Alle unsere Farben - Michel Pastoureau - E-Book

Alle unsere Farben E-Book

Michel Pastoureau

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Beschreibung

Lieblingsfarbe? Bunt! Ein so persönliches wie allgemeingültiges Panoptikum über die Bedeutung der Farben in Alltag, Kunst und Geschichte. Ein vielfarbiges, freihändig erzähltes Sachbuch. Dass ein bestimmter Geschmack oder ein spezieller Geruch eine ganze Dominokette an Erinnerungen auslösen kann, dass das Gedächtnis eine sinnliche Erfahrung speichert und mit bestimmten Gefühlen verknüpft, ist in der Literatur oft beschrieben worden. Dass die verlorene Zeit jedoch ebenso spontan und scheinbar unwillkürlich mittels Farben und Formen wiedergefunden werden kann, zeigt Michel Pastoureau in diesem schillernd bunten anekdotischen Essay. Er erzählt von blauen Hosen und von Rotkäppchens Haube, von Trikots und Farbfilmen, von schwarzen Katzen und monochromen Menüs, von Mondrian und Vermeer, von Vierfarbkugelschreibern und Rotgrünblindheit. Wie beiläufig verbindet er in seinem kurzweiligen Parcours private Erinnerungen mit soziologischen, historischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Nach der Lektüre wird man die bunte Welt mit anderen Augen sehen!

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Lieblingsfarbe? Bunt! Ein so persönliches wie allgemeingültiges Panoptikum über die Bedeutung der Farben in Alltag, Kunst und Geschichte. Ein vielfarbiges, freihändig erzähltes Sachbuch.

MICHEL PASTOUREAU

Alle unsere Farben

Eine schillernde Kulturgeschichte

Aus dem Französischen von Andreas Jandl

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

Für Laure, für Anne

… bevor in der Ewigkeit der Stille die Farben unserer Erinnerungen vergehen.

Gérard de Nerval (in einem Brief an Paul Chenavard, April 1848)

Inhalt

Farben in der Erinnerung

Stoffe und Bekleidung

Im Anfang war das Gelb

Die Wechselhaftigkeit der Streifen

Der marineblaue Blazer

Subversive Hosen

Ein gewisses Blau

Vom Kleidungsstück zum Mythos

Die Farbe auf unserer Haut

Der gute neutrale Ton

Mitterrand-Beige

Schlankmachende Farben

In der Londoner U-Bahn

Alltagsleben

Die Apotheke meiner Mutter

Die traurige Geschichte des kleinen Philippe

Bonbonautomaten

Sich seine Farbe aussuchen: Geht das?

Grau in Grau

Metrotickets

Rot oder blau?

Dreifarbige Ampelanlagen

Farbe und Design: ein schwieriges Paar?

Farbe essen

Kunst und Literatur

Im Atelier eines Malers

Ein Maler in zwei Bänden

In düsteren Sälen

Ivanhoe – Der schwarze Ritter

»Vokale«

Rot und Schwarz

Chrétien de Troyes im Kino

Rosa Schweine, schwarze Schweine

Als Dalí Noten vergab

Die Farben eines großen Künstlers

Farblose Kunsthistorik

Das Wirken der Zeit

In der Sportwelt

Torwart und Schiedsrichter

Das gelbe Fahrrad

Bartali und die italienische Flagge

Die Tour de l’Ouest

Farbgebung durch Negativauswahl

Einfache Farben, schwierige Farben

Rosa und Orange

Mythen und Symbole

Rotkäppchen

Es lebe das Latein in der Schule!

Entdeckung der Wappenkunde

Schwarze Katzen

Die große Angst vor Grün

Die Farbe des Schicksals

Flaggen falten

Verängstigende Gegenstände

Schachspiel

Wittgenstein und die Wappenfarben

Von Farben und Geschmäckern

Ein Geschenk aus Amerika

Sonnenbräune im Wandel der Zeit

Glitter und Glanz der 1950er-Jahre

Kurze Geschichte des Goldes

Ein rätselhaftes Grün

Können Sie Rot sehen?

Kein Violett für Kinder

Gedächtnislaunen

Farbumfragen und Vorlieben

Die Wörter

Braun und Beige

Ein Tag auf der Rennbahn

Am Nullpunkt der Farben

Der Teil und das Ganze

Das griechische Blau

Vom Verschwinden der Nuancen

Über Farben sprechen, ohne sie zu zeigen

Was ist Farbe?

Weiterführende Literatur

Einige chronologische Anhaltspunkte zum vorliegenden Buch

Danksagungen

Zum Autor

Farben in der Erinnerung

Farben zu bestimmen ist keine leichte Übung. Nicht nur haben sich die Farbdefinitionen über die Jahrhunderte verändert und variieren je nach Epoche und Gesellschaft, hinzu kommt, dass, selbst wenn man sich auf die heutige Zeit beschränkte, ein und dieselbe Farbe auf den fünf Kontinenten nicht in ein und derselben Weise wahrgenommen wird. Jede Kultur definiert Farben vor dem Hintergrund ihrer natürlichen Umgebung und klimatischer Gegebenheiten, begreift sie im Kontext der eigenen Geschichte, Erfahrungen und Traditionen. Die westlichen Erkenntnisse bilden keineswegs absolute Wahrheiten ab, sondern stehen in einer Reihe neben vielen anderen. Und stimmen dabei nicht einmal überein.

Ich besuche regelmäßig Kolloquien zum Thema Farbe, an denen Fachleute aus unterschiedlichsten Disziplinen wie der Soziologie, Physik, Linguistik, Malerei, Chemie, Geschichte und Anthropologie teilnehmen, bisweilen gesellen sich auch Experten aus Neurologie, Architektur, Stadtplanung, Design und Musik hinzu. Wir freuen uns alle sehr, uns bei diesen Zusammenkünften über ein gemeinsames Herzensthema austauschen zu können, merken jedoch schon nach kurzer Zeit, dass wir nicht über dasselbe reden: Jede und jeder geht beim Thema Farbe von anderen Definitionen, Vorstellungen und Gewissheiten aus. Und die lassen sich den anderen Fachleuten nicht leicht, manchmal fast gar nicht vermitteln. Mir scheint aber, dass wir Fortschritte gemacht haben und die Missverständnisse heute nicht mehr so groß sind wie noch vor 30 oder 40 Jahren. Als jemand, der seit über drei Jahrzehnten an solchen Treffen teilnimmt, habe ich den Eindruck, dass in Chemie und Physik zunehmend die Fragestellungen und Untersuchungen aus den Geisteswissenschaften berücksichtigt werden, und im Gegenzug haben die Kolleginnen und Kollegen aus Soziologie, Linguistik und Geschichte ihre mittelmäßigen naturwissenschaftlichen Kenntnisse aufgebessert. Wenn wir so weitermachen, wird der Austausch für alle von Nutzen sein.

