Ingeborg und das Meer - Wilfried Erdmann - E-Book

Ingeborg und das Meer E-Book

Wilfried Erdmann

0,0

Beschreibung

Ingeborg von Heister, Segel-Pionierin und Atlantik-Bezwingerin Ein Solo-Segeltörn ist ein Abenteuer, bei dem auch erfahrene Fahrtensegler mit modernen Booten an ihre Grenzen kommen können. Wie viel größer muss die Herausforderung 1969 gewesen sein, als Ingeborg von Heister als erste deutsche Frau eine Atlantiküberquerung allein auf ihrem Trimaran wagte? Ihr Schwiegersohn Wilfried Erdmann zeichnet anhand ihrer Log-Tagebücher und vieler persönlicher Gespräche das Segelabenteuer nach – eine Verbeugung vor dieser überragenden Leistung! • Allein von Deutschland bis in die Karibik – und retour: eine historische Erstleistung • Hingabe, Leidensfähigkeit, Zähigkeit, Mut: Was es für Segelreisen übers Meer braucht • Die Geschichte einer Atlantiküberquerung, erzählt vom herausragenden Segler und Segelschriftsteller Wilfried Erdmann Ein Boot, Wind und Wellen, die Leinen loswerfen und die eigenen Ängste überwinden Fahrtensegeln an sich ist nicht frei von kniffligen Situationen. Das ist umso mehr der Fall, wenn der Segeltörn allein in Angriff genommen wird. Doch Wilfried Erdmann hat nicht nur eine Hommage an die Alleinseglerin geschrieben, die alle Probleme auf dem Weg in die Karibik und zurück über die Bermudainseln und die Azoren nach Europa meisterte. Sein Buch ist zugleich eine Universalgeschichte des Segelns. Denn auch, wenn sich moderner Technik viel im Segelsport verändert hat, gibt es doch Punkte, die universell gültig sind: Fernweh, Wind, Wellen und eine unbändige Freiheitsliebe!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 177

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wilfried Erdmann

INGEBORG UND DAS MEER

Die erste deutsche Frau, die allein über den Atlantik segelte

INHALT

Freiheit hat ihren Preis

Vorwort, Wilfried Erdmann

Sie will segeln

Allein mit dem Wind

Auf See in die Freiheit

Barbados im Blick

Insel der Träume

Getrennte Wege

Hoch am Wind und kühle Drinks

Anguillas weiße Pracht

Krank und am Ruder

Kurs Bermuda

St. George’s Harbour

Kampf mit den Flauten

Ein Hauch von Behagen

Nelsons Blut

Ingeborgs Resümee

Anhang

Anmerkungen zu ULTIMA RATIO

Das war an Bord

Die Kosten der Ozeanrunde

Fünf Rezepte

Seemännische Ausdrücke

»Ganz im Gegenteil, dieses Buch (oder diese Fahrt) möchte zeigen, dass trotz aller stürmischen Entwicklung der Technik das Meer bleibt, was es immer war – das Meer –, und dass die Grundsätze guter Seemannschaft sich nicht ändern sollten.«

Bernard Moitessier, Segler und Autor

FREIHEIT HAT IHREN PREIS

Vorwort, Wilfried Erdmann

Im Jahr 1966, ich war gerade mit großen Plänen im Kopf in Gibraltar angekommen, liefen zwei Deutsche mit einem Trimaran im Hafen ein. Ich war neugierig auf das ungewöhnliche Schiff, seine Besatzung und schlenderte am Steg entlang. Sehr schnell kam ich ins Gespräch mit Astrid und ihrer Mutter Ingeborg. Von diesem Moment aus war es nicht mehr weit, und ich reparierte die Bordtoilette von ULTIMA RATIO und folgte Tage später der Einladung, mit den beiden nach Alicante zu segeln. Eine tiefe Bewunderung empfand ich für beide sofort. Für Ingeborg, die erfahrene Seglerin, noch ein bisschen mehr. Das ist bis heute so geblieben.

Zurück in Gibraltar blieb ich meinen Plänen treu und segelte in 20 Monaten allein um die Welt.

