Alles behalten für immer. Ruth Rilke - Erika Schellenberger - E-Book

Alles behalten für immer. Ruth Rilke E-Book

Erika Schellenberger

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Beschreibung

Ein einfühlsamer, bewegender Roman, erzählt aus Sicht des »Dichterkindes« Ruth Rilke 1957, ein Spätsommertag im Künstlerdorf Fischerhude bei Bremen: Im früheren Atelierhaus der Bildhauerin Clara Westhoff wird renoviert. Tochter Ruth ist nach vierzig Jahren mit ihrer Familie und dem Nachlass des weltberühmten Vaters Rainer Maria Rilke heimgekehrt. Draußen im Garten, am Ufer der Wümme, wo unter alten Weidenbäumen Eisvögel brüten, holen Ruth Erinnerungen ein, an die Kindheit und das bewegte Leben mit ihren Künstlereltern. Ein ergreifender Roman, der faszinierende Einblicke in das außergewöhnliche Verhältnis zwischen Rilke und seiner »kleinen großen Ruth« bietet. Mit vielen Originalzitaten. »Es ist wichtig, zu zeigen, wie sehr Ruth es als ihre Lebensaufgabe gesehen und verinnerlicht hatte, diesen Nachlass zu behüten und zu schützen. Das zu lesen hat mich sehr berührt.« Bettina Sieber-Rilke »… mutig und verständig und inständig in ihrem frühen Alleinsein …« Rainer Maria Rilke über seine sechsjährige Tochter. … ein weißes hohes Haus mit Strohdach in einem Garten mit sehr hohen Bäumen. Und von den Wiesen kommt der Wind herein und bringt Weite und Duft und macht den Garten größer als er ist. Da wächst Ruth.« Rainer Maria Rilke

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Seitenzahl: 259

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Erika Schellenberger

Alles behalten für immerRuth Rilke

ebersbach & simon

Für Folke

Am liebsten

alles behalten für immer…

Rainer Maria Rilke, Die neunte Elegie

Inhalt

Fischerhude 1957: Seelchen

Bauerntochter

Lieblingsfoto

Westerwede 1901/02: Große Ouvertüre

Oberneuland 1902: Glück oder Kunst

Fischerhude 1957: Kurzwaren und Feinpapiere

Haus mit Kahn

Fischerhude 1957: Nichts für Anfänger

Fischerhude 1957: Rilke-Rummel

Fischerhude 1911: Modersohns Laternen

Worpswede 1907: Modersohn sin Fru is dot

Friedelhausen 1906: Prinzessinnensommer

München 1912–1917: Kind von diesem Vater

Fischerhude 1957: Gelernt ist gelernt

Chiemsee 1917: Zwei Inseln

Fischerhude 1957: Zwei Bilder

Weimar 1937: Kleine Anzeigen

Weimar 1945–1949: Russenvilla gegenüber

München und Weimar 1931: Champagner am Nebentisch

Marburg 1947: Zwei Pfirsiche auf weißem Teller

Fischerhude 1957: Lauter so Kleinigkeiten

Spurensuche

Dank

Literatur

Anmerkungen

Fischerhude 1957Seelchen

»Kein so langer Text. Maschinengetippt, auf Durchschlagpapier, muss Anfang der Münchener Zeit gewesen sein.«

Ruth steht schon eine Weile vor dem tiefen Regal und redet leise vor sich hin, als ihr rechter Zeigefinger beim Entlangfahren der hier hochkant eingestellten Kartondeckel und Mappen anhält.

Sie fischt ihr altes Schulheft heraus und wischt über das blaue Deckelpapier, als ob Staub darauf läge. Linker Rand leicht verblichen, ansonsten tadelloser Zustand. Die gesuchten zehn Blätter liegen lose hinten ein, auf DIN A5 gefaltet.

»Seelchen. Eine Ostergeschichte. Für meine liebe Ruth. Lou Andreas-Salomé Göttingen 1913«, steht außen auf der letzten Seite mit Bleistift notiert. Einen Osterbrief hatte sie auch einmal von ihrem Vater bekommen, aus Paris und zwar mit fünf. Aber bei der Lou-Geschichte hier, da war sie schon zwölf gewesen!

Ohne hochzuschauen geht Ruth mit dem Heft die paar Schritte zum Fenster und setzt sich zur Lektüre auf die alte Truhe des Vaters. Darin hatte sie die 14 grauleinenen Skizzenbücher mit Gedichten aus Rilkes früher Zeit und darunter die Abschrift eigener Hand der berühmten Worpsweder Monographie gefunden – versteckt unter einem Stapel von zugeschnittener Leinwand, Katalogen und uralten Zeitungen. Da hätte sich eigentlich jeder bedienen können, denn die Tür zu Claras Atelierhaus stand früher den ganzen Tag offen, hier draußen am Ortsrand von Fischerhude. ›Bisschen Dusel‹ gehört halt immer dazu.

Anna Rautenberg tritt sich an der Treppe zum Windfang die Gartenschuhe ab und ruft von draußen: »Frau Fritzsche, für den Kaffee werd’ ich uns backen und die letzten Pfläumchen abpflücken!«

»Pflaumenkuchen!? – Ja. Anna! – Wunderbar! Haben wir … sonst kann ich später …«.

»Alles da.«

Die beiden Frauen sprechen gleichzeitig und in zwei verschiedene Richtungen. Sie verstehen sich gut.

