All the Hidden Monsters 2: All the Lost Souls - Amie Jordan - E-Book

All the Hidden Monsters 2: All the Lost Souls E-Book

Amie Jordan

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Beschreibung

Sherlock meets Werwolf mit Slow-Burn-Liebesgeschichte – unwiderstehlich!  Nachdem Sage sich einen Job als Ermittlerin erkämpft hat, arbeiten sie und der Hexenmeister Oren als Team zusammen und genießen die gemeinsame Zeit mit Poltergeist P. Doch ihre Verbindung ist dem Leiter des Arcanum ein Dorn im Auge. Er stellt Sage und Oren kalt, indem er sie weit weg ins Jura-Gebirge schickt, um dort bei zunehmenden Spannungen zwischen Hexen und Werwölfen zu vermitteln. Doch dort erwartet die beiden ein weit dramatischeres Abenteuer als gedacht. Sie müssen es mit uralter Magie, gequälten verlorenen Seelen und einem tödlichen Nebel aufnehmen, der alles hinwegrafft, was er berührt … Der zweite Band einer packenden Urban-Fantasy-Trilogie – voller vielschichtiger Charaktere und mit einer fesselnden Rivals to Friends to Lovers-Romantasy mit Hidden Magical Community- und Found Family-Vibes. Auf der Longlist für den Branford Boase Award 2025!

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Amie Jordan –All the Lost Souls

Aus dem Englischen von Ivonne Senn

Nachdem Sage sich einen Job als Ermittlerin erkämpft hat, arbeiten sie und der Hexenmeister Oren als Team zusammen und genießen die gemeinsame Zeit mit Poltergeist P. Doch ihre Verbindung ist dem Leiter des Arcanum ein Dorn im Auge. Er stellt Sage und Oren kalt, indem er sie weit weg ins Jura-Gebirge schickt, um dort bei zunehmenden Spannungen zwischen Hexen und Werwölfen zu vermitteln. Doch dort erwartet die beiden ein weit dramatischeres Abenteuer als gedacht. Sie müssen es mit uralter Magie, gequälten verlorenen Seelen und einem tödlichen Nebel aufnehmen, der alles hinwegrafft, was er berührt …

Der zweite Band einer packenden Urban-Fantasy-Trilogie – voller vielschichtiger Charaktere und mit einer fesselnden Rivals to Friends to Lovers-Romantasy mit Hidden Magical Community- und Found Family-Vibes.

Wohin soll es gehen?

  Buch lesen

  Danksagung

  Viten

Für Major – den loyalsten Wolf, den ich kenne.

Nun, dies ist das Gesetz des Dschungels – so alt und wahr wie der Himmel; Und der Wolf, der es befolgt, soll gedeihen, doch der Wolf, der es bricht, muss sterben. Wie die Schlingpflanze, die sich um den Baumstamm windet, läuft das Gesetz vorwärts und rückwärts – Denn die Stärke des Rudels ist der Wolf, und die Stärke des Wolfes ist das Rudel.Rudyard Kipling, »Das Dschungelbuch«

Oren

Oren starrte an die dunkle Schlafzimmerdecke.

Jede Nacht durchlebte er in seinen Albträumen dieselben Erinnerungen: Sage, blutüberströmt, nach Luft ringend, und er konnte sie nicht retten.

Selbst jetzt verursachte ihm der Gedanke noch Übelkeit. Die … Hilflosigkeit, die er empfunden hatte. Die Erkenntnis, dass seine Magie – ein so integraler Bestandteil seines Wesens, der ihn nie im Stich gelassen hatte – einfach verschwunden war, als hätte jemand einen Schalter betätigt.

Sage hätte sterben können. Und das lastete ihm so schwer auf der Brust, dass er kaum atmen konnte.

Wie ihre Hand sich in seinen Kragen gekrallt und ihn zu sich herangezogen hatte, wie sie gesagt hatte, er solle sie sterben und zu einem Geist werden lassen, der an seiner Seite für immer jung bleiben würde. Die Tatsache, dass er das für einen winzigen Moment auch nur in Erwägung gezogen hatte, verstärkte die Übelkeit noch.

Die Konfrontation mit dem Tod hatte ihn in seiner gesamten Laufbahn als Killer noch nie belastet. Er hatte in jener Nacht also kein Recht dazu gehabt, sich vor ihm zu fürchten. Aber in dem Moment hatte er sich der Endlichkeit einfach nicht stellen können. Dem abrupten Ende des … Was wäre wenn?

Wie auch immer, er hatte sie gerettet. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit war es ihm gelungen, sie am Leben zu halten. Und seitdem fragte er sich jeden Tag, ob das ein Fehler gewesen war. Hatte er mit der Rettung ihres Lebens die richtige Entscheidung getroffen? Oder hätte er zulassen sollen, dass sie für immer in einem jugendlichen, geisterhaften Körper erstarrte? Er wusste es nicht.

Ich bereue es nicht, ihr beim Leben zusehen zu können, hatte er zu P gesagt, als sie in jener Nacht zusammengesessen und leise miteinander geredet hatten. Und das hatte er auch so gemeint. Aber beide hatten gewusst, dass diese Entscheidung einen Preis hatte. Werwölfe alterten wie Menschen, deshalb war Sage die Einzige von ihnen, die alt und gebrechlich werden würde. Es war eine Entscheidung gewesen, bei der alle Seiten nur hatten verlieren können.

Oren seufzte und schaute zu der Uhr auf seinem Nachttisch. Es war nicht mal vier. Der Himmel vor dem Fenster war noch dunkel, aber er wusste, dass er nicht wieder würde einschlafen können. Also schlug er die Bettdecke zurück und holte sich ein T-Shirt aus der Kommode. Mit einem leisen Klick zog er die Schlafzimmertür hinter sich zu und ging quer über den Flur zu der Tür, die nie ganz geschlossen war. Er stieß vorsichtig mit der Schulter dagegen, um sie leise zu öffnen.

Natürlich war sie da. Das hatte er von der anderen Flurseite aus riechen können, genauso wie er ihren langsamen, rhythmischen Atem hören konnte. Aber er musste sie sehen, ohne den silbernen Dolch in ihrer Brust und den Geruch von Blut in der Luft, der ihn in seinen Träumen verfolgte. Sie lag mit dem Rücken zur Tür auf dem Bett, die Haare oben auf dem Kopf zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst. Er sah, dass sie den seidenen Schlafanzug trug, den sie von Berion als Geschenk zum Julfest bekommen hatte.

»Sie ist noch hier«, sagte eine leise Stimme hinter ihm.

»Ich weiß.« Er zog die Tür zu und drehte sich zu dem silbrig schimmernden Geist um.

Über dem Teppich im Flur war nur Ps Oberkörper zu sehen; ihre Beine baumelten darunter. Sie beobachtete ihn mit einem unterdrückten Lächeln.

»Sie wird auch morgen und übermorgen noch da sein.« In ihren Augen konnte er lesen, dass sie ihn nur allzu gut verstand. »Genau wie ich. Wir gehen nirgendwo hin, Oren.«

Der Kloß in seiner Kehle war wieder da. Er schluckte. Wie sehr er es hasste, wenn sie ihm das Gefühl gab, so menschlich zu sein.

Sie schenkte ihm ein kleines, ermutigendes Lächeln, als wüsste sie, dass es ihm gerade unmöglich war zu sprechen. »Toast?«

Er nickte, und sie verschwand durch den Boden in ihre Küche.

Ein paar Wochen nach dem Vorfall hatten sie sich mit Berion und Hozier für einen Abend mit Pizza und Netflix auf das Sofa in ihrer alten Wohnung gequetscht.

»Der Platz reicht nicht, oder?«, hatte P geseufzt.

»Vielleicht sollten wir uns ein größeres zulegen«, hatte Oren vorgeschlagen.

Er hatte ein größeres Sofa gemeint, aber am nächsten Tag hatte P drei Ausdrucke von einem Makler im Unten auf den Couchtisch geworfen, und damit war die Sache besiegelt gewesen.

Jetzt wohnten sie in einem dreistöckigen Stadthaus mit fünf Zimmern, einer großen Küche für P und einem Garten für die Grillpartys, die sie zu geben entschlossen war.

