Allein gegen den Wind - Wilfried Erdmann - E-Book

Allein gegen den Wind E-Book

Wilfried Erdmann

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Beschreibung

Nonstop um die Welt zu segeln – dazu gehört schon mehr als eine gute Portion Selbstbewusstsein und mentale Stärke. Darüber hinaus gegen die vorherrschenden Winde und Strömungen ein solches Unternehmen anzugehen, traute sich bisher nur eine Handvoll Segler. Wilfried Erdmann, ebenso bescheiden wie kämpferisch, ist dieses Wagnis eingegangen: Allein gegen den Wind, nonstop um die Erde. Im Sommer 2000 startete er mit seiner Yacht KATHENA NUI von Cuxhaven aus. 343 Tage später war er wieder zurück, hatte allen Stürmen getrotzt, jede Flaute bekämpft und die psychischen Probleme mit der ihm eigenen Stärke verarbeitet. Unwägbarkeiten jeder Art gab es mehr als genug: Stürme so schwer, dass er um sein Schiff bangte; Einsamkeit, in seltenen Telefonaten mit seiner Frau immer wieder schmerzhaft vor Augen geführt, und schließlich die scheinbar unendliche Dauer, die ihn dazu zwingt, rationierte Lebensmittel noch strenger einzuteilen, Wasser zu sparen, Genügsamkeit zu üben. Nur fünf Seglern gelang bisher dieser Törn. Der Deutsche ist nicht nur der Älteste, sondern segelt auch das mit Abstand kleinste Boot, das jemals auf dieser härtesten Route um die Welt unterwegs war. Die nur 10,60 m lange Alu-Yacht hatte sich schon einmal rund um die Welt bewährt. Damals, vor 16 Jahren, gelang Erdmann sein erster Nonstop-Törn, in 271 Tagen mit Wind und Sturm um den Erdball. Jetzt war alles gegen ihn. Mit entwaffnender Ehrlichkeit berichtet der Extremsegler über seinen Plan und dessen Durchführung, verbunden mit allen Problemen, Höhen und Tiefen des Einhandsegelns. Seine einmalige Reise fand größte publizistische Resonanz in deutschen und internationalen Medien.

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Wilfried Erdmann

ALLEIN GEGENDEN WIND

Nonstop in 343 Tagen um die Welt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delius Klasing Verlag

Inhalt

  1 Dreivierdrei, eine Vorbemerkung

  2 Die Bunkerbestände

  3 Weg, nurweg

  4 Magisches Kap Start Point

  5 Blau, blauer

  6 Mallungen

  7 Von Nebel umschlungen

  8 Kap Hoorn – die Hoorn

  9 Mein Niemandsmeer

10 Der einhundertdreizehnte Tag

11 Lametta

12 Es ist noch so weit

13 Neun Tage, fünf Stürme

14 Kym himmelwärts

15 Tückische Tasmansee

16 Kap Leeuwin

17 Die Angst vor der Aufgabe

18 Der beidseitige Orkan

19 Kap der Guten Hoffnung

20 Meilen, Meilen

21 Gebongt, mir nach

22 Mein technisches Logbuch

23 Kleines Glossar

1 ∼ Dreivierdrei, eine Vorbemerkung

Als der Kiel die Wasserfläche der Schlei zerschneidet und Sekunden später im trüben Hafenwasser von Brodersby versinkt, beginnt das zweite Leben der KATHENA NUI. Es ist der 19. Mai 2000. Über 12 Jahre stand das Schiff aufgebockt auf der Kuh koppel hinter unserem Haus. Bei Windstille und Sonne suchten sich die Jungtiere Schatten unterm Boot. Zogen Sturmfronten über Schleswig-Holstein, bot es den jungen Kühen Schutz, indem sie sich eng aneinander um die Kielflosse drängten, still verharrten und sich gegenseitig ableckten. Ein Bild, das mich mit diesem Schiff begleiten wird.

Vom 8. September 1984 bis 6. Juni 1985 umsegelte ich mit diesem Boot allein und nonstop die Erde. Ostwärts. Das heißt mit dem Wind. Von Kiel nach Kiel. Alle berüchtigten Wetterecken wie Kap Hoorn und Kap der Guten Hoffnung blieben links liegen. 271 Tage war ich damals ununterbrochen auf See. Es war schön und grauenvoll zugleich. Ich fühlte mich unterwegs unwahrscheinlich stark und gut. Doch eines ist gewiss: Nicht im Traum wäre es mir während oder unmittelbar nach dieser Nonstop-Weltumseglung eingefallen, mich 15 Jahre später in Gegenrichtung erneut aufzumachen. Das Allerheiligste wagen würde: gegen den Wind um die Welt. Nie und nimmer hätte ich das von mir erwartet.

Ja, und doch sollte es jetzt passieren. Mit demselben Schiff, der KATHENA NUI, größtenteils gegen die vorherrschenden Windrichtungen. Das heißt Kap Hoorn, Neuseeland, Australien, Kap der Guten Hoffnung bleiben diesmal rechts liegen. Das bedeutet wegen der Kreuzkurse zweifacher Weg, dreifache Zeit, vierfache Arbeit, fünffache Nässe. Die Strecke durchs Südpolarmeer ist für mich seglerisch das Maß aller Dinge. Selbst extreme Regattasegler schrecken davor zurück. Es haben daher erst vier Männer diese Route allein geschafft. Der erste war der Engländer Chay Blyth, 1971. Also, vier in 30 Jahren.

Um sich auf diesen Kurs zu begeben, muss man das Wasser schon sehr mögen. Mehr noch: es wollen, es begehren, leidensfähig und freudensfähig sein. Lange war ich im Zweifel, ob ich das packe, überhaupt physisch mit 60 Jahren zu solcher Leistung noch fähig bin. Außerdem erschrecken mich die mindestens 310 Tage, die ich anhand der See- und Windkarten mit dem Zirkel absteckte.

Der Stein des Anstoßes, dieses »Unmögliche«, diesen Kurs wirklich anzugehen, war ein Sextant. Das schmucke Winkelmessinstrument war im Jahr zuvor ein Geschenk der Herstellerfirma Cassens & Plath, »für neue Fahrten«. Ich war ganz hin. Noch nie habe ich ohne Gegenleistung so etwas Wertvolles geschenkt bekommen. Und dann: Der Sextant sah schön aus in seinem gezinkten und hell lackierten Buchenholzkasten, eingebettet in Samt und einer Halterung aus Holzklötzchen. Das Präzisionsgerät glänzte mich an. Schwarz lackiert der Strebenkörper aus Messingmetall, Optik, Spiegel, Schattengläser, Trommel, alles vom Feinsten. Schon beim Anblick fühlte ich mich unterwegs. Es erinnerte mich an meinen ersten Sextanten, den ich 1966 in Gibraltar kaufte und überstolz zum Boot trug. Vorsichtig, mit beiden Händen umfasste ich seinerzeit den Holzkasten. So ein Navigationsgerät macht Träume wahr. Damals startete ich damit zu meiner ersten Weltumseglung. Diesmal spürte ich, dass die Zeit reif war für den Kurs gegen den Wind.

Spontan warf ich die übers Schiff gezogene Plane ab. Und los ging es: waschen, schleifen, spachteln, malen, isolieren, erneuern, ergänzen und so weiter. Es dauerte dann ein Jahr, bis ich mein Schiffklar hatte. Grundsätzlich: Es war nicht so, dass ich, wie häufig vermutet, KATHENA NUI nach all den Jahren an Land ins Wasser schob und lossegelte.

Heute durchströmt mich ein tiefes Glücksgefühl: Ich habe davon geträumt, alle fünf großen Kaps an Steuerbord zupassieren – jetzt habe ich es getan: nonstop und allein. Von Cuxhaven nach Cuxhaven ohne Hafen. Vom 14. August 2000 bis 23. Juli 2001 war ich auf dem Meer. 343 Tage. Drei. Vier. Drei. Ganz einfach.

