Alles absolut bestens bei mir - Sari Malkamäki - E-Book

Alles absolut bestens bei mir E-Book

Sari Malkamäki

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Beschreibung

Von Frauen, die den Alleingang wagen, erzählen diese Geschichten aus Finnland. Ihre Heldinnen reiben sich an Konventionen: Mal schrill, mal leise und melancholisch brechen sie die Norm - und gehen eigene Wege. Sie lassen ihre Körperhaare wuchern und essen sich fett, werden handgreiflich gegen unwillige Liebhaber, geben ihre Kinder weg, ziehen sich in die Natur zurück oder sagen anderen endlich mal die Wahrheit. Was sie suchen, ist der Frieden mit sich selbst. Das Leben ist manchmal haarsträubend kompliziert, aber soll man deswegen den Mut verlieren? Ein Buch von Finninnen aus Stadt und Land, vor hundert Jahren und heute.

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Band 21 der

Alles absolut bestens bei mir

15 Alleingänge aus Finnland

Erzählungen

// Herausgegeben und mit einem Nachwort von Helen Moster

Die Übersetzung wurde gefördert von Finnish Literature Exchange

Originalausgabe 2014

Herausgegeben von Helen Moster

© 2014

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing / Hamburg

herausgegeben von Karen Nölle

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat Stefan Moster, Ingrid Schellbach-Kopra

Gestaltung und Satz Kathleen Bernsdorf, Berlin

ISBN 978-3-942374-56-9

www.editionfuenf.de

Sari Malkamäki Vertrauen

Hanna Hauru Stolz auf ihre Figur

Die behaarte Frau

Eeva Kilpi Sommer und eine Frau mittleren Alters

Rosa Liksom Vier Geschichten aus »Familie«

Maria Jotuni Am Telefon

Volkes Sitte

Kirste Paltto Frau mit zwei Köpfen

Susanne Ringell Ausflug aufs Land

Hochzeitskummer

Pendant

Solveig von Schoultz Gespräch auf der Bettkante

Nachwort

Die Herausgeberin

Die Autorinnen

Die Übersetzerinnen und Übersetzer

Bisher bei uns erschienen

// SARI MALKAMÄKI *1962

VERTRAUEN

Mari wusste, dass ihre Schwester Irmeli am Abend etwas vorhatte. Sie hatte gestern beim Skilaufen offen darüber gesprochen, und selbst wenn nicht, hätte Mari es geahnt. Irmeli war zerstreut, starrte in die Ecken oder aus dem Fenster, lächelte und seufzte, kaute auf den Haarspitzen, setzte sich hin, stand auf und setzte sich wieder, drehte sich vor dem Spiegel und wollte wissen, ob ihr Hintern nicht furchtbar dick sei.

Ja, das war er, aber Mari hielt den Mund. So verlangte es die Mutter, obwohl man sonst immer die Wahrheit sagen sollte. Wenn Irmeli wegen ihrer Pfunde in Trübsinn versank, hatte das ganze Haus zu leiden. »Sie kommt nach ihrem Vater«, murmelte die Mutter dann und drückte Mari an sich. Mari erinnerte sich zwar kaum an den Vater, aber die Fotos zeigten ihr, was die Mutter meinte. Irmeli und der Vater sahen gleich aus, Mari, Mutter, Großmama und Tante Saara dagegen wie von einem anderen Schlag, so mager und langbeinig wie sie waren.

Mari wusste auch, mit wem sich Irmeli am Abend treffen würde: mit Jarmo. Das ärgerte sie, denn wegen Jarmo traf sich Irmeli nicht mehr mit Seppo, und der war Maris Favorit. Seppo sang mit tiefer, ruhiger Stimme »Ach, könntest du die Meine werden …« und begleitete sich dabei auf der Gitarre. Seine Wimpern waren pechschwarz und bogen sich wie bei der Fernsehansagerin Teija Sopanen.