Er wohnte mit seinen Freunden zusammen.

Seinen Freunden.

Menschen, die ihm wichtig waren. Denen er wichtig war.

Was ihn entsetze.

Jeden Morgen, wenn er aus seinen Albträumen erwachte, wurde es ihm wieder bewusst: Er hatte sich erlaubt, eine so enge Bindung aufzubauen, dass er, als er glaubte, Sage würde sterben, lieber auch gestorben wäre, als zuzulassen, dass sie ihn erneut allein ließ. Allein, ohne die Akzeptanz und das Verständnis, die sie verkörperte. Sie gab ihm ein Gefühl, von dem er viele Jahre geglaubt hatte, er würde es weder brauchen noch verdienen.

Dafür hasste er sich. Er hasste diese Verletzlichkeit.

Wie viele würden sie wohl ins Visier nehmen, wenn sie wüssten, dass sie seine Schwäche war? Wie viele würden sie benutzen, um Rache zu üben für die Todesurteile, die er über ihre Liebsten gefällt hatte? Was für ein Kopfgeld hatte er auf sie ausgesetzt?

Er hörte das Klappern von Besteck aus Ps makelloser Küche und dankte den Göttern, welche auch immer gerade zuhörten, dass nur eine seiner geliebten Mitbewohnerinnen ein Leben hatte, das man ihr nehmen konnte. Wenn er sich nur vorstellte, sie beide zu verlieren …

Er schüttelte den Kopf. Er war Oren Rinallis. Er fürchtete sich vor nichts.

Aber als er die Treppe hinunterging, um zu frühstücken, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass das vielleicht nicht mehr ganz der Wahrheit entsprach.

Sage

Die Hexenmeister taten sich selbst keinen Gefallen.

Die, die für das Arcānum arbeiteten, waren cliquenhafter als eine besonders zickige Gruppe Teenager, und die, die das nicht taten, gaben sich ebenfalls nur mit ihresgleichen ab. Sie integrierten sich nicht wie alle anderen im Unten.

Oder, um es einfacher auszudrücken, sie waren total arrogant.

Als nun also ihr Captain, Roderick, beim freitäglichen Teammeeting im Veranstaltungsraum eines Pubs die erste Runde Drinks aus dem Mitarbeiterbudget spendierte, war es für alle eine Überraschung, dass diese großzügige Geste Sage einschloss. Die einzige Werwölfin im Team. Der bunte Hund.

Auch wenn sie nicht sicher war, ob ihr Getränk vielleicht mit Gift versetzt worden war. Oder zumindest mit einem leichten Abführmittel. Ehrlich gesagt war das sogar relativ wahrscheinlich.

Oren würde lieber sterben, als Kontaktpflege zu betreiben, und sie wusste aus sicherer Quelle – von Hozier –, dass er in der, wie sie es nun nannten, »Vor-Sage-Ära« immer sofort nach Ende der Meetings gegangen war. Aber sie hatte ihn mittlerweile dazu gebracht, sich wenigstens den kostenlosen Drink nicht entgehen zu lassen. Und so kippte er neuerdings einen steifen Whisky herunter, bevor er mit großen Schritten den Pub verließ, während Berion für den Rest von ihnen Wein bestellte.

Was bedeutete, dass er ungefähr fünfundvierzig Sekunden länger blieb als früher.

Der Warlock’s Cloak war einer der ältesten Pubs im Unten. Er erinnerte an die verrauchten Pubs vergangener Zeiten im Oben, wo Männer nach einem harten Tag in den Minen ein Pint tranken. Die Bänke entlang der Wände waren mit einem Stoff bezogen, den Sage mit Teppichen in den Häusern von Großmüttern in Verbindung brachte. Dieser Ort war nicht annähernd so modern, wie man es in so einer gentrifizierten, übernatürlichen Stadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts erwartete. Sie schätzte, dass der Pub so alt war wie die Hexenmeister, die ihn aufsuchten, was möglicherweise etwas damit zu tun hatte.

»Ich liebe diese Jacke, Sage«, sagte Berion und ließ den Blick aus seinen weißen Augen bewundernd über das Leder gleiten, als sie nach einem besonders langweiligen Meeting das Hinterzimmer verließen. »Wo hast du die gefunden?«

Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und grinste, als er eine Augenbraue hochzog. »In deinem Schrank.«

»Und du hast gedacht, mir wäre nicht aufgefallen, dass sie fehlt?«

»Wie wäre es, wenn ich dir dafür eine von meinen leihe?«, bot sie an.

Ein Hexenmeister mit knallgrünen Haaren lachte auf und schenkte Sage ein anerkennendes Lächeln. Nichts, was irgendwer von ihnen besaß, würde je Berions luxuriösen Geschmack befriedigen können.

»Es würde dich nicht umbringen, ein wenig geselliger zu sein«, murmelte Sage unterdrückt, als sie und Oren die Bar erreichten. P verbrachte ihre Freitagabende im Vampire Slayer bei ihrer Strickgruppe, die von einer örtlichen Gargoyle-Künstlerin geleitet wurde und noch eine halbe Stunde dauern würde. Was sollten sie also tun? Schweigend herumsitzen und schmollen?

Ja, vermutlich.

Trotz seines heruntergekommenen Aussehens war der Pub sehr beliebt. Auf der einen Seite des Raumes herrschte fröhlicher Trubel mit Geplapper, Dartsturnieren und Kartenspielen. Drei Satyre schubsten einander herum und stritten sich darüber, wer die Punkte in ihrem Spiel zählte, doch als sie das gesamte Arcānum bemerkten, das aus dem Veranstaltungsraum kam, beruhigten sie sich schnell. Nur ein älterer Mottenmann mit verwitterten Flügeln und leeren roten Augen vom lebenslangen Alkoholmissbrauch, wie es sein Geruch vermuten ließ, schien sich nicht darum zu scheren, dass Oren Rinallis mit ­einer Gewittermiene direkt neben ihm stand.

Sie beobachtete, wie Oren den Whisky hinunterkippte, den der Geist hinter der Theke immer bereitstehen hatte, während den anderen zwei Flaschen Rotwein und drei Gläser zugeschoben wurden.

»Wir sehen uns zu Hause.«

»Nicht so schnell«, hallte eine andere Stimme über den Lärm.

Der Hexenmeister, den Sage am wenigsten leiden konnte, beendete ein Telefonat mit wem auch immer und steckte das Handy in die Tasche.

»Was willst du, Roderick?«, knurrte Oren. »Das Teammeeting ist vorbei.« Übersetzung: Ich bin nicht verpflichtet, deine Existenz auch nur anzuerkennen.

»Ich habe eine sehr kurzfristige Anfrage für die Übernahme eines Falls reinbekommen.« Rodericks Lächeln wurde grausam, als er Sage anschaute. »Im Juragebirge im Süden Frankreichs braut sich was zusammen. Hexen. Und Werwölfe.«

Sage war nicht sicher, warum ihre Wangen heiß wurden. Etwas in Rodericks Ton klang anklagend. Als wäre sie persönlich für die Missetaten eines jeden noch lebenden Werwolfs verantwortlich.

Sie weigerte sich, an den letzten Fall zu denken.

Nein.

Lass es.

Aber es war zu spät. Das Herz hämmerte in ihrer Brust und ihr war ein wenig schwindelig. Die gesamte linke Seite des Raumes, die Arcānum-Seite, wurde gerade still genug, um so zu tun, als würden sie nicht zuhören. Sage schaute sich um. Saw wich ihrem Blick aus. Aber sie spürte förmlich das Brennen auf ihrer Haut, als ihr jemand auffiel, der sich nicht einmal die Mühe machte, sein Interesse zu verbergen.

Schlampe.

Sie hatte Flora erst ein paar Wochen nach Neujahr kennengelernt. Die Hexenmeisterin war in den Wochen vor dem Julfest, die Sage mit Oren verbracht hatte, verreist gewesen. Aber jetzt war sie zurück. Und wie.