Ich wurde in Pommern geboren. Wuchs nach dem Ende des Krieges in Mecklenburg auf, wechselte 1957 mit dem Rad über die DDR-Grenze nach Schleswig-Holstein. Da war ich 17 Jahre und voller Tatendrang. Gleich im Jahr darauf machte ich mich mit meinem Rennrad allein nach Indien auf, via Italien, Nordafrika und Persien. In Indien angekommen tauschte ich den kümmerlichen Rest meines Rades gegen einen Rucksack, um weiter durchs Land zu reisen. Ganz im Süden Indiens angekommen aalte ich mich unter Palmen am Sandstrand des Arabischen Meeres und erholte mich von den Strapazen der 10.000 Radkilometer. Hier entwickelte ich ein Interesse und Verständnis vom großen, unendlichen Wasser und von einem Segelkahn, der mit dem Bug auf einer Sandbank lag. Seine Farben waren verblasst, stumpf und dreckig. Ich sprang dennoch an Bord, als ein Mädchen mich einlud mitzusegeln. Die Farben dieses guten alten Schiffchens, das an der Küste lag und kaum mehr gebraucht wurde, hinderten mich nicht, das Segeln mehrere Tage auszuprobieren. Das Mädchen zog die Segel hoch, ich hockte an Deck und genoss. Ohne dass ich etwas tun oder mich gar anstrengen musste, glitt das Schiff durchs Wasser. Das gefiel mir sehr. Ich war sofort überzeugt, dass Segeln eigentlich alles hat, was man zum Reisen braucht. Eine Koje, einen Kocher, eine Seekarte, ein Petroleumlicht. Wundervoll. Schon am Abend konnte ich vor Aufregung nicht einschlafen. Ein Segelschiff könnte das Transportmittel meiner Zukunft sein.

Nur: Ein seetüchtiges Segelboot war nicht billig. Das war mir bekannt. Was konnte ich tun?

Zurück nach Hamburg, auf einem Handelsschiff anheuern, arbeiten und sparen. Drei Jahre lang fuhr ich als Matrose an Deck, bis ich das Geld zusammenhatte. 21.000 Mark. Gesegelt hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, aber bei der Handelsschifffahrt gelernt, wie man einem Sturm begegnet oder eine lange Wache übersteht. Folglich griff ich zu, als mir in Spanien ein Sieben-Meter-Segelboot angeboten wurde. Es sah für mich passend aus, als würde es fürs Meer geeignet sein und nicht untergehen. Das passierte dann auch nicht.

Mithilfe meines DIN-A5-Atlas träumte ich von Zielen, Kursen, Entfernungen und kommenden Abenteuern. Ich machte es wie bei der Planung meiner Indienfahrt – sich entscheiden und los. So wurde ich der erste Deutsche, der die Welt mit der hölzernen KATHENA allein umsegelt hatte, ohne es angestrebt zu haben.

Weil mir das Segeln gut gefiel, startete ich eine weitere Weltumseglung. Diesmal allerdings mit meiner Frau Astrid, dem Mädchen, das ich in Gibraltar kennengelernt und nach meiner Rückkehr sofort geheiratet habe. Diesmal mit einem Boot, das einen Meter länger war, KATHENA 2. Beide Reisen wurden in Büchern festgehalten, dadurch entdeckte ich meine zweite Leidenschaft – das Schreiben.

Ich segelte weiter und schrieb weiter. Übers Mittelmeer, über die Ostsee, die Südsee, die Nordsee, nonstop um die Erde, über den Atlantik und wieder über Ostsee und Nordsee. All diese Fahrten erschienen in Büchern oder als große Artikel mit vielen Seiten in »Stern«, »Geo« und »Yacht«, denen ich danke sage für ihre Unterstützung. Wir konnten gut davon leben.

Dieses Buch »Ingeborg und das Meer« schrieb ich 20 Jahre nach dem Tod meiner Schwiegermutter. Auf unserem Dachboden stieß ich auf allerlei Kartons voll kostbarer Papiere. Logbücher, Tagebücher, Briefe, Notizen, Fotos und viele Ansichtskarten. Darin enthalten ihre Erlebnisse und Erfahrungen, die sie von September 1969 bis September 1970 mit ihrem Trimaran ULTIMA RATIO machte. Und es passierte: Ich war gefangen von Ingeborgs gesammelten Unterlagen ihrer Atlantikfahrt, zumal wir die Reise zum Teil selbst miterlebten, da auch Astrid und ich zeitgleich den Atlantik überquerten. Ich blätterte und las, machte mir Notizen. Suchte Zitate. Sammelte und ordnete sie. Ich spitzte meinen Bleistift, und es kam ein kleines Buch heraus.