Jarmos Wimpern waren starr und blond, aber Seppo hatte, genau wie Maris Familie, sein Leben lang im selben Haus gewohnt, während Jarmos Familie zehn Jahre in Kanada gelebt hatte und erst letzten Sommer nach Finnland zurückgekehrt war. Das gab den Ausschlag, denn Irmeli fühlte sich unwiderstehlich von der großen weiten Welt angezogen, genau wie einst der Vater. Das hatte die Mutter vor ein paar Wochen beim Abwasch zu Großmama und Saara gesagt. Irmeli war da noch in der Schule gewesen, und Mari hatte sich wie üblich zum Mittagsschlaf aufs Holzsofa in der Wohnstube gelegt – das jedenfalls glaubten die anderen, in Wirklichkeit hatte sie nur reglos mit geschlossenen Augen dagelegen und gelauscht. Hätte sie nachgefragt, wären alle sofort verstummt, und Großmama hätte gesagt: »Ist schon weg, war nur ein Krümel am Kinn« oder »Es war bloß ein Mann aus Öijä.« Das Geschick, sich zu verstellen, hatte Mari den Zugang zur Welt der Frauen verschafft.

Am Abend um Viertel nach sieben war Irmeli fertig. Jarmo sollte eigentlich schon um sieben kommen, aber Irmeli hatte in der Sauna zu Mari gesagt, dass es nichts Erbärmlicheres gäbe, als pünktlich vor der Tür zu sitzen und auf einen Mann zu warten; eine Dame solle stets selbst ein wenig auf sich warten lassen. Mari erinnerte sich nicht, dass Irmeli je zu Seppos Zeiten so gesprochen hätte. Da hatte sie immer am Fenster gesessen und sofort gewinkt, wenn sie ihn sah, manchmal war sie ihm sogar bis an die Tür entgegengelaufen.

Nach der Sauna hatte dann mächtiger Betrieb geherrscht. Saara hatte eine Bierflasche geöffnet, die Hälfte ausgetrunken und den Rest als Festiger benutzt, als sie Irmelis Haar auf Wickler drehte. Unterdessen hatte die Mutter die Falten in Irmelis neuem Rock mit so konzentrierter Miene gebügelt, als würde sie eine Auftragsarbeit fertigstellen, und Großmama hatte ein Stück Zucker in Nervin getaucht, so wie sie es tat, wenn »Peyton Place« kam oder auch sonst etwas Spannendes passierte, das womöglich für Herzklopfen sorgte.

All das waren Anzeichen dafür, dass Jarmo in ihren Augen etwas anderes darstellte als Seppo. Mari trank Zitronensoda in kleinen Schlucken und beschloss, Seppo um keinen Preis der Welt zu verlassen.

Schließlich war der Rock gebügelt und angezogen, die Haare waren trocken, die Locken gebürstet, die Wangen gepudert und der Lippenstift war aufgetragen worden. Irmeli sah so schön aus, dass Mari den Blick nicht von ihrer Schwester abwenden konnte. In schweren, dicken Wellen floss das Haar auf die Schultern. Nicht umsonst hatte sich Saara eigens eine Frauenzeitschrift aus Schweden kommen lassen, sie hatte in jeder Hinsicht ihr Bestes gegeben und Irmelis Augen geschminkt, die jetzt so schicksalsschwer wirkten, dass es Mari fast einschüchterte. Irmeli sah aus, als könnte sie jeden Moment zur Tür hinausfliegen und von einem unwiderstehlichen Sog in die weite Welt katapultiert werden.

Um zehn vor acht stand fest, dass Jarmo seine eigenen Vorstellungen vom Umgang mit Frauen hatte.

Niemand wusste etwas mit sich anzufangen. Die Mutter glättete die Fransen am Tischtuch und räumte den leeren Kuchenteller, der rechts neben der Zuckerdose stand, nach links und gleich darauf wieder zurück – den fertig aufgeschnittenen Hefezopf hatte sie schon vor halb acht in Pergamentpapier eingewickelt, damit er nicht austrocknete, und das Sahnekännchen wieder kalt gestellt, weil Jarmo nicht auftauchte. Tante Saara saß an der Stirnseite des Holzsofas und tat, als läse sie Reader’s Digest, aber als Mari sie genauer beobachtete, merkte sie, wie Saaras Blick hin und her huschte, zum Fenster, zur Mutter, zur Großmama, zu Irmeli, zum Fenster, zur Mutter … Auf ihrem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck, es wirkte fast, als ob sie lächelte.