Hozier hatte ihnen schadenfroh davon erzählt, wie Berion und sie Flora erwischt hatten, als sie an einer von Orens Jacken schnüffelte. Oren hatte finster dreingeblickt und zugegeben, dass er sie vor beinahe fünfzig Jahren in einem anderen Land mal auf einen Drink eingeladen hatte. Fünf Minuten nach Beginn dieses Treffens hatte sie eine Flasche am Tresen zerschmettert und die Barfrau mit dem scharfen Ende bedroht, weil sie Oren angelächelt hatte. Er war direkt und ohne einen Abschiedsgruß aus dem Fenster geshiftet. »Ich ziehe One-Night-Stands vor, die nicht total durchgeknallt sind«, hatte er achselzuckend gesagt und geglaubt, damit wäre das Thema erledigt. Bis sie im Unten aufgetaucht war und sich dem Arcānum angeschlossen hatte.

Sage und P hatten die Vorstellung, dass Oren eine Stalkerin hatte, urkomisch gefunden.

Bis diese Stalkerin, verstört und mit wildem Blick, Sage in Berions Beisein in einem Coffeeshop abgepasst und gewarnt hatte, sich von Oren fernzuhalten, sonst … Berion hatte eingreifen müssen, als Sage nur lachte und Floras Hände anfingen, rot zu glühen.

Nun spürte sie einen Hauch von Orens Magie, die warm und tröstlich war und sie in die Gegenwart zurückbrachte.

Es ist vorbei. Es ist nicht wichtig. Es ist mir egal.

Das war ihr Mantra geworden. Ihr Geschenk füreinander, um damit ihre Vergangenheit, ihre Sünden und ihren Selbsthass zu vergessen.

Als sie zu Roderick schaute, sah sie, dass er ihre Reaktion beobachtete.

Sie zeigte keine Regung.

»Der Frieden ist fragil, um es milde auszudrücken«, fuhr er fort. »Weder Hexen noch Werwölfe sind gewillt, ihren kleinlichen Streit über was auch immer beizulegen, und sie haben um die Unterstützung des Arcānums gebeten.« Seine Augenbrauen schossen in die Höhe; ein Hinweis darauf, dass er nicht glaubte, dass Sage eine große Hilfe sein würde. »Das Gerücht, dass wir eine Werwölfin in unserer Mitte haben, hat die Runde gemacht. Die Franzosen haben angefragt, ob sie dich ausleihen können, Sage, in der Hoffnung, dass du besser mit den Alphas kommunizieren kannst als sie.«

»Aber nur solange sie keinen von ihnen persönlich kennt, oder?«, schwebte Floras mädchenhafte Stimme durch die Bar. Sie konnte dieser Gelegenheit einfach nicht widerstehen. »Sonst könnten die Täter umso länger damit durchkommen.«

Alle im Raum hörten auf, so zu tun, als würden sie nicht zuhören; selbst die Seite mit den Gästen, die absolut nichts mit dem Arcānum zu tun hatten. Das stete Geräusch der Dartpfeile, die in die Scheibe trafen, verklang, und das Klicken der aneinanderstoßenden Billardkugeln verhallte.

Alle kannten die Wahrheit über den Silber-Serienmörder, Sages ersten Fall mit Oren. Sie wussten, dass es ihr Freund Harland gewesen war. Dass er sie beinahe mit einem silbernen Dolch umgebracht hätte, bevor Oren sie gerettet und stattdessen ihn getötet hatte. Die Geschichte hatte über eine Woche lang die Titelseiten aller Zeitungen im Unten beherrscht.

Sage fing ein paar unbehagliche Blicke auf. Sah ein paar Anwesende hemmungslos grinsen.

Hozier warf Flora einen Satz an den Kopf, bei dem Sage normalerweise laut aufgelacht hätte. Aber es half nichts. Ihr Gesicht brannte. Roderick hätte sie in sein Büro bestellen und ihnen diesen Fall diskret übergeben können. Aber er hatte sich entschieden, es hier zu tun, vor dem gesamten Team. Und dabei grinste er wie ein räudiger Straßenkater.

Doch es war Berions Stimme, die alle übertönte.

»Tja, ich kannte Harland ebenfalls«, sagte er. »Oder sollte ich besser sagen Liam MacAllister. Ich habe mich so oft mit ihm unterhalten, dass ich vermutlich auch hätte merken müssen, dass er ein Mörder war. Immerhin bin ich schon seit einem Jahrhundert in diesem Geschäft, wohingegen Sage noch nicht mal sechs Monate dabei ist.« Berion fixierte Roderick, seinen Partner – auch das war eine lange Geschichte. Das Lächeln wich vom Gesicht ihres Captains. Dann schaute Berion zu Flora. »Was meinst du?«

»Was meine ich wozu?«, gab sie schmallippig zurück. Die Schadenfreude war ihr vergangen, nun, wo sie sich einem Gegner gegenübersah, den sie nicht schlagen konnte.

»Sollte ich nicht auch einen Teil der Schuld auf mich nehmen, weil ich nicht gemerkt habe, dass Liam MacAllister ein Mörder war?«, fuhr Berion fort. »Und Hozier ebenfalls? Sie hat ihn auch kennengelernt.« Sein Lächeln wurde mild. »Was ist mit Oren? Mach schon, Flora, sag Oren, dass er hätte erkennen müssen, wer Liam MacAllister war.«

Flora rief puterrot an und sagte nichts.

»Ja, das dachte ich mir.« Er lächelte.

Hozier schnaubte in ihr Weinglas.

Dabei war Oren eigentlich der Einzige gewesen, der Harland von Anfang an nicht hatte leiden können.

»Sage, du wirst morgen Mittag in den Alpen erwartet«, verkündete Roderick mit einer gewissen Endgültigkeit in der Stimme. »Komm erst zurück, wenn die Sache geregelt ist … Und versuch, weiteren silbernen Dolchen aus dem Weg zu gehen.«

Noch ein Schlag in den Magen. Die Narbe auf ihrer Brust pochte: eine Erinnerung daran, was der silberne Dolch ihr angetan hatte. Der dumpfe Schmerz verging nie.

Wie lange würde sie in Frankreich bleiben müssen? Was war mit P? Der Gedanke an einen neuen Fall – noch dazu einen großen, wie es klang – löste einen kleinen Anflug der Aufregung in ihr aus, aber sie war seit dem Tod ihrer Eltern nie länger als eine Woche von ihrer besten Freundin getrennt gewesen. Selbst nach ihrer Verwandlung hatte sie P an den Wochenenden im Oben gesehen. Es gefiel ihr nicht, sie zurückzulassen.

»Keine Sorge.« Oren knallte das leere Glas auf den Tresen. »Ich habe nicht vor, dich sterben zu lassen.«

»Du gehst nicht mit«, sagte Roderick grinsend.

»Wie bitte?«

»Ich werde euch nicht beide an eine Gruppe Werwölfe vergeuden, die sich nicht benehmen können. Du hast immer darauf bestanden, allein zu arbeiten, Oren, also wirst du für ein paar Wochen ohne sie auskommen.«

Sie sah, wie seine Rückenmuskeln sich anspannten, und spürte, wie der gesamte Raum den Atem anhielt.

»Du würdest andere Teams auch nicht trennen, Roderick«, erwiderte Oren ruhig. »Du versuchst, sie in eine unmögliche Lage zu bringen, um etwas zu beweisen. Du benimmst dich wie ein Arschloch.«

Ein paar der Umstehenden keuchten unterdrückt auf.

Jemand kicherte, und Sage konnte sich nur zu gut vorstellen, wer.

Roderick richtete sich auf und reckte das Kinn. »Ich bin dein Captain, und ich sage dir, dass du nicht mitgehen wirst.«

Oren zuckte nicht mal mit der Wimper. »Und wie willst du mich aufhalten?«

Roderick starrte ihn an.

Sage starrte ihn an.

Die Scharade, dass Roderick sein Vorgesetzter war, spielte Oren nur deshalb seit mehr als einem Jahrhundert mit, weil die Alternative gewesen wäre, wieder ein Profikiller der Cariva zu werden. Aber jetzt war Oren entschlossen, diese Autorität herauszufordern: Niemand hatte wahre Kontrolle über ihn. Niemand außer den acht uralten Hexenmeistern und Hexenmeisterinnen – die Ältesten – auf der anderen Seite der Welt. Und er tat es für Sage.