Das vorliegende, teilweise autobiografische Buch widmet sich ausschließlich der geisteswissenschaftlichen Perspektive. Die Idee dazu entstand über die Jahre während meiner Forschungen zur Farbgeschichte und Farbsymbolik. Irgendwann hielt ich die Zeit für gekommen, gewisse Erinnerungen aus der Welt der Farben weiterzugeben, Erinnerungen, die nicht nur meine individuelle Geschichte, sondern gesellschaftliche Gegebenheiten in Frankreich und Europa, unsere Bräuche und Codes der letzten 50 Jahre betreffen. Das Vorhaben war nicht rein narzisstischer Natur, eher ein wenig utopisch: Zum einen wollte ich aufzeichnen, was ich in fast sechs Jahrzehnten – von 1950 bis 2010 – in Bezug auf Farben gesehen, erlebt und empfunden hatte, zum anderen Geschichte und Moden transparent machen, Beständiges von Veränderlichem unterscheiden sowie die soziale, ethische, künstlerische, poetische und traumanalytische Dimension von Farben darstellen. Ich wollte zugleich Zeitzeuge und Historiker sein, wollte dokumentieren, erläutern, beobachten, erzählen, dabei kritisch beleuchten und kommentieren. Eine schwierige, nahezu unerfüllbare Aufgabe, der ich mich dennoch stellte, obwohl ich genau wusste, wie sehr man sich als Geschichtsschreiber vor dem »Zeugen seiner Zeit« in Acht nehmen muss. Nicht nur ist Letzterer lediglich ein Zeuge unter vielen, zwangsläufig voreingenommen, belehrend, eigenwillig und egozentrisch, allzu leicht gerät man auch an jemanden, der besonders viel meckert (»früher war alles besser«) oder absichtlich irreführt und dessen Gedächtnis, so gut es auch sein mag, keinesfalls unfehlbar ist.

Den Beweis dafür bekam ich beim erneuten Lesen eines Werks, das zugegebenermaßen bei der Entstehung meines Farbtagebuchs Pate gestanden hat: Je me souviens (Ich erinnere mich) von Georges Perec (1936–1982). Ich hatte das Buch 1978 gleich nach Erscheinen gelesen und kannte Teile davon aus früheren, noch sehr kleinauflagigen Ausgaben. In seiner kompletten Fassung besteht das Werk aus 479 Sätzen beziehungsweise Absätzen, die mit den Worten »Ich erinnere mich« beginnen und eine »banale, nebensächliche, vielleicht nicht jedem, doch sehr vielen bekannte« Begebenheit in Erinnerung rufen. Ich war schon lange ein Bewunderer Perecs und trug einige seiner Formulierungen, deren scheinbare Plattitüde mich begeisterte, viele Jahre mit mir herum. So auch den großartigen Satz: »Ich erinnere mich, dass ein Freund meines Cousins Henri, wenn er für seine Prüfungen lernte, den ganzen Tag im Schlafrock blieb.« Oder das selbst in seiner Zweideutigkeit so treffende Bekenntnis: »Ich erinnere mich an meine Schwierigkeiten, zu verstehen, was die Wendung ohne Kontinuitätsunterbrechung bedeutete.« Oder die so nüchterne wie lächerliche Verkündung: »Ich erinnere mich an den Mai ’68.« Besonders aber erfreute mich ein Satz ungefähr aus der Mitte des Buches, eine Art geheimes Juwel; ein Satz, so schön und strahlend, dass er für Perec vielleicht der wichtigste seiner Sammlung war: »Ich erinnere mich, dass General de Gaulle einen Bruder namens André mit roten Haaren hatte, der stellvertretender Leiter der Pariser Messe war.«

Nur schwerlich lässt sich etwas Plumperes, Verzagteres, Komischeres zu Papier bringen. Allerdings ist der Satz, an den ich mich doch Wort für Wort erinnere, so in keinem Buch Perecs zu finden. Perec hatte lediglich geschrieben: »Ich erinnere mich, dass de Gaulle einen Bruder namens Pierre hatte, der Leiter der Pariser Messe war.« Ich hatte Perecs Text also ergänzt und verändert, hatte den Bruder des Generals umbenannt, ihn vom ehrenvollen Leiter zu dessen Stellvertreter degradiert, und vor allem hatte ich ihn zu einem Rotschopf gemacht, obwohl bei Perec weder von Haaren noch von Röte die Rede war. Ein ganz schöner Klops für einen Historiker. Dass »Pierre« zu »André« wurde, sei mir nachgesehen: In den Evangelien sind die beiden Brüder, und der Erste, der Jesus folgt, ist nicht Petrus, sondern Andreas. Außerdem ist André mein zweiter Vorname, und wahrscheinlich messe ich ihm mehr gesellschaftliche Geltung bei, als ihm eigentlich zukommt. Nachgesehen sei mir auch, dass ich ihn vom »Leiter« zum »stellvertretenden Leiter« gemacht habe: Letzteres klingt lachhafter, absurder, fast schon literarisiert. Ließe sich der stellvertretende Leiter nicht als Schöpfung im Sinne Georges Courtelines oder eines seiner Nachahmer verstehen? Aber woher kommen die roten Haare? Sollten sie etwas Kolorit ins Bild bringen? Vielleicht, um das Burleske der Figur zu unterstreichen: Der Bruder von General de Gaulle ist stellvertretender Leiter der Pariser Messe und hat rote Haare! Willkommen im Boulevardtheater.