Großmama hingegen war todernst, stieß sich nur manchmal auf dem Dielenbrett ab, setzte dann den Fuß im Pantoffel wieder auf die Kufe des Schaukelstuhls und nickte mit dem Kopf im Takt der Bewegung, so wie sonntags, wenn sie im Radio den Gottesdienst hörte.

Um Viertel vor acht war Irmeli bereits in sich zusammengesunken wie ein Schneemann in der Frühlingssonne und blickte unstet umher wie der Hausierer, der zweimal im Jahr mit dem Moped aufs Gehöft kam und seinen schweren, abgenutzten Koffer über die Türschwelle schleppte. Man setzte ihm vor, was gerade da war, und kaufte ihm immer etwas ab, und sei es nur ein Taschentuch. Er bedankte sich dann jedes Mal mit einem schnellen Nicken, denn seine Sprache hatte er, wie Großmama meinte, in den karelischen Wäldern verloren.

Auch Irmeli schien stumm geworden zu sein, obwohl ihrem Redefluss sonst kaum jemand gewachsen war. Ihr Schweigen jagte Mari einen Schauer über den Rücken. Genau genommen war ihr auch das Schweigen der Mutter, Tante Saaras und der Großmama unheimlich. Bloß weil ein gewisser Jarmo nicht kam, waren alle verstummt. Man hörte nichts weiter als gelegentliche Seufzer und das Ticken der Uhr, unterbrochen nur durch die Schläge um halb acht und acht. Mari wusste nicht, wie lange sie warten sollten, aber sie würde notfalls bis zum Morgen ausharren, wenn damit Jarmo erledigt wäre und Seppo die Chance zur Rückkehr bekäme.

Mari hatte durch ihren vorgetäuschten Mittagsschlaf nach und nach eine Menge erfahren, dumm war nur, dass sie nicht nachfragen konnte, ohne sich zu verraten. Aber sie beklagte sich nicht, denn so war es immerhin besser als früher, da ihr überhaupt nichts erzählt wurde. Wenn sie bei anderen Leuten gewesen war, hatte sie den Kindern am Gesicht angesehen, dass sie etwas wussten, was sie, Mari, nicht wusste. Das hatte ihr mit der Zeit mächtig zugesetzt.

Im Lauf der Tage hatte Mari erfahren, dass es der Mutter ganz recht gewesen war, dass der Vater, dieser Strolch, sich davongemacht hatte. Der kam und ging sowieso, wie er wollte, und wenn er mal daheim war, hat er betrunken herumgeschrien und über die Weiber geschimpft oder damit geprahlt, was er für ein guter Maurer ist, der reinste König seiner Zunft. Hätte man dem vielleicht einen Altar errichten sollen?, fragte die Mutter und antwortete selbst: Meinetwegen soll er bis in alle Ewigkeit herumstromern! (An dieser Stelle klapperte das Geschirr stets so heftig, dass Mari um ihre Lieblingstasse fürchtete.)

Die Großmama hatte eine ruhigere Gangart und einen schwereren Tritt, aber ihre Stimme war oft noch strenger als die der Mutter. Der Mann war dazu geschaffen, von daheim fortzugehen, wenn nicht ins Dorf, dann übers Meer oder in den Krieg, dagegen war nichts zu machen. Darum musste man wenigstens selbst anständig leben und den Blick aufs Wesentliche richten: auf die Felder, auf die Tiere, auf die Kinder. Hätte die Großmama damals, als ihr Vater nicht aus Ontario zurückkam, sondern sich ein Kebsweib nahm und mit ihm Kinder zeugte, die Flinte ins Korn geworfen; wenn die Großmama also damals gesagt hätte: Seht zu, wie ihr klarkommt, ich gehe jetzt ebenfalls auf und davon, dann wären sie alle umgekommen, vor Schmerz und Enttäuschung und Hunger, die im Kopf wirr gewordene Mutter und die hilflosen Schwestern und Brüder, und ein paar Kühe und Schweine obendrein. Großmama hatte stark bleiben müssen, obwohl sie fast noch ein Kind gewesen war.