Sie sah den Zwiespalt in Rodericks Augen. Er hatte bisher nicht wirklich verstanden, dass die Sache mit Sage eine Schlacht war, die er nicht gewinnen konnte. Aber wie sollte er diese Herausforderung vor allen anderen durchgehen lassen?

Vielleicht hätte er sie doch besser in sein Büro bestellt?

»Oren.« Sie legte eine Hand an seinen Ellbogen, bevor sie Sache noch eskalierte.

Einen Herzschlag lang passierte nichts … dann nickte er. »Wir müssen heute Abend noch packen, wenn wir morgen bis Mittag da sein wollen«, sagte er. »Gehen wir?«

»Lass sie doch noch austrinken«, sagte Berion und reichte Sage das große Glas Wein, das er ihr bereits eingeschenkt hatte. Dabei warf er Oren einen bedeutungsvollen Blick zu. Orens Ruf war über Jahrzehnte hinweg sorgfältig gepflegt worden, aber Sage war noch dabei, sich ihren aufzubauen. Wenn sie jetzt mit ihm ginge, würde es aussehen, als würde sie gedemütigt und aufgelöst die Flucht ergreifen. »Ich begleite sie danach nach Hause.«

Oren nickte wieder und shiftete aus der Bar. Hinter ihm verblasste seine goldene Magie. Die Unterhaltungen wurden wieder aufgenommen. Nun, wo Sages Demütigung beendet schien, erwachte der Raum wieder zum Leben.

Berion wandte Roderick den Rücken zu und bedachte Flora gleichzeitig mit einem für ihn ungewöhnlich schamlosen Schimpfwort. Roderick stürmte davon. Hozier erwiderte Sages unbehagliches Grinsen.

Wie sich herausgestellt hatte, führte Berion schon seit über fünf Jahrzehnten vor ihre aller Nasen eine On-Off-Affäre mit seinem Boss. Offenbar wollte Roderick etwas Ernsteres, aber Berion hatte abgelehnt, denn wenn es zwischen ihnen nicht klappte, würden sie trotzdem noch Teammeetings zusammen abhalten müssen. Doch er hatte zugestimmt, das mit ihnen offiziell zu machen, sobald Sage ihren Job bekam. Als Berion ihr von seiner Forderung erzählt hatte, war ihr dieser Handel unangenehm gewesen, und außerdem hatte sie die gesamte Beziehung geschockt … Aber sie hatte gleichzeitig das Gefühl gehabt, dass sie die Ausrede war, die Berion brauchte, um den Sprung zu wagen, ohne dass es seinen Stolz verletzte. Deshalb hatte sie es gut sein lassen.

Sie hasste Roderick und er hasste sie. Aber so entsetzt sie auch darüber war, dass jemand, der so liebevoll, lustig und selbstbewusst war wie Berion, mit jemandem wir Roderick zusammen war, verstand sie doch auch – nur zu gut –, dass das Herz manchmal seinen eigenen Willen hatte. Auch wenn es nicht wirklich … richtig erschien. Sie mochte Roderick zwar nicht, aber sie würde Berion nicht zwingen, sich zwischen ihnen beiden zu entscheiden.

»Versprich mir, dass du jeden Abend nach P siehst«, sagte sie und lehnte sich seufzend gegen den Tresen.

»Ich könnte bei ihr einziehen, bis ihr zurück seid«, bot Hozier an. »Dann ist sie abends nicht so allein.«

»Bist du sicher?«

Sage wusste, dass das vermutlich Hoziers persönliche Vorstellung eines Albtraums war. Sie hatten Hozier ins Herz geschlossen und umgekehrt; sie kam oft abends vorbei, um Ps Essen zu genießen, aber Sage wusste auch, wie sehr sie es schätzte, ihren eigenen Rückzugsraum zu haben. Genau wie Berion. Die beiden waren so erbittert unabhängig, dass sie selbst nach Jahrzehnten loyaler Partnerschaft lieber in angrenzenden Apartments wohnten als zusammen, wie die meisten Arcānum-Partner.

Hozier zwinkerte ihr zu. »Natürlich. Und Sage, sie wird damit klarkommen. Es ist ja nur für ein paar Wochen.«

Sage spürte, wie die Gereiztheit immer noch in Wellen von Berion abstrahlte. Also winkte sie dem Geist hinter dem Tresen zu, ihnen eine Runde Tequila einzuschenken. »Es ist schon gut, Berion.«

»Das ist es nicht«, murmelte er und wandte sich vom Tresen ab. Zu dritt bildeten sie einen kleinen Kreis und stießen mit ihren Shotgläsern an, dann stürzten sie den Tequila hinunter und verzogen angeekelt das Gesicht.

Hurgh. Sie erschauderte. »Es ist mir egal.«

»Ist es nicht.« Er verdrehte die Augen.

»Ich bin mehr davon genervt, dass Flora sich wie die weltgrößte Zicke verhält«, gab sie leise zu.

Hozier wischte ihren Ärger weg. »Ach, ignorier sie. Die Schlacht hast du bereits gewonnen …«

»Und welche Schlacht wäre das genau?«, fragte Flora hinter ihnen.

Sage

Als Sage sich umdrehte, sah sie blanke Wut in Floras Augen. Sie hatten sie vor Oren gedemütigt. Vor dem gesamten Pub. Und offenbar war sie nicht bereit, das auf sich beruhen zu lassen.

»Ach Flora, verpiss dich.« Hozier rollte mit den Augen. »Das Spektakel ist vorbei. Lass uns in Ruhe was trinken.«

Aber Flora fixierte Sage. Die erwiderte ihren Blick und nippte an ihrem Wein.

»Du trinkst mit den Hexenmeistern«, stieß Flora unterdrückt aus. »Reicht es nicht, dass du mit uns arbeitest?«

Beinah hätte Sage gelacht. Der Tequila war ihr direkt zu Kopf gestiegen. »Um ehrlich zu sein, ich trinke mit Freunden …« Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

Freunde. Zu denen du nicht gehörst. Also verschwinde.

»Ignorier sie, Sage«, sagte Hozier laut und drehte Flora den Rücken zu, sodass ihr der Zutritt zu der kleinen Gruppe verwehrt wurde.

»Freunde?« Die falsche, mädchenhafte Stimme hallte durch die Bar. »Sie wissen es also?«

»Sie wissen was?« Sage gähnte.

»Tja, ich habe gehört, dass der kleine Poltergeist, mit dem du zusammenwohnst, nur im Unten ist, weil du ihn umgebracht hast.«

Sage erstarrte.

Die Welt um sie herum erstarrte.

Totenstille senkte sich über den Raum.

Der Boden verschwand unter ihren Füßen, während das Herz in ihrer Brust beinahe aufhörte zu schlagen. Sie war aus Floras Mund auf vieles gefasst gewesen, aber das hier gehörte nicht dazu. Niemals. Dieses Geheimnis war zu schmerzhaft, zu grauenvoll, und es war nicht an Flora, ja nicht einmal an ihr selbst oder sonst jemandem, es zu erzählen.

Woher wusste sie das überhaupt? Wo hatte sie davon gehört? Ihr Herz fing wie wild an zu schlagen und das Blut rauschte in ihren Ohren. Und Flora merkte es sofort. Sie sah, dass sie den Jackpot geknackt hatte, und ihr spöttisches Lächeln wurde zu einem breiten, katzenhaften Grinsen.

Berion erholte sich als Erster. Seine sonst so teilnahmslose Miene wurde zur zornigen Grimasse. »Ich schwöre bei den Göttern, Flora …«, er zeigte mit einem reich beringten Finger, der anfing, violett zu glühen, auf ihr Gesicht, »… das war selbst für dich unterirdisch.«

»Tja, Sage, aber entspricht es nicht der Wahrheit?«

Sie konnte nicht reden. Sie wusste, dass sie es sollte. Dass sie es abstreiten musste, bevor es zu spät war. Aber der Kloß, der sich in ihrer Kehle bildete, war so groß, dass sie kaum atmen konnte. Oder ihren Mund öffnen.