Es war der Versuch, eine buntere Welt zu schaffen. Unsere visuellen Erinnerungen speichern wir nämlich oft ohne Farbzuschreibung ab, nicht einmal in Schwarz-Weiß oder in Graustufen. Eingelagert in den Tiefen unseres Gedächtnisses, sind sie meist achromatisch. Sobald wir sie aufrufen, sie zu einem bestimmten Zweck hervorholen, ergänzen und vervollständigen wir das Bild, mehr oder weniger bewusst, in seinen Formen und Farben: Unsere Erinnerung schärft Umrisse, zieht Linien, und unsere Fantasie verleiht ihnen Farbe – Farbe, die sie manchmal nie gehabt haben.

So wie de Gaulles Bruder nicht rothaarig war, weder im echten Leben noch in der Darstellung des freilich sehr fantasievollen Georges Perec, so hat André Breton, der im ersten Kapitel dieses Buchs auftaucht, vielleicht nie die gelbe Weste getragen, die ich ihm andichte, weder im Café an der Place Blanche auf dem Montmartre noch in der Erinnerung jener, die ihn gekannt haben. Vielleicht ist es mein lückenhaftes Gedächtnis, das meiner lebhaften Fantasie erlaubte, ihn in diese Farbe zu kleiden. Der außergewöhnliche André Breton spielte tatsächlich eine Rolle in meiner frühen Kindheit und steht im Zentrum einer sehr frühen Farberinnerung. Habe ich von der rätselhaften gelben Weste nur geträumt, oder hat er sie wirklich getragen?

Die Leserschaft möge mir also verzeihen, wenn ich im Folgenden manche Gedächtnislücke mit meiner Fantasie ausfülle. Das vorliegende Farbtagebuch basiert aber nicht nur auf flüchtigen Eindrücken, subjektiven Erinnerungen und Erlebnissen, sondern beinhaltet auch Notate, wissenschaftliche Exkurse sowie philologische, soziologische und journalistische Beiträge. Auf seinem Weg durchstreift es zahlreiche Forschungsgebiete: Lexik und Linguistik, Mode und Bekleidung, Gegenstände und Tätigkeiten des täglichen Lebens, Embleme und Flaggen, Sport, Literatur, Malerei, das künstlerische Schaffen ganz allgemein. Reale und erdachte Farben vereinen sich zur geschichtlichen Darstellung der letzten fünf bis sechs Jahrzehnte, im Persönlichen wie im Kollektiven. Der Historiker weiß nur zu gut, dass die Vergangenheit nicht allein das ist, was war, sondern auch das, was die Erinnerung aus ihr macht. Erdachtes steht keineswegs im Gegensatz zur Wirklichkeit: Es ist weder ihr Gegenteil noch ihr Widerpart, sondern bloß eine weitere Realität – abweichend, fruchtbar, voller Melancholie, eine Realität, die unsere Erinnerungen komplizenhaft ergänzt.

Stoffe und Bekleidung

Im Anfang war das Gelb

Ist es meine älteste Erinnerung? Vielleicht nicht. Bestimmt aber die älteste in Farbe. Als mein Vater, Henri Pastoureau, sich endgültig mit André Breton überwarf, war ich gerade einmal fünf. Die beiden kannten sich seit 1932 und waren fast 20 Jahre lang trotz ihres unterschiedlichen Alters und Bekanntheitsgrades in einer intellektuellen Freundschaft verbunden gewesen, die zwar ihre Höhen und Tiefen hatte, aber beständig war. In den Nachkriegsjahren rief Breton mehrmals in der Woche an, und es war nicht ungewöhnlich, dass er zu uns nach Montmartre hinaufkam, um sich mit meinem Vater über irgendwelche surrealistischen Vorhaben und Veröffentlichungen zu unterhalten. Ab und zu besuchte er uns auch zum Abendessen und brachte mir Buntstifte und Papier mit, das alles andere als gewöhnlich war: nie einfach nur weiß, immer dick oder rau, unregelmäßig geformt, vielleicht handelte es sich um Reste aus einer Druckerei oder selbstausgeschnittenen Karton. Für mich als Kind war das unkonventionelle Papier allerdings ein wenig enttäuschend. Und das, obwohl Breton manchmal mit einer halben Kartoffel darauf »malte«: Mit etwas Tinte oder Wasserfarbe verwandelte er das Gemüse in eine Art Farbstempel zum Aufdrucken seltsamer Figuren. Er verlieh ihnen gerne fischähnliche Formen, und seine Farbwahl ging mit Vorliebe ins Grünliche. Einige seiner »Stempelbilder«, die mich in meiner surrealistischen Kindheit erfreuten, habe ich aufgehoben. Damals wusste ich noch nicht, dass Kartoffelstempel in aller Welt auch zur Fälschung amtlicher Dokumente und Ausweispapiere hergestellt wurden.

Für meine Mutter waren die Abendessen mit Breton immer eine gefürchtete kulinarische Prüfung. In Essensfragen zeigte er sich nämlich sehr eigensinnig und erließ regelrechte Lebensmittelverbote. Beispielsweise durfte niemand ihm Karotten, Sardinen oder Kalbsleber auftischen. Erbsen hingegen waren willkommen, fast schon verpflichtend. Ihm Bier zu servieren war »infam« (ganz meine Meinung).

Zwar habe ich keine genaue Erinnerung an all die von Breton vor meinen Augen angefertigten Stempelbilder, meine Erinnerung an seine äußere Erscheinung hingegen ist ziemlich intakt. Er besaß drei Auffälligkeiten: Er war deutlich älter als mein Vater, hatte einen riesigen Kopf und trug eine gelbe Weste. Mehr noch als seine affektierte, für Kinderohren einschüchternde Stimme ängstigte mich sein Kopf: Der erschien mir im Vergleich zum restlichen Körper unverhältnismäßig groß und war von ungewöhnlich dichtem, langem Haar umgeben. Die Großmutter meines Schulkameraden Christian, die bei uns im Haus als Concierge arbeitete, nannte ihn wegen seiner Mähne den »Schamanen«. Tatsächlich schien es uns, als trüge er eine Maske. Erstaunlicherweise kommen Bretons Biografen selten auf seinen ungewöhnlichen Kopf zu sprechen, der mit seinen markanten Zügen und durch seine schiere Größe zweifelsohne Adel und Autorität vermittelte, die kleinen Kinder auf dem Montmartre jedoch in Angst und Schrecken versetzte. Vielleicht liegt darin auch der Ursprung von Bretons großem Interesse an Masken …

