weiß nicht. War so ein Gefühl.«

»Das ist doch Unsinn.« Ich schaue über ihren Kopf hinweg an den Strand und sehe Jax und Zoe, wie sie im Sand sitzen und große Gesten machen. Sie sehen aus wie zwei Gestrandete, die auf Rettung hoffen.

»Warte mal kurz.« Ich mache mich von Kat los und springe die Stufen zum Strand hinab, jogge auf die beiden zu.

»Hey, hey, schau sich das einer an. Das kleine Kätzchen hat den gefühllosen Cole Carter abgeschleppt.« Zoe lacht und schnippt ihren Zigarettenstummel so zielgenau in meine Richtung, dass ich ausweichen muss.

»Erzähl keinen Scheiß. Ich bring die Kleine eben nach Hause. Keine Ahnung, was sonst mit ihr passiert. Ich habe keinen Bock, dass die mich morgen mit toten Augen aus der Zeitung anglotzt.«

»Uh, vielleicht schaust du ja noch mal in ihre lebendigen Augen, bevor du sie allein lässt.«

»Halt die Klappe, Jax«, sage ich noch und drehe mich dann wieder um.

»Niemals, Baby!« Er lacht. So wie er immer lacht, wenn er sich besonders witzig findet.

»Und nicht zu hart rangehen. Nicht, dass Püppi kaputtgeht. Die sieht nicht sehr stabil aus«, mischt sich auch Zoe wieder ein.

Im Ernst?

Ich gehe ein paar Schritte rückwärts und schüttle den Kopf. »Ihr seid Arschlöcher.«

»Selber!«, brüllt Zoe zurück. »Ich liebe dich trotzdem, Baby!«

»Ich dich auch!«

Sie formt mit ihren Händen ein Herz in der Luft und bekommt als Antwort einen Mittelfinger. Stört sie nicht im Geringsten. Sie wendet sich zu Jax und die beiden sehen für meinen Geschmack schon wieder eine Spur zu vertraut aus.

 

 

Kat hat das ganze Schauspiel von der Promenade aus verfolgt und wartet dort auf mich. Sie hat die Arme um ihren Körper geschlungen und mustert mich mit einem Blick, den ich nicht so recht deuten kann. Sie sieht nicht mehr so wildentschlossen aus wie vorhin. Eher wehmütig.

»Sind das deine Freunde?«

»Geht dich nichts an.«

»Muss cool sein, oder?«

»Gibst du eigentlich nie auf?«

»Ich werde erst richtig warm.« Sie grinst zu mir hoch und hakt sich wieder bei mir unter. Ich lasse sie jetzt einfach mal. Ihre Hand liegt auf meinem Unterarm und ist eiskalt.

»In welche Richtung müssen wir denn?«

Sie deutet zum Ende der Promenade. »Ich wohne da lang.«

Die ersten hundert Meter gehen wir schweigend, aber Kat scheint keine zu sein, die gut die Klappe halten kann.

»Früher waren wir jeden Sommer hier, weißt du?«

»Hm.«

»Wohnst du hier, Cole?«

»Hm.«

»Okay, ähm … Ist die Blonde deine Freundin?«

»Nein.« Ich verziehe das Gesicht und bin etwas entsetzt, was sie mich hier alles fragt.

»Sie hat gerufen, dass sie dich liebt.«

»Von Zurückhaltung hältst du nichts, oder?«

»Nicht mehr.«

Wieder ein kurzes Schweigen. Ihr Griff um meinen Arm wird fester und sie legt für einen Moment die Wange auf meine Schulter. Ich kann ihre kühle Haut durch den Stoff des T-Shirts spüren. Ich zucke zusammen und versuche sie abzuschütteln.

»Ähm, hallo? Was wird das?«

»Sorry.« Sie grinst.

Ich nicht. Ich schaue zu ihr hinab und sehe in ihre dunklen Augen. Was ist nur los mit ihr? Meine Güte. Das ist ja schlimmer als jeder betrunkene Flirt, den ich in meinem ganzen bisherigen Leben hatte.