»Sie war deine Freundin, oder nicht?« Flora presste sich in gespieltem Entsetzen die Hand auf die Brust, aber dabei kicherte sie. »Davor, meine ich. Bevor du sie zerfleischt hast. Echt brutal.«

»Verpiss dich, Flora«, zischte Hozier. »Natürlich hat sie P nicht …«

Aber ihre Stimme verebbte, als sie ihre Freundin anschaute. In Sages Augen brannten Tränen, als sie den Moment registrierte, in dem Hozier erkannte, dass es die Wahrheit war. Ihre Augen wurden groß und der Mund blieb ihr offen stehen.

Unter all den entsetzten Blicken hämmerte Sages Herz weiter in ihrer Brust. Sie konnte nicht atmen. In ihren Ohren rauschte es immer noch. Ihr Gesicht brannte.

Scham.

Scham und Demütigung und Schuldgefühle fluteten sie, während ein ganzer Raum voller Hexenmeister und Hexenmeisterinnen sie anstarrte. Sie war nicht sicher, ob die Welt um sie herum anfing, sich zu drehen, oder ob sie kurz vor einem Zusammenbruch stand. Floras Lachen drang von weit her an ihr Ohr. Ihr eigener Atem ging flach, ihr Brustkorb schnürte sich zu, und sie spürte, wie sich Schwindel hinter ihren Augen aufbaute.

Sie musste hier raus. Auf keinen Fall durfte sie jetzt ohnmächtig werden.

Sie wollte zu Boden sinken und erneut sterben. All ihre grauenhaften, furchtbaren Erinnerungen blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Blut. Aufgerissene Haut. Ihre Eltern. Ihr Bruder. Selbst der Wolf, den sie getötet hatte, um Oren zu schützen.

»Tja, jetzt ist das Geheimnis raus.« Flora seufzte dramatisch. »Sie hatten es verdient, zu erfahren, was für eine Freundin du wirklich bist. Genau genommen tue ich ihnen einen Gefallen.« Sie gab ein theatralisches Keuchen von sich. »Warte nur, bis Oren davon erfährt.«

Als die Tränen anfingen zu fließen, stellte Sage ihr Weinglas ab und wandte sich zur Tür.

»Sage, warte!«, rief Hozier.

Aber das konnte sie nicht. Sie floh unter dem Lärm von Floras hämischem Gegacker.

»Werwölfe. Sie hatte sich so wenig unter Kontrolle, dass sie sogar ihre beste Freundin getötet hat. Das ist wirklich erbärmlich.«

Erbärmlich.

Hatte sich so wenig unter Kontrolle, dass sie sogar ihre beste Freundin getötet hat.

Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, und Floras hohe, klingelnde Stimme lief ihr wie ein Schauder über den Rücken.

Ihr Körper zuckte in dem gleichzeitigen Impuls, zu fliehen und zu erstarren.

Und es erwachte in ihr.

Hatte sich so wenig unter Kontrolle, dass sie sogar ihre beste Freundin getötet hat.

Armselig.

Armselig.

Ihr war nicht bewusst, was passierte, bis es zu spät war. Sie hatte nicht wirklich daran gedacht. Nicht bis der Schmerz der Verwandlung durch ihren Körper raste. Sie jaulte gequält auf. Die Kleidung fiel in Fetzen von ihr ab, als das, was als Schmerzensschrei begonnen hatte, in einem wütenden Knurren endete. Gigantische weiße Pfoten landeten auf dem klebrigen Boden der Bar.

Floras Lächeln schwand von ihren Lippen.

Berion hatte bereits einen Arm um Hozier gelegt und zog sie von dem fort, was auch immer als Nächstes kommen würde. Aber Sage war zu schnell. Sie berührte kaum den Boden, als sie in einem riesigen Satz den Raum durchquerte, die Zähne gefletscht und bereit, Flora die Kehle herauszureißen. Wie bei dem Wolf, den sie für Oren getötet hatte. Sie hatte geschworen, das nie wieder zu tun …

Aber es war ihr egal.

Sie würde diese Schlampe umbringen.

Das Blut rauschte durch ihre Adern.

Rufe ertönten. Schreie. Sie hörte Glas zu Boden fallen und zersplittern. Sie sah Lichtblitze, als Hände sich mit Magie ­entzündeten. Aber niemand war schnell genug für sie. Nicht jetzt, wo sie mächtig und ganz war. Ihr Blick war auf ihr Ziel gerichtet, und nichts würde sie aufhalten. Sie landete auf Flora, warf sie zu Boden und presste die Pranken auf ihre Schultern.

»Sage!«

Die Stimme war ganz ruhig – nicht wie die keuchenden Atemzüge der anderen, die entsetzt zuschauten, oder die wimmernden, unzusammenhängenden Schluchzer des Körpers, der unter ihr gefangen war. Diese Stimme fürchtete niemanden. Und schon gar nicht sie.

Diese Stimme holte sie zurück.

Die Kiefer, die bereit gewesen waren, Floras Knochen zu brechen, hielten eine Haaresbreite vor ihrem Gesicht inne. Flora hatte die gelben Augen fest zusammengekniffen.

Gut. Sie sollte wissen, dass sie nur wenige Millimeter vom Tod entfernt war. Sie sollte die rasiermesserscharfen Reißzähne nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt spüren. Sie sollte um ihr Leben betteln.

Der Rest der Gäste war immer noch wie erstarrt, aber Sage spürte, wie die Magie im Raum schnell gelöscht wurde. Der Wächter des Monsters war eingetroffen, um sich darum zu kümmern, und niemand würde sich ihm in den Weg stellen.

»Lass sie los, Sage.« Orens Stimme war jetzt näher. Sie keuchte immer noch, ihre Brust hob und senkte sich vor Wut und Scham und allem dazwischen. »Sie ist es nicht wert. Lass sie gehen.«

Sie ignorierte ihn; war immer noch bereit, es zu tun. Sie wollte es. Es war ihr egal. Sie hatte für Oren getötet. Flora würde sie für sich selbst umbringen.

Sie hat P getötet.

Der Schmerz in ihrem Herzen fühlte sich an, als könnte er sie vernichten.

Sie spürte eine Hand auf dem Fell in ihrem Nacken, die sie daran erinnerte, die Kontrolle zu behalten. Und daran, dass er bei ihr war. Dass sie niemals Angst haben musste, selbst wenn er nicht bei ihr war.

Es ist vorbei. Es ist nicht wichtig. Es ist mir egal.

Erneut wallte die Scham in ihr auf.

Sie ließ zu, dass er sie zurück- und an seine Seite zog. Sein Griff entspannte sich erst, als ihr Kopf auf Höhe seiner Schulter war.

Er schaute sich im Raum um. »Was zum Teufel ist hier los?«

»Sie hat mich angefallen!«, kreischte Flora, die aufsprang und anklagend mit dem Finger auf Sage zeigte. Sie nutzte den Moment, damit Sage nicht zuerst antworten konnte. »Die Schlampe hat mich angegriffen!«

»Du hast angefangen!«, rief Hozier mit schriller, vor Angst zitternder Stimme. Eine Angst, die Sage verursacht hatte. Ihre Scham wurde noch größer. Aber Hoziers entsetzter Blick galt Flora, und das war Sages einzige Rettung: dass ihre Freundin von Flora angewiderter war als von ihr.

»Ich habe nur die Wahrheit gesagt!«, schrie Flora keuchend. Ihr Make-up war verlaufen und ihr T-Shirt über die Schulter gerutscht. »Sie ist ein mordender Hund!«

Wieder sprang Sage vor. Oder sie versuchte es zumindest, aber etwas wand sich stark und doch sanft um ihren Hals.

Oren sah sie nicht einmal an. Sein Gesicht blieb eine Maske der Ruhe, während er Flora anschaute. »Was hast du gerade gesagt?«

»Die Wahrheit«, gab sie schnippisch zurück; sie fühlte sich sicher, weil Orens Magie ihre Angreiferin zurückhielt. »Sie hat diesen Poltergeist umgebracht, mit dem du zusammenlebst, wusstest du das? Das ist beinahe drei Jahre her.« Sie sah ihn aus großen Augen an und forderte ihn förmlich heraus, sie eine Lügnerin zu nennen. »Guck es ruhig nach, wenn du mir nicht glaubst, Oren. Es ist alles wahr!«

»Wer hat dir das erzählt?« Er machte einen Schritt auf Flora zu.