Noch deutlicher als sein häufig gemalter und fotografierter Kopf hat sich mir allerdings die Farbe seiner immertreuen Weste eingeprägt, ein mattes, warmes, fast liebliches Gelb, das ich auch heute noch ohne Schwierigkeiten auf einer Farbmusterpalette bestimmen könnte. Es ist unwahrscheinlich, dass Breton seine Weste zum Abendessen je vor meinen Augen ausgezogen hat, das tat er nur äußerst selten. Aber wie könnte eine Weste Anfang der 1950er-Jahre beschaffen gewesen sein, dass sie mich als kleinen Jungen so beeindruckte, aus welchem Material war sie – Leder, Fell, Wildleder? –, und wie genau war sie gefärbt? Hatte meine Erinnerung womöglich das Beige einer einfachen Woll- oder Filzweste in ein Honiggold verwandelt? Oder handelte es sich um das leuchtende Sattgelb eines exzentrischen Kleidungsstücks, wie Breton es bisweilen trug? – man denke nur an den »himmelblauen Frottee-Regenmantel«, in dem Claude Lévi-Strauss und andere ihn an Deck des Schiffs gesehen haben, das ihn nach Amerika brachte. Ich werde es wohl nie erfahren, da im Gegensatz zu meiner farbigen Erinnerung die von damals erhaltenen Fotografien alle schwarz-weiß sind. Welche Farbänderung hat das unter Umständen ganz gewöhnliche Kleidungsstück über die Zeit erfahren, und warum? Um die Erinnerung an einen ungewöhnlichen und in mancher Hinsicht furchteinflößenden Menschen lebendig zu halten? Oder um sie an jüngere Bilder anzugleichen, die dem Mythos von Breton eher entsprechen? Zwischen uns und unsere Erinnerungen schieben sich manchmal andere Gedächtnisbilder, eigene wie erzählte.

Im Grunde spielt es keine Rolle. André Breton wird in meiner Erinnerung immer mit einem bestimmten Gelbton verbunden bleiben, und mit ihm die gesamte surrealistische Bewegung. Für mich ist der Surrealismus auf ewig gelb, strahlend und geheimnisvoll gelb.

Die Wechselhaftigkeit der Streifen

Mit etwa 40 begann ich mich für die Geschichte und Symbolik von Streifen in den europäischen Gesellschaften zu interessieren. Ich behandelte das Thema in mehreren Seminaren an der École pratique des hautes études, die als Grundlage für ein Buch dienten, das 1991 im Verlag Le Seuil erschien und in etwa 30 Sprachen übersetzt wurde: Des Teufels Tuch: eine Kulturgeschichte der Streifen und der gestreiften Stoffe1. Ein solches Buch zu veröffentlichen war gar nicht so einfach: Die Verlagsleitung hielt das Thema für zu belanglos, vielleicht sogar für heikel, und es bedurfte großer Hartnäckigkeit seitens des Historikers Maurice Olender, dem Leiter der Reihe »La Librairie du XX siècle«, um die Publikation doch zu ermöglichen. Das Zögern des Verlags war an sich schon ein Geschichtszeugnis und eine Reaktion auf den Gegenstand des Buches. Ich wollte darin nämlich zeigen, dass Streifen in der westlichen Welt lange als negativ angesehen, gar als teuflisch gefürchtet wurden, und gestreifte Kleidung den Außenseitern und Geächteten vorbehalten war. Erst im 18. Jahrhundert kamen die »guten« Streifen in Umlauf, als Zeichen von Freiheit, Jugend und Kreativität. Die guten Streifen, die die »bösen« aber keineswegs verschwinden ließen, zierten im darauffolgenden Jahrhundert die Kleidung von Kindern, Dandys und Gauklern und eroberten anschließend Strände, Sportplätze und die gesamte Freizeitwelt.

Ich selbst machte schon früh unangenehme Bekanntschaft mit den »bösen« Streifen: als Fünfjähriger im Jardin du Luxembourg, den ich jeden Donnerstagnachmittag in Begleitung meiner Großmutter besuchte. Ich war schüchtern, misstrauisch und litt an Agoraphobie, weshalb ich es kaum wagte, mich weiter als 20 Meter von ihr zu entfernen, zumal sie sich mit Vorliebe in einen der Stühle am großen Wasserbecken setzte, das mir besonders gefährlich erschien. Ich fürchtete mich vor allem und jedem, vor dem Bootsverleiher, vor den keifenden Stuhlverleiherinnen (damals lieh man sich die ockergelben Stühle gegen Gebühr), vor den lauten republikanischen Gardisten, die wirklich jeden Donnerstag um 18 Uhr im Musikpavillon die Marseillaise spielten, und ganz besonders vor den Parkwächtern, deren dunkelgrüne Uniform mich als Kind an übelwollende Polizisten erinnerte.

Eines Donnerstags im April oder Mai kam einer von ihnen auf mich zu und warf mir vor, ich hätte hinter dem Becken eine verbotene Rasenfläche betreten, die über 50 Meter von uns entfernt lag. Das war natürlich ein Irrtum: Niemals hätte ich mich getraut, mich so weit weg zu bewegen oder einen verbotenen Bereich zu betreten. Ich war viel zu ängstlich und hielt mich viel zu genau an Vorschriften. Er musste mich mit einem anderen Jungen verwechselt haben, der ebenfalls ein weißes Baumwolloberteil mit marineblauen Streifen trug. Wir waren um die 50 Kinder im Park, die ein solches Kleidungsstück trugen, einen Abklatsch des Matrosenanzugs für kleine Jungen aus der Zeit um 1900. Es war nicht leicht, uns aus der Ferne zu unterscheiden. Doch der Parkwächter blieb stur, behauptete, er habe sehr gute Augen, wiederholte seine Anschuldigungen und sagte schließlich, als meine Großmutter mich verteidigte, den grausigen Satz: »Dann stecke ich dich und deine Oma eben ins Gefängnis.« Ich brach in Tränen aus und klammerte mich schreiend an den Rock meiner Großmutter, vollkommen verschreckt angesichts dieses hochrot angelaufenen Mannes mit seinem gallischen Schnurrbart und dem viel zu großen Käppi. Wir rannten fast davon, während er mit seiner Pfeife herumfuchtelte und rief: »Ins Gefängnis, ins Gefängnis!« Meine Großmutter war zu wohlerzogen, um ihn zu beschimpfen, das übernahmen andere Leute, daran erinnere ich mich noch.