Während sie sprach, wurde es still in der Stube, nur die Dielenbretter knarrten unter den Kufen des Schaukelstuhls, und als Mari ganz, ganz vorsichtig unter der Decke hervorlugte, wischte die Mutter den Tisch mit einem weichen Lappen ab.

Oder wenn die Großmama den Tränen nachgegeben hätte, als der Großpapa in Ihantala auf eine Mine trat und über den Heidelbeerbüschen kreuz und quer durch die Luft flog. Maris Mutter war damals zehn gewesen, und Saara hatte gerade sprechen gelernt. Wenn die Großmama sich damals in ihrem Schmerz vergraben hätte, wenn sie gesagt hätte, dass auch sie nun nicht mehr leben will, mag und kann, dann wären auch das Leben und die Zukunft ihrer Töchter zerstört gewesen, dann wären Äcker und Wald verkommen und obendrein ein paar Kühe und Schweine, so wie immer. Und es hätte auch keine Enkeltöchter gegeben, weder Irmeli noch Mari, natürlich nicht.

Schließlich wurde auch Saara von diesen Geschichten angespornt, sich vorsichtig zu öffnen. In dieser Runde war man wenigstens jemand, eine betrogene und verlassene Frau wie die anderen. Nach tastendem Beginn wurden ihre Sätze flüssiger, bis sie sich schier überschlugen, so dass Mari nur mit Mühe folgen konnte: Fürs Brautkleid war schon Maß genommen und der Schleier besorgt worden, da tauchten eines Tages Polizisten auf und sagten: Ihr Bräutigam möchte Sie noch einmal sehen, bevor er in den Süden gebracht wird. Dort warten die Gläubiger und ein Gerichtsverfahren wegen Betruges, und außerdem verlangt seine Frau Unterhalt. Jahrelang hat er im Gefängnis gesessen und sich hinterher sogar bei mir gemeldet, das müsst ihr euch mal vorstellen, er hat tatsächlich die Stirn gehabt, mir eine Postkarte mit Anspielungen auf die alten Zeiten zu schicken! In Saaras Stimme schwang ein schriller Ton mit, der Mari an die Kälber erinnerte, wenn sie im Frühjahr vor Erregung zitternd das erste Mal in die Sonne hinausdrängten.

Schließlich waren die Geschichten erzählt, und das Gespräch wandte sich alltäglichen Dingen zu. Dann war es für Mari Zeit, unter der Decke hervorzukriechen und herzhaft zu gähnen, und Großmama sagte mit einem Nicken, wenn ein Kind schläft, das ist, als ob man Geld zur Bank bringt.

Um halb neun war Irmeli so tief im Trübsinn versunken, dass Mari ihre Schwester nicht wiedererkannte. Der vogelbeerrote Mund wirkte grell zwischen den blassen Wangen, die Augen hatten jeden Glanz verloren, die Arme hingen kraftlos herab, und die Kopfbewegungen waren so mühsam, als würde ein vergifteter Kamm im toupierten Haar stecken.

Mari wunderte sich, dass ihre Schwester von niemandem getröstet wurde. Im Gegenteil, die Mutter fing an zu stricken, zerrte wütend am Wollfaden und feixte, anscheinend setze sich das Pech, das die Familie verfolge, bei Irmeli fort. Die Großmama saß mit geschlossenen Augen und schmalen Lippen da und meinte nur, dass aus Kanada auch früher nichts als Heulen und Zähneknirschen über die Familie gekommen sei. Saara zupfte an Irmeli herum, tat, als korrigierte sie deren Frisur, stellte dabei aber lauthals Überlegungen darüber an, was Jarmo wohl gerade trieb, da er die Verabredung mit Irmeli so ohne weiteres vergaß.