»Das habe ich in der Gerüchteküche gehört.« Sie zuckte mit den Schultern und zog ihr T-Shirt hoch. Dann veränderte sich ihre Haltung, als ihr etwas klar wurde. »Du … du hast es bereits gewusst?«

»Natürlich habe ich es gewusst!«, brüllte er.

Flora zuckte zusammen. Alle im Raum zuckten zusammen. Dann schnellte etwas aus seiner Hand hervor. Lang und stählern. Der gesamte Pub schreckte zurück, als er mit der Spitze seines Dolches auf Floras Gesicht zeigte. »Ich werde dich nicht noch mal fragen: Wer hat dir davon erzählt? Denn von mir kam es nicht, und ich bin mir sicher, dass P sich dir auch nicht anvertraut hat. Also … wer zum Teufel war es?«

Den Blick unverwandt auf den Dolch gerichtet, öffnete und schloss Flora den Mund. Dann schluckte sie, aber bevor sie antworten konnte, gab es eine Bewegung. Nur eine kleine. Eine Hand, mit der sich jemand an der Nase kratzte.

Oren schien es auch gespürt zu haben. Er ließ seinen Blick schweifen, genau wie Berion.

»Du warst es«, stieß Berion mit leiser Stimme aus und starrte seinen Freund an.

Rodericks Gesicht war wie versteinert. »Nein.«

Oren richtete den Dolch auf seinen Boss. »Bullshit.«

»Warum sollte ich etwas darüber wissen?«, fragte Roderick.

»Weil du uneingeschränkten Zugang zu jeder Akte im Archiv hast. Selbst zu denen der Mitglieder«, sagte Berion und trat neben Oren. Es war ein Akt, der alles sagte. »Du kannst dir Sages Akte aus dem Bereich mit beschränktem Zugang holen. Wir nicht. Nicht einmal Hozier.«

Hozier, die immer noch an der Bar stand, nickte. Eine Bestätigung, dass Roderick erst kürzlich besagten Bereich aufgesucht hatte – was von ihr sorgfältig dokumentiert worden war. »Letzten Mittwoch«, formte sie stumm mit den Lippen in Richtung ihres Partners.

»Sie ist nur ein Werwolf«, gab Roderick nach und zuckte mit den Schultern. »Sie wird innerhalb weniger Jahrzehnte sterben. Es ist keine große Sache.«

Roderick hatte also die tatsächliche Leiche in ihrem Keller gefunden und auf die richtige Gelegenheit gewartet, dies zu enthüllen. P war bei Vollmond gestorben; in der einzigen Nacht, in der Werwölfe nicht vollumfänglich für ihre Taten verantwortlich waren, deshalb war es nicht illegal gewesen. Aber er hatte Sage den größtmöglichen Schmerz und die größte Demütigung verursachen wollen. Und heute Abend, durch die wütende Flora, hatte er die perfekte Gelegenheit gesehen.

Als Berion sich umdrehte, um Sage anzuschauen, rollte eine einzelne Träne über seine porzellanweiße Wange. »Es tut mir leid«, flüsterte er.

Aber sie konnte ihm nicht antworten. Sie konnte nur in seine weißen Augen schauen, die voller Mitleid und Schuldgefühlen waren. Sie wusste nicht, ob Oren sie von seiner Magie erlöste oder ob Berion seine eigene nutzte, um die Fesseln zu überwinden, aber mit einem Mal konnte sie sich wieder bewegen. Sie trottete zu ihrem Freund und presste ihre Schnauze an seine Wange; die einzige Geste der Freundlichkeit, zu der sie fähig war.

»Sieh dich an«, murmelte er ihr anerkennend ins Ohr. »Du bist ein Monster.« Lächelnd zog er sich ein Stück von ihr zurück, doch das Lächeln wirkte erzwungen. »Komm. Wir bringen dich nach Hause.«

Sie wusste, dass er genauso schnell wie sie hier rausmusste, also senkte sie den Kopf und ließ sich von ihm in Richtung Tür führen, vorbei an den starrenden roten Augen des Mottenmannes, der zumindest so mutig gewesen war, zu bleiben und zuzuschauen. Die meisten der anderen Gäste hatten sich längst eilig verzogen.

Berion hielt nur einmal inne, um sich zu bücken und ihre Kette zwischen den Fetzen ihrer Kleidung aufzuheben. Den Mondstein, den Oren ihr geschenkt hatte und den sie niemals abnahm. Ihr Herz zog sich zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn beinahe verloren hätte. Er steckte ihn zur sicheren Aufbewahrung in seine Tasche.

»Du kannst sie nicht immer beschützen, Oren«, spuckte Flora irgendwo hinter ihnen aus.

Während Berion für Sage die Tür öffnete, hörte sie Orens vor unterdrückter Wut zitternde Stimme.

»Keine ihrer Taten könnte jemals schlimmer sein als die Dinge, die ich getan habe. Ich werde niemals an dir interessiert sein, Flora, und das hat nichts mit ihr zu tun. Es liegt daran, dass du durchgeknallt bist. Wenn du so etwas wie heute noch mal machst, bringe ich dich persönlich um.«

Oren

Obwohl er inzwischen mit Sage und P zusammenlebte, hatte er seine alte Wohnung nicht verkauft. Er wusste nicht wirklich, warum. Vielleicht weil er an einigen Tagen von dem Duft von Essen und dem Klang von Lachen erwachte und immer noch dachte, dass das alles zu gut war, um wahr zu sein. Dass es bald enden würde. Und wenn es so weit wäre, könnte er zu seinem einsamen Apartment zurückschleichen.

Er war Berion und Sage nicht gefolgt. Er hatte Zeit gebraucht, um sich zu beruhigen. Um nachzudenken. Nun war eine Stunde vergangen.

Er hätte Flora umbringen können. Er hätte es tun sollen. Die uneingeschränkte Lizenz der Cariva erlaubte ihm, zu töten, wen er wollte, und niemand, nicht einmal Roderick, konnte etwas dagegen tun. Aber das hätte die ganze Sache nur schlimmer gemacht. Er wusste bereits, dass er das, was Roderick getan hatte, vergessen musste, um sicherzustellen, dass Sage für den heutigen Abend keine Konsequenzen drohten. Flora hatte jede Minute davon verdient … aber wenn ein Mitglied des Arcānums eine Kollegin auf diese Weise an einem öffentlichen Ort angriff, war das dennoch Grund für eine Entlassung.

Er würde abwarten.

Eines Tages würde er Roderick bei lebendigem Leib häuten.

Das hatte er bereits oft genug getan und seine Fähigkeiten perfektioniert. Er würde sicherstellen, dass dieser Hexenmeister ein langsames und quälendes Ende fände.

Für den Moment musste er es jedoch gut sein lassen. Vielleicht war ihr Straftrip ins Juragebirge insgeheim ein Segen. Er würde Sage von hier wegbringen. Und wie hieß es doch so schön: aus den Augen, aus dem Sinn.

»Soso …«, erklang eine Stimme von der Tür.

»Was?« Er rührte sich nicht von seinem Platz am Esstisch. Er hatte die Tür nicht mit Magie verschlossen, weil er damit gerechnet hatte, dass früher oder später jemand vorbeischauen würde.

»Sie ist also ein weißer Wolf.« Die Sohlen von Berions teuren Schuhen klackerten, als er die dunkle Wohnung durchquerte. »Was … selten ist.«

»Ich weiß.« Er trank einen Schluck aus dem Glas, in das er gestarrt hatte. Die Flüssigkeit brannte in seiner Kehle. »Ich hatte nicht vor, das irgendjemanden sehen zu lassen. Sie verwandelt sich immer nur zu Vollmond, deshalb hätte das nicht allzu schwer sein sollen.«

»Das ist der wahre Grund, warum sie sich nicht freiwillig verwandelt, oder?«, fragte Berion. »Schuldgefühle.«

Er nickte.