Ganz einfach? Elfeinhalb Monate in einem nur zehneinhalb Meter langen Boot. Fast ein ganzes Jahr nichts als Wasser. Mal flau und glatt wie die Sommerschlei, mal zu gigantischen Wellen aufgetürmt, getrieben von Stürmen der antarktischen Breiten, die mit ungeheurer Wucht gegen den Rumpf prallten. Kaltes, eiskaltes, schaumiges Wasser. Das kann man sich nicht vorstellen, dagegenzuhalten. Manchmal, wenn die Wellen vor dem Bug zusammenstürzten, hatte ich den Eindruck, der Bug wäre in den Seen stecken geblieben. Dass mein Schiff diesem gewaltigen Druck standgehalten hat, basiert auf dem Hauptmerkmal aller meiner Reisen: Einfachheit.

Die Fahrt war lang und hart. Oder war sie hart und lang? Egal. Kein Mensch, der sich niemals gegen den Wind gestellt hat, und sei es nur mit dem Rennrad, kann das ermessen. Ich lebte praktisch in drei Häuten, der normalen, der Salzhaut und der Ölhaut. Man muss besessen sein, vom Segeln, vom Alleinsein und vom Meer, um sich solch ein Bordleben zu wünschen und letztlich durchzustehen. Aber besser ist, etwas leicht Abwegiges zu tun, das zudem Substanz hat, als vorsichtig und traurig durchs Leben zu segeln. Schon immer war es das Besondere, das leicht Unangemessene, das mich fasziniert.

Mit »Allein gegen den Wind« möchte ich versuchen, mein ganzes Selbst auszudrücken: Erkenntnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Stimmungen. Diesen war ich stark unterworfen, wie zu lesen sein wird. Also, keine abstrakten Ansichten und nichts von Besserwisserei ist zu erwarten. Ich kann und werde in diesem Buch vor allem nur meine Geschichte erzählen. Sie in der ersten Person Singular wiedergeben und manchmal in der ersten Person Plural, wenn KATHENA NUI mit einbezogen wurde – sozusagen menschliche Züge bekam. Klar doch, und nicht zu vermeiden, es wird eine Ich-Bezogenheit den Bericht durchziehen, ist dies doch das Tagebuch meiner 343 Tage allein auf See – größtenteils wortwörtlich. Ich halte mich ganz nah an die Fakten. Es ist so passiert, fertig. Die Notizen geben in extremen Situationen eine Mittelbarkeit preis, die stellenweise sehr persönlich, fast peinlich, gar exhibitionistisch erscheinen mag. Das ist Absicht. Ich bin kein Mensch von gleichbleibender Fröhlichkeit – öffne mich also, wenn mir danach zumute ist. Überhaupt: Warum habe ich sonst 512 Seiten Logtagebuch geführt – unter teils undenkbaren Bedingungen: Dauerschräglage, stampfendem Bugklatschen, Kälte, Schmerzen. Zerschundene Hände haben meine Schrift zeitweilig fast unlesbar gemacht, Nässe und Schweiß die Seiten aufgeweicht.

Wenn Ihnen mein Text zu nass wird, legen Sie das Buch zur Seite – und gehen kalt duschen, dann haben Sie in etwa eine Vorstellung davon, wie ich mich an Deck gefühlt habe.

Der vorliegende Bericht ist auch ein Versuch, alles, was ich vom Segeln auf dem Meer weiß, zu vermitteln und auch Leser zufriedenzustellen, die lesen wollen, wie solche Viererkombination – allein, Schiff, Meer, Zeit – wirklich funktioniert. Sie funktioniert nur, weil ich kein Perfektionist bin.

2 ∼ Die Bunkerbestände

Das Restaurant liegt an der Schlei. Der eingedeckte Tisch steht an einem Fenster, das den Blick auf das schilfgesäumte, stille Gewässer freigibt. Eine Fähre verbindet das Lokal mit unserem Zuhause. Der Tisch ist vorbestellt. Es ist Saison. Eine gute Woche nach meiner Rückkehr gönne ich mir endlich das heiß ersehnte Steak von der Größe »Windstärke 10«. Ein Pfeffersteak mit … eine Spezialität des Chefkochs. Meine Familie sitzt mir gegenüber. Auch ihnen schmeckt es. Der Rotwein wird in Vierteln serviert.

Am Nebentisch wird über Essen an Bord gesprochen. Unwillkürlich höre ich zu. Sie haben mit ihrer Yacht Dänemark »gemacht«. Gänzlich ohne Einkauf. Schwärmen vom Kuchenbacken im bordeigenen Herd. Von gefrorenen Brötchen, von marinierten Hähnchenkeulen. Ich versuche, mir die Yacht vorzustellen, mit Kühlschrank und Tiefkühler, aber ich sehe nur mein Schiff, meine Stauräume, meinen Proviant, geschrumpft, lange vor dem Ende der Weltumseglung auf einen Karton voll. Am liebsten möchte ich ins Gespräch eingreifen, mich erklären. Ich habe … Ich weiß … Über meinen Versorgungsengpass berichten. Aber mir bleiben die Worte auf den Lippen hängen.

Mit dem Proviant möchte ich anfangen. Wie hat er das bloß gemacht? Für ein Jahr Essensvorräte stauen und die richtige Auswahl treffen, und gesund ist er auch noch zurückgekommen. Die allgemeine Neugierde zum Thema Ernährung ist groß. Zugestanden: Auch mich beherrschten auf der Weltumseglung Essensgedanken monatelang. Selbst wenn nun im Folgenden, beispielsweise im Südpolarmeer, nicht vom rationierten Essen geschrieben wird, ist es doch oft das Thema Nr. 1 in meinem Kopf gewesen.

Ich weiß einiges über die richtige Verproviantierung für Langfahrten. Stolz blicke ich zurück auf jahrzehntelange erfolgreiche Logistik. Nie kam ich ernährungstechnisch in Bedrängnis. Bereits während meiner ersten Fahrt über den Atlantik rüstete ich mich instinktiv richtig aus. Hundert und mehr Seetage mit und ohne Crew verwandelte ich selbst zum Ende hin in Fressenstage, weil ich umfangreich und abwechslungsreich die Stauräume gefüllt hatte: Pasta, Reis, Zwiebeln, Schinkenspeck, Haferflocken, Gemüsekonserven, Schokolade, Kakao, Milchpulver, getrocknetes Obst, die Basis aller Seetörns.

Wer mit Müsliriegeln, Schokowaffeln, Prinzenrollen und eingeschweißten Knackwürsten auf See geht, hat im Sturm physisch und psychisch schon verloren. Das süße und fade Zeug ernährt einen, gewiss, auch die von Ernährungswissenschaftlern empfohlene Trockennahrung aus der Tüte und Powerbars tun es, aber sie geben dem Fahrtensegler nicht das, was er eigentlich im Unwetter braucht: Wohlbefinden inklusive Kraft. Ein selbst zubereitetes Essen steigert die Freude am Segeln mehr als sämtliche vielleicht optimale Mischungen aus Kohlehydraten, Ballaststoffen und Vitaminen (Lebensstoffen). All das ist mir bekannt. In dem Zusammenhang eine psychologische Randbemerkung: Ich habe festgestellt, dass, wenn ich koche, das Wetter so schlecht nicht sein kann.