Während dieses kurzen Dramas offenbarten die Streifen sich in ihrer ganzen Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, erfüllten gleich mehrere althergebrachte Funktionen, über die ich viel später als Historiker forschen sollte: Streifen sind jung, verspielt, fröhlich und gut zu erkennen, aber sie können auch trügerisch und gefährlich sein, uns erniedrigen und unserer Freiheit berauben. Damals hatten die bösen Streifen über die guten gesiegt, und mein blau-weißes Pseudomatrosenhemd hatte mir kein Glück gebracht. Ich wollte es nicht mehr tragen, auch kein anderes in der Art. Was zumindest einen positiven Effekt hatte, denn später, kurz vor der Pubertät, nahm ich ziemlich zu, und die Querstreifen eines Matrosenhemds hätten meine jugendliche Molligkeit nur noch betont.

Den Jardin du Luxembourg mieden wir ein paar Monate lang und gingen stattdessen in den etwas weiter entfernten, öderen und tristeren Parc Montsouris. Der brachte meine Großmutter um die Treffen mit ihren üblichen Parkgefährtinnen und mich um das Schauspiel der grauen und rötlichen Esel, die den ganzen Nachmittag ihre Runden um die große Rasenfläche drehten und äpfelten. Elender Parkwächter!

Der marineblaue Blazer

Ich kann mich nicht erinnern, vor dem 13. Lebensjahr je ein Jackett getragen zu haben. Diese Freiheit endete im Frühling 1960, als ich mit meinen Eltern zur Hochzeit einer ehemaligen PTA aus der Apotheke meiner Mutter eingeladen wurde, einer jungen Frau, die sich, als ich kleiner war, viel um mich gekümmert und mir einen Blick auf die Welt und die Gesellschaft eröffnet hatte, der sich von dem meiner Familie unterschied. Man beschloss, mir für diesen Anlass eine graue Anzughose und einen marineblauen Blazer zu besorgen. Der Einkauf erfolgte bei einem Herrenausstatter, dem größten der südlichen Pariser Vorstadt, wo wir damals wohnten. Ich habe die devote Stimme des Verkäufers noch im Ohr, als er ironisch bemerkte: »Recht kurvig, der junge Mann.« Womit er auf meinen breiten Hintern anspielte. Die Auswahl der Hose verlief dennoch problemlos.

Anders als beim Blazer, und das lag an mir. Ich hätte lieber einen Zweireiher gehabt, in dem ich, wie ich fand, ein wenig nach Admiral oder sogar Flieger ausgesehen hätte, doch der unausstehliche Verkäufer überzeugte meine Mutter davon, ich sei für das Kleidungsstück zu korpulent. Es sollte also ein Einreiher werden, was mir widerstrebte. Nicht wegen der Form, sondern wegen der Farbe. Ich hatte nämlich gesehen, dass bei dem eigentlich gut sortierten Ausstatter die marineblauen Einreiher für Teenager blasser gefärbt waren als die Zweireiher. Nur um einen Deut, aber da ich bereits ein Gespür für Farben und Nuancen hatte, sagte mir meine Empfindung, dass ein nicht absolut sattes Marineblau kein richtiges Marineblau war. Mitschüler aus wohlhabenderem Elternhaus trugen bereits Jacketts, und ich wusste, dass bei ihnen das Blau ein anderes war als das des mir angebotenen Einreihers: dunkler, dichter, nicht so nah am Violett; in einem Wort, weniger »vulgär«.

Jugendliche haben ihre eigene Vorstellung davon, was vulgär ist, aber oft tun sie sich schwer, Erwachsenen zu vermitteln, was genau sie meinen. Fest steht jedoch, dass etwas – in ihren Augen – Vulgäres absolut tabu ist. Bei dem »beinah marineblauen« Blazer war dies der Fall, er war untragbar, hässlich und machte mich wahrscheinlich auch dicker! Anprobe, Ablehnung, Diskussion, Vergleich, erneute Anprobe, Hinzurufen eines anderen Verkäufers, schließlich des Abteilungsleiters, ein beeindruckender Mann, der mich überraschenderweise in meiner Meinung bestärkte. Nichts zu machen: Ich konnte mich nicht durchsetzen. Ein schneller Gang auf die Straße ins Tageslicht bestätigte meine Mutter darin, dass das Blau des Blazers ein sehr akzeptables, klassisches war und meine Farbkapriolen – es war nicht der erste Zwischenfall dieser Art – keine Berechtigung hatten. Der Verkäufer feixte. Der Abteilungsleiter weniger, da die Zweireiher teurer waren als die Einreiher. Ich musste zu der Hochzeit also das verfluchte Ding anziehen und schämte mich wie selten zuvor. Keiner meiner Schulkameraden war da, nur wenige Gäste kannten mich, und natürlich bemerkte niemand, dass mein Marineblau nicht ganz marineblau war. Aber ich spürte es, wusste es, und der winzige Nuancenunterschied ließ mir keine Ruhe. Ich hatte das Gefühl, dass alle auf den scheußlichen Blazer stierten.

Das Ereignis hatte keine direkten Folgen, außer dass mir meine Farbüberempfindlichkeit damals, mit ungefähr 13, erstmals richtig bewusst wurde. War sie Geißel oder Geschenk? Wahrscheinlich beides. Meiner Überempfindlichkeit verdanke ich absurde und auch schmerzhafte Situationen, aber ich verdanke ihr auch mein ausdauerndes Interesse an Farben und deren Darstellung, an dem schier unendlichen Feld farbbezogener Beobachtungen und Überlegungen, worin heute der Großteil meiner Arbeit als Historiker liegt.