Jeder Satz schien Irmeli noch tiefer in den Trübsinn zu stoßen, so dass Mari das Herz schwer wurde. Alles bedrückte sie, das verkniffene Gesicht der Mutter, die säuerliche Miene der Großmama und Saaras geheucheltes Gehabe. Auf einmal waren ihr die drei Frauen fremd; irgendwelche Leute, zu denen Mari nicht gehören wollte. So etwas zu denken, war schlimm. Wie sehr sie sich auch bemühte stillzusitzen, der Klumpen in ihrer Brust wuchs und wuchs, bis sie schließlich nicht mehr an sich halten konnte, bis sie aufstand, zu Irmeli ging, ihre Hand nahm und ihr so klar und deutlich wie möglich ins Ohr flüsterte:

»Vertrau dem Jarmo. Er hat bestimmt gute Gründe.«

Kaum hatte sich Irmelis erstaunter Blick ihr zugewandt, strich Scheinwerferlicht über die Fenster und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Wie sonst vom vorgetäuschten Mittagsschlaf aus beobachtete Mari, wie Leben in die Frauen kam. Sie bauschten Irmeli das Haar, stellten den Kuchen wieder auf den Tisch und füllten Wasser in den Kaffeekessel. Dann ging die Tür auf, Jarmo kam herein, sagte jeder Einzelnen der Reihe nach guten Abend, auch Mari, und bedauerte, dass er sich so weit über die vereinbarte Zeit hinaus verspätet hatte. Bei seinem Bruder sei das Fieber wieder stark gestiegen, man habe ihn zum Arzt bringen müssen, und weil der Vater nach der Sauna nicht mehr ganz nüchtern gewesen sei, habe eben Jarmo den Patienten und seine Mutter chauffieren müssen. Es sei nichts Ernsthaftes, nur eine Entzündung als Nachwirkung der Hongkong-Grippe, der Arzt habe ihm Penicillin verschrieben.

Irmeli schien sich bei jedem Satz weiter aufzurichten, und bei der zweiten Tasse lachte sie bereits laut über Jarmos Scherze. Nach dem Kaffeetrinken brachen die beiden auf, Mari drängte mit hinaus, sie trat auf den kalten Stufen von einem Bein aufs andere und sah den Rücklichtern bis zur Wegbiegung nach. Sie begriff zwar, dass sie Seppo verraten hatte, trotzdem kam sie sich nicht wie eine Verräterin vor: Jemand hatte Irmeli doch helfen müssen. Bestimmt würden Mutter, Großmama und Saara ihr gleich erklären, warum sie sich so merkwürdig verhalten hatten. »Macht nichts, man muss es nur wissen«, würde sie dann vielleicht zu ihnen sagen, jedenfalls sagte das Großmama immer zu den anderen, wenn etwas im Argen lag.

Aber als Mari wieder in die Stube kam, schienen die Frauen sie gar nicht zu bemerken. Sie plauderten miteinander, so als hätten sie nichts begriffen.

Aus dem Finnischen von Regine Pirschel

// HANNA HAURU *1978

STOLZ AUF IHRE FIGUR

Ich schäme mich nicht, ich bin stolz auf jede Speckfalte und trage sie erhobenen Hauptes. Ich hasse es, Fotos aus meiner Jugend zu betrachten, weil ich darauf spindeldürr bin. Keine Formen, keine Titten, vom Hintern ganz zu schweigen. Auf dem Foto vom Schulabschluss habe ich sogar hohle Wangen.

Ich mochte immer die Schmalzkuchen in Schweinchenform, aber in jungen Jahren nahm ich davon nicht zu, obwohl ich jeden Tag eine ganze Tüte verzehrte. Kein einziges zusätzliches Kilo brachte es mir ein. Dabei saß ich täglich bei meiner Oma in der Stube, vertilgte die herrlich knusperigen und von Kalorien triefenden Dinger, die sie besorgt hatte, und trank dazu, die Mundwinkel vom Zucker verklebt, literweise Kaffee mit Sahne. Damals bedachte ich nicht, dass man erst nach und nach an Gewicht zunimmt.