So beginne ich auch leicht und locker Proviant für diese Fahrt aufzulisten. Proviant für 315 Tage steht in Druckbuchstaben obenauf Das war schon mein erster Fehler. Ich habe die Segelzeit um die Erde zu kurz bemessen. Keine Reserve eingeplant. Zum einen lag es daran, dass ich früher in der Regel viel zu viel Proviant gebunkert habe. Speziell während meiner vorhergehenden Nonstopfahrt. Als ich nach 271 Tagen in Kiel festmachte, hatte ich noch für vier Monate Lebensmittel an Bord. Das wollte ich diesmal unbedingt vermeiden. Zum anderen war wichtig, mein Boot auf keinen Fall zu überladen, denn darunter leiden Seetüchtigkeit und Segeleigenschaften. Und mein Ordnungssinn insgesamt. Nichts ist schlimmer, als wenn alle Löcher an Bord übervoll gestopft sind. Ich weiß: Dehydrierte Tütennahrung wäre ein Ausweg. Sie hat viele Vorteile: Gewicht, Volumen, hohe Nährwerte, einfache Zubereitung. Alle Produkte sind frei von Konservierungsstoffen. Nur eines haben sie selten: Geschmack.

Wenn ich ablege, wird mein Schiff ungeheure Mengen Vorräte mitschleppen. Von Teebeuteln (400 Stück) bis zu Haferflocken (12 kg), von Dörrobst bis Bier (96 Flaschen) und Brandy (4 Flaschen) … und Schokolade – 30 Tafeln mit je mindestens 60 Prozent Kakaoanteil. Das wichtigste Überlebensmittel jedoch werden 80 Kilogramm Zwiebeln sein. Erfüllen sie doch drei Zwecke zugleich: Sie sind haltbar, vitaminreich und für die Verdauung unumgänglich. Um die Nahrung zuzubereiten, werden 45 Liter Petroleum gebunkert sowie 20 Liter Brennspiritus. Letzteres zum Vorheizen des zweiflammigen Kochers.

Eine Woche vor der Abfahrt schiebe ich 12 Einkaufswagen in unserem Supermarkt, Real in Schleswig, zusammen. Freudig und aufgeregt bezahle ich dafür 2700 Mark, hänge mir den zwei Meter langen Kassenzettel um den Hals und bringe die Ware an Bord. Sorgfältiges Verstauen dauert. Eine große Hilfe dabei sind Tupperbehälter. Sie eignen sich hervorragend für Proviant. Mehl, Gries, Spaghetti, Reis, Flocken und andere feuchtigkeitsempfindliche Produkte werden in diesen Behältern mit dichten Deckeln gelagert. Gut beschriftet, erleichtern sie das Bordleben erheblich. Tief unten ins Schiff kommen noch ein Dutzend vakuumverpackte Speck- und Schinkenstücke vom Metzger in Süderbrarup und der besondere Proviant von meiner Frau Astrid – Eingewecktes, Gläser mit Marmeladen, Früchten, Gulasch und Gehacktem. Fleisch deshalb, weil auch heutzutage konserviertes Dosenfleisch auf Dauer ungenießbar ist. Ich meine, es schmeckt grässlich. Als Letztes ein Sack frisch gebuddelter Kartoffeln aus unserem Garten. In Kiel besorge ich mir Erdnussbutter und Marmite, ein Hefeextrakt, das unheimlich gesund sein soll. Olivenöl, Tomatensoße und Käse werden direkt von »La Vialla«, einer Farm in der Toskana, angeliefert. Deren Produkte kann ich nur empfehlen: Sie sind biologisch angebaut und noch nach 300 Tagen auf See geschmackvoll.

Trotzdem war von allem nicht genug da. Abends meist lag ich in der Koje und ärgerte mich, ging während langer Nachtwachen in Gedanken durch die Regalreihen »unseres« Supermarktes oder schaute an hungrigen Tagen verträumt meine Geldnoten an. Was hätte ich für ein paar Hundertmarkscheine alles einpacken können. 30 Stangen Keks, 30Tafeln Schokolade, 2 kg Dörrobst, 2 kg Spaghetti, 2 kg Brot, 2 kg Mehl, 2 kg Zucker, ein paar Gläser Erdnussbutter und Marmelade.

Kurzgefasst: Sorge, mich für zehneinhalb Monate ausreichend und abwechslungsreich und vor allem gesund ernähren zu können, hatte ich während der Ausrüstungstage überhaupt nicht.

Weil ich aber zu wenig Proviant mitnahm, und dies bereits am 65. Tag merkte, begann ich schon am Kap Hoorn zu rationieren: 100 Gramm Pasta anstatt 200 Gramm, zweimal Essen am Tag statt dreimal, eine Scheibe Brot anstelle … und schlimmer: nur die Hälfte an Dörrobst und Gemüse. Ausgerechnet im Südpolarmeer hungerte ich mir einen Vorrat an. Ganz übel, ja schier unmenschlich ist es, zu hungern, obschon die Backskisten unter einem mit leckerem Proviant gefüllt sind. Man wälzt sich hungrig in den Schlaf, während unter einem die Behälter mit Früchten und Spaghetti schreien: Öffne mich. Wahrhaftig eine Zeit der Entbehrungen, bis Australien passiert war. Eine freiwillige allerdings, denn ich hätte die Fahrt ja abbrechen oder einfach einen Hafenstop einlegen können. Aber dann wäre es kein Nonstop mehr, und das war letztlich mein großes Ziel. Heute weiß ich, was Hunger ist, was er bedeutet und auslöst. Er beherrscht dein ganzes Ich. Morgens, mittags, abends. Nie zuvor habe ich in meinem Leben über längere Zeit gehungert.

Die Wasserfrage. Da ist sie wieder, alptraumgleich. Mit Trinkwassermangel habe ich nämlich schlechte Erfahrungen. Im Atlantik 1972 mit einer schwangeren Astrid. Wochenlang gewannen wir einige Tassen voll mithilfe des Verdunstungsprinzips. Ziemlich mühsam, indem wir Meerwasser kochten und den Dampf in ein Eisenrohr führten. Es reichte nicht. Einige Speisen wurden mit Gin gekocht.

Ich legte in Cuxhaven mit 300 Litern Wasser ab, gebunkert in zwei Tanks (180 und 90 Liter) und zwei Plastikkanistern. Der Verbrauch auf See liegt bei zwei bis drei Litern pro Person und Tag. Logisch: Da reicht die gebunkerte Menge natürlich nicht für meine lange Fahrt. Ich bin auf Regenwasser angewiesen. Das ist allgemein üblich. In den äquatorialen Kalmen und an Tagen, bevor die Tiefs anrücken, sollte mir das Auffangen gelingen. Selbstverständlich reicht dieses Wasser nur zum Trinken und Kochen. Körperwäsche erfolgt mit Seewasser. Und der Hinweis: Wer viel Flüssigkeit zu sich nimmt, ist gesundheitlich weniger anfällig. Ich habe Tage in Erinnerung, an denen ich fünf Liter pures Wasser trank oder drei Liter Tee. Es ist auch nicht so, dass man unbedingt auf Wasser zum Trinken angewiesen ist. Es gibt fantastisch schmeckende Säfte und Softdrinks. Also, wer heutzutage auf seinem Segelboot hockt und dürstet, ist selber schuld.

Dachte ich. Doch es war total anders. Es regnete weniger als erhofft, außerdem verdarb mir ein undichter Tankverschluss den kostbaren Inhalt. Fortan war ich hinter jedem Tropfen Regen her wie ein Fisch hinterm Köder. Jeden Wassertropfen fing ich mit einer festgelaschten Pütz unterm Großsegel, mehr noch mit einem gespannten Persenningtuch überm Cockpit. Oft war aber auch zu viel stürmische Gischt dabei, sodass das aufgefangene Wasser brackig war, also unbrauchbar. Über die Runden kam ich nur, weil ich lange Zeit dem Essenkochen, ja auch dem Kaffeewasser Anteile von Seewasser beimischte. Da ohnehin alles salzig an Bord war, empfand ich den salzigen Geschmack nach einigen Wochen nicht mehr als unangenehm. Dennoch: Das Wasserdilemma war zeitweise furchtbar. Als ich einmal zwei Tage das Trinken einstellte, spürte ich, dass Durst wesentlich schlimmer ist als Hunger.