»Hättest du gern eine Freundin?«

Der Satz hallt zwischen uns durch die Nacht und als ich realisiere, was sie mich da gerade gefragt hat, breche ich in Gelächter aus.

»Was zur verdammten Hölle? Ja, aber sicher nicht dich.«

»Warum nicht?«

»Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

»Na, schönen Dank auch«, murrt sie und seufzt tief. Ihr vorwurfsvoller Blick prallt an meiner Schulter ab.

»Was willst du denn jetzt bitte hören?«

»Weiß nicht. Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick, Cole?«

Ich stöhne und fahre mir über den Mund. Am liebsten möchte ich schreien. Warum habe ich mich schon wieder in so eine Scheiße hineinmanövriert? Es wird Zeit, dass das Kätzchen in sein Körbchen kommt und ich in Ruhe meinen Abend genießen kann. Wenn ich Pech habe, sind Zoe und Jax weg, bevor ich zurück bin. Und ich werde sie dann sicher nicht suchen. Das hat schon mal übel geendet. Diese Bilder muss ich nicht unbedingt auffrischen. Es hatte was von dieser Titanic-Szene im Auto. Nur, dass es sich leider um mein Auto gehandelt hat. Ich schwöre, dass ich mich nie wieder auf diesen Rücksitz setzen werde.

»Woran denkst du, Cole?«

»Ich denke nicht.«

»Jeder denkt. Ständig.«

»Aha.«

Sie schmunzelt, als sich unsere Blicke für einen Moment treffen.

»Willst du wissen, woran ich es gesehen habe?«

»Was denn?«

»Dass du nachdenkst.«

»Du wirst es mir sicher ohnehin verraten.«

»Ich liebe, dass du Worte wie ohnehin verwendest.«

Und ich liebe, wenn du mal die Klappe halten könntest.

»Du bekommst dann diesen Zug um die Augen. In etwa so.« Sie macht ein merkwürdiges Gesicht und ich muss lachen. Dieser ganze Abend ist völlig abstrus.

»So gucke ich gar nicht.«

»Aber so was von.« Sie lacht auch und legt ihre Wange wieder auf meine Schulter. »Darf ich den Kopf da hinlegen?«

»Als würde dich meine Antwort interessieren.«

»Stimmt.«

Wir biegen von der Promenade ab in die kleine Straße, die zu den Strandhäusern führt. Eins gleicht dem anderen. Eine endlose Reihe gleicher Klon-Häuser. Und sie alle sind im Sommer belegt von einer Milliarde Urlaubern.

Wir gehen alle unterschiedlich damit um. Zoe gar nicht. Ihr ist das schlichtweg egal. Sie hält es ähnlich wie ich. Jax nicht. Jax läuft angesichts der ganzen Bikinischönheiten erst zur Hochform auf. Er arbeitet jeden Sommer als Surflehrer und nein, es ist kein Klischee. Er macht das mit voller Absicht. Aber was soll man ihm vorwerfen? Wir sind jung und wir sind wild. Wir haben das ganze Leben vor uns, was sind da ein paar Sommer voller Eskalation und durchzechter Nächte?

Findet Kat wohl auch. Sie hat sich von meinem Arm gelöst und läuft zur Mitte der Fahrbahn.

»Was machst du?«, rufe ich ihr hinterher, aber sie antwortet nicht sofort. Sie stellt sich in Position – ein Fuß vor den anderen – und streckt die Arme aus.

»Ich balanciere. Mache ich jedes Mal.«

»Komm da weg. Das ist ’ne Straße.«

»Hast du Angst um mich?«

»Was? Bist du lebensmüde? Komm einfach da runter.«

Sie denkt gar nicht daran. Sie läuft los und singt dabei irgendein Kinderlied.

Und während ich sie beobachte, komme ich nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich sie interessant finde. Sie wirkt so erhaben über jeden Zweifel. Ich habe mich selbst immer schon für abgedreht gehalten, doch sie ist es wirklich. Aber nicht auf diese schräge Art, bei der man auf das Leben pfeift. Es wirkt eher, als würde sie das Leben zu sich rufen.