Ein paar Jahre hockte ich also schlemmend bei meiner Großmutter, aber dann starb sie. Ich musste mir eine neue Bleibe suchen, denn ihr Haus wurde von den Erben versteigert, und ich kriegte nicht den Zuschlag. Andererseits weiß ich nicht, was ich allein in dem großen Bauernhaus gemacht hätte, in dem es niemanden mehr gab, der mir Schmalzkuchen holte und Kaffee kochte.

Meine Großmutter war eine richtige Frau. Fett wie ein Mastschwein. Immer schon. Wenn wir nebeneinander in der Sauna saßen, beneidete ich sie heimlich um ihren Körper. Diese gewaltigen Hängetitten! Dieser bis in den Schritt fließende mächtige Fettbauch! Die Schenkel von schöner Orangenhaut durchlöchert und ein Hintern, der beim Gehen hin und her schaukelte, so groß wie der Arsch einer Kuh. Nach dem Schwitzen legte die Großmutter ihre gewaltigen Titten über die Schultern und spülte sie mit kaltem Wasser ab, in der Sommerhitze schmorten sie, und die Großmutter steckte sich Handtücher darunter. Einzeln hob sie ihre üppigen Bauchfalten an und seifte sie sorgfältig ein, ehe sie sie mit dem Quast bearbeitete. Ich aber war nur eine Bohnenstange, nichts dran zum Festhalten, wenn ich mich wusch. Nichts, was beim Gehen im Takt mit den Hüften schaukelte. Angeblich war ich mit meiner Futterverwertung nach dem Großvater geraten. Und ich grämte mich darüber, dass ich wohl so bleiben würde.

In der Familie meiner Großmutter waren die Frauen immer üppig gewesen. Auf Familienfeiern saßen sie alle beisammen. Die geblümten Kleider spannten unter den Achseln, und der dünne Stoff klemmte sich zwischen die Speckwülste. Die Doppelkinne wabbelten und Schweißgeruch strömte aus den Kleiderfalten. Zum Kaffee gab es Sahnetorte und Butterkuchen. Die Teller wurden mit Plätzchen beladen, dass die Krümel nur so auf die Röcke rieselten. Und dann ging die ganze Sippe in Omas große Sauna, die die Männer den Tag über mithilfe von Schnaps geheizt hatten. Die Frauen saßen oben und peitschten sich gegenseitig mit frischen Birkenquasten. Ich musste zu den Männern nach unten, weil die oberste Bank bis zum letzten Zentimeter mit den großräumigen Frauen gefüllt war.

Ein paar Jahre vergingen, dann wurde die Großmutter zu ihrem Mann heimgeholt. Die schmächtigen Kerle der Familie schleppten gemeinsam den Sarg. Es war ein prachtvoller Anblick. Im Gemeindehaus aßen wir ein letztes Mal zusammen. Die Frauen nahmen schon beim Anblick des Kessels mit den Speckkartoffeln weiter zu, schaufelten sich aber trotzdem die Teller bis zum Rand voll und nahmen auch noch Nachschlag. Auf das Roggenbrot kam eine dicke Schicht Butter, anders kannten sie es gar nicht. Die Männer tranken aus einer versteckten Flasche auf Großmutters Wohl und stocherten im Essen, da ihr Schnapsmagen nicht so viel aufnehmen konnte. Ich registrierte die Essgewohnheiten und den Verzehr der Frauen und zog meine Lehren daraus. Ich besaß ein kariertes Heft, in dem ich die Mengen eintrug, die jede der Frauen zu sich nahm. Dieses Heft hatte ich auch bei mir, als ich später mit dem Postbus das Dorf verließ.

In der Stadt fand ich eine Wohnung von passender Größe und setzte mir zum Ziel, mir mit vierzig nicht mehr den Hintern abwischen zu können, ohne dazu die Toilettentür zu öffnen.

Da setzte dann auch schon das große Grübeln ein, denn ich besaß ja nur zehntausend Mark in der damaligen Währung. Mit dieser Summe hatte mich Großmutter bedacht. Also gleich am ersten Werktag auf zum Arbeitsamt, aber es herrschte gerade Rezession im Land. Die angebotenen Arbeitsplätze waren physischer Natur, was bedeutete, dass ich die Kalorienmenge, die ich aß, bei der Arbeit gleich wieder verbrannt hätte.

Meine Gründe der Arbeitsverweigerung wurden von der Sozialversicherung nicht anerkannt. Ich füllte den Antrag in deutlichen Druckbuchstaben aus, trotzdem kam er abgelehnt zurück. Sie verstanden nicht, dass meine Lebensaufgabe darin bestand, genauso umfangreich wie die Großmutter zu werden, und dass sich das mit physischer Arbeit nicht vertrug. Sie verhängten eine Karenz.

Nun, ich hatte die Zehntausend von der Großmutter und fand eine gute Konditorei, in der die Schmalzkuchen ebenso lecker waren wie einst im Dorfladen. Morgens bekam man die vom Vortag zum halben Preis. Das fand ich mehr als angemessen. Ich stand jeden Morgen zeitig auf, brühte mir rasch einen Kaffee und verließ schon eine halbe Stunde vor Öffnung der Konditorei das Haus, um meinen Lauerposten in der Kneipe auf der anderen Straßenseite zu beziehen. Damals öffneten auch die Kneipen bereits um acht, und so konnte ich ein paar schäumende Krüge leeren, ehe ich mich drüben anstellte.

Die Städter achteten auf ihr Gewicht, so dass ich die Schmalzkuchen vom Vortag en gros haben konnte. Die aß ich zuerst, und dann waren auch schon die frischen an der Reihe. Es brachte keinen Erfolg. Ich hatte mir eine digitale Waage gekauft, aber mein Gewicht stieg in den ersten Monaten um keine hundert Gramm. Nach Großmutters Anleitung kochte ich mir Speckkartoffeln aus guten Zutaten und strich mir Butter aufs Roggenbrot, alles umsonst.

Doch mir wird immer noch warm ums Herz bei der Erinnerung an meinen dreißigsten Geburtstag, an dem die Waage endlich eine Gewichtszunahme anzeigte. Das beflügelte mich endgültig in dem Vorhaben, mich zu mästen. Es heißt immer, dass Frauen mit dreißig in die Krise kommen, weil sie zweimal sorgfältiger beim Essen aufpassen und sich zweimal mehr bewegen müssen, um schlank zu bleiben. Bei mir verhielt es sich genau umgekehrt.

So mehrten sich die Kilos, und als ich fünfunddreißig war, hatte ich, als ich auf die Waage stieg, bereits Grund, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Auf der Straße zeigten die Leute mit dem Finger auf mich, wenn ich zur Konditorei und von dort mit der Kuchentüte in der Hand wieder nach Hause wabbelte.

Gestern bin ich vierzig geworden und kann sagen, dass ich das Ziel, das ich mir in jungen Jahren setzte, erreicht habe: Ich muss mir einen schmächtigen Mann suchen, der mir beim Hinternabwischen hilft.

DIE BEHAARTE FRAU

»Du siehst aber ungepflegt aus«, sagte eine ältere Frau zu mir in der Dusche der Schwimmhalle. Ich hatte gemerkt, wie sie mich musterte, mich aber nicht darum gekümmert. Ich war es gewohnt, angestarrt zu werden. Draußen verbirgt zwar die Kleidung meine Behaarung, aber ich schäme mich auch nicht, sie zu zeigen.

Alles begann, als ich zehn Jahre alt war. Damals brachte meine Schambehaarung die anderen Mädchen meiner Klasse beim obligatorischen Abduschen nach dem Sport zum Kichern. Anfangs begriff ich nicht, warum sie mich auslachten. Meine Mutter war immer stolz auf ihre Behaarung gewesen, und so betrachtete ich auch meine von jeher als natürlich. Die anderen Mädchen hatten höchstens ein wenig dünnen Flaum vorzuweisen, aber bei mir spross es unten, nachdem das Wachstum einmal in Gang gekommen war, innerhalb weniger Monate üppig.