3 ∼ Weg, nur weg

Also, da bin ich wieder. Zuhause. Norderfeld 8. Meine ummauerte Position: 54 Grad 33 Minuten Nord – 9 Grad 43 Minuten Ost. Schaue ich aus dem Fenster, sehe ich das Stück Kuhkoppel mit Knick, das mich als aufgeklebtes Foto am Schott um die Erde begleitete. Die Landschaft ist nassgrün, in der Ferne einzelne abgeerntete Felder schwarzgelb, Blau finde ich in den Gardinen, Schräglage nur in der Dachneigung über mir. Endgültig in die Wirklichkeit zurück bringt mich das Surren der Rasenmäher ringsum. Noch jetzt, mit einem Abstand von acht Wochen an Land, pocht mein Herz, wenn ich an unterwegs denke. Blättere ich in meinen Logtagebüchern, kommen die Bilder, quellen wie dehydrierte Nahrung aus der Tüte.

2. Tag – Dienstag, 15. August • Der zweite Tag ist schon mein erstes Kap. Meine Seele hängt auf Halbmast. Der gestrige Abschied in Cuxhaven reißt im Gesicht. Grund sind die Szenen: Das letzte Kraulen in Astrids Haar, Kyms kräftige Umarmung, der feste Händedruck einiger Freunde, die letzten Fragen der Reporter. »Warum machen Sie das?« Ja, warum tu ich mir diesen fürchterlichen Kurs an. Gehe dieses Wagnis ein: gegen den vorherrschenden Wind um die südliche Halbkugel.

Begonnen hat diese Weltumseglung mit null Wind und tiefen Wolken. Schwül ist es, drückend. WAKAN TANKA (Großer Geist) schleppt die motorlose KATHENA NUI hinaus auf die Elbe. Ein zäher Anfang einer langen Reise. Wie lang? Wer weiß? Mein Zustand ist wie das Wetter: gräulich. Zerknirscht steuere ich durch die erste Nacht. Quatsch, am liebsten würde ich mich in einer Bucht verstecken, so desinteressiert bin ich plötzlich an meinem Vorhaben. Doch die Elbmündung bietet dafür keine geeigneten Ankerplätze. Dafür umso mehr Leuchtfeuer, Schiffe, Tonnen, Strömungen, Sandbänke. Wind kommt später frisch aus der Richtung, wo ich hin will. Muss höllisch aufpassen, die Elbe ist ein dicht befahrenes Seerevier. Um den Überblick zu behalten, hocke ich an der Pinne. Obendrein ist mir schlecht. Kotzelend. Nehme zwei Aspirin, die nicht helfen. Was soll’s, die Entscheidung ist getroffen. Zehneinhalb Monate Alleinsein liegen vor mir. Mindestens. Fast ein ganzes Jahr ohne menschliche Stimmen, Berührungen, Anteilnahme. Dazu die drei großen Kaps der Erde, Kap Hoorn an der Südspitze Amerikas, Kap Leeuwin am südwestlichen Ende Australiens, Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas. Und zwischen ihnen die gefürchteten südpolaren Ozeane. Alles gegenan. Das bedeutet wie gesagt: dreifache Zeit, vierfache Arbeit. Entsetzlich, für diesen Kurs Segel zu setzen. Gedankensplitter, die mich kraft- und mutlos machen. Müdigkeit macht alles noch matter.

Doch erst einmal liegt die Deutsche Bucht voraus. Harmlos ziehen die Segel KATHENA NUI durch eine leicht bewegte See. Das Wasser ist trübe. Die Sicht mittelprächtig. Ich sitze an der Pinne und döse in Minutenperioden. Früh gegen 6 Uhr verhole ich mich in die Kajüte.

Was bin ich für einer? Schlafe unter Deck mitten im Verkehrstrennungsgebiet der Deutschen Bucht. Lasse mich von der Küstenwache erwischen. KATHENA NUI befindet sich auf Diagonalkurs, doch das Trennungsgebiet darf nur vierkant durchfahren werden, der Schiffsverkehr hat dabei Vorfahrt. Über UKW werde ich angesprochen: »Was sind Ihre Absichten?« Durch die knisternde Handfunke suggeriert die Stimme schlechte Nachrichten, signalisiert Unabwendbares. Eine gute Frage, denke ich kurz. Aber dann voller Sorge: zu Ende. Die schleppen dich ab. Schon knapp einen Tag nach Cuxhaven endet dein großes Vorhaben in der Deutschen Bucht. Nein, bloß das nicht. Ich räuspere mich, um nicht verschlafen zu wirken, und antworte freundlich: »Mein Ziel ist der Englische Kanal. Wegen des Südwest bin ich auf Kreuzkurs.« Die Antwort lässt auf sich warten. Nervös stehe ich mit der Funke in der Hand am Niedergang und beobachte skeptisch das Schiff mit den groß aufgemalten Buchstaben. Küstenwache. Es liegt ziemlich dicht in Lee. Doch als die Antwort kommt, ist sie kurz. Ich werde gebeten, das Gebiet mit einem Kurs von 344 Grad zu verlassen. Instinktiv reiße ich das Ruder rum, gehe auf Kurs wie empfohlen, fiere eilends die Schoten, um dem Trennungsgebiet nach Norden zu entwischen. Bedanke mich freundlich mit wenigen Worten, wünsche einen guten Tag. Und: Ende und aus. Verdammt, erst jetzt wird mir vollends klar, dass ich zu lange geschlafen habe. Das Erlebnis mit der Küstenwache war nicht nötig. Ich habe schon von empfindlichen Strafen gehört.

Ein Beispiel, zu was Übermüdung, Abschiedsschmerz, Unsicherheit und Traurigkeit führen können.

Die internationalen Schifffahrtsbestimmungen fordern zwar, dass jedes Schiff auf See zu jeder Zeit einen Ausguck haben muss, der die Situation und ein eventuelles Kollisionsrisiko hundertprozentig abschätzen kann (Rule 6), aber für einen Einhandsegler ist das nicht umsetzbar. Demzufolge ist es nicht schwer nachzuvollziehen, dass bei einem Alleinsegler Schlaf illegal ist. Nur: Die Handelsschiffe halten sich nachweislich auch nicht an dieses Gesetz. Mangels Personal verletzen sie es selbst in stark befahrenen Gebieten. Da der Alleinsegler normalerweise ein kleines Schiff segelt, wird er, wenn es zu einer Kollision kommt, immer der Unterlegene sein.

Das Zusammentreffen mit der Küstenwache führt zu völliger Mattigkeit. Bin danach total nieder. So habe ich mir die Abfahrt nicht vorgestellt. Diesmal nicht. Steht doch noch am Abend zuvor im Logbuch: Weg, nur weg. Und: Abfahren gleich Ankommen. Und: Ich segle allein (mit Ausrufezeichen).

Der Wind frischt auf, bleibt aber weiter aus Südwest, also ziemlich direkt von vorn. Kreuzen muss ich infolgedessen auch noch. Um Ruhe und Kraft zu finden, lege ich den Kurs weit nördlich aller Schifffahrtsrouten der Deutschen Bucht. Reduziere die Segelflächen mehr als notwendig und fahre nur wenige Wenden. Das ist fast wie vor Anker liegen. Alle Viertelstunde rappele ich mich aus dem Schlaf vom Kajütboden hoch und halte Rundumblick. Ein Wecker hilft mir, diesen Rhythmus einzuhalten. 27 Stunden verharre ich in dieser Lage. Begleitet von allem, nur nicht Segelbegeisterung.