Die Geschichte des Marineblaus, zu der ich später verschiedentlich forschte, ist ein Beispiel unter vielen. Ohne die Aufregung um den Blazer wäre ich vielleicht nie auf die besondere Blaunuance, die sich lange Zeit durch Färben nur schwer herstellen ließ, aufmerksam geworden. Vor dem 18. Jahrhundert traf man sie in der europäischen Mode selten an. Erst die massive Einfuhr von Indigo aus der Neuen Welt und die (zufällige) Entdeckung von Preußischblau verhalfen ihr ab 1750 langsam zu mehr Popularität. Doch Konkurrenz im Kreis der dunklen Farben machte das Marineblau dem Schwarz erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, und in größerem Rahmen erst nach dem Ersten Weltkrieg, vornehmlich in den Städten. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden viele Herrenkleider, die aus unterschiedlichen Gründen schwarz gewesen waren, durch marineblaue ersetzt. Angefangen bei der Dienstbekleidung. Zwischen 1900 und 1950 wechselten vielerorts, je nach Land in anderem Tempo und nach anderen Maßgaben, zahlreiche Uniformträger von Schwarz zu Marineblau: Matrosen, Feldhüter, Gendarmen, Polizisten, Feuerwehrleute, Zöllner, Postbeamte, einige Soldaten, die meisten Internatsschüler, die Wölflinge bei den Pfadfindern, die ersten Sportler und jüngst sogar einige Geistliche. Zwar vollzog sich dieser Wandel nicht systematisch – es gab immer wieder Ausnahmen –, aber zwischen 1880 und 1960 verdrängte das Marineblau allmählich das Schwarz und wurde in Europa wie in den USA zur vorherrschenden Farbe von Uniformen aller Art. Bald folgten auch die Zivilisten dem Beispiel: Ab den 1920er-Jahren, vor allem aber nach 1950, ist eine Abkehr vieler Männer von den traditionellen schwarzen Anzügen, Jacketts und Hosen zu beobachten, sie trugen, insbesondere im Frühjahr und im Herbst, Marineblau. Der Blazer ist das offenkundigste Beispiel dieser Revolution, die gewiss als eines der großen kleidungs- und farbgeschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Erinnerung bleiben wird.

Subversive Hosen

Januar 1961, ein kalter, sogar eisiger Winter. Der nach den Feiertagen massenhaft gefallene Schnee bleibt liegen, die Straßen und Gehsteige sind spiegelglatt. Ich gehe in die neunte Klasse am Lycée Michelet in Vanves, eine der seltenen gemischten Klassen dieser Schule, an der es ohnehin nur wenige Mädchen gibt – und auch das nur vom sechsten bis zum neunten Schuljahr, da gemischte Klassen an staatlichen Einrichtungen ab der Zehnten als gefährlich gelten. Generell ist es Mädchen nicht erlaubt, in Hosen zum Unterricht zu erscheinen, außer im Sportunterricht, wo sie Trainingshosen tragen dürfen. Lediglich an besonders kalten Tagen werden statt der Röcke und Kleider auch Hosen toleriert, sofern es sich nicht um Bluejeans handelt, denn die betrachtet man als ungehörig oder gar subversiv.

Trotz der Toleranzregelung wird eines Dienstagmorgens zwei Schülerinnen, zwei Schwestern, von denen eine bei mir in der Klasse ist, die andere in der Siebten, der Zutritt zum Gebäude verweigert. Die beiden sind in Hosen gekommen, und obwohl es sich nicht um Bluejeans handelt, erachten die pflichteifrigen Herren von der Hausmeisterei die Kleidung als »unanständig« (!) und lassen die Mädchen nicht herein. Am folgenden Tag spitzt sich die Angelegenheit zu, die Eltern mischen sich ein, Petitionen und Gerüchte machen die Runde. Da niemand die genauen Gründe für den Ausschluss kennt, fantasiert die männliche Schülerschaft sich einiges über die famosen Hosen zusammen. Ein paar »Große« aus der zehnten und elften Klasse stellen sie sich aufreizend vor, hauteng oder mit anzüglichem Flitter besetzt. Die Jüngeren können nur schwer nachvollziehen, dass Hosen so viel Aufsehen erregen. Die beiden vom Unterricht Ausgeschlossenen sind schüchterne, brave, gute Schülerinnen. Die Sache währt zum Glück nicht lange, der Wirbel legt sich schnell wieder, die Verwaltung macht einen Rückzieher und die Kälte auch. Als meine Mitschülerin eine Woche später zurück in den Unterricht kommt, erfahre ich den wahren Grund für den Skandal: Die Hosen waren rot.

Kein Rot in einer staatlichen Schule! Zumindest keine rote Kleidung. So lautete die ministerielle Leitlinie im Schuljahr 1960/61. Wenngleich nirgends schriftlich fixiert, hatte diese ungeschriebene Regel beinahe die Kraft eines Gesetzes. Tatsächlich kann ich mich nicht entsinnen, in den unteren Klassen am Lycée jemals einen Schüler in roter Kleidung gesehen zu haben. Ich erinnere mich lediglich an den roten Schal unseres Zeichenlehrers, eines griesgrämigen Schönlings, der den musengeküssten Künstler gab und sich fortwährend in Samt kleidete. Der Schal ersetzte die Krawatte, die er nie trug. Sein Sohn, eine kleine Knallcharge in meinem Alter, kopierte den Kleidungsstil des Vaters, obwohl sein Schal, wenn ich mich nicht täusche, ganz banal braun war.

Ich bezweifle, dass die Hosen der heimgeschickten Mädchen so provokant oder aggressiv rot waren wie der Schal des Zeichenlehrers. Wahrscheinlich waren sie dunkel- oder mattrot, glanzlos, wie seinerzeit üblich. Nur Skihosen sah man damals in kräftigem »Wintersport«-Zinnober leuchten. Doch was hatten der Hausmeister und seine Mannen – und über ihnen die Verwaltung – wirklich von zwei Kindern in roten Hosen zu befürchten? Wo lag die Gefahr? Schwer vorstellbar, dass irgendwer in der Farbe der Kleidung einer Elf- und einer Vierzehnjährigen ein politisches oder gar aktivistisches Rot erkennen könnte, also ein Bekenntnis zum Kommunismus. Derartige Wahnvorstellungen hatte die Schulverwaltung wohl doch nicht. Zumindest nicht in dieser Hinsicht: Sie sorgten sich nicht um Politisches, sondern um die »Sitten«. Immer wenn ein Aufseher einen Schüler bei einem Vergehen ertappte, brachte er ihn zur Hauptaufsicht und spulte den rituellen Satz ab: »Herr Zensor, der Schüler hat soeben eine sehr große Dummheit begangen.« Woraufhin sich dieser besorgt erkundigte: »Etwas gegen die Sitten?« Verneinte der Aufseher, folgte ein erleichtertes Seufzen – und das Vergehen, egal wie schlimm, war halb vergeben. Im Übrigen betätigte sich am Gymnasium fast niemand politisch, und im Winter 1960/61 kam die Gefahr für den Staat nicht von Seiten der Kommunisten, sondern von Seiten der »Organisation der geheimen Armee«, der OAS, deren Farbe keineswegs Rot war.