Ruth mag Annas Stimme. Diese Zuversicht verströmende ostpreußische Färbung war ihr von Anfang an sympathisch gewesen. Sie lächelt der Haushälterin hinterher, während die sich, in jeder Hand ein gelbes Eimerchen hochhaltend, mit dem Rücken zuerst durch den staubabhaltenden Kunststoffvorhang in den Flur zurückdreht. Das Septemberlicht des Gartens scheint für einen Moment durch die offene Haustür. Anna war als Flüchtling bei ihnen in Weimar aufgeschlagen, Anfang 1945, damals schon nicht mehr ganz jung, im Schlepptau ihre jüngere Schwester Luzy. An der Tür geschellt, nach irgendetwas gefragt und dann für immer bei ihnen geblieben. Nur an Sonntagen, wenn Anna mit dem Zug nach Bremen fährt, um Luzy und Familie zu besuchen, kocht Ruth selbst. Hühnersuppen. Die sind legendär. Manchmal schält sie einen Berg Kartoffeln wie für eine Armee, dann gibt es Puffer, oder sie rührt selbst Waffelteig an oder backt ein Brot.

Ruth hält die hauchdünnen Blätter gegen das Licht und liest die lange Widmung noch einmal, jetzt übertrieben feierlich. Dann murmelt sie: »Seelchen.« Lou Andreas-Salomé hatte sie damit gemeint. »So, war ich das? Ein Seelchen? Und was soll das sein, so ein Seelchen?« Durch das Sprossenfenster betrachtet sie den Stapel Bauholz, wie er da bedrohlich hoch aufragt. Ruth legt Brille und Papiere ab. Blickt sich im Zimmer um. Aufs Engste zusammengeschoben war das ganze Mobiliar; es ging ja nicht anders, wegen der Renovierung im Haus. Die Unordnung erschwert ihr die Arbeit noch zusätzlich.

Sie selbst sitzt viele Stunden, manchmal ganze Tage lang über einer Handschrift oder über Abschriften von Handschriften. 10.000 Briefe! Als sie das rotlederne Adressverzeichnis mit dem Goldschnitt und seinen 1050 Namen und Anschriften zum ersten Mal in der Hand hielt, war ihr flau geworden. 30 Jahre her. Es lag unerwartet schwer in der Hand und natürlich schaute sie zuallererst nach ihrer eigenen Anschrift, die Väterchen mit seinen feinen Füllfederhalterlettern eingetragen haben würde: erst zu R, dann schnell weiter zu S wie Sieber geblättert. Kein Eintrag! Auch Clara in Fischerhude fehlte. Bei W wie Westhoff stand immerhin Großmutter Johanne – und Friedrich Westhoff, Bergedorf Hamburg, beides in Klammern. Naja, wer schreibt Adressen von Familienangehörigen in so ein Büchlein, denkt sie heute. Die hatte man doch im Kopf.

Eine derart weitverzweigte Korrespondenz hatte sie jedenfalls nicht erwartet. Und das Netz all dieser sorgsam gesponnenen Fäden vollständig zu überblicken, es in der Hand zu behalten, ohne sich dabei zu verheddern, das war schon eine schwierige Aufgabe. Monate vergingen, Jahre. Man musste höllisch aufpassen, sonst verfing man sich womöglich noch selbst in diesem komplizierten Geflecht der Verbindungen, vor allem rund um die vielen Gönnerinnen – ganz schwieriges Kapitel.

Mit dem Fuß angelt Ruth nach einem der Rollcontainer, um den Fund darauf abzulegen. Die mit eisernen Streben verstärkten neuen Möbel sind ausgesprochen praktisch. Extraanfertigung aus Resopalbrettern, stoß-, kratzund abriebfest und obendrein noch schwer entflammbar. Das Neueste vom Neuen. Im Falle eines Unglücks könnte man die mobilen und verschließbaren Drehregale durch die zweiflügelige Ateliertür direkt hinaus ins Freie fahren. Willys Idee. Ein großer Kachelofen plus Torfkamin; man konnte nicht vorsichtig genug sein mit einem solchen Archiv im Haus.

Der schönste Raum im Haus, Claras früheres Atelier, würde bald das große Rilke-Archiv beherbergen. Und sie, Ruth Rilke, spätere Sieber-Rilke, heute einfach Fritzsche, geb. Rilke, so hatte sie es auf das neue Briefpapier drucken lassen – sie allein war die Verantwortliche für den Nachlass. Der sei ihr Schatz, hatte Willy einmal gesagt. Zu Recht. Wer hatte denn den ganzen Bestand gerettet? Aus dem Nachkriegs-Weimar? – Sie natürlich. Sie und Willy. Nächtelang mit Einkaufstaschen zum Versteck am Bahnhof gezogen. Mit Stoffbeuteln und Papiertüten; bis zum Rand angefüllte Koffer mit kostbaren Originalen. Schließlich wurde noch Willys Bratschenkasten hergenommen, um die Manuskriptseiten ihres persönlichen Lieblingsbuches, »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«, unter dem wertvollen Instrument zu verstecken. Der Insel-Verleger Anton Kippenberg hatte es ihr 1927 aus Muzot mitgebracht. Der Kern ihres Archivs, um den sich die Taschenbücher, Briefe und die Sammlung »Späte Gedichte« und alles andere anlagerten.

Kaum geschlafen hatten sie, damals, in Weimar. Gegenüber im Haus die einquartierten Russen. Erst wenn die Soldaten blau waren, und zwar alle, konnte es losgehen. Nur wen interessierte das heute? Sie war weiß Gott nicht scharf drauf, sich mit der Rettung der Papiere hervorzutun. War ja gerade mal so gutgegangen. Und auch wieder zehn Jahre her die ganze Chose. Aber »Willy Fritzsche als Erhalter und Bewahrer des Nachlasses« gebührte großer Dank. Im Nachwort zum Ersten Band der »Sämtlichen Werke« von 1955 wird sein Verdienst ja auch explizit genannt. Dafür hatte sie selbst gesorgt.

Die Ordnung im Archiv mussten sie nach dem Umzug aus Bremen hier aufs Land zwar neu herstellen, aber nach der Renovierung würde man den hinzugewonnenen Platz sehr gut nutzen können. Es dauerte schon alles länger als gedacht, aber sie kamen voran. Dann wieder gab es unvorhergesehene Störungen. In Person dieses aufgeräumten ›Lou Andreas-Salomé-Biografen‹ Ernst Pfeiffer zum Beispiel. Kommt einfach hier an und scheucht einen auf und stört. Stört und stört und stört immer weiter. Verliebt war der gewesen, ja. In die alte Lou! Die machte alle in sich verliebt, egal wie alt sie war. Pfeiffer war der Ansicht, er müsse aufklären über Rilkes »frühe Verzweiflung, Kunst und Familie gar nicht überein zu bekommen«. Ausgerechnet. Ich möchte alle vergessen, meine Frau und mein Kind … – Na und? Als ihr Vater das schrieb, muss sie etwa zwei Jahre alt gewesen sein und ganz hervorragend untergebracht bei den Großeltern in deren Krokusparadies, in Oberneuland. Ganz reizend. Es gab Hühner, eine Sandkiste und Väterchen kam zu Besuch. Ihn störten die Züge manchmal – die Bahnlinie nach Bremen und Hamburg führte genau hinterm Haus vorbei. Er war ein Dichter von gerade einmal 27 Jahren. Ein ganz junger Kerl noch. Was wollte man denn groß erwarten?

Pfeiffer. Der Mann hatte doch keine Ahnung. Lou war jetzt 20 Jahre tot und dann tritt dieser von ihrer Genialität besessene »Herausgeber des Briefwechsels« auf den Plan. Vor fünf Jahren hatte Ruth seinetwegen eine Gallenkolik bekommen, als sie die »in einem stattlichen Bande« – na ja – »sorgfältig edierte kritisch-historische Ausgabe« des Briefwechsels Rainer Maria Rilke – Lou Andreas-Salomé für 27,50 DM durchsah – und gleich weglegte. Alles, was Pfeifer an Quellen interessierte, hatte sie, Gott sei Dank, ja gar nicht rausgerückt. Kräfteraubend und ermüdend diese Uneinsichtigkeiten über notwendige Auslassungen in Briefen! Rein Privates brauchte niemand zu wissen. Sie hatte das hundertmal betont.

Bis zum Winter müssen ihre Nerven noch durchhalten. Bis dahin wäre man fertig mit der Renovierung. Willy musste es ihr versprechen. Dann würden sie hier, in Claras Haus, das jetzt ihr gehörte, ihren 56. Geburtstag feiern. Nur sie drei und Anna. Und Helmuth mit Freund. So hatte sie es am liebsten.

In gut zwei Stunden käme Willy mit dem Wagen von der Orchesterprobe zurück. Sie waren nun stolze Besitzer eines DKW 93 in Toledogrün/Antikweiß. Immerhin, es hatte auch die Farbkombination Perlgrau/Elfenbeinweiß zur Auswahl gestanden. Sie hatten den Prospekt ausführlich studiert, aber die andere Farbe war doch auch nicht viel besser.

Das Telefon gurrt. Irgendetwas schien dem sonst so schrillen Alarmton die Luft abzudrücken. »Anna?« – Ruth steht auf und horcht dem seltsamen Geräusch nach. Sie schiebt vorsichtig den Plastikvorhang beiseite und sucht mit den Augen im fürs Erste schon aufgeräumten Flur umher. Jemand hatte den Kaffeewärmer über ihren Apparat gestülpt. Und nun rumort es unter der dick wattierten Haube, als wolle sich das Ding auf dem Telefontischchen in Bewegung setzen, es droht wahrscheinlich jeden Moment herunterzufallen. Hatte ihr keiner gesagt, dass der Hausanschluss nicht mehr abgeklemmt, also wieder in Betrieb war.

»Ja. Bitte?«

»Moin! Sándor Schulz, Radio Bremen. Spreche ich mit Frau Rilke?«

»Fritzsche.« Ruth ergänzt: »Geborene Rilke.«

»Jo. Clara Westhoffs und Rainer Maria Rilkes Tochter.«

»Jo.«

»Na dann. Frau Fritzsche. Selbstverständlich. Das ist der richtige Name jetzt. Ich will gleich zur Sache kommen: Wir planen eine Rundfunksendung über Clara Westhoff. Also über Ihre Mutter. Wegen 80. Geburtstag.«

»Jo.«

»Wir würden gern ein Interview machen. Und zwar mit der Tochter! Mit Ihnen! – Frau Fritzsche, sind Sie noch am Apparat?«

Ruth atmet hörbar aus. »Ja, bin ich.«

»Also, ich stell’ mir dat so vor: Ein Nachmittag in Fischerhude. Natur, die Vögel zwitschern. Entengeschnatter, kommt alles mit drauf und dann vertellen Sie. Wie das war mit dem Atelier. Dass sich die Hörer vorstellen können, wie dat fröher war, die Bildhauerin Clara Westhoff. Bei der Arbeit. Da auf dem Dorf!? – War denn ihr Vater oft zu Besuch?«

»Hören Sie, Herr Schulz, der runde Geburtstag meiner Mutter, von dem Sie sprechen, der ist erst nächstes Jahr. Im November. Da melden Sie sich mal im Sommer bei mir. Im nächsten Sommer, mein ich. Das reicht völlig aus. Jetzt ist ganz schlecht bei uns hier. Wir renovieren dat Atelierhus.«

»Aber wir könnten jetzt schon einen Rahmen abstecken. Ich meine …«

Ruth seufzt und zieht einen Notizblock unter dem Postkorb hervor, der mit einem blauen Geschirrhandtuch abdeckt ist. »Ich schreib’ mir Ihren Namen auf und die Nummer. Also?«

»Schulz. Sándor Schulz. Bremen, 4647.«

Ein Ungar? Spricht mit bremischem Dialekt. »Dankeschön. Im nächsten Frühjahr rufe ich Sie unter dieser Nummer zurück und wir machen einen Termin. Versprochen.« Ruth hält den Hörer schon knapp über der Gabel, als sie hört:

»Warten Sie bitte kurz, Frau Fritzsche! Wir können uns gern vorher treffen, hier in Bremen, also vorab. Im neuen Studio in Schwachhausen. Wenn Sie in der Stadt zu tun haben. Zum Beispiel. Wir wollen eine größere Sache machen. Ich plan’ dat von langer Hand!«

»Sagen Sie, junger Mann, kennen Sie die Kunstwerke meiner Mutter überhaupt?« Hat sie das jetzt wirklich gesagt, statt ihn abzuwimmeln?

»Selbstverständlich. Ich war doch in Bremen in der Ausstellung, für das Bremer Tagblatt. Deshalb hab’ ich jetzt die Homestory hier.«

»Die was? Wie wollen Sie das im Radio vermitteln, Bildhauerei, künstlerische Arbeit? Und meine Mutter ist seit drei Jahren tot. Das hätten sie früher angehen müssen.«

»Es geht uns nicht nur um die Person Clara Westhoff. Es geht auch um Ihre Erinnerungen an Ihre Mutter, Frau Fritzsche! Wer war Clara Westhoff? Weiß niemand besser als Sie! Frau Fritzsche, Ihre Sicht interessiert uns: die Mutter Bildhauerin, ja, und der Vater Dichter. Berühmte Eltern! Machen Sie auch irgend etwas? Also was Besonderes? Ich mein’ Künstlerisches? – Frau Fritzsche?«

Ruth zieht die Stirn kraus. Paula Modersohn schaut in Dunkelbronze und irgendwie nüchtern zu ihr herunter; das berühmteste Werk Clara Westhoffs hatten sie bei der Renovierung zur Sicherheit auf der Hutablage der Garderobe deponiert. Gegenüber steht das abgehängte Porträt ihres Vaters auf dem Boden. Unter der Polypropylenfolie schimmert der grüne Hintergrund hervor. Sein Kopf ganz verdeckt; aber dass da jemand auf einem Sessel mit gepolsterten Armlehnen saß, war durchaus zu erkennen.

»Sind Sie noch in der Leitung? Ich wollte fragen, ob Sie auch etwas machen, da draußen in Fischerhude.«

»Ja. – Nein. Eigentlich nicht. Ich mache nichts Besonderes und schon gar nichts Künstlerisches. Herr Schulz, ich muss Schluss machen. Und wie gesagt, ich ruf’ Sie wieder an. Ja? Moin!«

»Moin, Frau …«

Ruth legt auf. In der Küche dreht die Haushälterin am Wasserhahn.

»Unser Telefon geht ja wieder! Gute Idee mit dem Staubschutz. Sonst setzt sich der auch noch in die Wählscheibe und dann haben wir’s. Hab’ die karierte Kaffeemütze wieder draufgemacht. – Radio Bremen will meine Erinnerungen an Clara aufzeichnen. Und an meinen Vater wahrscheinlich auch gleich. Kommt ja überhaupt nicht in Frage.« Man musste den Leuten auf die Finger klopfen.

Bauerntochter

Erinnerungen. – Den Anfang ihrer Lebensgeschichte hatte ihr Vater für alle Ewigkeit festgehalten: Es war einmal eine Zeit, da hatten wir drei ein ganz einsames Haus im Moor und die Winde gingen um seine Mauern und die Nacht kam wie eine Welt … Poetische Briefzeilen für seine Freundin Lou. Die kannte Ruth auswendig. Durfte ruhig jeder wissen, wie damals alles anfing. Als Wintermärchen. Ihr ehemaliges Haus seligen Angedenkens draußen in Westerwede, sie wollte es mit Clara besuchen, als sie wieder im Westen angekommen war, gleich 1949. Einen Ausflug von der Bremer Rutenstraße aufs Land machen. »Ne, dat Hus is afbrannt«, kam zur Antwort. Lange nach ihrem Auszug war in das Haus im Teufelsmoor noch der Blitz eingeschlagen. Nachträglich sozusagen.

Eine fast prophetische Briefstelle aus Pfeiffers Edition hatte Ruth allerdings beeindruckt. Da berichtete ihr Vater, wiederum an Lou, wie sie als Kleines in Oberneuland in einer Art »Arbeitskleidchen« herumgelaufen sei – Oma Johanne wird sie da reingesteckt haben – und den lieben langen Tag über immer irgendetwas zu schaffen oder herumzuwerkeln fand. Als Kleinkind hätte sie ausgesehen wie einem Bild von Millet entsprungen. Sie kennt Millets »Im Garten«. Das Kalenderblatt zeigt hinter einem reetgedeckten kleinen Bauernhaus ein Mädchen mit weißer Haube und Schürze. Es spielt mit großen Stecken, im Vordergrund lehnt eine Magd in blauer Schürze am Baum und stickt. Irgendwie konnte sie sich mit beiden Figuren anfreunden.

Ruth hatte sich immer gefragt, ob ihr Vater damals schon ahnte, dass es sie ihr Leben lang eher zu den Kartoffelpflanzern und Milchmädchen hinziehen würde als zu Intellektuellen. Dass sie schwere Landarbeit mochte und mit 17 als Magd bei Bauer Bartels in Quelkhorn anheuern würde? Dort einzog! Knut Hamsuns »Segen der Erde« wurde ihre Bibel. Mit ihrem Erdenglück hatte sie das »Väterchen«, so nannte sie ihn, seit sie denken konnte, irgendwie beeindruckt. Und er ließ sie gewähren. Seine Bauerntochter. (…) nun schreibt sie manchmal, todmüde und körperwarm (…) wie sehr diese Handgreiflichkeit und Härte sie vergnüge und wie sie sich Ähnliches immer gewünscht habe. Frühlingsverse: Die Erde ist wie ein Kind, das Gedichte weiß; viele, o viele, erschienen Ruth nur für sie geschrieben. Das war ihrer beider Sprache. Aber Handgreiflichkeit und Härte? Ideal war das alles nicht gewesen. Im Ersten Weltkrieg galt Feldarbeit als Pflichtübung. Und Härte ›vergnügte‹ nicht, aber sie spürte bei der Knochenarbeit die ganze Kraft ihres jungen Körpers. Ja, sie war eine kurze Zeit lang ernsthaft Magd gewesen. Auch eine Möglichkeit, ihren Künstlereltern auszuweichen, ihnen zu entfliehen. Und siehe da: Ruth war, in allen Fällen, die Brauchbarste von uns. Typisch Väterchen. Wo er Recht hatte, hatte er Recht.

Ruth putzt ihre Brille, wieder und wieder. Sie muss sich jetzt mal aufrappeln aus dieser Träumerei und Nachdenklichkeit; geht zurück in den Flur und holt sich ihre Handarbeitstasche aus dem Garderobenunterschrank. Das Heft mit den losen Blättern schiebt sie unter die Stricksachen und deckt es zu. Fix schlüpft Ruth in ihre cremefarbenen Gartenpantoletten. Man braucht noch keine Strümpfe heute. Claras Strohhut mit dem grünen Bändchen hängt an seinem angestammten Platz. Sie greift danach.

Ein Umriss gezeichnet aus feinem Staub markiert die Stelle, an der Utas Sandalen sonst stehen. Willys Tochter ist heute früh am Morgen los, um zu fotografieren. Eine größere Hausaufgabe für die Bremer Kunstschule; Porträts von Kindern aus den Fischerhuder Höfen hatte sie sich vorgenommen: Reizende Idee. Ruth klopft den Hut ab. Der Staub verteilt sich wirklich überall im Haus.

Noch ein paar Schritte durch das hohe Gras, und schon riecht sie den frischen Fluss. Jetzt ganz nah am Wasser sitzen. Herrlich. Unter der Weide ist ihr Lieblingsplatz. Willy müsste aber dringend mähen da oben. Nur jetzt während der Renovierung, da ist das wohl vergessen worden. Vielleicht würde sie den alten Müller bitten, morgen Nachmittag rüberzukommen mit seiner Sense. Anna könnte anschließend den Spindelrasenmäher nehmen, um die Wiese wieder ordentlich abzufahren.

Mit dem Rücken kurz noch die richtige Stelle im großen Geflecht des Baumstammes aussuchen. Kommt es ihr heute nur so vor oder gibt die Borke ein klein wenig nach?

Vorsichtig nimmt Ruth die Blätter aus dem Heft. »Seelchen«. So neugierig und erwartungsfroh hatte sie als Kind die Geschichte selbst gelesen. Extra für sie geschrieben, ihr gewidmet! Da ging es doch um Hühner irgendwo. Sie findet die Stelle: »Seelchen, deren tierischste Erinnerung ein Hühnerhof war …« Klar. Oberneuland war gemeint. Ein Paradies. Und wie weiter?

Aber die Geschichte spielte in einer Stadt und war vollkommen albern. Damals wie heute. Das Seelchen, es lebte bei seinen Eltern in einer Stadtwohnung, es spielte mit der Puppenstube unterm Flügel im Salon und mochte lieber zwei Zöpfe haben wie die Freundin Edda, nicht einen braven Pferdeschwanz, wie ihre Mutter es lieber sah. Und das war auch schon die ganze Geschichte. »Ich mochte dann auch Zöpfe haben«, sagt Ruth leise. Und Oma Johanne hatte sie ihr auf Wunsch gern geflochten, nur immer viel zu fest. Danach suchten sie aus der unerschöpflichen Bändersammlung eine passende Schleifenfarbe zum Kleidchen aus.

Wieso interessiert sie jetzt diese verunglückte Ostergeschichte, die sie allen Ernstes an Weihnachten überreicht bekam? Damals hatte sie geheult vor Enttäuschung, heimlich natürlich. Nicht nur, dass das Erzählte so gar nichts mit ihr zu tun hatte – es ging um eine bürgerliche Kleinfamilienwelt, wo man in Seelchens Biedermeierglück auch noch ein Geschwisterchen erwartete! Ja, hatte man sie quälen wollen? Einzig die Hühner und die Tasse stimmten. »Es war eine tiefblaue Empiretasse mit goldenen Zierrändern oben und um die Mitte herum.« Aber sie war damals kein Baby mehr gewesen und die kamen ihr mit dieser albernen Puppenspielgeschichte? So etwas hätte sie ihren Vater gern einmal gefragt, was das sollte damals. Der Groll kam jetzt noch hoch, nach über 40 Jahren. Sie tat sich im Nachhinein einen Moment lang ein bisschen leid. Hatte sich überhaupt einmal jemand Gedanken gemacht? Um sie, Ruth? Manchmal war sie ganz schön herumgeschoben worden. Ruthchen hier und Ruthchen da, aber gefragt, wie es ihr ergeht, in München zum Beispiel, in der lauten Stadt, das hatte eigentlich niemand.

Aber früher machte man überhaupt weniger Aufhebens um Kinder. Die waren zur Freude der Eltern und Großeltern auf der Welt. Fertig.

Hatte ja auch kein Verlag drucken wollen, den Seelchen-Kitsch. Später erschien die Geschichte ohne Widmung dann doch noch in einer Illustrierten, Velhagens Monatsheft, oder so ähnlich. Bitteschön. – Über lustige Kinderbücher, die ihre Eltern ihr schenkten, wie den »Fitzebutze« oder die »Miaulina« im »Buntscheck – Ein Märchenbuch für kleine Kinder« freute sie sich heute noch. Die Miausprache war universal einsetzbar, ein Katzen-Esperanto! Das hatte sie sogar Uta beigebracht, als das Kind Mumps hatte. Alles persönliche Leid, Enttäuschung, Ärger, aber auch namenlose Freude, ließ sich in eine Reihe von Miau-Lauten transformieren. So konnte man jedem auf der Welt etwas erzählen und wurde überall verstanden.

Lou, die berühmte Psychoanalytikerin, von Kindern hatte sie wenig Ahnung. Und ausgerechnet ihr offenbarte Väterchen sein ganzes Seelenleben. Aus irgendeinem Grund zeichnete er vieles, was sie und ihre Mutter oder Familie anbetraf, in dunklen Farben. Alles negativ! Er durfte Lou ja nur in der »Not« schreiben. Und wenn er keine hatte, dann erfand er welche.

Lieblingsfoto

All die Jahre behielt das Lieblingsfoto ihrer Mutter seinen festen Platz oben im Fischerhuder Schlafzimmer. Es steht angelehnt vor einem zweiarmigen silbernen Tischleuchter, ein Hochzeitsgeschenk Heinrich Vogelers. Ruth hatte beides so stehen lassen. Sie fragte sich nur, wer damals den Auslöser gedrückt hatte, Oma Johanne? Vielleicht auch Onkel Friedrich, Claras älterer Bruder, denn die Westhoffs besaßen zwei Kameras der Marke Zeiss Ikon. Mit dem Fotografieren versuchte man sich gegenseitig zu übertreffen, und erst recht, seitdem es moderne Rollfilme gegeben hatte. In Bremen konnte man die damals ganz bequem entwickeln lassen, ein paar Tage später brachte man seine Ausbeute nach Hause. Den Rahmen hatte Clara selber zugeschnitten; entlang der Gärung die Buchenleistchen geleimt, den mattsilbernen Anstrich aufgetragen und eine dünne Glasscheibe eingepasst.

Familie Rilke steht draußen vor dem Westerweder Haus. Fenster und Türen weit offen, damals im Frühling 1902. Ruth sitzt mit geradem Rücken in Claras großen Händen, die sie dem Kind wie eine Schale unterhält. Clara betrachtet die kleine Tochter hier ganz als Bildhauerin; hält sie mit weit von sich weggestreckten Armen in die Luft, um Maß zu nehmen. Nur kurze Zeit später wird sie das Kleinkind tatsächlich in dieser charakteristischen Haltung in Gips modellieren. Auf dem Bild steht Rainer Maria Rilke hinter Clara Westhoff. Er umarmt Ehefrau und Tochter und strahlt – ganz und gar verliebt in seine Familie und das neue Leben.

Ja, Väterchen wirkte fröhlich auf der Fotografie, geradezu ausgelassen, genau wie Ruth ihn kannte: denn oft war er so allumarmend, manchmal sogar ein bisschen albern. Die Eltern scherzen mit ihr. Und Clara im weit gebauschten Kleid sieht aus, als wäre sie immer noch schwanger oder schon wieder. Beide sind sie im Sonntagsstaat, führen ihre kleine Ruth vor. Das gemeinsame Künstlerleben, es fing gerade erst an. So wie auf dem Bild hätte der »Anbruch eines unaufhörlichen Sonntags« aussehen sollen – Claras Worte –, doch die große Einladung an einen für sie alle reich gedeckten Tisch bleibt aus. Schlimmer noch, man wurde regelrecht ausgeladen. Von einem Tag auf den anderen verweigert der Prager Erbonkel Jaroslav die nun dringender als zuvor benötigte finanzielle Unterstützung.

Eine Fotografie, aufgenommen kurz bevor ihr Vater sie verlässt, sagen wir verlassen muss, nur wissen wir es hier wohl alle noch nicht, denkt Ruth. Trotzdem, dieser Moment zählte, die goldige Szene wurde eingefangen und festgehalten, für immer.

Warum sich ausgerechnet Rilke und Clara Westhoff zusammengetan hatten, war den Worpswedern im Jahr zuvor, in dem es drei große Hochzeiten gab, schleierhaft geblieben. Paula Becker und Otto Modersohn, gut, beide waren Maler. Martha Schröder, die zur Fee stilisierte sittsame Lehrerstochter aus Worpswede, wurde angebetet von dem aufstrebenden Architekten und Künstler Heinrich Vogeler. Das waren offenbar Paare, die zusammenpassten. Aber doch nicht Clara und Rilke. Ein so ungleiches Paar! Sie stattlich, von einer »Riesenhaftigkeit«, fast einen Kopf größer als ihr Mann – wenn man Otto Modersohn glauben durfte –, und er daneben: ein eher zart wirkender Rainer Maria Rilke, den selbst Lou, die ›Freundin‹, als »nervös bedrohtes Menschlein, das einem leicht unter den Fingern zerbricht, wenn man nicht gut Acht gibt«, beschrieb. Das bot Gesprächsstoff. Otto Modersohn, Claras späterer Nachbar in der Bredenau, lästerte am lautesten: »Freitag nachmittag – wer kam da? Du ahnst es schon: Clara W. mit ihrem Rilkchen unterm Arm.« Rein optisch waren die beiden wohl eine so große Herausforderung, dass Rilkes dominantes Auftreten kaum noch ins Gewicht fiel. Die sonst für ihre Toleranz berühmten Worpsweder Künstlerfreunde, sie mochten nicht recht mitspielen. Vielmehr arbeiteten die sich ab an dem merkwürdig wirkenden und unglücklich agierenden Ehe- und dann bald Elternpaar.

Clara Westhoff war nicht nur dem Charme des jungen Mannes in russischer Reformkleidung und roten Stiefeletten erlegen, sondern auch dem Zauber eines geradezu paradiesisch anmutenden Ausblicks auf das Zusammenleben mit ihrem zukünftigen Ehemann. Die Traumvorstellung war schnell entworfen, ein ideales Bild, an dem sie beide gemeinsam gemalt hatten im Sommer 1900, inspiriert und verzaubert von den beschwingten Sonntagsfesten auf dem legendären Barkenhoff, in Heinrich Vogelers Jugendstilvilla am Weyerberg; die Leichtigkeit wirkte ansteckend.

Rilke schmeichelte den Künstlerinnen Paula Becker und Clara Westhoff. Gegenüber Clara wurde er ganz konkret. Mit einem von ihm selbst gedeckten Tisch würde er aufwarten, am Ende eines Tages voller Arbeit und Kunst. Wolle sich gern kümmern um die talentierte Bildhauerin, gar die Rolle des sorgenden Beraters für Clara einnehmen; er schwärmte und schrieb, sah alles schon ganz genau vor sich:

Im kleinen Häuschen würde Licht sein, eine sanfte, verhüllte Lampe, und ich würde an meinem Kocher stehen und Ihnen ein Abendbrot bereiten: ein schönes Gemüse oder Grütze, – und auf einem Glasteller würde schwerer Honig glänzen, und kalte, elfenbeinreine Butter würde auf der Buntheit eines russischen Tischtuchs ruhig auffallen. Brot hätte da sein müssen, starkes, korniges Schrotbrot und Zwieback, und auf langer schmaler Schüssel etwas blasser westfälischer Schinken, von Streifen weißen Fetts durchzogen wie ein Abendhimmel mit langgezogenen Wolken. Zum Trinken stünde der Tee bereit, goldgelber Tee in Gläsern mit silbernen Untersätzen, leisen Duft ausatmend, jener Duft, der zu der Hamburger Rose klang und der auch mit weißen Nelken oder frischer Ananas klingen würde … Große Zitronen, in Scheiben geschnitten, senkten sich wie Sonnen in die goldige Dämmerung des Tees, ihn leise durchleuchtend mit ihrem strahligen Fruchtfleisch, und seine klare, glatte Oberfläche erschauert von den steigenden sauren Säften. Rote Mandarinen müßten da sein, in welche ein Sommer ganz klein zusammengefaltet ist, wie ein italienisches Seidentuch in eine Nußschale. Und Rosen wären um uns (…).

Ich sandte Ihnen gestern zur Probe ein kleines Paket einer sehr trefflichen Hafergrütze. Gebrauchsanweisung auf dem Paket. Nur ist es gut, sie etwas länger als die angegebenen 15 Minuten kochen zu lassen. Vor dem Essen legen Sie ein Stück Butter hinein, oder Sie nehmen Apfelmus dazu. Ich esse sie am liebsten mit Butter, Tag für Tag. In 15 Minuten ist die ganze Speise fertig, d. h. vorher muß schon siedendes Wasser gemacht sein; sie wird heiß aufgesetzt also und kocht 15–20 Minuten. Wenn Sie sich einen doppelwandigen Patent-Kochtopf »Kann alles« aus einem großen Haushaltungsgeschäft kommen ließen, müssen Sie kaum einmal durchrühren; die Gefahr des Anbrennens ist dann ganz gering. Versuchen Sie, und sagen Sie mir Bescheid. Die große kalifornische Firma hat auch sonst prächtige Präparate. Ich sende demnächst den Katalog. – Übrigens, Sie wissen, daß ich mir vor jenem reich geträumten Abendbrot einen fleißigen Tag gedacht habe. Nicht wahr?

Ihr Rainer Maria Rilke

In München hatte Ruth sich darüber amüsiert, was alles so auf und um den Teller ihres Vaters herum zu passieren hatte. Aber dass Väterchen sich als junger Mann schon als derart versiert in Haushaltsdingen ausgab und wohl auch war, das hatte sie ziemlich verblüfft. Väterchen und selbst kochen? Einen Spezialtopf bestellen? Das war ihr neu und sie schmunzelt wieder darüber. Mit besagtem Haushaltswarenkatalog – wer weiß, eines Tages tauchte der auch noch irgendwo auf und würde ihr ins Archiv geschickt – meinte er wohl die »Sanitas Food Company« der Brüder John Harvey und Will Keith Kellogg mit ihren »Cornflakes«. Uta aß neuerdings morgens auch diese neumodischen Weizenchips und schüttete sich darüber zwei Gläser kalte Milch in den Suppenteller. Grauenhafte Kaugeräusche riefen die hervor, wenn sich das Kind eine Portion mit großem Appetit und einem Suppenlöffel einverleibte.

Gesunde Ernährung! Für ihren Vater sozusagen lebensnotwendig. Er konnte ein Pedant sein, wenn es um Mahlzeiten ging. Allein das Anrichten. – Frieda Baumgartner, damals seine junge Hausgehilfin in Muzot, kann heut’ noch ein Lied davon singen. Die musste dafür Kurse besuchen. Und es hatte gedauert, bis alles wirklich recht war mit dem Obst oder Gemüse, den Hülsenfrüchten und dem Getreidebrei samt Verzierung. Fräulein Baumgartner war man auf ewig dankbar. Frieda, die treue Seele von Muzot! Es herrschte ja fast eine Art Kult um diese Frau, aber bitteschön.1

Jedenfalls malte sich der um die Gunst der stillen Künstlerin Clara Westhoff werbende Dichter das Leben auch als Gesamtkunstwerk aus. Das im Brief an Clara Westhoff entworfene Bild hätte Paul Cézanne genau so malen können. Und wer wünschte da nicht, Teil eines so poetischen Stilllebens sein zu dürfen, sich quasi darin einzurichten und es zu bewohnen. Selbst am Abendbrottisch im Dämmerlicht der Blauen Stunde zu sitzen.

Rilke überzeugte nicht nur ästhetisch. Die Botschaft, dass dieser Mann tatkräftig mit anpacken würde, kam an. Was für eine Einladung an die im wahrsten Sinne des Wortes schwer beschäftigte und erfolgreiche junge Bildhauerin. Von Liebe und Leidenschaft schrieb der haushaltsaffine Verehrer kein einziges Wort, aber das fiel der verliebten Clara nicht weiter auf. Hingerissen reiste sie ihrem Rilke im Winter 1900 nach Berlin-Schmargendorf nach – auch ihre Freundin Paula Becker war schon hingefahren! Auch sie traf sich mit Rilke! Immer nach ihrem Kochkurs. Clara musste sich beeilen. Bald darauf wurde sie schwanger.

Später erst schreibt Rilke Verse, die zwar auch keine Liebeserklärung darstellen, aber immerhin einen wichtigen Teil des Lebens-Kunst-Konzepts beinhalten: Zu Weihnachten 1901, kurz nach Ruths Geburt, gibt es eine Widmung zu seinem in Bremen uraufgeführten (wenig erfolgreichen) Theaterstück »Die Letzten«. Ruth murmelt die Zeilen vor sich hin, sie klingen wie ein altes Gebet für sie alle, findet sie:

Wir haben diesem Buch ein Haus gebaut,

und du hast treulich mich dabei beraten.

So laß uns auch mit tiefen stillen Taten

das Haus erbauen, dem wir uns vertraut.

Wir wollen, daß das Größte uns geschieht:

und Glück sei kein Almosen für uns Beide

und keine Nachsicht wollen wir vom Leide, –

und unser Haus soll wachsen auf Granit,

und soll wenn wir entfernte Ziele sehn

um unser Kind mit seiner Stille stehn.

Und noch viel später, da ist Ruth schon verheiratet und selbst Mutter einer Tochter, liest sie zum ersten Mal den Zyklus »Von der Pilgerschaft« genauer und findet darin das Gedicht vom letzten Haus und horcht auf. Hat Vater bereits im Herbst 1901, da war sie ja noch gar nicht geboren, eine bange Vorahnung geplagt? Jedenfalls schreibt er in dieser Zeit ein sehr trauriges Gedicht, dass sein Fortgehen von ihr und ihrer Mutter Clara auf merkwürdige Weise vorwegzunehmen scheint:

In diesem Dorfe steht das letzte Haus

so einsam wie das letzte Haus der Welt.

Die Straße, die das kleine Dorf nicht hält,

geht langsam weiter in die Nacht hinaus.

Das kleine Dorf ist nur ein Übergang

Zwischen zwei Weiten, ahnungsvoll und bang,

ein Weg an Häusern hin statt eines Stegs.

Und die das Dorf verlassen, wandern lang,

und viele sterben vielleicht unterwegs.