Mein Leben ist in zehn Reisen eingeteilt. Manche waren mühsam und anspruchsvoll, andere weniger. Unterhaltsam waren sie alle. Von dieser neuerlichen habe ich nur eine rudimentäre Vorstellung. Gegen den Wind durch die südlichen Ozeane. Wie soll das gehen mit einem Schiff von zehneinhalb Meter Länge und fünfeinhalb Tonnen Gewicht. Beispielsweise bei Windstärke 8, also normalem Sturm und acht Meter hohen Seen? Werde ich da noch gegenhalten können? Gar vorankommen? Oder muss ich womöglich vor jedem Polarsturm, der länger dauert, vor dem Wind ablaufen? Solche Fragen beschäftigen mich. Versetzen mich in Panik, beidseitig der Wirbelsäule kribbelt und sticht es.

Hinzu kommt das Zeitgefühl. Was werde ich erlebt haben, wenn ich wieder in der Deutschen Bucht stehe? Werde ich überhaupt wieder die Seezeichen der Elbansteuerung in der Seekarte abstreichen? Und was werden Arfst, Johannes und Julian von der WAKAN TANKA erlebt haben? Das Ziel der letzten deutschen Yacht, die mich hinausbegleitet, ist Hooksiel. Meines, Cuxhaven, liegt, als wir uns trennen, näher, ist aber doch weiter. Merkwürdig. Habe das Gefühl, ich verlasse die Erde. Nonstop.

Die Nonstopfahrt beginnt schwierig – wie alle meine Vorhaben, die sich lohnen.

3. Tag – Mittwoch, 16. August • Alles ist endlich. Auch das Allerschwierigste. Es geht weiter. Reiße vehement an Schoten und Fallen. Stelle KATHENA optimal an den Südwestwind. 5 Knoten, 6 Knoten zeigt das Log an. Ich atme durch. Glücklich, eine Pause gemacht zu haben. Ich beginne zu leben. Ursache meiner gestrigen Schwäche ist die Tatsache, dass ich mir während der letzten Tage in Cuxhaven zu viele Gedanken um die Ausrüstung machte. Reichen 40 Liter Petroleum für Lampen und Kocher? Nein. Also, Astrid, hole bitte noch fünf Liter. Und Streichhölzer? Besser noch eine andere Sorte. Warum habe ich keine Kerzen? Soll ich mir noch ein Barometer in Reserve zulegen? Zögerlich entscheide ich mich für ein Instrument von Wempe. Die Liste endet nie: Sportschuhe, eine Dichtung, Kamerabatterien, Kombizange und so weiter. Ärgerlich: Für das Stanzen zweier Refflöcher in meine Orkanfock nimmt der Segelmacher 147 Mark – und will mich noch veräppeln. Alex, mein Cuxhavener Segelfreund, montiert eine zusätzliche neue Steckdose. Zwischendurch immer wieder Bereitsein für Fotos, Telefonate und Gespräche. Leute, die aus Bielefeld, Bremerhaven oder Köln extra anreisen, kann ich nicht mit einem Wort abweisen. Das kann ich einfach nicht. Und das kostet Zeit. Sprüche von Freunden und Bekannten: »Wilfried, wenn es einer schafft, dann du«, hören sich gut an, motivieren aber nicht. Nicht in Cuxhaven. Lieber wären mir eine hilfreiche Hand oder ein Auto, um meine Besorgungen zügig zu erledigen. Zwei Tage vor der Abfahrt füllen Berge von Obst und Gemüse vom Markt die Plicht. Und alles muss im Schiff verstaut werden. 60 Kilo Zwiebeln sammeln wir ein. Oder sind es 80? Ich verliere den Überblick. Und Astrid? »Der geht, hat es leichter. Bleiben ist schwer.« Kym reist an, im Gepäck eine DV-Kamera. Die Einführung in die winzige Filmkamera verwirrt mich vollends.

Wind bleibt Südwest 4 bis 5. Mein Ziel steht fest: Das Wetter ist für einen Nonstopper zu nehmen, wie es kommt.

Der sichere Kurs zum Englischen Kanal führt hinaus auf die Nordsee. Dort ist viel Raum. Das heißt, die holländische Küste mit Zwangswegen, vielen Bohrinseln und ganzen Förderfeldern bleibt links, also an Backbord liegen. Weit. Damit auch ein Großteil der Fischerboote. Sind sie es doch, die einem motorlosen Segler wie mir durch unorthodoxe Kurse Ärger bereiten können.

4. Tag – Donnerstag, 17. August • Essen und Trinken interessiert noch nicht. Eine Brotscheibe und eine Banane sind alles. Was mache ich bloß mit den 300 anderen? Goldgelb leuchten sie mich an. Von meinem Verein in Cuxhaven bekam ich zum Abschied einen riesigen Karton voller fast reifer Bananen.

Schlagartige Windböen mit vielen Segelwechseln und vor allem weiterhin Gegenwind halten mich an Deck. Ich habe meine Segelgarderobe einfach ausgerüstet: keine Rollsegel, alle Vorsegel mit Stagreitern. Das macht die Arbeit zwar umständlich, doch ich erhoffe mir in stürmischen Gewässern Vorteile, dass beim Reffen und Bergen weniger technische Probleme auftreten.

Vermisse zweite Ölhose, Langschäfter (Gummistiefel) und Südwester. Macht mir Kopfzerbrechen für den ganzen Tag. Ginge es überhaupt ohne diese drei wichtigen Utensilien? Kaum. Meine Befürchtung, Astrid könnte sie versehentlich wieder eingepackt haben, steigert sich. Nämlich mitsamt den Dingen, die in den letzten Tagen wieder von Bord expediert wurden. Das wäre schlichtweg eine kleine Katastrophe.

6. Tag – Samstag, 19. August • Auch dieser Tag beginnt und endet mit Gegenwind. Obendrein erwischt mich 20 Meilen vor Dover, dieser Meerenge zwischen England und Frankreich, ein Sturm um 8 Beaufort. Aus Südwest. Reffe erstmalig das Großsegel ganz durch. Das dauert. Die Reihenfolge der Handgriffe ist noch nicht koordiniert. Das Gleiche gilt für die Sturmfock. Segelsack aus der Hundekoje zerren. Unterliek anschäkeln. Stagreiter am Stag einschlagen. Fall einpieken. Segel setzen. Ach, die Schoten vergessen. Wieder das schlagende Tuch bergen. Schoten anknoten und Umlenkblöcke versetzen. Von Neuem das Sturmsegel setzen. Schoten dichtholen. Verdammt, der Holepunkt ist falsch … Und das alles im Angesicht des Fährhafens Ramsgate und der umliegenden fantastisch ausgeleuchteten Kreidefelsen. Die Sicht ist nämlich besser als gut.

Bei der Querung von South Falls Head wird Segeln für Minuten zum Deckwaschen. Auf der Untiefe von acht Metern ist mächtig was los. Tidenstrom und Wind stehen gegeneinander und verursachen eine kabbelige, steile Welle. Weil ich auf keinen Fall mit dem Zwangsweg der Dickschifffahrt kollidieren will, ist diese Querung des Flachs ein Muss.

Mit Kreuzkurs und gegen den Gezeitenstrom durch die Straße von Dover. Zunächst alle zwei Stunden eine Wende, dann halb- und viertelstündlich. Das ist nass und hart. Steigert meine Müdigkeit. Immerhin: Innerhalb von sieben Stunden noch 4 Meilen vorangekommen. Vielleicht 22 Wenden gefahren. Jeder Schlag führt haarscharf an den Trennungsweg. Kein Schiff vom Kurs abgebracht. Könnte ich mir auch nicht erlauben. Die Engländer überwachen die Enge mit Radar.