Die Gründe, warum Rot in den Schulen auf Ablehnung stieß, lassen sich eher in einer nicht klar umrissenen Assoziationssphäre und in abwegigen Vorstellungen zu der Farbe finden. Rot galt und gilt immer noch als Signal für Gefahr oder Grenzverletzung. Teils bewusst, teils unbewusst wurde die Farbe stets mit Feuer und Blut, Gewalt und Krieg, Schuld und Sünde assoziiert. Zu intensiv, zu kräftig, zu verführerisch – in seinen Zuschreibungen setzte sich Rot von den übrigen Farben ab und fand im Alltag nur sehr wenig Platz. Im Straßenbild war Rot damals weniger vertreten als heute (und es ist immer noch selten). In der Schule beschränkte sich die Funktion der Farbe Rot darauf, in Klassenbüchern, Klassenarbeiten und Schreibheften Fehler zu markieren, zu verwarnen oder Strafe anzudrohen. Eine undankbare Rolle für eine Farbe, die doch oft für die schönste gehalten wurde.

Ein gewisses Blau

In meiner Jugend, zu Beginn der 1960er-Jahre, galten Jeans bereits als eine Art Uniform. Zumindest für Jugendliche in dem sozialen Umfeld, in dem ich mich bewegte: der mehr oder minder wohlhabenden Mittelschicht. Die blauen Hosen hatten einen rebellischen Ruf, Autoritäten nahmen sie mit Argwohn in den Blick. Wie bereits erwähnt war das Tragen von Jeans in der Schule verboten, Gleiches galt für Ferienlager und Sportvereine. Jeans wurden vor allem in der Freizeit getragen, und trotz ihrer Schwere und Beschaffenheit galten sie als Kleidung für entspannte Momente, beispielsweise am Meer. In der Bretagne mauserten sich die Bluejeans, in Kombination mit einem marineblauen Pullover und einem weißen oder hellblauen Hemd, bei jungen Menschen zu einer regelrechten Uniform.

Seinerzeit waren alle Jeans blau. Viele ältere Menschen benutzen heute noch den Begriff »Bluejeans«, der für Jugendliche auch damals schon alt und nach Pleonasmus klang. Meine Großmutter und ihre Schwester, die beide in England gelebt hatten, waren außerstande, einfach nur »Jeans« zu sagen: Sie blieben bei »Bluejeans« – ausgesprochen mit englischem Akzent, einem übertrieben verzogenen Mund und leicht vorwurfsvollem Unterton.

Alle Jeans waren blau, aber nicht in gleicher Weise. Die unendlich vielen Farbvarianten durch die heute üblichen Färbe- und Bleichverfahren (bleached, stone used, double stone, stone dirty, stone destroy, rinse washed et cetera) gab es zwar noch nicht, aber das Spektrum an Blautönen war bereits recht groß. Jede Marke hatte ihre eigene Farbpalette und deklinierte sie auf verschieden dicken Baumwollstoffen unter Beimischung verschiedener Anteile sonstiger Fasern durch. Für die Jugendlichen waren die unterschiedlichen Blautöne von Bedeutung, während ihre Eltern die Nuancen anscheinend nicht wahrnahmen (was sich ein paar Jahre später schon änderte); ebenso viel Bedeutung maßen sie dem Schnitt, dem Stoff und den Schildern bei. Es gab solche und solche Jeans, und die Jugendlichen wussten beim Kauf ganz genau, was sie wollten und was nicht. Doch fragte man nicht immer nach ihrer Meinung. Die »richtige« Jeans, ihr Inbegriff, war die berühmte, in den 1930er-Jahren entworfene und seither kaum abgewandelte »Levi’s 501«. Allein ihre Farbe hatte sich verändert, sie war heller geworden und in verschiedenen Blautönen erhältlich: unterschiedlich dunkel gefärbt, eher satt oder eher verwaschen. In den Augen der Sechzigerjahre-Jugend wirkte eine zu dunkle, fast marineblaue Jeans altmodisch, »spießig«, geradezu »hinterwäldlerisch«. Andererseits verlor eine zu helle Jeans, die schon ins Himmelblau ging, ihre Aufmüpfigkeit und Authentizität. Der richtige Farbton lag dazwischen, ein mittleres Blau, verwaschen, aber nicht zu sehr, etwas ins Gräuliche gehend, aber auf keinen Fall ins Violette (absoluter Horror!), nicht wirklich einfarbig, aber auch nicht fleckig-verwaschen. Ich sehe den Farbton noch heute vor mir, auch wenn er sprachlich schwer zu fassen ist, ein Blau, wie es zwischen 1960 und 1965 »absolut angesagt« war. Die Grausamkeit der Jugendlichen ging so weit, dass Altersgenossen mit Jeans in anderen Blautönen nicht selten Spott und Schikanen erfuhren.

Später, gegen Ende der 1960er-Jahre, wurde das Spektrum der Farbvarianten erheblich erweitert. Das Blau verlor sein Monopol, ebenso wie der grobe Baumwollstoff. Einfarbige und gestreifte Samtjeans in unterschiedlichsten Farben wurden populär, später auch Leinenhosen. Neue Codes etablierten sich und mit ihnen ein neues Sektierertum. Was Kleidungsfragen angeht, war die Zeit um 1968 für junge Menschen weniger von Freiheit geprägt als vielmehr von neuer Ausgrenzung, die oft gnadenloser war als zuvor.

Vom Kleidungsstück zum Mythos

Bleiben wir bei der Jeans, dem heute meistgetragenen Kleidungsstück der Welt. Seit der Westen nicht mehr die Exklusivrechte am blauen Gold hat, seit es immer mehr Marken und Submarken gibt und mit ihnen vielerlei Nachahmungen und Fälschungen, ist die Palette der Blautöne quasi unendlich geworden: Jedes Exemplar besitzt seine ganz eigene Farbe, die vom Besitzer mitunter »customized« wurde. In der Soziologie und Psychologie sieht man darin ein weiteres Zeichen des heute verbreiteten Individualismus. Doch handelt es sich wirklich um Individualismus, wenn die Einzelpersonen sich alle in die gleiche Richtung orientieren? Darüber lässt sich wunderbar streiten. Doch wollen wir hier lediglich die Geschichte einer Hose erzählen, die zu einem unumgänglichen gesellschaftlichen Phänomen geworden ist.