»Cole, komm her.« Kats Arme rudern wild, ihr helles Lachen schallt von den Häusern wider. Sie wirft den Kopf in den Nacken und reckt das Gesicht gen Nachthimmel.

Ich gehe weiter parallel zu ihr auf dem Gehweg und betrachte ihr lachendes Gesicht.

»Komm da runter.«

»Bitte mich drum. Sag: Kätzchen, komm da weg.«

»Was? Nein?«

Bin ich eine verdammte Bandansage, oder was?

Sie balanciert weiter. Den seichten Hügel hoch. Man hört in der Ferne Motorengeräusche, doch die Straße ist wie ausgestorben. Ich schaue in regelmäßigen Abständen zu ihr hinüber und stolpere dabei fast über eine Kante im Pflaster.

»Aufpassen, Baby«, ruft sie laut und gluckst. »Das klingt bescheuert.«

Die Motorengeräusche aus dem Hintergrund werden lauter und Kat nähert sich der Biegung der Straße. Sie singt wieder dasselbe Lied wie vorhin.

Hört sie das nicht? Da kommt ein Auto.

Scheinwerfer erhellen mit einem Mal die Straße und ein dunkler Wagen schießt um die Kurve. Keine Regung von ihr. Der Motor röhrt, während Kat wieder zwischen zwei Straßenlaternen in der Dunkelheit verschwindet.

»Kat!« Mit einem Satz bin ich auf der Straße und zerre sie zur Seite. Das Auto schießt hupend an ihr vorbei. Der Fahrer macht eine Vollbremsung und beugt sich aus dem Fenster. »Ihr kleinen Scheißer. Seid ihr bekloppt, oder was?«

»Fahr weiter, du Penner!«, brülle ich. Die Fahrertür schwingt auf. Und die Beifahrertür. Zwei Typen steigen aus. Fuck.

»Lauf, Cole!«, ruft Kat. Sie greift nach meiner Hand und zerrt mich nach vorn. Ich starre für einen Moment noch auf die beiden Männer, die wie eine Wand auf uns zukommen, und drehe mich um.

»Scheiße!« Ich greife fester um Kats Hand und ziehe an ihr vorbei. »So eine verdammte Scheiße! Lauf schneller!«

»Verpisst euch, ihr kleinen Idioten!«, brüllt einer der Männer.

Kat lacht. Sie lacht einfach.

Hand in Hand rennen wir den Bürgersteig entlang. Durch das Licht einer Straßenlaterne und dann noch einer. Als wir den Motor aufheulen hören, bleibt sie ruckartig stehen und stemmt die Hände auf die Knie. Ihr Atem pfeift bedenklich, aber sie strahlt.

»Ich sollte wohl … mehr Sport machen. Ich … hab … keine Übung im … Weglaufen.«

Ich bleibe neben ihr stehen. »Was zur Hölle sollte das?«

Sie keucht und nickt dabei. »Warte.« Sie atmet schwer und scheint sich zu sammeln, damit sie weitersprechen kann.

»Gehts, Kätzchen?«

Sie grinst mich von unten herauf an und zwinkert. »Schon allein … das … war’s wert.«

»Du bist doch verrückt.«

»Magst du’s verrückt?«

Lachend schüttle ich den Kopf und reiche ihr eine Hand.

»Na, los. Wird Zeit, dass du nach Hause kommst.« Sie greift danach und verschränkt unsere Finger.

Das Gefühl ist merkwürdig gut.

 

 

Eine geschätzte Ewigkeit später kommen wir endlich an dem gelben Strandhäuschen an, in dem Kat wohl mit ihrer Familie Urlaub macht. Sie legt einen Finger an die Lippen und bedeutet mir, ruhig zu sein. Ihre Hand liegt immer noch in meiner. Sie hat den ganzen Weg nicht losgelassen, vielmehr noch, ich habe sogar das Gefühl, dass sie meine Finger mit jedem Schritt fester umklammert hat.