Gegen 23 Uhr Dover in einer guten Meile Abstand passiert. Mit dem letzten Licht und einem einmalig satten roten Himmel über den Klippen. Ich zücke die Fotokamera, aber wie sich später herausstellt, ist kein Film drin. Cuxhaven und meine Unruhe! Fünf Fährschiffe kreuzen fast gleichzeitig meinen Kurs, entweder dicht vor dem Bug oder achtern. Mann, ist das eine Freude, als ich mit der langsam einsetzenden Dunkelheit Dover achteraus habe. Glücklicherweise hatte ich nach dem Desaster mit der deutschen Küstenwache seemännisch alles richtig gemacht: 27 Stunden Segelpause weit nördlich von 54 Grad Breite; in der Nordsee einen Bogen um alle Hindernisse geschlagen; keinem Schiff zu nahe gekommen; Kurs und Geschwindigkeit der Doverfähren gut abgeschätzt. Und schließlich nach Dover in die Nacht hinein. Als der Wind schwachwindig und später gar flautig wird, liege ich prächtig zwischen der englischen Küste und dem Verkehrstrennungsgebiet Englischer Kanal.

Das Wichtigste zum Gelingen dieser 350-Meilen-Horrorpassage für Einhandsegler: Ich habe mir Zeit genommen.

4 ∼ Magisches Kap Start Point

Die Neugierde auf meine 343Tage ist groß. Riesengroß. Nach Cuxhaven mit einigen Journalisten und Fernsehteams folgen noch viele Interviews mit Radio- und Fernsehstationen. Ich fliege nach Berlin. Ich fliege nach Stuttgart. Mainz wünscht mich. Und nochmals Stuttgart. Der Süden Deutschlands ist sehr auf meiner Seite. Im Norden besitzt zwar jeder zwei weiße Mützen, aber Heilbronn hat mehr maritimes Feeling. Für den NDR Kiel, unseren Haussender, buddele ich Kartoffeln. In Hamburg setze ich mich auf das rote Sofa: zwei Minuten Gespräche gegen 343 Tage. Welch ein Wechsel. Zeit wurde unterwegs in Tagen gemessen, hier in Sekunden. »Bettina, eine Minute, eine Minute!« Die Standardfragen kenne ich schon: Einsamkeit, Essen, Stürme, Haibesuch … Wie regeln Sie Ihren Schlaf? Sie müssen doch irgendwann mal schlafen. Am Ende fühle ich mich ziemlich durchwalkt. Die Spitze des Frage-Antwort-Spiels gipfelt darin, dass ein Lehrer es sich auf unserem Sofa bequem macht, seine Zigaretten hervorholt und fragt: »Haben Sie nachts immer geankert?«

7. Tag – Sonntag, 20. August • Sitze auf dem Boden der Kajüte. Vor mir eine blaue Muck mit schwarzem Kaffee. Auf einem Teakholzbrettchen eine Schwarzbrotschnitte mit Käse. Hebe ich den Blick, sehe ich blaukariertes Bettzeug, blauen Schlafsack, blaugrundige Gardinen. Sonnenflecken wandern über die noch jungfräuliche Weltkarte am Schott. Das Log am Kartentisch zeigt um 4 Knoten. Wir haben Nordwind, und ich segle tatsächlich mit aufgefierten Schoten auf direktem Kurs. In der Nacht, gleich nach Mitternacht, konnte ich den Windsprung kaum fassen. Erstmalig ist kein Dichtholen der Segel erforderlich. Nicht zu glauben. Dachte zunächst: Mache ich was falsch? Zögerte in der Tat. Das war eine Freude nach sechs Tagen am Wind und mageren 350 Meilen. Währenddessen: eine Kanne Kaffee. Sonst nichts Heißes, nichts Gekochtes. Der Kurs: nichts als Verkehr und Seezeichen. Glücklicherweise gönnte ich mir den zweiten Tag als Erholung.

Ja, nachdem alles so schön lief, war ich ganz und gar von der Rolle. Wollte mich zum Schlaf niederlegen, hörte Stimmen, sprach laut mit Astrid und rief sie vom Cockpit aus. Da sie sich nicht meldete, stürzte ich in die Kajüte und suchte sie, bis ich beim Blick in ihre, die Hundekoje, merkte, dass … Das war traurig, furchtbar traurig. In dem Moment spürte ich, dass ich am Ende meiner Kraft war. Seltsam, sollte ich nach fünf Nächten ohne richtigen Schlaf in die Bredouille kommen, müsste man fairerweise sagen, nicht ich sei schuld, sondern mein Zustand. Überspannt wie ich war, verbrachte ich den Rest der Nacht im Cockpit. Vorsichtshalber angeleint. Psychisch und physisch völlig am Ende, begleitet von Selbstmitleid. Schlief dann sogar im Sitzen ein. Was ich gestern vor Dover, und überhaupt den ganzen Tag, geleistet habe, war sensationell: 42 Wenden. Mindestens. Gegen einen steifen bis stürmischen Südwest und zum Teil gegen die starke Tidenströmung.

Die gesprenkelten Sonnenflecken fallen jetzt auf den Knick, das Foto auf der Backbordschottwand. Zur Erinnerung: KATHENA ist auf Westkurs, die Sonne geht im Osten auf, schlägt den Bogen gen Süden.

Wie die Kajüte aussieht, geht niemanden was an. Doch, mich. Ich räume auf. Die Frage nach der vermissten Wetterkleidung hat sich erledigt. Finde sie tief unten im Schrank verstaut. Bin froh, lebe nämlich jetzt schon gedoppelt, das heißt zweifach Hosen, Fleecewäsche, Socken … Die Kleidung steht seit Cuxhaven, Resultat, wenn man nicht in der Koje schlummert.

Über ein Dutzend Hände Bananen plumpsen über Bord. Ein schöner Anblick, die gelben Früchte im Blau des Wassers davonschweben zu sehen. Schade, schade, aber sie sind überreif, und sowieso kriege ich kaum Essen runter. Mein Gesicht gewaschen. Dann erstmals mit Astrid telefoniert. Verbindung schwach. KATHENA liegt in einer Flaute, kann die erforderlichen Satelliten nicht halten. War kein gutes Gespräch. A. weint am Ende, mir ist auch zum Heulen, nicht direkt, aber …

Ich möchte in diesem Logtagebuch alles aufschreiben. Hatte mir eigentlich vorgenommen, neben den Notizen (1/3 Log-, 2/3 Tagebuch) noch ein separates und sehr persönliches zu führen. Wird wohl nix. Spüre, einmal zur Hand genommen, ist es besser, alle Fakten, Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Träume, in einem Buch festzuhalten. Die ersten fünf Tage waren hierfür wenig ergiebig. Wie auch.

Doch: Gegen Abend wieder auf Kurs »back to the southwest«. Der Wind kommt schon wieder von dort, wo ich hin will. Dafür glüht der Abendhimmel über der englischen Küste. Ich brenne auch: Das Feuer ist trotz Gegenwind und die »übermenschliche Segelleistung Nordsee« nicht erloschen. Meine Frau hätte mir ihr Kopfkissen mitgeben sollen. Auf eine einfache Formel gebracht: Wäre ich sexuell erloschen, wäre ich nicht auf diesem Nonstopkurs.

Nochmals zum Schlaf: Habe mich mit der Morgendämmerung im Cockpit langgemacht. Mit Sonnenbrille. Die Erfahrung lehrt mich, dann schlafe ich nur leicht und wache, wie erforderlich, regelmäßig auf Schiffe halten sich an die Trennungsrouten.

8. Tag – Montag, 21. August • Eine ganze Woche bis zur Isle of Wight. Das ist lange. Egal, mir geht es gut. Ein sonnendurchfluteter Morgen. Blendende Sicht. Die Wasseroberfläche steht gleißend gegen einen leicht bewölkten Himmel. Der Segelwind legt sich angenehm auf mein Gesicht. Ausdruck meiner Freude: Ich stehe am Niedergang und schreie saulaut ein »ja, ich komme« in den Wind und leiser, »ich bin unterwegs«. Reiße mit aller Kraft an den Niedergangsbügeln, so als wolle ich das Schiff verrücken. Damit fällt etwas von der Spannung ab, die ich seit Wochen in mir trage. Ach, wie bequem haben es die britischen und französischen Segler, die auf Ozeanfahrt gehen. Einen Tag und eine Nacht, und schon sind sie auf dem offenen Atlantik. Ich beneide sie um diese Möglichkeit.