Wie alle Dinge von starker Symbolkraft umwittert die Ursprünge der Jeans ein gewisses Geheimnis. Dafür gibt es verschiedene Gründe, doch dürfte vornehmlich der Brand dazu beigetragen haben, der 1906 in San Francisco nach dem großen Erdbeben das Archiv der Firma Levi Strauss zerstörte, in der die berühmte Hose ein halbes Jahrhundert zuvor erfunden worden war. So begab es sich im Frühjahr 1853, dass der junge, aus Bayern stammende Levi Strauss, dessen Vorname erstaunlicherweise unbekannt blieb, mit 24 Jahren als kleiner jüdischer Hausierer von New York nach San Francisco zog, wo das Goldfieber seit 1849 für einen beachtlichen Bevölkerungszuwachs gesorgt hatte. Er brachte viele Rollen Zeltstoff und Wagenplane mit und hoffte, von deren Erlös sein Leben bestreiten zu können. Doch der Verkauf lief schleppend. Ein Pionier erklärte ihm, statt Zeltstoff brauchten die Leute in dem Teil Kaliforniens eher praktische und haltbare Hosen. Daraufhin ließ der junge Levi Strauss aus seiner Zeltplane Hosen schneidern. Ein augenblicklicher Erfolg, der den kleinen Hausierer aus New York zum Konfektionsproduzenten und Textilindustriellen machte. Gemeinsam mit seinem Schwager gründete er eine über die Jahre beständig wachsende Firma. Obwohl sie die Produktpalette erweiterten, blieben Overalls und Hosen das Kerngeschäft. Damals waren die Hosen noch nicht blau, sondern rangierten zwischen eierschalfarben und dunkelbraun. Die Zeltplane erwies sich zwar als sehr stabil, war jedoch auch sehr schwer, rau und schwierig zu verarbeiten. Und so ersetzte Levi Strauss sie zwischen 1860 und 1865 schrittweise durch Denim, einen aus Europa importierten, ausschließlich mit Indigo gefärbten Stoff. Die blue jeans war geboren.

Die Herkunft des englischen Begriffs denim ist umstritten. Möglicherweise handelt es sich um eine Verkürzung des französischen »serge de Nîmes«, eines Stoffes aus Wolle und Seidenabfällen, der mindestens seit dem 16. Jahrhundert in der Gegend von Nîmes hergestellt wurde. Jedoch bezeichnete er seit dem Ende des 17. Jahrhunderts auch ein Mischgewebe aus Leinen und Baumwolle, das man damals im gesamten Bas-Languedoc produzierte und nach England exportierte. Daneben hieß ein feines Wolltuch, das zwischen der Provence und dem Roussillon an den Gestaden des Mittelmeers hergestellt wurde, im Okzitanischen nim – vielleicht rührt der Ursprung von denim auch hierher. Die Forschung ist uneins, und der Regionalchauvinismus der Autoren, die sich zu der Frage äußern, macht es dem Bekleidungshistoriker keineswegs einfacher.

Wie dem auch sei, bezeichnete denim zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England und den USA einen sehr belastbaren, mit Indigo gefärbten Baumwollstoff. Er wurde hauptsächlich für die Kleidung von Bergleuten, Arbeitern und Sklaven verwendet. In den 1860er-Jahren ersetzte Denim allmählich den Jeansstoff, auch bei der Produktion von Hosen und Latzhosen im Hause Levi Strauss. »Jeans« ist übrigens die phonetische Transkription im Englischen von genoese, was »aus Genua« bedeutet. Die Zelt- und Planenstoffe, die der junge Levi Strauss verarbeitet hatte, gehörten ursprünglich zu einer Gattung von Stoffen aus Genua und Umgebung, die zunächst aus einer Mischung von Wolle und Leinen bestanden, später von Leinen und Baumwolle, und seit dem 16. Jahrhundert zu Schiffssegeln, Seemannshosen, Zelten und Planen verarbeitet wurden.

In San Francisco hatte Levi Strauss’ Hose bereits um 1855 in einer Art Metonymie den Namen ihres Materials angenommen: Jeans. Als man gut zehn Jahre später den genuesischen Leinenstoff durch Denim ersetzte, blieb der Name dennoch bestehen. 1872 begann Levi Strauss eine Zusammenarbeit mit dem Schneider Jacob W. Davis aus Reno, der zwei Jahre zuvor eine Holzfällerhose mit genieteten Gesäßtaschen entwickelt hatte. Fortan wurden auch die Jeans von Levi Strauss mit Nieten versehen. Obwohl der Begriff blue jeans erst 1920 im Handel auftauchte, waren die Jeans von Levi Strauss – da Denim traditionell mit Indigo gefärbt wurde – bereits in den 1870er-Jahren durchweg blau. Der Stoff war allerdings zu grob und zu dick, um die Farbe dauerhaft zu binden, sodass er als »nicht farbecht« galt. Doch gerade die Farbschwankungen erwiesen sich als Grund für den Erfolg: Das gefärbte Material der blue jeans wirkte lebendig und entwickelte sich zusammen mit ihren Trägern weiter. Einige Jahrzehnte später, als es dank der Fortschritte in der Farbstoffchemie möglich war, mit Indigo gleichmäßig und dauerhaft zu färben, mussten die Jeanshersteller ihre blauen Hosen extra bleichen oder auswaschen, um den gleichen Farbeffekt wie bei den Ursprungsmodellen zu erreichen.

In den 1890er-Jahren endete das Markenpatent der Firma Levi Strauss. Konkurrierende Hersteller boten Hosen aus feineren Stoffen, leicht variiert und zu niedrigeren Preisen an. Die 1908 gegründete Firma Lee beispielsweise trat 1926 mit der Idee in Erscheinung, die Knöpfe am Hosenschlitz durch einen Reißverschluss zu ersetzen. Als stärkster Konkurrent jedoch erwies sich ab 1919 die Firma Blue Bell (1947 in Wrangler