Ihr Törn ging vom Mittelmeer über den Atlantik in die Karibik und via Bermudas und Azoren zurück. Vor 50 Jahren galt solch ein Ansinnen als verrückt. Eine Frau allein über den Ozean? Wo bleibt die Seemannschaft? Und dann noch mit einem Dreirumpfboot, dem hierzulande kaum ein Segler Hochseetauglichkeit zutraute. Ein Bootstyp, von dem man praktisch nie gehört hatte. Immer kamen damals die gleichen Fragen: Warum mit einem Trimaran? Warum ausgerechnet allein? Warum überhaupt?

Die Trimaran-Frage lässt sich leicht beantworten. Ingeborg liebte die leichten, freundlichen Winde wie den Passat, und das Boot sollte dazu passen. Sie hatte Geschmack und Geschick, und sie liebte das Einfache. Der Tri war schön, segelte schnell und war eindrucksvoll wie das Meer. Das war entscheidend und ihr wichtig. Diese Art Bootstyp war selten in Häfen anzutreffen, nur wenige Menschen kannten sich damit aus. Auch das gefiel ihr.

ULTIMA RATIO hatte eine Länge von 10,60 Meter und eine Breite von 6,20 Meter. Der Tiefgang betrug 0,70 Meter. Das als Ketsch getakelte Schiff war aus beschichtetem Sperrholz gebaut und konnte 40 Quadratmeter Segel tragen.

Zum Thema »warum allein« gibt sie Antwort in ihrem Logbuch, aus dem ich oft zitieren werde – alle im Buch kursiv gesetzten Texte entstammen ihrer Feder:

Ich stehe auf dem Standpunkt, dass es besser ist, allein zu segeln als mit einer Crew, mit der man nicht zurechtkommt. Und wen soll ich mitnehmen? Eine Freundin? Nein. Eine andere Frau? Bin nicht sicher, ob eine Frau ein Kamerad sein kann. Ein Ehepaar? Bloß nicht. Einen Mann, in den man nicht verliebt ist? Gibt sicher Schwierigkeiten. Und einen in gegenseitiger Liebe verbunden, der gern segelt, habe ich nicht gefunden. Entweder kein Geld, keine Neigung zum Segeln oder einfach zu alt.

Also bereitet sie sich ganz allein und sorgfältig vor: Schiff, Segelscheine, Astronavigation, Ausrüstung, Ersatzteile, Proviant und klar ein Logbuch, das sie unbedingt führen will, denn sie hatte schon in den Jahren zuvor einige Preise für ihre Sommertouren gewonnen. Und Preise bekommt man nur mit akribisch geführten Logbüchern. Auf der ersten Seite schreibt sie noch in Schönschrift:

– Nur ich. Allein.

– Ich will unbedingt die Weite des Atlantiks sehen.

– Das lässt mich seit zehn Jahre für eine Sache brennen.

– Keiner wird mich aufhalten.

Und weiter auf einer Extraseite:

– Mein Traum: von Europa nach Amerika segeln.

– Habe ich mich entsprechend vorbereitet?

– Hoffentlich gelingt es.

– Das Meer ist meine wahre Liebe.

– Frei sein ist das Ziel – mein Ziel.

Was steckt in diesen ersten Notizen nicht alles? Freude am Abenteuer, Freiheit, aber auch viel Wille, mit Schwierigkeiten und Strapazen, kurz mit allem fertigzuwerden. Sie war dermaßen leidenschaftlich, dass sie sich mit diesem Ungetüm Trimaran auf den Ozean traute. Das hieß: keine Selbststeueranlage, weite Laufflächen an Deck, um das Schiff zu manövrieren, keine feste Maschine und zusätzlich begleitet von der Gefahr des Kenterns. – Ein Trimaran trägt keinen Ballast im Kiel, weil er keinen Kiel hat.