Schlafmangel ist weiter ein Thema. Gehört viel Courage dazu, nachts in Zehn-Minuten-Schüben Ruhe zu finden. Das heißt, jedes Mal Augen reiben, Rundumblick, Augen reiben und zur Sicherheit noch einmal Rundumblick. Dasselbe tagsüber, dann in halbstündigen Perioden. Dösen, das ist klar, reicht nicht. Aber reicht der zehnminütige Ausguck? Schiffe, die auf Gegenkurs 18 Knoten fahren plus meine 6 Knoten Eigenfahrt, sind bei guter Sicht in acht bis zehn Minuten da. Einhandsegeln ist eine harte Disziplin – im doppelten Sinne: Kraft und Kopf. Genau definiert bedeutet Einhandsegler: eine Hand fürs Schiff, eine Hand für die eigene Sicherheit.

Kraft? Winschen kurbeln und anderes mache ich inzwischen mit links. Kein Vergleich zum Probetörn im Juni in Dänemark. Wenn ich zurückkomme, habe ich noch mal Muskeln zum Spielenlassen.

Wetter? Wolken, leichte Kumului, nicht übel. Seewetter von BBC verkündet noch bessere Aussichten: Südwest bis morgen früh, dann Südost 3–4, später 6–7. Na dann. Einsam in die Nacht. Gänzlich. Kein Schiff. Keine Küste. Kein Segler. Segler? Wo sind sie, die englischen Yachten? Stehe doch ziemlich dicht unter der Küste und sehe nur einen Segler täglich. Dabei ist gerade die Südküste Englands voller Häfen und Marinas.

9. Tag – Dienstag, 22. August • Wir segeln direkt. Und schnell. Das verwirrt. Es ist der unwiderstehliche Zug, der uns auf direktem Kurs davonträgt. Weit draußen im Südwesten Englands, wo ein Leuchtturm bei Start Point den Ausgang des Ärmelkanals signalisiert – und den Beginn des Atlantiks. Ich habe diesen Leuchtturm schon oft passiert. 600 Meilen von Cuxhaven, gab er mir damals wie heute die Weite, die ein Alleinsegler gerne hat. An dieser Stelle öffnet sich der Englische Kanal bis auf 90 Meilen Breite. Hier kann ich schon sagen – die Biskaya, ja, der Atlantische Ozean liegen vor mir. Ab hier sind Vergleiche der Kurse und Zeiten mit anderen Weltumseglern möglich. Dieses raue Kap ist für mich ein magischer Ort. Am Anfang und am Ende jeder Reise. Gerne würde ich Start Point mal ganz dicht passieren.

Hantiere inzwischen mit einer Gurtweste. Nicht immer, aber ab moderater Windstärke. In den Metallbeschlag der Weste klippe ich mit einem Karabinerhaken eine zwölf Millimeter dicke Sicherheitsleine, die bis zum Vorstag reicht. Diese Leine ist ein Muss. Die totale Antizipation an die Bewegungen des Schiffes fehlt mir ohnehin noch. Hoffe, sie kommt im Laufe der Fahrt. Oder kommt sie nie wieder? Alles ist letztmaliger.

Erstmalig ist mein Radioempfang. Über den Kurzwellensender »Deutsche Welle« höre ich vom Untergang des russischen Atom-U-Bootes Kursk in der Barentssee. Man vermutet, dass die gesamte Crew tot ist. Kein gutes Omen für meine ersten Nachrichten. Es streicht eine undefinierbare Spur über meinen Rücken. Ich bin sicher, Astrid geht es ebenso.

Abends Sturm ohne Sturmwarnung. Er ist einfach da. BBC in ihrer »Vorhersage«: »Galewarning for Sole, Finisterre …« Seltsam, eine Warnung, die schon umgesetzt ist. Reffe Groß durch und setze Sturmfock. Folge: Das Schiff liegt besser in der See, hält die Fahrt, 6,5 Knoten, und das Wichtigste: Es ist kursstabiler. Die Aries, meine Selbststeueranlage, hat allemal weniger zu tun. Noch sollte ich sie etwas schonen. Liegen ja einige furchtbare Seegebiete vor ihr. Ohne diese mechanische Windselbststeueranlage ist meine Fahrt nicht umsetzbar. Monatelang auf dem offenen Meer das Boot von Hand zu steuern, Tag und Nacht, unmöglich. Aber die Aries, mit Aluminiumrohren am Heck montiert, wirkt stark, unempfindlich. Eine Aries hat mich noch nie im Stich gelassen. Alles, was sie braucht, ist Schmierfett und gelegentlich neue Steuerseile. Aries mit all ihren Ritzeln, Rollen und Gelenken und vor allem Rundungen – sehr weiblich.

Heiße Nachtwache. Im Rigg baumelt ein weißes Rundumlicht, ein 12-Volt-Fresnell-Licht mit 3 bis 4 Seemeilen Reichweite. Mache es mir mit Ölzeug und Schlafsack im Cockpit »gemütlich«. Ergebnis: Ein Fischer karriolt bedenklich nahe um KATHENA herum. Nichts Neues für Einhandseglerberichte, ich weiß. Schlimmer – sieben Großschiffe dicht passiert, davon zwei auf Kollisionskurs. Weiche nach Steuerbord aus. Wind 8 Beaufort, per Handanemometer – 18 m/s – gemessen. Richtige Roller laufen raumschots auf. Faszinierend, solch ein Wetter hatte ich schon lange nicht. Wind und Strömung prallen aufeinander. Man hört’s: Es ruckelt und schlägt, knallt und quietscht an Deck. Dafür alle Küsten weit entfernt. Noch ein paar Stunden, und ich werde das Wiegen des Ozeans spüren. Es als angenehm empfinden.

10. Tag – Mittwoch, 23. August • Es ist so weit. Nordsee und Englischer Kanal endgültig geschafft. Biskaya, Atlantik und alle Ozeane liegen vor mir. Das Wasser wird langsam stahlblau, die Wellen länger, der Wind stetiger- und wichtiger: Er steht günstig. Nord bis Nordost. Abends werde ich meine ozeanische Wiedergeburt feiern. Doch vorab eine Flasche göttliches »Asgaard« mit Blick ins Gegenlicht. Bei einem Kurs um 230 Grad ist das der Bug. Fakt: Alles klar. Alles schwebt. Ich bin allein auf dem Meer. Was doch eine Flasche Bier bewirkt. Kochen ist danach irgendwie nicht wichtig. Es reicht nur zu einer Schüssel Porridge mit Wasser und einer Prise Salz, leicht angekocht und mit kalter Milch übergossen. Auf dem Boden hockend, löffle ich sie bedächtig aus.

Bis zum letzten Augenblick – an Land – hatte ich an die Reise nicht geglaubt. Überspannt und starr genieße ich plötzlich das Loslassen – und zwei Tränen laufen mir über die Seele. Ich öffne noch eine Flasche Bier. Als sie leer ist, werfe ich sie lässig hinter mich – über Bord. Jetzt geht es erst richtig los.

5 ∼ Blau, blauer

Drei Wochen nach meiner Ankunft gehe ich in eine Buchhandlung. Sie liegt in einer Passage der Schleswiger Einkaufsstraße und heißt Buchhandlung am Dom. Neugierig und mit einem schönen Gefühl stürze ich mich auf die prall gefüllten Regale. Regale ohne Schlingerleisten, das fällt mir besonders auf. Ich muss grinsen. Mit den Fingerkuppen streiche ich über all die neuen Titel. Schwanitz, Grisham, Harry Potter. Stapelweise neben der Kasse liegt »Wanderungen an der Schlei«. Ich will mir ein Bild machen, wie die neuen Bücher gestaltet sind. Matt gestrichene Schutzumschläge sind offensichtlich modern. Rechts vom Eingang entdecke ich eine Weltkarte mit meinem Kurs. Wolfgang Schröder, der Inhaber, hat die Positionen dem Internet entnommen und penibel mit farbigen Stecknadeln und Datum markiert. Ein Buchhändler, der auch gerne auf Segelkurs gegangen wäre?