»Tja.« Berion setzte sich ihm gegenüber, und auch vor ihm tauchte ein Glas auf. »Das war vermutlich auch das Einzige, das sie dazu hätte bringen können, jemanden in einer Bar voller Arcānums zu töten …« Er seufzte. »Sage hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, ›um zu packen‹, und P macht sich Sorgen, weil du nicht nach Hause gekommen bist. Ich habe gesagt, dass ich dich suchen gehe.«

Endlich schaute Oren ihn an; der weißäugige Hexenmeister sah abgezehrt aus. »Ich wusste, dass Roderick sie nicht mag, aber ich hätte nie geglaubt, dass er …«

Oren schüttelte den Kopf. Er wollte es nicht hören. Er wusste, dass Berion mit seiner Entscheidung, den Pub mit Sage zu verlassen, auch über seine Beziehung mit Roderick entschieden hatte. Und das reichte.

Für eine Weile saßen sie schweigend da.

»Weiß sie es?«, fragte Berion schließlich. »Wie sie … zu so einer Art Wolf geworden ist?«

Er schüttelte den Kopf. Erinnerungen an Liam MacAllisters Vater – den Alpha des Rudels – hallten in seinen Ohren.

Echte weiße Wölfe sind selten. Man sagt, sie wären von Mondmagie berührt.

»Sie kennt natürlich die Geschichte von Amhuinn. Und die der MacAllister-Familie. Sie weiß, dass Amhuinn versucht hat, illegale, magische Werwolfhybriden zu erschaffen, und dass Liam MacAllisters Vater ihm die Erlaubnis gegeben hat, Experimente an seinen Kindern durchzuführen. Und dass Liam – oder Harland, wie wir ihn kannten –, soweit wir wissen, der einzige überlebende Hybrid war. Sie weiß auch, was ich mit dem Rest von ihnen getan habe.«

»Und sie hat die Verbindung nicht hergestellt? Oren, wenn Sage eine … wenn sie eine von Amhuinns ursprünglichen Kreationen ist …«

Ein Krachen hallte durch den Raum, als Orens Faust auf den Tisch schlug. »Wenn sie es ist und die Ältesten davon erfahren, werden sie ihre Hinrichtung verlangen. Sie werden verlangen, dass ich sie hinrichte. Amhuinns Methode zur Erzeugung der Hybriden ist illegal. Sie wäre illegal. Sie würden nicht zulassen, dass sie am Leben bleibt.«

Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit. Noch mehr Blut. Mehr letzte Worte und Hinrichtungsrechte.

Sage.

Aufblitzendes Rot. Blut sammelte sich unter Hoziers zitternden Händen und strömte in Bächen über Sages Körper.

Er erschauderte.

»Das wollte ich gar nicht sagen«, erwiderte Berion leise.

»Was dann?«, fragte er lauter als beabsichtigt. Die Wut, die in ihm brodelte, fühlte sich unkontrollierbar an.

»Wenn sie von einem Hexenmeister – Amhuinn – verwandelt wurde, wenn sie im Besitz von sowohl unserer Magie als auch von Mondblut ist, dann ist sie eine von uns.«

»Sie würden niemals akzeptieren …«

»Nein, Oren. Ich meine, sie hat beinahe das richtige Alter. Sie … Oren … sie könnte setteln.«

Etwas zersprang in seiner Brust.

Settling war ein Ausdruck der Hexenmeister für den Prozess, der das Altern um Jahrtausende verzögerte. Hexenmeister waren nicht wirklich unsterblich, aber annähernd. Oren hatte nicht mal gewagt, daran zu denken.

Es wäre gefährlich und sie müsste ihr ganzes Leben verbergen, was sie war, aber es wäre die Antwort auf ihre Gebete. Endlich wären all die Nächte Vergangenheit, in denen er wach gelegen und sich gefragt hatte, ob er sie hätte sterben lassen sollen, ob er hätte zulassen sollen, dass sie sich in einen Geist verwandelte, anstatt die Einzige von ihnen zu sein, die dahinsiechen und altern würde. Ein paar Hundert Jahre würden ausreichen. Zeit, die sie gemeinsam verbringen könnten und …

Es machte ihm panische Angst. Der Gedanke, zu hoffen und sich zu irren.

Unfähig, etwas zu sagen, schüttelte er den Kopf.

»Ist das nicht das, was du wolltest?«

Wieder schüttelte er den Kopf.

Berion stieß ein Zischen aus. »Lüg mich nicht an!« Er ergriff so heftig Partei für Sage, dass Wut in seiner erschöpften Miene aufblitzte.

Und Oren merkte, dass er dafür dankbar war. Er hatte Sage und Berion beobachtet, wenn sie zusammen waren, und er wusste, dass ihre Freundschaft echt war. Er wusste, dass er die meisten ihrer anderen Freunde vertrieben hatte, weil sie Angst vor ihm hatten. Die Freundschaft zu Berion zuzulassen, war das Einzige, das er tun konnte, um das wiedergutzumachen.

»Ich habe gehört, wie sie dich angefleht hat, sie sterben zu lassen, damit du nicht zusehen musst, wie sie altert«, fuhr Berion fort. »Ich habe gehört, wie du sagtest, das wolltest du auch nicht.«

»Na und?«, gab er zurück. »Sie hat überlebt. Ich habe sie gerettet – wir alle zusammen. Diese Nacht ist Geschichte …«

»Und wie oft hast du es seitdem bereut?«

»Ich bereue es nicht.«

»Unsinn.«

»Was willst du von mir hören?« Er hatte schon wieder das Gefühl, gleich zu explodieren. »Dass ich wünschte, sie wäre tot?«

»Du sollst zugeben, dass du in sie verliebt bist.« Berion reckte das Kinn und forderte ihn heraus, es abzustreiten. »Und dass das dein Urteilsvermögen trübt.«

Oren erstarrte.

Berion lachte bitter auf. »Oren Rinallis, der Hexenmeister mit dem Herzen aus Eis, taut endlich auf. Und du hast gedacht, niemand würde es bemerken?«

Er wusste nicht, warum die Wahrheit ihn so zornig machte.

»Ich bin eines Morgens hergekommen, um dir die Ergebnisse eines alten Falles mitzuteilen. Weißt du noch?« Mit einer müden Handbewegung füllte Berion sein Glas erneut. »Und du hast mir erzählt, dass sie am Abend zuvor einen Werwolf getötet hatte, um dein Leben zu retten. Und du hast versucht, zu verbergen, dass du außer dir warst vor Angst. Anfangs habe ich es nicht verstanden. Sie hatte einen Wolf getötet, aber du hast viel Schlimmeres getan. Sie selbst war als Wolf keine Bedrohung für dich; du hättest sie im Handumdrehen töten können. Also wovor hattest du solche Angst?«

»Ich habe vor gar nichts Angst.«

Berion schüttelte traurig den Kopf. »Diese Tat hat ihre Gefühle für dich ausreichend deutlich gemacht. Und mir wurde klar, dass du angefangen hattest, dich zu fragen, ob auch du Gefühle für sie hast.« Er lächelte. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie am Abend des Mondballs wunderschön aussah. Ich wollte dir einen kleinen … Schubs in die richtige Richtung geben.«

Sie war wirklich wunderschön gewesen. Er hatte es in ihrem Gesicht gesehen, dass sie sich zum ersten Mal wirklich schön gefühlt hatte, und das hatte ihr einen Glanz verliehen, den er nie zuvor bemerkt hatte. Ein Selbstbewusstsein, von dem ihm bis zu diesem Moment nicht bewusst gewesen war, dass es ihr gefehlt hatte. Er hatte seit Jahrzehnten nicht mehr an die Haarkunst seines Volkes gedacht, aber an jenem Abend hatte er gesehen, dass ihr Haar genau so geflochten sein sollte.