Ich bewundere bis heute nicht nur ihre außergewöhnliche Leistung, sondern auch ihren seglerischen Werdegang. Allemal in den fünfziger Jahren. Während hierzulande viele noch in Möbel, Küchen und gutes Essen investierten, entdeckte sie ihre Liebe zum Wasser und zu Segelbooten. Schnell stellte sie fest, dass Jollensegeln auf Binnenseen nicht ihr Ding war, es sollte schon ein Kajütboot sein. Mit Koje, Kompass und Kochecke. Außerdem seetüchtig für das Meer, zuerst den Atlantik und vielleicht weiter.

Manchmal, beim Lesen ihrer Zeilen, möchte ich auf ihrer Bank im Cockpit sitzen und mit ihr segeln. Wir tun es leidenschaftlich. Perfektion spielt keine Rolle. Verbissenheit war bei ihr an Bord verpönt. Sie verabscheute Regeln. Das macht mich immer glücklich, wenn ich an sie denke.

Gutes Lesen.Wilfried Erdmann, Frühjahr 2023

SIE WILL SEGELN

Ich bin 1,70 Meter groß. Sportlich. Ordentlich proportioniert. Blond. Lasse gerne die Beine über den Steg baumeln. Also durchaus bereit für Müßiggang. Mitten im Zweiten Weltkrieg wurde ich volljährig, heiratete und bekam ein Kind. Mein Leben spielte sich oft im Luftschutzkeller in Düsseldorf ab. Die Erinnerung an dieses traurige Dasein schleppte ich jahrelang mit mir herum. Im Kopf herrschte noch Krieg – obwohl er zu Ende war. In Wirklichkeit dauerte er für mich bis in meine ULTIMA-RATIO-Jahre.

1

Dann, 1959, war es soweit. Sie schreibt: »Ich hatte SIE.« Die erste ULTIMA RATIO war ein neun Meter langes Stahlschiff. Kostete 25.000 Mark – eine Menge Geld für zunächst reinsten Luxus. Kauffrau Ingeborg musste ganz schön durchatmen. Ihr Autozubehörgeschäft war zwar das größte in Düsseldorf, aber die zehn Angestellten mussten bezahlt werden. Doch sie widerstand und liebte ihr Schiff mit all den dummen, unnötigen Dingen, mit denen sie es einrichtete: handbemaltes Porzellan in Delftblau, Bettwäsche mit gestickten Bootsmotiven, nette Gardinen, für die Pantry eine Geflügelschere und mehrere Riesentöpfe für Gäste.

Es war eine Zeit wie die ersten Kinderjahre, ungebunden, ohne Ängste, ohne Komplikationen. Nur das Schiff zählte.

Der Anfang vom Segeln war das nicht. Der Anfang war ein Erlebnis mit einem Freund auf dem Plöner See. Er hatte Ingeborg zu einer Jollensegelei eingeladen. Der blauweiße Schleswig-Holstein-Himmel über ihnen, das stille Dahingleiten des Bootes an diesem besonderen Tag ließen Ingeborg von Wind, Wasser und Segeln träumen.

ULTIMA RATIO 1 war Ingeborgs erstes Schiff. Sie wollte segeln und tat dies zunächst auf den holländischen Gewässern und der Themsemündung.

In ihrem Tagebuch steht:

Ich will segeln! Die Idee war geboren. Dieser eine Tag zeigte mir die Lösung. Beim Segeln ist man frei. Ich kriege Gänsehaut, wenn ich an den Tag denke. Frei sein nach all den Zwängen, die mein Leben bisher bestimmten. Vor Aufregung konnte ich die Nacht kaum schlafen. Jetzt war die Zeit gekommen, etwas richtig zu machen.

Zurück in Düsseldorf setzte sie sich gleich ans Telefon und buchte einen Segelkurs. Am Chiemsee stellte sie schnell fest, dass Jollensegeln zu leicht, nicht fordernd sei. Und zum Leben an Bord nicht geeignet. Ein Kajütboot sollte es schon sein. Der Wunsch wurde konkretisiert und fortan wurde dafür gespart. Und gelesen. Hemingway, Hiscock, Lindemann. Der Traum sollte sich erfüllen. Sie schreibt: Träume können sich erfüllen, aber Einsatz ist notwendig.