»Hast du einen Schlüssel?«, flüstere ich und sie schüttelt den Kopf. Dann deutet sie hinter sich an die Front des Gebäudes.

»Bin ausgerissen.« Sie kichert leise und zieht mich in Richtung Fenster. Wir steigen auf die Veranda.

»Pass auf. Die eine knackt«, murmelt sie. Als sie stehen bleibt, um langsam Stufe für Stufe zu nehmen, prallt meine Brust gegen ihren Rücken.

Sie schüttelt sich vor Wohlgefallen. »Das ist alles so aufregend!« Ihr Flüstern ist ziemlich laut. Sie ist scheinbar völlig aus dem Häuschen. Ich nicht. Ich weiß gar nicht mehr, was ich gerade bin.

Deshalb steige ich nur hinter ihr die Stufen hoch. Bei mir knackt die dritte Stufe tatsächlich furchtbar laut. Weil ich geschätzt das Doppelte von ihr wiege. Sie ist wirklich sehr zart. Fast durchscheinend. Falls Menschen so aussehen können.

Vor dem Fenstersims schüttle ich ihre Hand ab. Sie wendet sich zu mir und schaut ehrlich enttäuscht.

»Kommst du nicht mit rein, Cole?«

»Nein. Sicher nicht.«

»Warum nicht?«

»Bettelst du jetzt ernsthaft darum, gevögelt zu werden?« Natürlich lache ich sie nicht aus. Es wäre zu laut und überhaupt. Okay, innerlich lache ich sie schon aus. Mal ehrlich? Wie tief kann man denn sinken?

»Wäre es schlimm, wenn ich Ja sage?«, fragt sie offen und grinst.

»Das ist unsexy.« Ich habe keine Ahnung, warum ich ständig mit ihr mitgrinsen muss. Aber ihre Ehrlichkeit ist so entwaffnend, dass es mich mitnimmt.

Sie schaut gespielt lasziv zu mir hoch. »Ich bin auch noch Jungfrau.«

Wow. Einfach wow. Was für ein Argument. Das macht mich ja ganz willenlos.

»Dann geh schlafen und sieh zu, dass du’s bleibst. Ist besser für dich.«

»Wie wäre es mit: Bitte, Cole?«

Ach, Mann.

»Kätzchen, geh rein. Du bist verwirrt. Schlaf deinen merkwürdigen Rausch aus und schlag dich morgen mit dem Kater rum. Ich gehe jetzt.«

»Du bist witzig.«

O Gott.

»Du nicht. Geh jetzt schlafen.« Ich schiebe sie in Richtung Fenster.

»Vielleicht später mal?«

»Nein.«

»Irgendwann?«

»Nein, verdammt.«

»Cole.«

»Kat.«

»Bekomme ich wenigstens einen Gute-Nacht-Kuss?«

»Gibst du sonst Ruhe?«

Sie lächelt und zieht die Nase kraus. »Nein, ich denke nicht.«

Und dann schließt sie tatsächlich die Augen und reckt ihr Gesicht nach oben. Wartet sie jetzt im Ernst drauf, dass ich sie küsse?

Das ist doch unglaublich.

Erst denke ich, dass sie einen Scherz macht. Macht sie nicht. Sie steht einfach nur da und atmet tief ein und aus. Ihre Lippen gespitzt und die Lider fest zugepresst. Und ich kann gar nicht sagen, was den Ausschlag gibt, aber mit einem Mal spüre ich eine Veränderung in ihrem Ausdruck. Aller Witz ist fort. Sie meint das hier ernst. Warum auch immer ihr das wichtig ist, es ist ihr wichtig.

Ich höre mein eigenes Aufseufzen. Im nächsten Moment flüstert sie meinen Namen, als würde sie mich daran erinnern, dass ich eine Aufgabe habe.

»Das ist verrückt«, flüstere ich zurück. Sie schmunzelt. Mit Kussmund.

Also lege ich meine Hände auf ihre erhitzten Wangen, ziehe ihren Kopf leicht zu mir und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn.

---ENDE DER LESEPROBE---