Berion zuckte mit den Schultern. »Du sagst, du hast vor nichts Angst. Aber das Geräusch, das du von dir gegeben hast, als sie im Sterben lag und du keine Magie hattest, um sie zu retten – das war Angst. Ich wusste in dem Moment, dass du akzeptiert hattest, sie auch zu lieben.«

Der Kloß in seiner Kehle war schmerzhaft. »Sie würde das niemals auch nur in Erwägung ziehen.«

»Du hast ihr bisher nicht die Möglichkeit gegeben. Sie glaubt, sie wird sterben, während du für immer jung bleibst.«

»Das könnte ja auch passieren«, argumentierte er. »Selbst wenn sie ein Hybrid ist, ist das keine Garantie dafür, dass sie setteln kann. Sie könnte trotzdem in der Spanne eines Menschenlebens altern.«

»Aber was, wenn nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht riskieren, ihr falsche …«

»Sie hat ein Recht, es zu erfahren, Oren.« Berion klang wieder gereizt. »Hat sie irgendwelche anderen Anzeichen gezeigt? Irgendeine physische Magie?«

»Nicht so, wie wir sie benutzen. Ich habe keine Farbe gesehen.«

»Aber ihre Größe ist ein weiterer ziemlich guter Indikator.« Berion verzog das Gesicht. »Ich meine, sie ist riesig. Vor allem für eine so kleine menschliche Gestalt.«

Das war Oren auch klar. Es war kein definitiver Beweis, aber … die Größe eines Wolfes passte normalerweise zu der des Menschen.

»Und sie kann sich teilweise verwandeln«, sagte er. »Das habe ich schon gesehen. Sie kann menschlich bleiben, aber ihre Finger zu Klauen verwandeln oder Fangzähne und gelbe Augen bekommen, während ihr Gesicht unverändert bleibt.«

Berion verschluckte sich an seinem Wein. »Das ist nicht nur ein Zeichen, Oren, das ist unmöglich.«

»Sie ist sich dessen nicht bewusst.«

»Aha«, gab Berion zurück. »Das ist also noch etwas, das du ihr verschwiegen hast?«

Das und die andere Sache.

Wochenlang war er verwirrt gewesen und hatte sich gefragt, warum zum Teufel er eine ganze Palette an Gefühlen erlebte, die er sich nicht nur im Laufe vieler Jahrzehnte abtrainiert hatte, sondern die auch nicht ansatzweise zu der Situation passten, in der er sich befand. Es hatte eine Weile gedauert, bis er erkannt hatte, dass es gar nicht seine Gefühle waren … sondern ihre.

Empathie war keine der Fähigkeiten, die zur Magie eines Hexenmeisters gehörten wie das Shiften – nicht einmal in seltenen Fällen. Er hatte nicht gewagt, P oder Hozier zu bitten, dieses Phänomen zu recherchieren. Warum im Namen der Götter fühlte er also, was sie fühlte? Was auch immer da vor sich ging, es war ihm unheimlich. Er würde niemandem davon erzählen, nicht einmal Berion, bis er der Sache auf den Grund gegangen war.

»Sonst noch was?«, fragte Berion.

»Sie ist unbeständig«, sagte er langsam. »In letzter Zeit war es nicht leicht, mit ihr zu reden. Sie hat Stimmungsschwankungen. Ich sehe die Wut in ihrer Miene, und dann wachsen ihr Krallen, ohne dass sie es bemerkt. Kurz danach macht sie eine Hundertachtziggradwende und versteckt sich in dem Glauben, wir könnten sie nicht weinen hören.«

»Irrationale Wut, Stimmungsschwankungen, ungewöhnliches Verhalten … das sind alles Anzeichen fürs Settling, das weißt du.«

»Es sind außerdem Anzeichen für einen Menschen, der mit all den schlimmen Dingen nicht klarkommt, die ihm passiert sind«, merkte Oren an. »Posttraumatischer Stress. Davon ist P zumindest überzeugt.«

»Sage hat trotzdem das Recht, zu erfahren, dass sie ein Hybrid sein könnte.«

Oren schüttelte den Kopf. »Ich kann ihr nicht sagen, was ich vermute, um dann mit ihr ausgerechnet ins Juragebirge zu ziehen und zu erwarten, dass sie sich zusammenreißt – umgeben von Wolfsrudeln und Hexenclans.«

»Tja, das sehe ich anders. Und ich rate dir eindringlich, noch einmal darüber nachzudenken.« Berion seufzte tief. »Ich sag es dir ganz deutlich, Oren: Wenn du bis zu eurer Rückkehr wartest, werde ich es ihr selbst sagen. Ich dulde nicht, dass du sie noch länger im Dunkeln lässt. Sie muss es wissen. Und dann müssen wir planen. Denn wir werden die Sache nicht für immer geheim halten können. Nicht wenn sie wahre Magie entwickelt, mit Farbe und allem. Es wird unmöglich sein, dass zu verbergen, außer sie lernt, es zu kontrollieren, und das dauert Jahre.«

Trotz all der Wut, die in ihm kochte, wusste er, dass Berion recht hatte. Und dass sie seine Hilfe brauchten. Er konnte es nicht riskieren, wegen dieser Sache Brücken hinter sich abzubrechen.

»Na gut.«

Eine Weile saßen sie schweigend beisammen.

»Ich muss nach Hause.« Oren trank sein Glas aus.

Berion nickte. »Ich muss heute auch bei euch bleiben. Ich kann nicht nach Hause zurück. Roderick wird versuchen, mich abzupassen. Zuerst vermutlich bei Hozier, aber er wird es nicht wagen, bei dir aufzutauchen. Nicht nach dem, was heute Abend vorgefallen ist.«

»Sage würde nicht erwarten, dass du ihn verlässt.« Oren zog seinen Mantel an. Er konnte Berion immer noch nicht in die Augen schauen.

Berion wirkte angewidert. »Ich habe mehr Selbstachtung, als du mir zugestehst, Oren. Und wie es bei den Menschen so schön heißt: Bruder vor Luder.«

Oren schnaubte. Den Ausdruck kannte er.

»Hozier wartet mit P bei euch. Sie hat sie nach Hause begleitet, nachdem P erfahren hat, was passiert ist – P ist höchstpersönlich im Pub aufgetaucht, um Flora einen Drink ins Gesicht zu schütten.«

Sage

Ihr Körper stand in Flammen.

Auf dem Weg nach Hause hatte sie sich geweigert, sich zurückzuverwandeln. Berion hatte ihr angeboten, Kleidung oder zumindest einen Morgenmantel für sie zu zaubern, aber sie hatte sich entschieden, schweigend weiterzugehen. Und sobald sie zu Hause angekommen waren, war sie direkt nach oben gegangen und hatte es Berion überlassen, P die doppelte Hiobsbotschaft zu überbringen: dass sie und Oren losziehen müssten, ohne zu wissen, wann sie zurückkehren würden, und dass das gesamte Arcānum nun wusste, wie sie gestorben war.

Erst in der Sicherheit ihres eigenen Zimmers, nachdem die Tür krachend ins Schloss gefallen war, hatte sie sich zurückverwandelt. Als P ein paar Minuten später geklopft hatte, konnte sie kaum ihre hyperventilierenden, stummen Schluchzer weit genug unter Kontrolle bringen, um zu rufen, dass sie gerade packte und später zum Essen herunterkommen würde.

Zum Glück hatte P sie in Ruhe gelassen.

Also war sie auf die Knie gesunken, hatte ihren Kopf gegen das Bett gelehnt und geweint.

Eine Stunde oder so später hatte sie sich immer noch nicht vom Fleck gerührt. Die Tränen waren versiegt, aber der Schmerz in ihren Gliedmaßen, nachdem ihre Knochen gebrochen waren und sich zu einer anderen Form wieder zusammengefügt hatten, hatte sie mit voller Wucht erwischt.

Sie schloss die Augen und sah die Ereignisse wie in Endlosschleife durch ihren Kopf kreisen. Jeder Moment war schrecklich. Aber sie konnte nicht aufhören, alles wieder durchzugehen und sich damit zu quälen.

Es klopfte an der Tür, und als die Klinke sich bewegte, ohne dass der Anklopfer auf eine Einladung wartete, wusste sie, dass es nicht P war.

Inhalt

Cover

Amie Jordan –All the Lost Souls

Wohin soll es gehen?

Widmung

Motto

Oren

Sage

Sage

Oren

Sage

Sage

Sage

Sage

Sage

Oren

P

P

Sage

Oren

Oren

Oren

Oren

Sage

Sage

Sage

Sage

Sage

Oren

P

P

Sage

Sage

Oren

Sage

P

Oren

Sage

Sage

Sage

Sage

Sage

Sage

Sage

Sage

P

Oren

Oren

P

P

Oren

Oren

Oren

Oren

Oren

Oren

Sage

Danksagung

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Amie Jordan

Ivonne Senn

Impressum

Navigationspunkte

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Textbeginn

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