Jede Mark kam auf die hohe Kante. Sie war jung und hatte ein Ziel, der berufliche Stress der Selbstständigkeit konnte ihr nichts anhaben. Mit 14 Jahren absolvierte Ingeborg eine Lehre im elterlichen Geschäft mitten in der Stadt Düsseldorf, das Ingeborg und ihr Ehemann gleich nach dem Krieg wieder aufbauten. Nachdem sie ihre Schiffspläne verwirklicht hatte, trennte sie sich von ihm, bei der Arbeit änderte sich erst mal nichts.

Es folgten mit ULTIMA RATIO die ersten Versuche vom Liegeplatz im holländischen Muiden. Volle Kraft zurück. Volle Kraft voraus. Ein Großsegel, das nicht hochzukriegen war. Ein Außenborder, der über Bord fiel. Die vergessene Spring beim Ablegen. Da half nur lernen und viel, viel üben. Jedes Wochenende war sie auf dem Ijsselmeer mit Tochter Astrid: »Segelschule Ultima Ratio«. »Grundlagenwissen erarbeite ich mir«, sagte sie, wenn jemand zweifelte oder sie gar kritisierte. Und davon gab es einige.

Ingeborg hält fest:

»Sieh an, eine Frau auf einem Neun-Meter-Schiff und nur mit der Tochter. Wo ist denn der Ehemann?« Kaiser Wilhelms Zeiten waren so weit weg noch nicht. Nein, das war bedenklich und nicht zu akzeptieren.

Rückblickend eine amüsante Kombination. Man stelle sich die beiden Blonden an Bord von ULTIMA RATIO auf dem Ijsselmeer vor, das damals vor dem Bau eines Binnendeiches fast halbiert wurde. Ingeborg in ihrem Tagebuch:

Frauen fehlt die Rippe. Daran ist nicht zu zweifeln. Sie sind in ihre jetzige Bahn gedrückt, die biologische Seite ist auf keinen Fall zu vergessen. Trotzdem kann ich als Frau nach den Sternen greifen.

Dass die Tochter sich bald selbstständig machen würde, ließ sich schnell erkennen. In den Sommerferien, die Astrid lieber mit Freunden verbringen wollte, segelte Ingeborg ihre ersten Einhandtörns. Durch die holländischen Kanäle, hinaus auf die Nordsee, die Küste entlang bis Ostende und Dünkirchen. Der nächste Törn führte schon über den Kanal nach England und über die durchaus navigatorisch komplizierte Themsemündung. Immerzu machte die Maschine Trouble. Es war ein Benziner mit Fallbenzinsystem. In jedem Hafen musste der Vergaser in Teile zerlegt und gesäubert werden. Glücklicherweise hatte Ingeborg durch ihren Beruf das notwendige Know-how.

Die Eignung zum Sporthochseeschiffer wurde von Lehrern der Seefahrtschule Bremen nach vielen ermüdenden Unterrichtstunden erteilt.

Wenig später hatte sie bereits das Patent als Sporthochseeschiffer in der Tasche. Die Prüfung absolvierte sie im Düsseldorfer Yachtclub. Die Prüfer allerdings kamen aus Bremen von der dortigen Seefahrtschule und fragten sie, die sich mit der Theorie der Astronavigation sehr schwertat, zum Beispiel nach dem Sternzeichen auf der Südhalbkugel, das dem großen Wagen der nördlichen Halbkugel als Richtungsweiser gleichkommt.

Sie schreibt:

Mein Gott, das wusste ich. Das Kreuz des Südens. Hat mich am Ende wohl rausgerissen, denn die Prüfer wollten partout kein Auge zudrücken.

Mit dem bestandenen Patent konnte sie mit Sextant, exakter Uhrzeit und Tafeln navigieren und ihre Position errechnen. Ein schwieriges Unterfangen, an dem damals viele Segler, die vom Meer träumten, scheiterten.

1964, im letzten Jahr mit der geliebten Stahlslup, segelte die eingefleischte Kauffrau über die Themsemündung nach Burnham-on-Crouch.

Es ist sehr früh. Gerade eben nach Sonnenaufgang. Nebelschwaden ziehen über das weite Wasser. Es ist zauberhaft, das Licht, die Stimmung, alles, aber dafür habe ich eigentlich keine Zeit. Die Karte liegt auf meinen Knien, die Augen auf die vielen Bojen gerichtet und auf den Kompass und die verschiedenen Strömungen, die man richtig laufen sieht. Dann die großen Dampfer, ganz dicht schräg von achtern, aber gut zu wissen, dass es zwischen ihnen und mir nichts als flaches Wasser gibt. Ich sehe auf den Goodwin Sands Schiffe, die dort gestrandet sind und langsam vor sich hin rosten.

Die Alleinseglerin steuerte den River Crouch an. Alle Boote lagen wie in englischen Tidenflüssen üblich in der Mitte an Bojen vertäut. Hunderte und mehr. Sie musste bei auflaufender Tide den Fluss hinaufsegeln, eine freie Boje aufpicken und die Kette an Deck nehmen.

Boje aufpicken. Alleine eine tricky Aufgabe. Die Engländer haben einen besonderen Bootshaken dafür. Ich nur meinen normalen, darf sie also nicht verfehlen, denn die Boote liegen ziemlich dicht um mich herum. Alles muss in der Strömung, zudem unter Segel, schnell passieren. Der Vergaser ist mal wieder dicht. Es geht gut. Ich freue mich im Nachhinein, denn solch ein Manöver, wenn es misslingt, kann einem viel Enthusiasmus nehmen.

Ganz stolz setzte sie sich in ihr Dingi und ruderte in den Segelclub. Hier erfuhr sie bei einem Guinness, dass ULTIMA die erste deutsche Besucheryacht nach dem Krieg war. Der Abend war gebongt. Ein weiteres Glas Bier stand immer bereit.

Von Colchester, einem anderen Flusshafen, zurück nach Holland machte die Einhandseglerin noch eine Erfahrung: ihre erste Nachtfahrt auf See. Überall Lichter und kein Schlaf, das machte es anstrengend, sich zurechtzufinden. Doch damit konnte sie ihre Segelfreunde verblüffen, denn keiner hatte bisher eine Nachtfahrt über die Nordsee riskiert.

All das ist über 60 Jahre her. Gegenwärtig springt man an Bord, schaltet die Instrumente an und segelt einfach los. Viele haben vor langer Zeit gezeigt, dass es auch ohne diese Technik gelingen kann.

In ihrem England-Logbuch hält Ingeborg fest:

Immer sind es die Ersten, die Abenteurer, die Entdecker, die wichtig sind. Sei es Captain Cook, der später auf Hawaii von Eingeborenen erschlagen wurde, Magellan auf der allerersten Weltumseglung oder der Argentinier Vito Dumas, der mit seiner Yacht LEGH, einem Collin-Archer-Typ, 1942/43 seine legendäre Weltumseglung machte. Er war der erste Einhandsegler, der das Kap der Guten Hoffnung und Kap Hoorn umrundete – und überlebte.

1965 fand die endgültige Abnabelung statt. Die Tochter mietete ein Apartement in Düsseldorf, Ingeborgs Geschäftsanteile gingen an ihren ehemaligen Ehemann, die Slup wurde verkauft. Der Ozean konnte kommen – mit Weite, völliger Unabhängigkeit und viel Exotik.

Aus ihrem Tagebuch:

Wie wundervoll ist es. Ich kann essen, wann ich will, und bis in die Puppen schlafen. Und ich habe ein bisschen Geld übrig. Vor allem: Ich habe mein Hochseeschiffer-Patent. Damit beherrsche ich die Astronavigation. Nur das richtige Schiff, das vermeintlich richtige Schiff, fehlt.

Auf der Suche fuhr sie mit Tochter Astrid zur London Boatshow, mit der Empfehlung, sich einmal eine Dreirumpf-Konstruktion anzusehen. Aber dann: sehen, zuhören, kaufen war alles eins. Ganz spontan, ohne die Sache zu überschlafen, kaufte sie tatsächlich von der Messe weg die von Arthur Piver gezeichnete Konstruktion vom Typ Lodestar. Die Ketsch von 10,60 Meter Länge wurde wieder auf den Namen ULTIMA RATIO getauft. Sie hatte offenbar eine Affinität für diesen lateinischen Ausdruck, der mit »der letzte Lösungsweg« übersetzt werden kann und ihr weiterhin als Motto diente. 1966 überführt sie die Yacht teilweise allein von England nach Vigo in Spanien. Mit Astrid, die ihre Ferien an Bord verbrachte, segelten sie in diesem unserem gemeinsamen Schicksalsjahr von Vigo weiter nach Süden. Platz war an Bord ausreichend vorhanden. Der Trimaran war im Mittelrumpf großzügig bewohnbar mit Kojen, Pantry, Toilette und Achterkajüte. Alles ganz in weiß und wohlproportioniert. Ingeborg war bereit zum Aufbruch, sich eine neue Welt zu erschließen nach dem Motto: Die Welt ist riesig, mein Boot ist groß und ich so klein.

Sie spekulierte offenbar da schon, sich allein aufzumachen. Doch erst mal wurde die Straße von Gibraltar den beiden zum Alptraum. Über Tage lag dort fest und dicht der Nebel.

Ingeborgs Logbuch:

Fünf Wochen Zeit mit meiner Astrid. Eine gute Hand, die weiß, was an Bord zu tun ist. Nur leider wird sie schnell seekrank. Aber, Himmel, was für ein wundervolles Segeln habe wir für Tage. Auf der Höhe von Cadiz bekommen wir Sturm, der uns zwingt, beizudrehen. 30 Stunden liegen die Segel eingelascht an Deck. Großartig das Meer in seiner wilden Gewalt. Die hohen Wellen überschlagen sich an Deck. Später dicker, undurchdringlicher Nebel und wir ohne Maschine. Das 18-PS-Aggregat (ein Außenborder, im Schacht montiert) gibt immer dann den Geist auf, wenn es ernsthaft gebraucht wird. Wir irren tagelang zwischen der Schifffahrt herum, mit Furcht vor einer Kollision. Ständig geben wir Signale mit dem Nebelhorn, und die Schiffe in der Nähe antworten tatsächlich. Wir können nicht mal unseren Bugkorb sehen. Wo sind wir kleinen Würstchen? Nach zwei Nächten endlich reißt der Himmel auf, und der Nebel verschwindet. Es taucht der Rock von Gibraltar auf. Nichts wie rein in den Hafen, bevor der Schlamassel wieder anfängt. Ich bin Katholikin, ich bekreuzige mich in der Einfahrt. Astrid, die so viel mehr Leid erträgt, hat die Augen schon auf den Liegeplatz und die Stadt gerichtet.

Das Haar gekämmt, Lippenrot aufgetragen, aber weiterhin in schicken, gelben Öljacken, erlebte ich die beiden am Steg in Gibraltar. Der Nebel hatte auch mir und meinem Boot KATHENA einen Strich durch die Pläne gemacht, denn ich wollte längst Richtung Kanarische Inseln unterwegs sein. Aber bei Nebel starten? Nein. Ich konnte nur schwach den Bug sehen, so dicht lag er zeitweise auch über dem Hafen. Also stand ich am Niedergang und staunte. Meine vorgebratenen Steaks lagen geschichtet in der Pantry. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste sie kalt im Hafen essen – ganz und gar ohne Appetit.

Bei der Überführung von England nach Gibraltar segelte Astrid ein Stück mit. Sie war viel seekrank und daher wenig aktiv.

Im Logbuch schreibt die Skipperin derweil ihre Gedanken auf:

Am schwersten ist es als Frau alleine, sich fest in der Hand zu haben, im Hafen wie auf See. Ein Frau ist in meinen Augen das Schwächste, das es gibt – ein unter Stimmungen und Einflüssen vibrierendes Instrument. Warum nur bringen wir einfach nicht fertig, damit zu Rande zu kommen. Ich habe alles versucht, aber ich bleibe gleich empfindend, einfach nur eine schwache Frau. Immer wieder stehen Berge vor mir, immer wieder bin ich ganz tief unten oder einfach nicht mehr zu fassen, weil ich zu hoch schwebe. Warum hat uns Gott so benachteiligt?

Mit Mutter und Tochter gab es viel zu erzählen. Schon am ersten Tag genoss ich beider Gesellschaft. Stolz und plötzlich gar nicht mehr müde legten sie los. Sie erzählten vom Nebel, von der Dichte und der Angst, denn sie trieben stundenlang, während Nebelhörner aus allen Richtungen dröhnten. Ich fügte eine Nebelerfahrung aus der Handelsschifffahrt auf dem St.-Lorenz-Strom und den Neufundlandbänken hinzu, wo ich nach der Wache eine Stunde in der Dusche verbrachte,