11. Tag – Donnerstag, 24. August • Feine klassische Kumului stehen über den Himmel verteilt. Schönwetter mit Veränderung. Leichte Brise aus Ostnordost. 2000 Meter Wassertiefe. Da gibt’s nichts zu mäkeln. Das ist die weite Freiheit. Keine Mitsegler. Keine Mitwisser. Keine Mitgucker.

In der Pfanne rösten zwei Scheiben Toastbrot, Kaffee dampft in einer blauen Tasse. Ach, geht es mir gut – bis, ja bis eine Mutter samt Unterlegscheibe in Mastnähe an Deck plumpst. Sofort verändert sich mein Herzschlag. Wo kommt die Mutter her? Gehört sie ins Rigg? Unweigerlich starre ich nach oben in den Mast, dann in Höhe der Saling … nichts. Der »leere« Bolzen steckt in Augenhöhe, am Großbaum. Er ist Teil des Lümmelbeschlages. Was bin ich froh. Das ist mein zweites Frühstück.

Ich bleibe an Deck, querschiffs im Cockpit, halb liegend, halb sitzend, genieße den Blick ins Gegenlicht. Bei Kurs 230 ist das der Bug. Fakt: Alles ist blau. Nicht nur das, alles schwebt. Was doch Wetter bewirkt. Reparaturen, Ordnung, Essen sind irgendwie nicht wichtig. Im Kopf noch nicht frei von Nordsee- und Kanal-Gedanken. Gegen das Meeresblau und die Weite des offenen Ozeans ist doch die Deutsche Bucht ein trüber Tümpel, von der Farbe her, sofern man überhaupt von Farbe sprechen kann. Und nichts als Zeichen und Begrenzungen. Und nicht zu vergessen die Küstenwache. »Was sind Ihre Absichten?« Gut gefragt. Und freundlich: »Steuern Sie bitte 344 Grad.« Wenig später, nach dem Besuch der Küstenwache, verlor ich die Nerven. In einem Anfall von Zorn stieß ich den Spinnakerbaum über Bord. Gleich im ersten Versuch hatte ich ihn wieder aufgefischt: Vorsegel geborgen, Halse, in den Wind, raufholen in Lee mithilfe des Bootshakens.

Das Blau geht direkt aufs Gemüt: Ich fühle mich wie jemand, der aus einem Schwimmbecken ins Meer umsteigt.

12. Tag – Freitag, 25. August • Anstatt das Schiff klarzumachen für vor mir liegende, raue Zeiten, hocke ich an Deck. Der Blick wandert querab durch die Reling in die Sonne und aufs glitzernde Meer. Dieses tiefe, reine Blau mit kleinen weißen anlaufenden Kämmen – traumhaftes Segeln. Kurs gen Süden mitten durch die Kanarischen Inseln. Ein Tag wie er nicht klarer sein kann. Mit 6 Knoten zerteilt der Bug das Blau, lässt es weiß schäumen. Es ist schön, an Deck zu sitzen und das gleichmäßige Wiegen des Schiffes mit den Wellen zu erleben. Ein Tag zum Küssen: mild, weich, gewinnend. Die See kann eine großartige Geliebte sein und Segeln mehr als Tuch hochreißen, trimmen, bergen, einzurren. Ich bin ein Mensch in unberührter Natur und genieße jede Sekunde. Fabelhaft, nach den vielen Jahren Ostsee und Nordsee mit dem ganzen »Sperrmüll«, Schiffen und Marinas.

Diese Eintragung noch vor dem Frühstück, nackt vor dem Kartentisch stehend: kein Gramm Fett. Gürtel letztes Loch. Bin nämlich auf 66 Kilo runter. Für die südliche Kampfzone muss ich unbedingt zulegen. Essen spielt noch immer keine Rolle. Keinen Appetit, doch ich sollte mich zwingen.

Abends höre ich auf Kurzwelle die Schlagerparade der »Deutschen Welle«: »Mein Schimmel wartet im Himmel auf dich.« Was wartet auf mich?

14. Tag – Sonntag, 27. August • Ich bin tatsächlich unterwegs. Allein. Der Gedanke nimmt mich noch immer ganz in Anspruch. Ich kann nicht umhin zuzugeben, dass ich wieder stundenlang auf dem Brückendeck eingeknickt sitze (halb liegend, halb sitzend) und mich den unvergleichlichen Empfindungen hingebe. Farbe: Begierig sauge ich das tiefe Blau ein. Segel: Schmetterlingsstellung – Genua an Steuerbord, Groß an Backbord. Meer und Himmel: zerteilte und weißädrige See, leichte, hohe Wolken. Speed liegt um 6 Knoten.

Da mein Log nicht mehr funktioniert, kann ich die Geschwindigkeit nur schätzen. Leider ist mir ausgangs des Kanals die Spirale des mechanischen Sumlogs gebrochen. Jetzt könnte ich ja die Geschwindigkeit mit meinem GPS ermitteln, aber das schalte ich nur mittags ein. Zehn Minuten zur Standortbestimmung reichen mir. Ich will nicht Sklave sein.

15. Tag – Montag, 28. August • Ich bin unterwegs! Mit Ausrufezeichen und zum letzten Mal und in krakeliger Schrift. Wir rollen stark. Vor einem frischen Nord ist KATHENA mit Höchstfahrt auf Südkurs. Wichtig: Ich habe gut geschlafen. Zehn Stunden. Verteilt mit Unterbrechungen. Notwendig. Denkt man nach 14 Tagen schon an die Zeit? Ja. Ich teile mir die Strecke ein. Start Point, Linie, Kap Hoorn, Datumslinie, Snares, Halbzeit, Maatsuyker, Kap Leeuwin, Kap der Guten Hoffnung, Linie, Start Point werden die Höhepunkte sein.

Dass ich den Absprung geschafft habe, ist die größte Überraschung. Noch im Juni, als ich meinen Probetörn durch die Dänische Südsee unternahm, glaubte ich nicht daran. Zu viel Respekt vor der »verkehrten« Route. Zu viel schien auch noch am Schiff zu tun. Freilich beides nichts Ungewöhnliches vor einer Langfahrt. Zwei Wochen nahm ich mir Zeit. Nur. Und dann solch ein Segelrevier. Nicht gerade geeignet für eine Nonstopfahrt. Denkt man. Aber es wehte ein guter Wind, zudem ist KATHENA ja motorlos. Schon eine Meile vor dem Hafen wurde es meist aufregend an Bord: Zu allen Richtungen hatte ich Festmacher gelegt. Eine Wurfleine auf dem Aufbau platziert. Beidseitig Fender gelascht. Fallen zum Loswerfen gecheckt. Anker zum Fallen vorbereitet. Noch schnell ein Auge auf die Seekarte, und schon stand ich vor der Hafeneinfahrt. Alle Hafenmanöver wurden unter Großsegel gefahren. Ich habe keinen Steg gerammt, niemand in Bredouille gebracht, trotzdem festgestellt, dass kaum ein Yachtsegler Verständnis für motorloses Segeln hat. Vielleicht mit Recht. In Dänemark herrscht wirklich Betrieb zwischen den Inseln. Hier eine Fähre, dort ein Kanonenboot, dann die vielen Yachten, Motorflitzer, Paddler und überall Fischerboote.

Ergebnis dieser sogenannten Testfahrt: Das gute Gefühl für KATHENA NUI stellte sich sofort ein. Auf den Punkt gebracht: Sie ist sofort da. Hippelt nicht rum wie ein Leichtbau. Gibt mir ein Gefühl von Stärke. Sicher, einige Reparaturen und Änderungen standen anschließend auf meiner Liste: